Oh Odessa - Tom W. H. A. Sommerlatte - E-Book

Oh Odessa E-Book

Tom W.H.A. Sommerlatte

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund der angespannten Situation in der Ukraine stößt der alternde Jerry auf die Lebensgeschichte von Friedrich. Der hat seine Jugendliebe, eine von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg verschleppte „Ostarbeiterin“, nie vergessen und macht sich nach dem Tod seiner Frau auf die Suche nach „seiner“ Antonie. Jerry kommt die Idee, ein Drehbuch über eine generationsübergreifende Liebe zu schreiben. Darin gerät Großvater Walter Bellinger wegen seiner Suche mit seinem Enkelsohn Michael in Konflikt, der aber in Odessa selber eine unerfüllbare Liebe erlebt. Sie müssen sich trotz unterschiedlicher historischer Rahmenbedingungen der gleichen Lebensfrage stellen: Können Menschen eine Liebe in Erinnerung bewahren und mit jemand anders trotzdem glücklich sein? Wie wird sich Michael entscheiden?

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Seitenzahl: 150

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-949263-86-6

ISBN e-book: 978-3-949263-87-3

Lektorat: Lektorat KL

Umschlagfotos: Dimitar Gorgev, Ganna Stryzhekin | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

www.vindobonaverlag.com

1. Frühjahr 2020

Jerry Danburg war seit einiger Zeit auf der Suche nach etwas, das ihn ergreifen würde und ihm wert erscheinen ließe, sich aus innerem Antrieb einzusetzen. Anstatt nur von der Routine des Alltäglichen in Trab gehalten zu werden.

Warum berührte ihn da der kleine Artikel im Lokalteil einer Wiesbadener Tageszeitung so sehr, dass er bei der Redaktion anrief, um mehr über das im Artikel Berichtete zu erfragen?

Der Artikel handelte von der Reise eines alten Mannes aus einem benachbarten Dorf, der nach Odessa in der Ukraine geflogen war, um dort eine ebenso alte Ukrainerin zu besuchen, der er als 17-Jähriger unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs begegnet war. Sie hatte damals, gerade aus dem Arbeitslager in Sindlingen bei Frankfurt befreit, bei seinen Eltern Unterschlupf gefunden. Dem Artikel war ein Foto der beiden Alten am Strand des Schwarzen Meers nahe Odessa beigefügt, auf dem sie sich mit sichtbar beglücktem Gesichtsausdruck im Arm halten.

Jerry erfuhr von der Redaktion die Adresse des alten Mannes, eines gewissen Friedrich Decker in Niederjosbach, einem Vorort von Wiesbaden. Er schrieb ihm sogleich und bat ihn um ein Gespräch über seine Reise in die Ukraine.

Mit seinen 82 Jahren hatte er das Ende des Zweiten Weltkriegs, als er 7 Jahre alt war, immer noch in nahezu traumatischer Erinnerung: die Bombenangriffe auf seine Heimatstadt, die brennenden und eingestürzten Häuser, die von den Bomben getöteten Klassenkameraden, die Todesmeldung seines in Russland, wie man sagte, gefallenen Vaters, und dann nach Ende der Kämpfe die russische Besatzung. Die russische Besatzung hatte er besonders in Form eines ukrainischen Majors mit seiner Gefolgschaft erlebt; für die Gefolgschaft war damals sein Elternhaus requiriert worden, während seiner Mutter, ihm und seinem kleineren Bruder nur das so genannte Mädchenzimmer im Dachgeschoss überlassen wurde.

Diese Erinnerungen trug er mit sich herum, ohne noch Gehör dafür zu finden. Denn Gleichaltrige wie er redeten untereinander selten oder gar nicht mehr über das Erlebte, weil sie sich damit nichts Neues zu sagen hatten. Und Jüngere, wie seine Kinder und Enkelkinder, konnten sich das tagtägliche Erleben und Erleiden von Kriegszerstörung nicht vorstellen und wollten die Schauergeschichten am liebsten nicht mehr hören.

Jerry empfand, dass diesen Friedrich Decker eine ähnlich schwelende Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegswirren bewegt haben muss, über die er, Jerry, mehr wissen wollte, in der Ahnung, dass es ihnen beiden guttun würde, sich darüber auszutauschen.

