Letzter Ausweg MORD - Karin Büchel - E-Book

Letzter Ausweg MORD E-Book

Karin Büchel

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Beschreibung

Letzter Ausweg MORD Mitten in Bonn Beuel. Ein unbewohntes Haus. Heruntergekommen. Verlassen. Ein Schlafplatz für Obdachlose, abenteuerliche Jugendliche und dunkle Geschäfte. Leni, eine junge Frau, liegt erdrosselt auf dem Boden. Kurz darauf finden Personen einen Obdachlosen am Rheinufer: Erschlagen. Zwei Tote innerhalb kürzester Zeit. Das Ermittlerteam Nina May und Falk Roth steht unter Druck. Die Spuren führen zur Dating Agentur Seepferdchen. Doch dann das Unfassbare: Deren Chefin, Yvette, wird leblos auf dem Alten Friedhof gefunden. Noch eine Tote in Bonn. Gibt es eventuell eine Verbindung zwischen den schrecklichen Geschehnissen? Die Ermittler arbeiten unter Hochdruck und gelangen auf eine Spur, die weitreichende Konsequenzen hat. Auch für eine gesamte geschichtliche Epoche.

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Inhaltsverzeichnis

GELD

DIE TAT

DIE TOTE

RECHERCHE

FALK ROTH

DIE SCHWESTER

GEDANKEN

HEIN PIONTEK

IMMER NOCH …

ROLLO UND FLO

DER FUNDORT

IMMER NOCH …

NINA MAY

NINA UND FALK

DIENSTAG

ROLLO UND FLO

EIN LANGER ARBEITSTAG

RECHERCHE UND ROUTINE

ROLLO UND FLO

NEUE EREIGNISSE

DONNERSTAG

FREITAG

ROLLO UND FLO

ZEITGLEICH

SAMSTAG

EIN TRAUM

MONTAG

ROLLO UND FLO

ZEITGLEICH

ROLLO UND FLO

ZEITGLEICH

DR. ADRIAN SCHMERBECK

LENI SCHUSTER

ROLLO

EIN ANSTRENGENDER TAG

DIENSTAG

GEDANKENGÄNGE

MITTWOCH

NACHTRAG

GELD

Es geht immer nur ums Geld. Geld. Geld.

Das Menschenleben?

Spielt dabei häufig keine Rolle.

Selbst vor Mord wird nicht Halt gemacht.

Wo bleiben Gefühle?

Wo die Liebe?

Wo das Zwischenmenschliche?

Wo das Gewissen?

Geld und Macht regieren unser aller Leben.

Oder?

Gibt es sie noch, die guten Eigenschaften, die uns Menschen charakterisieren?

Die unsere Seele zum Schwingen bringen?

Die unser Herz höherschlagen lassen?

Bestimmt!

Oder?

Karin Büchel

DIE TAT

Kurz nach 23 Uhr

Leni achtete weder auf vereinzelt vorbeifahrende Autos noch auf die herannahende Straßenbahn. Sie hatte die Shopper Tasche, in der die Fotos waren, unter den Arm geklemmt. Hielt sie fest wie einen Schatz. Gleich würde es so weit sein.

Gleich.

Die letzten paar Schritte ging sie auf dem Bürgersteig. Und dann würde es bald vorbei sein. Danach könnte sie die Galapagosinseln besuchen, die sie über alles liebte, ihre Cousine in Südafrika, ein Wochenende in Paris verbringen, das nächste in Rom, Stockholm oder Reykjavík.

Gleich.

Sie schritt an einer alten, zerfallenen Backsteinmauer vorbei. Dahinter lag ein kleines, verkommenes Stück Wiese. Ein Platz für Müll und Unrat. Gestern hatte sie sich die Gegend angesehen. Am Tag und bei Licht.

Eine zerrissene Matratze, ein graues, zerbeultes Blechschild mit der Aufschrift Zentral-Bad, die anderen Wörter waren nicht mehr zu lesen, leere und zertrümmerte Flaschen, Dosen, Plastiktüten sowie kaputte Fahrradreifen, Hundekot und Kotze. Selbst bei Tageslicht sah dieser Platz verrottet und unheimlich aus. Er hatte sie angewidert und allein der Gedanke, noch einmal hierher zu müssen, und dann im Dunkeln, ließ sie fast verzweifeln. Die Aussicht auf ferne Reisen gab ihr Kraft dazu. Jetzt war es Nacht. Stockdunkel! Der Mond versteckte sich hinter Wolken und die Laterne auf der anderen Seite, deren Straßenschild in Richtung Gustav-Kessler-Straße sowie zum Beueler Bahnhofsplatz hinwies, gab spärlich Licht ab. Leni schüttelte sich. Angst kroch ihr den Rücken hoch, legte sich wie Eiskrallen um den Nacken und nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Die Füße waren eisig kalt, die Zehen wie abgestorben.

Gleich!

Sie würde die Fotos übergeben, das Geld nehmen und davonlaufen.

Schnell!

Dem ganzen Wahnsinn entkommen. Sie mochte den Typ nicht. Vom ersten Augenblick an, bei der Begegnung war er ihr unsympathisch. Allein seine Stimme. Diese erinnerte sie immer an Herrn Schreckenberg. Der wohnte neben dem Tante-Emma-Laden, in dem sie als Kind häufig einkaufen ging. Herr Schreckenberg war ihr genauso unangenehm wie dieser Typ. Beide hatten eine ungewöhnlich feuchte Aussprache und pulten sich ständig mit dem kleinen Finger im Ohr. Hinzu kam der starre, fast psychopathische Blick. Wie bei Klaus Kinski, den sie auch nicht leiden konnte.

Leni erschauderte erneut, als ihr diese Erinnerungen kamen. Und dann sah sie ihn. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich vor ihr. Im Dunkel der Nacht. Er war nicht allein. Neben ihm ein Schatten, den sie nicht erkannte.

»Pünktlich sind Sie ja!« Die Worte dröhnten in ihre Ohren, ließen sie zusammenzucken. Leni trat zwei Schritte zurück, umklammerte die Tasche mit beiden Händen. So feste, dass sie einen Krampf in der linken Hand bekam und es nur mit aller Mühe schaffte, nicht zu schreien. Ihr Herz schlug dermaßen heftig, dass sie das Gefühl bekam, gleich würde es aus dem Brustkorb herausspringen. Sie atmete kurz. Schnell. Die Lippen waren trocken und im Mund sammelte sich Speichel, den sie am liebsten vor seine Füße gespuckt hätte.

