Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens - E-Book

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Oliver wird im Armenhaus einer englischen Kleinstadt geboren, der Vater ist unbekannt, die Mutter stirbt gleich nach der Geburt. Seine Kindheit ist trostlos. Er kommt ins Arbeitshaus, wird wenig später zu einem Sargtischler in die Lehre gegeben, ehe er nach London flieht und an eine Bande jugendlicher Taschendiebe gerät. Die Geschichte vom armen Waisenjungen, hinter dessen Herkunft sich ein tiefes Geheimnis verbirgt, zählt zu Charles Dickens' großen Gesellschaftsromanen. Eine Anklage gegen die Grausamkeiten des Frühkapitalismus, ein politisches Märchen und ein packendes Drama. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 823

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Charles Dickens

Oliver Twist

oderDer Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und Nachwort von Axel Monte

Reclam

Englischer Originaltitel:Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress

 

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961881-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020631-7

www.reclam.de

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes Kapitel

Anhang

Anmerkungen

Nachwort

Literaturhinweise

Zeittafel

Erstes Kapitel

Wo Oliver Twist zur Welt kam und die Umstände seiner Geburt.

Unter anderen öffentlichen Gebäuden einer gewissen Stadt, die ich aus vielerlei guten Gründen weder benennen noch ihr einen erfundenen Namen geben möchte, befand sich eines, das seit alters her in den meisten Städten, ob groß oder klein, vorhanden ist, nämlich ein Armenhaus. In diesem Haus wurde an einem Datum, das ich hier nicht zu erwähnen brauche, zumal es für den Leser im Moment nicht weiter von Belang ist, der kleine Erdenbürger geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels geschrieben steht.

Noch eine ganze Weile, nachdem er vom Amtsarzt in diese Welt voll Kummer und Leid befördert worden war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind überleben und überhaupt einen Namen benötigen würde. In diesem Fall wäre die vorliegende Geschichte sehr wahrscheinlich nie erschienen, oder wenn, dann gebührte ihr, weil auf wenige Seiten beschränkt, das unschätzbare Verdienst, die kürzeste und genaueste Biographie in der Literatur aller Zeiten und Länder zu sein.

Auch wenn ich keineswegs grundsätzlich behaupten möchte, eine Geburt im Armenhaus sei das allerglücklichste und beneidenswerteste Schicksal, das einem Menschen widerfahren kann, möchte ich in diesem besonderen Fall doch sagen, dass es das Beste war, was Oliver Twist passieren konnte. Es bedurfte nämlich vieler Mühen, Oliver dazu zu bewegen, selbständig zu atmen; eine zwar beschwerliche, doch für unser Wohlergehen unerlässliche Tätigkeit. Einen Augenblick lang lag er keuchend auf einer kleinen, mit Wollfetzen gefüllten Matratze, unentschlossen zwischen Diesseits und Jenseits schwankend, aber eher dem letzteren zugeneigt. Wäre Oliver nun während dieser kurzen Zeitspanne von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Krankenschwestern und kunstfertigen Ärzten umgeben gewesen, hätte er unweigerlich im Nu das Zeitliche gesegnet. Da jedoch nur eine Armenhäuslerin, die aufgrund des Genusses eines ungewohnten Quantums Bier leicht benebelt war, und ein Amtsarzt, der dies bloß als lästige Pflichterfüllung betrachtete, zugegen waren, mussten Oliver und die Natur die Sache unter sich ausmachen.

Nach kurzem Kampf stand das Ergebnis fest: Oliver begann zu atmen, nieste und setzte dann dazu an, den Bewohnern des Armenhauses zu verkünden, dass der Gemeindekasse eine neue Bürde auferlegt worden war, indem er so laut schrie, wie man es von einem männlichen Säugling eben erwarten konnte, der erst seit dreieinviertel Minuten über das höchst nützliche Organ einer Stimme verfügte.

Als Oliver dieses erste Zeugnis einer einwandfreien Lungentätigkeit ablegte, regte sich etwas unter der Flickendecke, die nachlässig über das eiserne Bettgestell geworfen worden war. Das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich mühsam vom Kissen, und eine dünne Stimme formte kaum vernehmbar die Worte: »Lasst mich das Kind sehen und sterben.«

Der Arzt saß am Kamin, wo er sich die Hände abwechselnd rieb und am Feuer wärmte. Als die junge Frau sprach, erhob er sich, ging zum Bett hinüber und sagte sanfter, als man es von ihm erwartet hätte: »Na, na, wer wird denn gleich ans Sterben denken?«

»Gott segne ihre arme Seele, nein!«, warf die Pflegerin ein und stopfte hastig eine grüne Glasflasche, deren Inhalt sie sich zuvor in einer Ecke mit augenscheinlichem Behagen hatte munden lassen, in die Tasche. »Gott segne ihre arme Seele. Wenn se ersma so alt is wie ich, Sir, un dreizehn Blagen zur Welt gebracht hat, die alle gestor’m sind, außer den beiden, die mit mir im Armenhaus leben, dann wird se schon zur Vernunft kommen, die arme Seele. Denkt doch, was es heißt, Mutter von so nem hübschen kleinen Kerlchen zu sein!«

Diese tröstliche Aussicht auf künftige Mutterfreuden verfehlte offensichtlich die beabsichtigte Wirkung. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem Kind aus.