Das war der eine Beweggrund.

Aber entscheidender war, dass diesen alten Mann, und der Decker war anscheinend schon in den 90ern, eine längst verstrichene Jugendliebe zu einer Ostarbeiterin aus der Ukraine noch so bewegte, dass er nach 75 Jahren ein Wiedersehen mit ihr in ihrer Heimatstadt Odessa gesucht hatte.

Eine solche Jugenderinnerung war etwas, das Jerry selber kannte, etwas, das ihn sein Leben lang nach etwas Unwiederbringlichem sehnen ließ.

Diese Gemeinsamkeit, die er erahnte und die ihn anrührte, war der zweite Beweggrund.

Ohne die Antwort Friedrich Deckers abzuwarten, fand Jerry seine Telefonnummer heraus und rief an.

Er war sogleich am Apparat, der Herr Decker, etwas verblüfft und misstrauisch. Ja, den Brief hatte er erhalten, aber eigentlich wollte er ihn nicht beantworten. Denn zu was sollte das Gespräch nütze sein? Man kenne sich ja gar nicht, und was er zu sagen hatte, stehe ja in dem Artikel, er habe es seinem Nachbarn, dem Journalisten, überhaupt nur auf dessen Drängen hin erzählt.

Jerry verstand es jedoch, am Telefon auf unaufdringliche Weise verständlich zu machen, dass ihn die Story, wie er sagte, nicht nur aus persönlichen Gründen angesprochen habe, sondern dass er sie als einen Anstoß empfinde, daraus eine Aussage, eine Botschaft, etwas Bleibendes zu machen, das mehr als nur die Leser des Wiesbadener Kuriers erreichen müsse. Friedrich Decker reagierte mit einer Mischung aus mürrischem Zweifel und uneingestandenem Stolz und willigte schließlich ein, dass Jerry in Niederjosbach vorbeikomme, am besten an einem Freitagvormittag.

Jerry wurde sich bewusst, dass er sich in einen dritten Beweggrund hineingeredet hatte: Ihm begann ein Drehbuch vorzuschweben, für das er die Brauchbarkeit der Story Friedrich Deckers in Erfahrung bringen wollte. Das hieß, dass er sich bei der Begegnung Notizen machen oder sogar eine Tonaufzeichnung laufen lassen würde, wie er es in seiner beruflichen Arbeit als Coach und Consultant gewohnt gewesen war.

Dann kam es an einem sonnigen Freitagvormittag zur Begegnung mit Friedrich Decker in Niederjosbach nördlich von Wiesbaden, einem Zwischending von Dorf und schnell gewachsener Wohnsiedlung von Menschen, diein Frankfurt und Umgebung, in Höchst oder Wiesbaden berufstätig sind. Das Haus von Friedrich Decker war noch eins der alten hessischen Bauernhäuser mit Vorgarten und großer Toreinfahrt zum Innenhof. Jerryklingelte am Gartenzaun und sah kurz darauf den alten Decker von der Haustür aus winken, dass er doch durch das Gartentörchen und den mit Stauden und Blumen säuberlich angelegten Vorgarten treten und hereinkommen solle. Am Gartentor hatte Jerry das Schild gelesen, das Friedrich Decker als Ortsrichter auswies, eine Instanz in kleinen Ortschaften wie Niederjosbach, die für Unterschriftsbeglaubigungen, Wertschätzungen von örtlichen Immobilien und für Auskünfte über Besitz- und andere persönliche Verhältnisse von Bewohnern des Orts zuständig ist. Sie begrüßten sich recht formell, aber der Decker hatte schon ein Kännchen Kaffee vorbereitet und platzierte seinen Gast am Fenster zum Innenhof und zu den Stallungen.

Es wurde ein zunehmend liebenswürdiges und mitteilungsreiches Gespräch, das vor Jerrys Augen ein Bild der Decker’schen Familie und das Szenario der Lebensgeschichte Friedrich Deckers entstehen ließ. Friedrich Decker taute auf und war ganz offensichtlich froh, einen so verständig zuhörenden Interessenten für seine Story vor sich zu haben. Dass Jerry einen Spielfilm über seine Erlebnisse für möglich hielt und ein ausgewiesener Pro für die Durchdringung von Lebenskonstellationen zu sein schien, beflügelte Friedrich Deckers Beredsamkeit. Ihn besorgte zudem, dass sich nach der Annexion der Krim durch Russland und angesichts des imperialistischen Gehabes und der militärischen Protzerei Putins, wie er sagte, eine Bedrohung für die ganze Ukraine abzeichnete.