»Wir gehen ins Haus.« Seine Worte ließen keine Widerrede zu.

Die alte zerschundene Tür war nur angelehnt. Nervös zerrte sie ein Taschentuch aus der Jackentasche. Die Augen tränten. Angst! Angst, die von ihrem Körper Besitz ergriff. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Etwas schien auf den Boden gefallen zu sein. Egal, dachte sie. Mit weichen Knien folgte sie dem Mann. Die andere Person blieb stumm im Hintergrund. Sie vernahm deren keuchenden Atem. Leni dachte an die Inseln, die sie bald sehen würde. An das blaue Meer, das sie bald riechen könnte. An den warmen Wind, den sie bald spüren würde.

Bald!

DIE TOTE

Montag

Wo wurde ein Toter gefunden?« Herzhaft biss Tina in den Apfel, als Falk ins Büro stürmte.

»In dem alten Haus am Ende der Obere-Wilhelm-Straße. Anscheinend eine Frau.«

»Am Ende? Da ist das Eiscafé, oder?«

»Da beginnt die Obere-Wilhelm-Straße. Am Ende Ecke Gustav-Kessler-Straße.«

Nina kaute, schluckte und warf das restliche Apfelstück achtlos auf den Schreibtisch.

»Unfall?«

»Nä, die vermuten ein Verbrechen.«

»Oh ... wer hat die Tote gefunden?«

»Der Hein.«

»Hein? Unser Beueler Hein?«

»Ja, genau. So hat ihn die Kollegin Kubischek am Telefon auch beschrieben. Der Beueler Hein Piontek. Wer ist denn dieser Hein? Habe noch nie von ihm gehört.«

»Hein ist ein Unikum. Ein Urgestein, du verstehst? Anders kann ich es nicht ausdrücken. Lebt seit über zwanzig Jahren auf der Straße. Ohne festen Wohnsitz. Wahnsinn.« Unglaublich schüttelte Nina ihren hübschen Kopf.

»Habe bisher noch nichts über ihn gehört. Und der bringt Leute um?« Falk kräuselte die Stirn.

»Nein. Nein. Der Hein kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Der meldet jedes noch so kleinste Vergehen. Jeden Hundebesitzer, der das Häufchen seines Tieres nicht entsorgt, jedes Kind, welches das Eispapier wegwirft oder einen Kaugummi auf das Pflaster spuckt, jeden Raucher, der seine Kippe achtlos wegschnippt. Er ist so etwas wie ein Hilfssheriff. Jeder Beueler kennt Hein und die Leute mögen ihn. Geben ihm hier und da etwas zu essen. Wenn es draußen eisig kalt ist, bekommt er eine Decke oder sogar einen Schlafplatz in der Garage oder im Schuppen angeboten. Und jetzt soll er einen Toten gefunden haben? Ich bin sprachlos.«

»Ja, wie gesagt. Er kam auf die Wache und hat den Fundort beschrieben.«

»Na, dann los, Kollege. Ein Montag, der mit einem Toten beginnt, verheißt nichts Gutes.«

»Nina! Bitte keine philosophischen Gedanken. Mein Kopf brummt.«

»Oh, mal wieder zu tief ins Glas geschaut?«

Falk warf ihr einen Blick zu, den selbst Nina nicht deuten konnte, obwohl gerade sie über ein Feingefühl für Gesten, Gesichtsausdrücke und Blicke verfügte. Schließlich beschäftigte sie sich in ihrer kargen Freizeit gerne mit Tiefenpsychologie. Besonders zum Leidwesen von Falk, der dafür so gar keinen Sinn hatte.

»Komm, Nina. Die Kollegen sind bereits vor Ort.«

»Noch so jung.« Nina kniete neben dem toten Körper. »Keine dreißig Jahre schätze ich.«

Falk nickte und fotografierte alles, was ihm vor die Linse kam. Ihn störte es nicht, dass die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung, kurz KTU genannt, ihn skeptisch dabei beobachteten. Mit deren teuren Kameras konnte er nicht mithalten, aber seine Handyaufnahmen reichten ihm, um sich ein persönliches Bild des Fundorts zu machen. Später, wenn er im Büro sitzen würde oder zu Hause. Dieses Vorgehen brauchte er, um ein Verbrechen aufklären zu können.

»Pass auf, Falk. Du streifst mit deiner Wolljacke an der Wand entlang. Noch wissen wir nicht, was hier geschehen ist. Jede noch so winzige Spur könnte uns weiterhelfen und Flusen deiner Jacke zu falschen Ergebnissen führen.«

Seit fast zwei Jahren arbeitete Falk mit Nina zusammen und beide verband mehr als nur Kollegialität. Sie mochten einander. Sehr so sogar. Konnten sich hundertprozentig aufeinander verlassen, stritten wie die Kesselflicker. Immer dann, wenn einer von beiden eine andere Meinung vertrat. Aber kurze Zeit später waren sie in der Lage, sich zu vertragen. In ihrem Beruf eine unabdingbare Voraussetzung, um als Team zu funktionieren.

»Sieht aus, als wäre die Tote erdrosselt worden, oder?« Er richtete den Blick an den Pathologen Gereon Schmitz, der neben ihm stand und in seinem weißen Plastikanzug mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und blauen Latexhandschuhen wie ein Wesen von einem anderen Stern wirkte. »Erdrosselt und dann in diesem Haus abgelegt, würde ich mal vermuten.« Falk beugte sich über die Leiche. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. »Habe ich recht?«

»Ach, Falk. Du und deine schnellen Rückschlüsse. Genaueres sage ich dir nach der Obduktion.«

»Klar. Wie immer.« Falk machte weitere Fotos von der Toten und fing dann an, den Raum abzulichten. Jede Ecke, alle Winkel, sämtliche Steinchen. Unglaublich, dass ein derart verkommenes Haus mitten in Beuel sein Dasein fristete. Der Putz bröckelte von den Wänden, die Tapete hing zerfetzt herunter, die Fensterscheiben verdreckt, sodass kaum auf die Straße geblickt werden konnte. Einzelne Scheiben sogar zersplittert. Spinnweben, wohin Falk sah. Staub wirbelte in der Luft. An der Decke hing verloren eine Glühbirne. Ansonsten war der Raum leer. Linoleumreste stachen aus dem mit Lehm und Erde bedeckten Boden. Es roch nach Fäkalien und Erbrochenem. In der Ecke neben der abgewetzten Holztür lagen drei leere Bierflaschen und Zigarettenstummeln. Falk dachte sofort an Obdachlose, die bei den usseligen Temperaturen Anfang November einen warmen Platz suchten.