Die Stunden verflogen, und mehrere Tonbandkassetten in Jerrys Diktaphon waren gefüllt, als sie beide beschlossen, jetzt erst einmal Schluss zu machen und sich für ein zweites Zusammentreffen zu verabreden.

Jerry kehrte in seine Bleibe am Wiesbadener Kurpark zurück, ergriffen von der Fülle menschlicher Schicksale, die sich ihm aufgetan hatte, und mit dem endlich wiedergefundenen inneren Antrieb, etwas Ergreifendes zu gestalten. Für den Abend hatte er sich mit einem befreundeten Paar verabredet, dem er von dieser Geschichte und seiner Absicht berichten wollte.

„Als ich das Gespräch suchte, war es die gewagte Odessa-Reise dieses Friedrich Decker zu einer unmittelbar nach Kriegsende 1945 geliebten Ostarbeiterin aus der Ukraine, die mich konsternierte. Im Gespräch erfuhr ich dann, dass er nicht allein hinflog, sondern mit seinem Enkelsohn, der dem alten Mann zur Seite stehen sollte, und dass das für den Enkelsohn selbst zu einer großen unerwarteten Herausforderung wurde. Die Beziehung zwischen dem alten Mann und seinem Enkelsohn und dessen in Odessa beginnende Liebesgeschichte sind auf einmal der Kern der Story geworden.“

Sein Freund Johannes, Kameramann, meinte, dass sich die Erzählung wahrscheinlich für eine Fernsehromanze hinbiegen lasse. Lisa, seine Partnerin, Schauspielerin ihres Zeichens, lächelte nur und schien an gemeinsame Erinnerungen zu denken, auf die Jerry implizit angespielt hatte.*

Johannes: „Die Geschichte würde ich als die einer generationsübergreifenden Liebe erzählen. Vor den Augen des Großvaters, der in seiner Jungend eine romantische, aber unmögliche Liebe erlebte, die ihn auch nach 75 Jahren noch umtreibt, entdeckt sein Enkelsohn in sehr ähnlicher Art und Weise ein schließlich unerfüllbares Liebesglück. Ein dramatisches Konstrukt, das sinnbildlich erzählt, wie verschiedene Generationen trotz erheblicher historischer Unterschiede doch wieder vor den gleichen Lebensfragen stehen können. Enkel und Großvater lernen sich bei ihrem‚Abenteuer‘inder Ukraine neu kennen, als Erwachsene, die sich ähnlichen Problemen im Leben stellen müssen. Die gemeinsame Reise und das gegenseitige Verstehen ihrer Seelennöte hilft ihnen, ihre Wertekonflikte zu überwinden und schweißt sie am Ende enger zusammen.

Dass der zweite Weltkrieg als historische Facette und die aktuelle Bedrohung der Ukraine durch das Putin-Regime dabei eine Rolle spielen, ist ebenfalls reizvoll, weil es eine weitere Diskrepanz zwischen Großeltern- und Enkelgeneration aufmacht – in ihren völlig unterschiedlichen persönlichen Bezügen zur politischen Geschichte und ihrer unterschiedlichen Haltung dazu.“

Lisa: „Allerdings stellt sich die Frage nach dem Protagonisten. Natürlich sind Großvater und Enkelsohn beide elementare Figuren des Plots. Im Zusammenspiel dieser beiden Charaktere entfaltet sich ja das dramatische Potential der Geschichte. Doch in einem Spielfilm hilft es ungemein, sich klar für einen Protagonisten zu entscheiden. Meist ist es die Figur mit dem größten Entwicklungspotential – also die, die im Laufe der Geschichte den größten inneren Wandel durchmacht. In diesem Fall wäre das ganz klar der Enkelsohn. Denn er muss noch viel verstehen lernen, was der Großvater längst erlebt und verinnerlicht hat. Ebenso wichtig ist, dass der Protagonist etwas verfolgt, das er von Beginn des‚Abenteuers‘an erreichen will. Dieses Ziel kann sich im Verlauf der Erzählung ändern, ja irgendwann kann die Figur begreifen, dass sie etwas ganz anderes im Leben braucht, als das Ziel, weswegen sie aufgebrochen ist. Aber das ursprüngliche Ziel muss man erst einmal mitbekommen.“