»Schauriges Haus«, wisperte Nina, die Falks Gedanken zu erahnen schien. »Mitten in Beuel. Nebenan eine modern eingerichtete Massagepraxis, ein türkischer Laden mit frischem Obst und Gemüse, ein vietnamesisches Restaurant, gegenüber einem Geschäft mit italienischer Designermode, ein Spanier, der weit über die Grenzen von Beuel Kunden anzieht und auserlesene Köstlichkeiten anbietet und viele andere Betriebe. Die Bahn fährt hier ständig vorbei. Tag und Nacht. Der alte Beueler Bahnhof in unmittelbarer Nähe. Ein neu gebautes Studentenheim. Ach, was weiß ich nicht alles, was hier ist. Ein Haus im Zentrum. Im Visier vieler Menschen und keiner scheint etwas bemerkt zu haben. Oder hat sich schon jemand gemeldet, der etwas gesehen hat, Falk?«

»Nicht, dass ich wüsste. Schade, um dieses Anwesen, denn der Zahn der Zeit hat hier kräftig genagt. Die Fassade muss in früheren Jahren ein Hingucker gewesen sein.«

»Schau mal an die Decke. Da baumelt etwas. Sieht aus wie ein Strick.« Ninas Stimme zitterte. Die rechte Hand zeigte in die Höhe. Sie verstummte.

»Sieht makaber aus, vielleicht ist es ein Seil, das sich von der Decke gelöst hat. Eine Befestigung für etwas.« Falk machte Fotos.

»Vielleicht hat sich hier jemand das Leben genommen. Vor langer Zeit ... obwohl man ja dann eine Leiche gefunden hätte. Gibt es vielleicht einen ungeklärten Fall in Beuel, Nina?«

Nina starrte immer noch den Strick an.

»Hey, Nina. Hast du mich verstanden?«

»Ja, ja ... keine Ahnung, ob sich hier einer das Leben genommen hatte.« Sie stürmte aus dem Haus.

Falk nickte Gereon kurz zu und rannte hinter Nina her, die auf dem Bürgersteig stand und nach Luft schnappte. Ein Haus, indem der Tod Einzug gehalten hatte, dachte sie. Sie wusste nicht, warum ihr der Satz in diesem Moment in den Sinn kam. Es war schließlich nicht ihr erster Todesfall, aber diese Ruine, dieser Geruch, dieser Tod einer jungen Frau hatte sie aus der Fassung gebracht. Warum, konnte sie nicht sagen.

»Lassen wir die Kollegen der KTU ihre Arbeit machen. Ich schaue mir die Gegend etwas genauer an. Vielleicht findet mein Kommissarinnen-Auge ja eine Spur.« Nina hatte sich gefangen. Die raue Novemberluft tat ihr gut und ließ sie klar denken. Sie grinste Falk an und warf sich den Riemen der Schultertasche um.

»Seit über zwei Jahren wohne ich in Beuel, aber diese Gegend gehört nicht zu den Wegen, die ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad erobere. Voriges Jahr im Karneval stand ich mal am Rand des Umzuges und ließ mich mit Kamellen zuwerfen.«

»Du hast dir den Karnevalsumzug angesehen, Falk? Ich bin sprachlos. Du gehörst eher zu der Gattung der Karnevalsmuffel. Da, wo du herkommst, lachen die Leute doch nur hinter vorgehaltener Hand, oder? Als was hattest du dich denn verkleidet? Muffiger Eisbär im Ganzkörperanzug oder cooler Cowboy mit Lasso und Pistole?« Ninas Stimme klang gewollt fröhlich, obwohl ihr nicht danach war.

»Nur weil ich aus Herne stamme, heißt das nicht, dass ich dem Karneval abgeneigt bin. Du erstaunst mich mit deinem Schubladendenken, Nina. Du bist ja voller Vorurteile. Ich bin doch kein Eremit, sondern flexibel, offen und kann mich eingliedern. Egal wo. Okay, kostümieren ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung und wenn ich mich im Gesicht anmale, kann ich hinterher zum Hautarzt gehen. Ausschlag, du verstehst? Habe halt eine sensible Haut!« Falk tätschelte seine Wange und grinste frech. »Aber zuschauen und laut Helau schreien, das kann ich gut.«

»Helau! Jetzt ist es aber gut. Da zeigt sich der Karnevalsmuffel. Hier im Rheinland kommst du fast ins Gefängnis, wenn du dieses Wort in den Mund nimmst. In Kneipen wirst du mit diesem Ruf auf die Straße gesetzt. Alaaf! Nur Alaaf! Sonst geht hier nichts. Aber schau mal, Falk. Da neben der Eingangstür liegt etwas. Dort halb unter dem Stein.« Sie zeigte darauf.

Rasch streifte Falk die Einmalhandschuhe über, bückte sich und hob einen Personalausweis auf.

»Leni Schuster. Jahrgang 1985«, las er mit verhaltener Stimme vor.

Nina saß auf der Kante ihres Schreibtischstuhls und ließ die Finger über die Tastatur fliegen. »Ich habe gerade den Namen unserer Toten eingegeben. Da findet man ja kaum etwas. Dabei sind die jungen Leute heutzutage alle auf irgendwelchen Plattformen unterwegs. Vernetzt, um ja nichts zu verpassen.«

»Alle wohl nicht. Du gehörst auch zu denen, die weder bei Instagram, Facebook, Twitter und Co einen Account haben. Oder irre ich mich?«

»Na, ich bin älter. Unsere Tote ist gerade mal dreiunddreißig Jahre alt.«

»Stimmt! Du gehörst mit deinen zweiundvierzig Jahren bereits zum alten Eisen.« Falk nickte verständnisvoll. Ihm verging allerdings sein hämisches Grinsen schnell, als er den Radiergummi von Nina gezielt an die Stirn geworfen bekam. »Aua!«