Jerry hörte mit geschlossenen Augen zu und nickte ab und zu. Es juckte ihm in den Fingern, sich schnell an die Arbeit zu machen: „Gebt mir ein bisschen Zeit, dann lege ich Euch den ersten Anlauf vor.“

* Die Kommentare von Jerrys Freunden Johannes und Lisa entstammen teilweise einer Drehbuch-Analyse des Lektors Florian Puchert der Script-Service-Agentur Free X GmbH, teilweise des Kameramanns Johannes Hollmann aus dem Jahr 2021.

2. Herantasten

Jerry verbrachte unruhige Tage mit mehreren Anläufen des Schreibens in seiner Wohnung am Wiesbadener Kurpark. Ein paar Mal rief er Friedrich Decker an und bat ihn schließlich, den Enkelsohn Manfred kennen zu lernen. Keine einfache Sache, denn was sollte man dem Enkelsohn sagen, um zu begründen, warum da ein wildfremder alter Mann mit ihm sprechen wolle? Und worüber wollte Jerry mit diesem Manfred sprechen, ohne aufdringlich zu sein? Er dachte an seinen Enkelsohn Eric – wie würde der reagieren? Aber auch: Warum hatte er so lange nicht mehr mit ihm gesprochen, egal worüber?

Friedrich Decker rief alsbald zurück und teilte Jerry mit, dass er sich mit Manfred telefonisch für ein Zusammentreffen verabreden könne. Der Enkelsohn, der ja mit Frau und Kind in Wiesbaden wohne, wisse, worum es gehe und habe dafür ohne Zögern Verständnis gezeigt.

Jerry überlegte hin und her, wo das Gespräch stattfinden solle. Nicht bei ihm, das könnte protzig wirken. Aber im Kurpark bei einem Spaziergang und anschließend einem Five-o’clock-Tee auf der Kurhaus-Terrasse, das schien ihm passend.

Und so trafen sie sich am Parkeingang, stellten sich einander vor, und Jerry versuchte zu erklären, was ihn interessierte. Dabei beobachtete er den, wie er wusste, 22-Jährigen, einen großen, schlanken und sportlich locker wirkenden Typ in schwarzem Lederdress, der offenbar hilfsbereit sein wollte und auf ein paar Stichworte wartete, während sie auf den geharkten Wegen am See entlangschlenderten.

Ja, er habe sich gern etwas Zeit genommen an einem so schönen Maitag, sein Training beginne erst in zwei Stunden. Jerry wollte von ihm hören, so begann er, wie er Odessa und die Menschen dort erlebt habe. Manfred schwärmte von dieser interessanten, historisch so vielfach geprägten Hafenstadt am Schwarzen Meer, von der kosmopolitischen Atmosphäre, dem Humor und der stoischen Lebensweise der Menschen dort. Ja, und die Antonie, die sich ein Leben lang unter widrigen Umständen durchgeschlagen habe und doch kultiviert und großzügig geblieben sei!

Jerry wartete darauf, dass Manfred von Karenina, der Enkeltochter Antonies, zu sprechen begänne, von seiner Entscheidungssituation in Odessa. Aber Manfred fuhr nur fort, von Odessa als einer Stadt der Liebe zur Musik, von der erstaunlichen Jazz-Szene dort, zu sprechen. Auch Antonies Vater sei ja ein großer Violinist gewesen, aber nachdem die Deutschen seine Tochter nach Deutschland ins Arbeitslager Sindlingen verschleppt hätten, sei er nicht mehr aufgetreten.

Manche Informationen, die Jerry sich erhofft hatte, bekam er auf diese Weise nicht, aber er gewann eine Vorstellung davon, wie sich dieser Manfred verhielt, wie er dachte und wie er mit seinem Erlebnis in Odessa fertig geworden war.