»Haste davon.« Nina starrte auf den Bildschirm. »Die Tote wohnte in der Kaiserstraße in Siegburg. Müssen wir auf jeden Fall gleich hinfahren. Eine Telefonnummer finde ich nicht.«

»Komisch ist, dass wir keine Handtasche gefunden haben. Könnte ein Hinweis auf Raubmord sein. Die Suche in ihren Jacken- und Hosentaschen ergab auch nichts. Noch nicht einmal ein Handy, ein zerknülltes Taschentuch, ein Einkaufschip oder ein Kondom.«

»Falk!«

»Ist doch wahr. Jeder normale Sterbliche hat etwas in seinen Taschen. Gerade Frauen. Meine Ex hatte immer einen Lippenstift und fünfzig Cent in der Hosentasche für den Fall, dass sie mal auf die Toilette musste. Und meine Mutter, Gott hab sie selig, einen kleinen Spiegel. Darin kontrollierte sie ständig, ob ihr etwas zwischen den Zähnen hing.«

»Okay. Ganz abwegig sind deine Gedanken nicht. Somit muss die Tote einer genau kontrolliert haben, um alle Spuren und Hinweise zu entfernen. Nur den Perso hat er wohl übersehen. Könnte aus der Tasche gerutscht sein. Was natürlich unser Glück ist.«

»Das stimmt. Was hast du gesagt, wo sie wohnte? Kaiserstraße in Siegburg? Komm, Nina. Lass uns keine Zeit verstreichen. Der Durchsuchungsbeschluss des Staatsanwalts ist gerade gekommen. Also los!« Rasch steckte er sich einen Kaugummi in den Mund und den Beschluss gefaltet in die Jackentasche.

*

»Da ist die Nummer siebzehn.« Nina zeigte darauf und Falk parkte den Wagen rückwärts zwischen einem schwarzen SUV und einem in die Jahre gekommenen VW Bus. Direkt vor dem Eingang. »Ein sechs Parteienhaus.« Nina stieg aus, ging zügig auf die Eingangstür zu. Der Kollege eilte ihr nach. Mit der Fingerkuppe des Zeigefingers drückte Nina auf den schmierigen Klingelknopf. Angewidert wischte sie den Finger sofort an der Jeans ab. »Igitt«, murmelte sie. Keiner öffnete. »Scheint niemand in der Wohnung zu sein. Ich schelle jetzt bei einem der anderen Mieter, damit wir ins Haus kommen.« Sie klingelte bei Stutenbreck. Nachdem auch da keiner zu sein schien, versuchte sie es bei Schmitz-Wagner, auf der ersten Etage und kaum drei Sekunden später öffnete sich die Haustür. Beide liefen die Steinstufen hinauf und sahen eine Frau an der geöffneten Wohnungstür stehen.

»Sind Sie Frau Schmitz-Wagner?« Nina stellte sich mit Kommissarin May vor und zeigte den Dienstausweis. Falk Roth machte das Gleiche und Frau Schmitz-Wagner wurde käseweiß.

»Hat der Junge wieder etwas angestellt?«

»Welcher Junge?« Falk runzelte die Stirn.

»Max. Mein Neffe. Er wohnt seit einigen Monaten bei mir. Aber ich kann das Kind einfach nicht verstehen. Ständig hängt er an seinem Handy, die Kabel baumeln ihm aus den Ohren, im Mund hat er eine von diesen selbst gedrehten Zigaretten. In der Schule macht er blau und belügt die Lehrer, von wegen er müsse mir bei der Hausarbeit helfen, weil ich Rückenprobleme oder sonst etwas hätte. Letzte Woche erst hat er eine Flasche Wodka im Supermarkt geklaut. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Was hat er wieder angestellt?«

Nina zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Frau Schmitz-Wagner. Wir sind nicht seinetwegen hier. Wir möchten in die Wohnung von Frau Schuster. Haben Sie zufällig einen Schlüssel?«

»Nein. Aber Herr Wichterich, der Hausmeister. Der wohnt eine Etage höher, direkt neben Frau Schuster. Was ist denn mit ihr? Ist sie wieder zusammengebrochen, die Ärmste? Ich sage ja, die arbeitet einfach zu viel und isst zu wenig. Ab und an bringe ich ihr selbst gebackene Reibekuchen. Die mag sie besonders gerne mit Apfelmus.«

»Danke, für Ihre Auskunft«, bedankten sich Nina und Falk, ließen die Dame an der Tür stehen und liefen rasch in die zweite Etage.

Falk drückte auf den Klingelknopf des Hausmeisters. »Er kommt«, flüsterte er Nina zu. »Ich höre Schritte.« Die Tür wurde aufgerissen und vor ihnen stand ein Mann, der an der Zweimetermarke kratzte.

»Hui«, entfuhr es Nina, die sich mit ihren ein Meter fünfundsechzig ziemlich klein vorkam.

»Das sagen alle, die mich zum ersten Mal sehen. Und die Scherze, ich kann ohne Leiter die Glühbirnen wechseln, können Sie sich sparen. Um was geht es?«

»Guten Tag, Herr Wichterich. Sie sind der Hausmeister, wurde uns gesagt. Richtig?«

»Wer will das wissen?«

Beide Kommissare zückten gleichzeitig ihre Ausweise und hielten sie ihm unter die Nase.

»Polizei! Hat der Bengel von unten wieder etwas ausgefressen?«

»Meinen Sie den Neffen von Frau Schmitz-Wagner? Um den geht es nicht. Wir müssen in die Wohnung von Frau Schuster.«

»Was ist mit der? Die Frau sieht man so selten. Auch Geräusche höre ich kaum, obwohl unsere Wohnungen direkt nebeneinanderliegen. Arbeitet fast rund um die Uhr, hat sie mir mal im Hausflur erzählt. Will ihren Doktor machen. Eine ganz intelligente Frau. Und sehr höflich. Sehr nett.«

»Schließen Sie uns bitte die Wohnung auf?«

»Das kann ja jeder sagen. Haben Sie denn einen Durchsuchungsbefehl?«

»Befehl nicht, aber Beschluss. Hier!« Falk zog das zusammengefaltete Stück Papier aus der Jackentasche.

»Moment!« Damit drehte sich Herr Wichterich um, ging zwei Schritte zu einem überdimensional großen Wandschrank, öffnete eine der vielen Türen und ergriff zielsicher den gewünschten Schlüssel.

»Na, dann kommen Sie mal«, sagte er, ging voraus und wollte die Wohnungstür von Frau Schuster aufschließen.

Doch Nina hielt ihn zurück.

»Danke, Herr Wichterich. Ich nehme den Schlüssel und Sie gehen bitte zurück in Ihre Wohnung und schließen die Tür. Wir kommen alleine zurecht.« Nina drückte auf den Klingelknopf der Wohnung, doch als sich auch jetzt keiner rührte, öffnete sie die Tür vorsichtig. Dann riefen beide Kommissare fast gleichzeitig: »Polizei! Ist hier jemand?« Ihre Augen scannten in Windeseile den kleinen Korridor, dann stieß Nina eine Tür nach der anderen mit der Hand auf. Falk stand dicht hinter ihr. Gab ihr Schutz für den Notfall.

»Die Wohnung ist leer. Schau mal, hier ist das Arbeitszimmer. Oh je, alles voller Bücher und Fachzeitschriften. Meine Güte.« Nina sah sich den Stapel an.

»Scheint wirklich fleißig gewesen zu sein, die Dame. Selbst in der Küche liegen dicke Wälzer. Anatomie der Biber, Das Leben der Fasane, Wissen über heimische Waldtiere. Die Frau war bestimmt Biologin oder so.«

»Selbst im Bad liegen Bücher«, hörte sie Falks Stimme, »ich lese höchstens mal das aktuelle Fernsehprogramm oder ein Lucky Luke Comic, wenn ich in der Badewanne entspanne.«

»Ich habe den Eindruck, dass Frau Schuster besonders wissbegierig war.« Rasch machte Nina ein paar Fotos mit dem Handy.

»Nur eine Zahnbürste im Becher und auch sonst keine Utensilien einer zweiten Person. Schien allein zu leben.« Falk war noch immer im Bad.

»Allerdings liebte sie wohl Lippenstifte. Meine Güte! Mindestens fünfundzwanzig von diesen Dingern stehen hier in einem kleinen Setzkasten. Von Hellrot bis fast ins Schwarz gehende Farben. Warum braucht eine Frau so viele?« Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Jeder Jeck ist anders«, erwiderte Nina und betrat nun auch das Badezimmer. Ehrlich erstaunt starrte sie auf die fein säuberlich aufgereihten Stifte. Jeder Lippenstift stand in einem kleinen Fach. Es sah wirklich aus, wie ein Setzkasten, nur in klein und nicht aus Holz, so wie sie selbst Setzkästen kannte, sondern verchromt und glänzend. »Ich hatte in meiner Jugend so ein Ungetüm im Zimmer. Dunkelbraunes Holz. Da bist du nur am Putzen. Staubfänger wie aus dem Bilderbuch.« Nina strich sich eine Strähne, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht. »Gut, dass ich den ganzen Zinnober nicht vertragen kann. Bekomme sofort Herpes.«

»Du bist auch ohne Zinnober schön.« Falk lächelte sie an. Seine Worte waren ehrlich gemeint. Nina war von Natur aus schön. Eine etwas herbe, burschikose Schönheit. Schulterlange Naturlocken, die sie meistens mit einem bunten Gummiband zusammen zwirbelte, eine kleine Stupsnase, übersät mit Sommersprossen und grüne Augen, die vor Lebhaftigkeit und Neugierde sprühten. Er mochte sie und musste sich zusammenreißen, um es ihr nicht deutlicher zu zeigen oder gar zu sagen. Eine Beziehung mit einer Kollegin war für Falk tabu. Ging gar nicht. Zerstörte jede effektive Zusammenarbeit, lenkte ab, brachte Unruhe und unnötiges Gerede unter den Kollegen. Emotionen haben für ihn am Arbeitsplatz nichts zu suchen.

»Na, seit wann wirfst du mit Komplimenten um dich? Im Übrigen ist lügen im Dienst verboten.« Nina lachte laut auf. Sie kannte Falk und dessen Humor wie ihre eigene Westentasche.

»Schau mal Falk, Leni Schuster arbeitete im King of Animal Museum. Jetzt verstehe ich ihr Interesse an der Natur. Flora und Fauna. Die ganzen Bücher, Fachzeitschriften Kataloge, Fotos ... meine Güte, die Wohnung wirkt wie eine private Bibliothek.«

»Sie hatte ihren Bachelor in Biologie und Chemie. Wahnsinn. Chemie war für mich immer ein Horrorfach in der Schule.« Falk hielt einen Ordner mit säuberlich abgehefteten Zeugnissen und Urkunden in der Hand. »Sie hat sogar bei »Jugend forscht« den zweiten Platz belegt. Alle Achtung.«

»Und jetzt ist sie tot.« Nina stöberte in einer Schublade mit Fotoalben und Briefen.

»Auf jeden Fall war die Dame sehr ordentlich.«

»Hier ist ein Kalender. Alle Termine präzise eingetragen.« Falk fotografierte die Seiten der letzten Wochen und legte alles zurück an die Stelle, an der er es gefunden hatte.

»Laut den Worten des Hausmeisters hatte Leni Schuster wohl keine feste Beziehung. Jedenfalls hat er keinen Mann mit ihr gesehen, aber es gibt eine Schwester. Wohnt in Hennef-Stoßdorf. Da sollten wir direkt hinfahren und sie informieren. Die kann uns bestimmt eine Menge erzählen.«

»Wir versiegeln die Wohnung und warten erst mal die Berichte der KTU und der Rechtsmedizin ab, ehe wir die Wohnung detailliert durchforsten.« Beide Kommissare verließen die Räume und Nina zog aus der Tasche eine Rolle mit einem Klebestreifen, riss ein Stück ab und versiegelte damit die Tür. »So, jetzt noch abschließen. Nicht, dass einer aus dem Haus auf die Idee kommt, die Tür öffnen zu wollen. Man weiß ja nie.«

Nina saß neben Falk im Polizeiwagen und ließ die Bilder der Wohnung vor ihrem inneren Auge ablaufen.

»Was mir aufgefallen ist, Falk, ist die Ordentlichkeit dieser Frau. Akkurate Aufzeichnungen, präzise Kalenderführung, alles aufgeräumt, kein dreckiges Geschirr, keine herumliegenden leeren Nudelpackungen oder ausgedrückte Teebeutel. Alles sortiert, abgesehen von den Massen an Fachliteratur. Aber selbst die Zeitschriften waren relativ ordentlich gestapelt. Alle Achtung.«

»Eine Frau mit ganz viel Zeit oder Langeweile.«

»So siehst du das. Aha. Ordnung in der Wohnung ist gleichbedeutend mit Langeweile. Auch eine interessante These.« Nina wiegte den Kopf hin und her.