Schließlich, unter Verweis auf sein anstehendes Training, erzählte Manfred von seinem Studium an der Hochschule für Sport und Gesundheit in Frankfurt, das er bald mit einem Master abschließen würde, um dann seinen und den Lebensunterhalt seiner kleinen Familie als Sportlehrer verdienen zu können.

Vor dem Kurpark setzte sich Manfred den Sturzhelm auf, schwang sich auf sein Motorrad und brauste davon. Jerry fand, ihm hinterherschauend, die Erklärung, warum Manfred im schwarzen Lederdress gekommen war.

Er schlenderte amüsiert nachhause und begann, einen Einstieg in sein Szenario zu konzipieren.

3. Erster Anlauf

Er brachte schließlich erste Szenen auf den Bildschirm seines Laptops, einen möglichen Anfang der Story. In seiner Fantasie vermischten sich dabei Informationen, die er aus Friedrich Deckers Erzählungen herausgehört hatte, seine eigene Geschichte in den Nachkriegsjahren und Gedanken, die ihm über sein Verhältnis zu seinem Enkelsohn Eric kamen. Eric, der früher oft nachgebohrt hatte, wie er denn das Ende der Nazi-Diktatur, die letzten Kriegswochen und die deutsche Niederlage erlebt habe, wie er zu seinem Vater, dem NSDAP-Stadtrat, gestanden habe und was aus den Ostarbeitern geworden sei, die damals bei seinem Vater gearbeitet hatten.

Szene 1

Später Nachmittag im April, ein Dorf am Rande des Taunus im Jahr 2019.

Neben herausgeputzten Fachwerkhäusern stereotype Neubauten, am Ortseingang ein Supermarkt und ein Gebrauchtwagenhandel.

WALTER BELLINGER, 91 Jahre, der im Ort die Funktion des Ortsgerichtsvorstehers ausübt und bei Jung und Alt bekannt ist, geht rüstigen Schritts durch die Straße des Orts in Richtung Felder und Hänge, von denen das Dorf umgeben ist.

Es ist Frühling, die Sonne steht knapp über dem Horizont. Die Gärten sind voller Osterglocken, Tulpen und Krokusse, die Forsythien blühen knallgelb, die noch zaghaften Blätter an den Birken und Sträuchern sind frisch und hellgrün.

Walter Bellinger wird im Vorbeigehen gegrüßt und grüßt zurück. Einige Jugendliche im Skater-Look kurven mit ihrem Skateboard die Straße herunter und weichen Walter Bellinger etwas verlegen aus. Sein Blick ist aber verständnisvoll, eher belustigt. Von weitem klingt Popmusik aus einem offenen Fenster.

Jetzt mündet die Straße in einen Weg, der zwischen Feldern einen langgezogenen Hang hinaufführt. Während man Flugzeugbrummen am Himmel hört (der Flughafen Frankfurt ist nicht weit), verwandelt sich die Szene …

Szene 2

Flashback

Beginnender Abend Anfang März 1945. Ein Weg zwischen Feldern führt den Hang hinauf.

Walter Bellinger, als 17-Jähriger in Landser-Uniform, hastet den Weg entlang. Man hört das Brummen vieler Flugzeuge – Bomber im Anflug auf Frankfurt.

Oben auf der Kuppe stehen eine Flak (Flugzeugabwehrkanone) und ein riesiger Scheinwerfer. SOLDATEN, zum Teil so jung wie Walter Bellinger, zum Teil ältere Männer (um die 60 Jahre alt) richten die Flak aus. Einige RUSSISCHE KRIEGSGEFANGENE leisten Hilfsarbeit, tragen Munitionskisten aus einem Bunker herbei, einige machen Erdarbeiten.

Walter Bellinger schleppt eine Granate zur Flak, es geht alles sehr schnell.

Soldat an der Flak

Rein damit!

Walter Bellinger schiebt das Geschoss in die Flak, springt zurück und hält sich geduckt die Ohren zu.

Kurz darauf ein ohrenbetäubender Knall. Alle blicken zum Himmel hinauf. Walter Bellinger bringt die nächste Granate.

Soldat an der Flak

Mehr vorhalten!