»Ja, sehe ich so. Wer in einer relativ kleinen Wohnung lebt, hat eigentlich ein gewisses Maß an wohnlichem Chaos. Sonst könntest du auch in einem Labor hausen.«

»Na, nach Labor sah es ja nicht aus.« Nina schaute aufs Handy. »Gereon schreibt, dass er die Dame gerade öffnet. Boah, der hat vielleicht einen Humor. Schwarz wie die Nacht.«

»Zu viel schwarze Humorgeschichten von Rould Dahl gelesen, der Gute.« Falk bekam einen Lachanfall hinter dem Steuer und hätte beinahe eine rote Ampel überfahren. Er bremste so stark, dass sich der Sicherheitsgurt straffte und in Ninas Brustkorb presste.

»Pass doch auf, Idiot!«, schrie sie und zerrte am Gurt, um ihn ein wenig zu lockern.

»Kann jedem mal passieren.«

»Mir nicht.« Nina war richtig sauer. Sie hatte sich wahnsinnig erschrocken, so als wäre eine Vogelspinne über ihre Hand gelaufen.

»Stell dich nicht an wie ein kleines Mädchen, Nina. Gestern bist du über die A4 gedonnert, als wärst du auf dem Nürburgring. Ich habe allerdings nicht gemeckert.«

Nina schluckte. Am Vortag waren wirklich die Pferde mit ihr durchgegangen. Aber heute war es anders.

RECHERCHE

Dienstag

Was wissen wir eigentlich?« Nina stand vor dem Whiteboard und drehte den Filzschreiber zwischen den Fingern. Es war früh am Morgen und sie hundemüde. Hinzu kam, dass Nina um diese Zeit wenig gesprächig war. Die Begründung bestand darin, dass sich die Nacht noch nicht verabschiedet hätte und sie unsanft aufgewacht wäre. Aber das musste in diesem Moment Nebensache sein. Ein Mordfall hatte Priorität. Die Kaffeemaschine arbeitete auf Hochtouren, gab blubbernde Geräusche von sich und verbreitete wohligen Kaffeeduft. Ein mitgebrachter Smoothie sowie zwei Bananen sollten helfen, ihr Energiedepot aufzufüllen.

»Leni Schuster. Tot. Erdrosselt, wie es scheint. Genaueres nach der Obduktion.« Nina schrieb den Namen der Toten auf die weiße Fläche, machte dahinter ein Kreuz und verschränkte dann die Arme.

»Junge Frau, gut aussehend, gepflegte Erscheinung. Nichts Außergewöhnliches auf dem ersten Blick.« Falk rollte auf dem Schreibtischstuhl zwischen Fenster und Tür hin und her.

»Beruf? Laut Unterlagen hat sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im King of Animal Museum gearbeitet. Hat ein abgeschlossenes Studium, ihren Master in zwei Fächern und lebte anscheinend allein.« Nina machte Notizen, die sie mit Pfeilen versah und sich alle auf den Namen der Toten richteten.

»Und hat eine Schwester. Die müssen wir allerdings noch überprüfen.«

»Ja, und zwar dringend. Ich habe mehrfach versucht, sie übers Festnetz anzurufen. Ging keiner dran. Handynummer haben wir keine. Mist, dass die Tasche und alle Utensilien verschwunden sind. Ein Handy ist heute ergiebiger als jedes Notizbuch.« Nina rollte eine Haarsträhne über den linken Zeigefinger.

»Was macht man in so einem gruseligen, leer stehenden Haus als Frau? Alleine! Hat sie jemanden getroffen? Oder ist sie dorthin bestellt worden? Oder war sie lediglich neugierig, ging hinein und wurde gestört? Von einem Unbekannten?« Nina zuckte mit den Schultern.

»Mir macht dieses Haus Angst. Es ist so ... so unheimlich. Allein der Strick. Grrr, bekomme noch immer eine Gänsehaut.«

»Na, so schlimm war es auch nicht. Unbewohnte Häuser gibt es viele und an ihnen nagt der Zahn der Zeit. Ein ganz natürlicher Verfall. Die neuen Bewohner sind Ratten, Spinnen, Asseln und anderes Ungeziefer sowie Nichtsesshafte, Drogenabhängige oder potenzielle Verbrecher.«

»Und der Strick?«

»Ich glaube, du gibst diesem Strick eine zu hohe Bedeutung. Vielleicht haben ihn Jugendliche dort befestigt und hatten ihren Spaß damit oder er diente als Halterung für eine Lampe oder ein Mobile ... ich weiß nicht. Zu irgendetwas war er bestimmt nutze. Keine Ahnung. Lass uns realistisch recherchieren, Nina. Wir sind Polizisten und keine Autoren, die daraus eine Fantasiegeschichte machen. Oder Horrorszenarien konstruieren. Wichtig für uns sind das Umfeld, die Schwester, ihre Freunde, die Nachbarn und die Kollegen. Die Geschäftsinhaber, die Kunden, die Bahnfahrer und so weiter.«

»Du hast recht, Falk. Also los. Auf nach Stoßdorf. Ich kenne übrigens Stoßdorf ganz gut. Eine Bekannte meiner Mutter wohnte dort und als Kind stand ich immer mit großen Augen vor der Schnapsbrennerei. Es roch dort eigenartig, ich fand nach Himbeerbonbons, aber Mutter erlaubte mir nicht, das Gelände zu betreten.«

»Gut Quadenhof, oder? Ist mir ein Begriff. Kennst du die Geschichte von Peppel?« Er blickte sie kurz an. Nina schüttelte den Kopf.

»Nein? Ich erzähle sie dir im Wagen. Komm! Und vergiss diesen verdammten Strick.«

Kaum saßen die Kommissare im Auto fing Falk an zu erzählen. »Peppel Klüver, kleiner Halunke mit großem Hang zu Gin und edlen Zigarillos brauchte ständig Geld. Seine Geldnot war so groß, dass er sich einen Plan überlegen musste, um über die Runden zu kommen. Quadenhof, kleine Schnapsfabrik in unmittelbarer Nähe zur Hauptstraße und ihm seit Kindertagen vertraut, stand im Fokus seiner Idee. Er schwang sich eines Abends aufs Fahrrad und radelte los. Ziel war das Büro des alten Fabrikgebäudes. Geräuschlos stellte er sein Rad an den Zaun, kletterte behände hinüber, hörte ein Geräusch, sah einen Schatten ... Einen Schatten um diese Zeit? Peppel erschauerte. Um diese Zeit war das Fabrikgelände leer. Immer. Das wusste er. Schließlich kannte er, wie bereits gesagt, den Gebäudekomplex gut. Vorsichtig schlich er weiter. Ein Knall so laut wie eine Explosion zerriss die abendliche Ruhe. Peppel flog durch die Luft, sah in den schwarzen Himmel, erblickte Geldscheine, Gin und Unmengen von wohlriechenden Zigarillos ... sah sich selbst, hörte sich schreien: »Wo bin ich?« Und dann sah er nichts mehr. Dafür überlagerte ein metallischer Geschmack seinen Wunsch nach Gin ...« Falk schluckte, wollte weitererzählen, aber Nina legte die Hand auf seinen Arm.

»Lass gut sein, Falk. Netter Versuch von dir, mich auf andere Gedanken zu bringen.«

»Nach der nächsten Ampel musst du rechts abbiegen. Die Straße mündet in einen Feldweg. Ziemlich holperig. Da muss die Schwester unserer Toten wohnen. Nummer sechsundvierzig. Dicht an dem angrenzenden Wald, wie ich auf dem Handy erkennen kann.« Nina steckte das Handy in die Innentasche der Jeansjacke und kramte im Handschuhfach nach einem Hustenbonbon.

»Wald nennt sich das? Ein bisschen übertrieben, oder? Fünf Bäume und ein paar Sträucher. Das Wort Wäldchen wäre in diesem Fall übertrieben. Höchstens grünes Fleckchen.«

»Hör mal, du kommst aus Herne. Dort gibt es weder Wald noch Wäldchen. Wiesen musst du mit der Lupe suchen. Alles grau in grau. Öde.«

»Nina, das sind Vorurteile wie aus dem Bilderbuch. In Herne gibt es den Herner Stadtgarten, den Wanner Stadtgarten, Schloss Strünkede mit riesigen, gepflegten Parkanlagen und einiges mehr. Aber gut. Ich fahre bis zu dem sogenannten Wald und dann schauen wir mal, wo es genau ist.«

»Dort, das kleine Häuschen mit den grünen Fensterrahmen und den gehäkelten Gardinen. Das muss es sein.« Nina zeigte darauf.

»Nicht sehr einladend. Schau mal, alles dunkel. Und wie schmierig die Scheiben sind. Und überall Spinnennetze. Ich glaube, da wohnt kein Mensch.« Falk parkte den Dienstwagen zwischen einer alten Tanne und einem Feuerdorn.

»Pass auf, wenn du aussteigst, Nina. Der Feuerdorn ist nicht ohne mit den dornigen Zweigen.« Ein Tannenzapfen fiel herunter und traf Falk an der Stirn. »Boah, was für ein Mist. Hier wirst du von Tannenzapfen erschlagen. Blute ich, Nina?« Die Kollegin betrachtete die Stelle und grinste verneinend. »Ein kleiner Kratzer. Hat deiner Schönheit nicht geschadet. Komm Falk, hier ist eine Glocke.« Und schwuppdiwupp hatte sie diese betätigt und es erklang ein feiner klarer Ton. Bim-bim-bim.

Und noch einmal. Bim-bim-bim.

Die ziemlich heruntergekommen aussehende Holztür öffnete sich einen schmalen Spalt und eine Frauenstimme leise, jedoch bestimmend: »Ich kaufe nichts!« Und schon war die Tür zu.

»Doch jemand im Haus«, flüsterte Nina. Sie hämmerte mit der Faust gegen das Holz. »Bitte öffnen Sie die Tür. Wir sind von der Polizei. Nina May und mein Kollege Falk Roth. Es geht um Ihre Schwester.«

»Um Leni?« Die Stimme drang gedämpft durch die geschlossene Tür.

»Ja, um Leni. Öffnen Sie bitte. Wir haben unsere Dienstausweise in der Hand. Sie können uns glauben.«

Erneut wurde die Tür geöffnet. Diesmal so weit, dass die Kommissare eine kleine, zarte Frau erblickten, die einen dicken Wollschal um den Hals geschlungen trug, zwei geschwollene Augen und eine Nase, so rot wie eine reife Tomate. Der Duft von Pini Menthol, Eukalyptus und Kamillentee schlug den beiden entgegen.

»Ich bin krank. Grippe. Kann kaum sprechen. Was ist mit Leni?«

»Dürfen wir bitte hereinkommen?«, fragte Falk. Seine Stimme klang warm und mitfühlend.

»Ungern. Bei mir ist es nicht aufgeräumt. Kann mich kaum auf den Beinen halten.«

»Kein Problem für uns.« Nina ging an ihr vorbei in den Wohnraum, in dem es warm war wie in einer Backstube und stickig, als wäre tagelang nicht gelüftet worden.

»Sie müssen unbedingt die Fenster öffnen. Frische Luft ist besser als jede Medizin. Hier in dem Mief kann man nicht gesund werden.« Nina riss eines der kleinen Fenster auf und atmete tief durch. »Sie sind Lenis Schwester? Darf ich nach Ihrem Namen fragen? Ich habe an der Tür kein Namensschild gesehen.«

»Ich bin Toni. Antonia Schuster. Was ist denn mit Leni?«

»Sie ist tot!« Falk stand hinter Toni, die erst eine Weile wie erstarrt die Polizisten ansah, dann zu schwanken anfing. Im letzten Moment konnte Falk sie auffangen, ehe sie auf den Holzboden gestürzt wäre. Er setzte sie mit Ninas Hilfe auf die Couch.

»Tot?«

»Ja. Es tut uns leid.« Nina warf Falk einen hilflosen Blick zu.

»Wo ist Wasser? Ich bringe Ihnen etwas zu trinken.«

»Dort.« Toni zeigte auf die Anrichte, zog den Schal enger um den Hals, fischte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die triefende Nase.