Das nächste Geschoss geht los.

Walter Bellinger hastet wieder mit einer Granate herbei.

Soldat an der Flak

Drei Grad dreißig flacher!

Wieder der ohrenbetäubende Knall.

Plötzlich schert ein Begleitjäger aus und nimmt die Flakstellung unter Beschuss. Man hört den heranheulenden Jägermotor, die Maschinengewehrgarben, die Einschläge in der Erde.

Alle werfen sich in die Gräben. Niemand wird getroffen. Der Ton zwischen den Soldaten ist eher kameradschaftlich, die Älteren behandeln die Jüngeren barsch, aber fürsorglich. Auch die russischen Kriegsgefangenen werden nicht schikaniert, sondern „korrekt“ behandelt.

Der Befehlshaber

Wieder ran, los, los!

Alle hasten an ihre Positionen. Walter Bellinger bringt die nächste Granate.

Soldat an der Flak

Zu hoch und zu weit!

Der Befehlshaber

Schießen!

Noch ein ohrenbetäubender Knall. Es ist inzwischen dunkel geworden. Der Scheinwerfer wird eingeschaltet, das Dieselaggregat macht einen Höllenlärm.

Der Scheinwerfer tastet den Himmel ab.

Aber das Brummen des Bombengeschwaders klingt ab. Bald darauf hört man grollende Bombenexplosionen aus Richtung Hoechst.

Einer der jüngeren Soldaten

Die Farbwerke sind dran!

Der Scheinwerfer und das Dieselaggregat werden abgeschaltet. Auf der Kuppe wird es ruhig.

Der Soldat an der Flak

Machtlos!

Szene 3

Flashback

Eine Dorfstraße im März 1945 bei beginnender Abenddämmerung.

Der 17-jährige Walter Bellinger und seine gleichaltrigen Freunde ERWIN JANNSEN und GEORG KLEIN, alle drei in Landser-Uniform, stehen im Halbdunkel vor dem Bellinger’schen Haus.

Am anderen Ende der Dorfstraße tauchen plötzlich mit dröhnenden Motoren und metallischem Kettengeräusch auf Kopfsteinpflaster zwei amerikanische Panzer (Typ Patton) auf und richten ihre Kanonen in den Ort.

Georg Klein

Scheiße!

Erwin Janssen

In Deckung!

Walter Bellinger

Los, ins Haus.

Sie hechten in gebückter Haltung bis zum Haus und stürzen hinein.

Szene 4

Flashback

Im Elternhaus von Walter Bellinger beim matten Schein einer Windkerze.

Die drei Jungen in ihrer Landser-Uniform werden schreiend von Walters Mutter, FRAU BELLINGER, empfangen. VATER BELLINGER humpelt aufgeregt mit seinem Holzbein zur Kellertreppe.

Frau Bellinger

Mein Gott, jetzt geht’s los!

Vater Bellinger

In den Keller, Kinder. Los, los!

Draußen hört man Schüsse und einen Einschlag.

Die Eltern Bellinger und die drei Jungen sind die Kellertreppe hinuntergehastet und stehen lauschend in dem von dicken Mauern gebildeten Gewölbe.

Walter Bellinger

Wenn die bloß nicht auf Wohnhäuser zielen!

Georg Klein

Ich ergebe mich gleich!

Vater Bellinger

Sag das bloß nicht. Der Krieg ist noch nicht vorbei.

Walter Bellinger(flüsternd)

Jetzt ist’s wieder ruhig.

Wie konnten die nur so schnell hierherkommen!

Erwin Janssen

Auf der Autobahn, du Dummkopf!

Vater Bellinger

Ich spanne mal die Lage.

Vater Bellinger humpelt mit seinem Holzbein nach oben, während die anderen schweigend im Kellergewölbe ausharren.

Mutter Bellinger jammert leise vor sich hin.

Vater Bellinger(von oben rufend)

Der Spuk ist vorbei! Aber ihr Jungs bleibt im Haus.

Szene 5

Flashback

Nachts auf der Dorfstraße. Das Bahnhofgebäude brennt.

Die Leute haben weiße Bettbezüge aus den Fenstern ihrer Häuser gehängt.

Die amerikanischen Panzer sind verschwunden.