»Was ist denn passiert? Wie ist sie gestorben?«

Nina hockte sich neben sie, reichte ihr das Glas mit Wasser. »Wir wissen es nicht genau.«

»Ein Unfall?«

»Eher nicht. Wir vermuten ein Gewaltverbrechen.«

»Ich habe ihr immer wieder gesagt, irgendwann wirst du in der Gosse landen. Irgendwann!« Sie schluchzte. »Leni wollte immer alles. Die Welt sehen, reisen, ferne Länder kennenlernen, und ...« Weiter kam sie nicht. Ihre Stimme versagte. Tränen rannen über die Wangen und der schmächtige Körper zitterte wie Espenlaub.

»Ist das Ihre Schwester auf dem Foto?« Nina zeigte mit dem Finger auf die Pinnwand, die neben einem schmalen Regal an der Wand hing und an der ein Karnevalsfoto zu sehen war. Leni als lustiger Marienkäfer und Toni als Biene Maja. Toni nickte wortlos. Die Tränen liefen weiterhin über ihr Gesicht, die Nase tropfte und sie atmete schwer und schnappartig.

»Das war ein lustiger Abend. Leni tanzte ausgelassen und war so glücklich«, hauchte sie und erneut erschütterte ein Weinkrampf ihren geschwächten Körper.

»Soll ich einen Arzt rufen?« Falk wippte von einem Bein aufs andere. »Oder können wir jemanden benachrichtigen? Ehemann? Freund? Freundin?«

»Nein. Nein. Es geht schon. Es tut nur so weh. Leni war mein Ein und Alles. Unsere Eltern sind beide verunglückt. Da waren wir noch klein. Wir haben immer aufeinander aufgepasst. Wie zwei eineiige Zwillinge. Dabei sind wir fast drei Jahre auseinander.«

Nina strich ihr beruhigend über den Rücken. »Ich verstehe Sie.«

»Verstehen? Das glaube ich kaum. Sie haben doch ständig mit Toten und Hinterbliebenen zu tun. Selbst jetzt inspizieren Ihre Augen meine Wohnung. Bitte gehen Sie. Ich möchte alleine sein.« Damit stand Toni unerwartet schnell auf, hustete, wischte sich mit dem Zipfel des Schals die Nase, öffnete die Tür und schob die Kommissare energisch hinaus.

»Frau Schuster. Wir kommen wieder. Das wissen Sie. Morgen früh. Bis dahin haben Sie sich hoffentlich etwas beruhigt und können in Ruhe unsere Fragen beantworten. Hier ist meine Karte, für den Fall, dass Sie uns heute noch etwas mitteilen möchten. Sie können jederzeit anrufen.« Nina gab ihr die Visitenkarte und verließ mit Falk das Häuschen.

»Puh, die ist ja ganz schön fertig. Was war denn auf einmal mit der los? Am Anfang kam sie mir ziemlich fertig vor und dann wurde sie zur Furie. Und der Mief! Hoffentlich habe ich morgen keinen Schnupfen und Husten.« Falk schüttelte sich wie ein nasser Pudel. So als wolle er alle unliebsamen Viren und Bakterien loswerden. »Irgendwie ist mir schon ganz anders, so komisch heiß, grrr ...«, näselte er und schloss den Wagen auf.

»Oh, da fällt mir ein Spruch ein. Der hing bei meiner Cousine an der Badezimmertür.« Nina fing an zu kichern. »Ich habe Schnupfen. Oder wie mein Mann sagen würde: Es geht mit mir zu Ende.« Sie prustete los und hatte alle Mühe, sich zu beruhigen.

»Ist überhaupt nicht lustig.« Falk mochte Nina. Mehr als er sich selbst zugestehen wollte, aber ihr Humor war ihm manchmal etwas zu makaber. Sehr gewöhnungsbedürftig. Seine Ex-Frau wäre nie auf den Gedanken gekommen, solche Sätze zu sagen. Aber Nina war ja auch nicht seine Frau, sondern eine Kollegin. Mehr nicht.

»Was ist los mit dir, Falk? Du sagst gar nichts.«

»Ich denke nach.«

»Über unsere Tote oder deren Schwester oder über beide?«

Falk huschte noch so gerade bei Gelb durch, ehe er auf die Autobahnauffahrt Richtung Bonn fuhr.

»Auch über die beiden.«

»Worüber noch?«

»Unwichtig. Lass uns lieber über den Fall reden. Diese Toni wirkte sehr unsortiert auf mich. Ungeordnet. Durcheinander.«

»Na, komische Begriffe, um eine Frau zu beschreiben. Sie ist ja kein Bücherregal. Aber du hast recht. Vielleicht lag es an ihrem Gesundheitszustand. Die Grippe hatte sie ja voll im Griff. Und dann auch noch der Tod der geliebten Schwester. Nicht einfach die Situation. Morgen werden wir Klartext mit ihr reden. Will hoffen, dass es ihr dann besser geht.«

»Ja. Wir wissen bisher wenig über die Tote und auch diese Toni hat nicht viel erzählt.« Falk raste über die Autobahn und Nina machte sich Notizen.

Ninas Blick fiel auf den Michaelsberg, der in der Ferne über Siegburg aufragte. Ein imposantes Gebäude. Sie mochte diesen Bau, mit der ehemaligen Abtei. Er wirkte auf sie erhaben und pompös. Das Handy brummte.

»Gereon! Unser Schnippelgenie.« Nina grinste Falk von der Seite an und meldete sich mit den Worten. »Da ist ja unser Genie der Rechtsmedizin. Hast du Ergebnisse?« Sie stellte den Lautsprecher an.

»Wann könnt ihr hier sein?« Gereon ging gar nicht auf die Frage ein.

»Knapp zwanzig Minuten brauchen wir noch.«

»Oki.« Und weg war er.

»Der geht mir vielleicht auf den Schnürsenkel mit seinem oki. Das Wort gibt es überhaupt nicht.« Falk schob sich einen Kaugummi in den Mund und überholte einen Lastkraftwagen.

»Oki ist bestimmt ein Wort aus einem seiner Fantasy Romane. Gereon liebt diese Art von Literatur. Mira Valentin und dieser Tolkien gehören zu seinen Lieblingsautoren, wie er mir in jeder freien Sekunde vorschwärmt. Er selbst schreibt wohl auch. Ich möchte nicht wissen, was in dessen Kopf für Fantasien frei getreten werden, bei den ganzen Leichen, die er auf dem Seziertisch liegen hat.«