Der Doktor legte es ihr in die Arme. Sie drückte ihre kalten, bleichen Lippen leidenschaftlich auf Olivers Stirn, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück … und verstarb. Sie rieben der Frau Hände, Brust und Schläfen, aber ihr Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen von Zuversicht und Hoffnung, doch beides war ihr schon zu lange fremd gewesen.

»Jetzt ist es vorbei, Mrs. Thingummy«, sagte der Amtsarzt schließlich.

»So sieht’s aus, die Ärmste«, pflichtete die Pflegerin bei und griff sich den Korken der grünen Flasche, der aufs Kissen gefallen war, als sie sich vorgebeugt hatte, um das Kind aufzunehmen. »Armer Wurm.«

»Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit«, sagte der Arzt und streifte sich bedächtig seine Handschuhe über. »Sehr wahrscheinlich wird es ein wenig unruhig sein. Gebt ihm dann einfach etwas Haferschleim.« Er setzte den Hut auf, blieb auf dem Weg zur Tür beim Bett stehen und bemerkte: »Hübsches junges Ding, wo kam sie eigentlich her?«

»Sie wurde letzte Nacht gebracht«, erwiderte die alte Frau, »auf Anweisung des Amtsfürsorgers. Hat in der Gosse gelegen. Muss wohl ne ganze Weile gelaufen sein, denn ihre Schuhe war’n völlig durchgelatscht. Aber keiner weiß, woher sie kam oder wohin sie wollte.«

Der Arzt beugte sich über den Leichnam und hob die linke Hand an. »Die alte Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd, »kein Ehering. Also dann, gute Nacht!«

Der Herr Mediziner begab sich zum Essen, und die Pflegerin, die nochmals dem Inhalt der grünen Flasche zugesprochen hatte, setzte sich auf einen Hocker ans Feuer, um den Säugling zu wickeln.

Der kleine Oliver Twist bot das allerbeste Beispiel dafür, dass Kleider Leute machen! In die Decke gehüllt, die bis dahin sein einziges Kleidungsstück gewesen war, hätte er sowohl Kind eines Adligen als auch eines Bettlers sein können. Selbst ein Beobachter mit ausgeprägtem Standesbewusstsein hätte Schwierigkeiten gehabt, Olivers gesellschaftliche Stellung zu bestimmen. Aber jetzt, wo er in einen alten Kattunfetzen, der in langjährigem Gebrauch ergilbt war, gewickelt wurde, bekam er einen Stempel aufgedrückt und erhielt seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen: als Heimkind, als Waise aus dem Armenhaus, als halbverhungerter, kuschender Kuli, den man nach Belieben drangsalieren konnte – von allen verachtet, von niemandem bemitleidet.

Oliver schrie aus Leibeskräften. Hätte er gewusst, dass er eine Waise und der fragwürdigen Gnade von Kirchenvorständen und Amtsfürsorgern ausgeliefert war, vielleicht würde er dann noch lauter geschrien haben.

Zweites Kapitel

Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und ernährt wurde.

In den nächsten acht oder zehn Monaten fiel Oliver einem planmäßigen Betrug und Verrat zum Opfer. Er wurde mit dem Fläschchen großgezogen. Die Verwaltung des Armenhauses meldete den ausgehungerten und beklagenswerten Zustand des verwaisten Säuglings pflichtschuldigst an die Verwaltung der Gemeinde. Die Gemeindeverwaltung erkundigte sich in aller Form bei der Armenhausverwaltung, ob es denn »im Hause« keine Frau gebe, die in der Lage sei, Oliver Twist mit der Nahrung und dem Trost zu versorgen, derer er bedürfe. Die Verwaltung des Armenhauses erwiderte geflissentlich, dass dem nicht so sei. Daraufhin fasste die Gemeindeverwaltung den hochherzigen und menschenfreundlichen Beschluss, Oliver »in Pflege« zu geben, das heißt, er kam in eine drei Meilen entfernt gelegene Zweigstelle des Armenhauses, wo zwanzig oder dreißig andere kleine Missetäter, die mit dem Armengesetz in Konflikt geraten waren, den ganzen Tag auf dem Boden umhertollten, ohne dabei von allzu viel Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden. Sie standen unter der fürsorglichen Aufsicht einer älteren Dame, die die Übeltäter für siebeneinhalb Pence pro kleinem Kopf und Woche beherbergte. Siebeneinhalb Pence die Woche sind ein beachtlicher Betrag für den Unterhalt eines Kindes. Für siebeneinhalb Pence bekommt man eine Menge zu essen, jedenfalls genug, um einem Kind den Magen zu verderben, so dass es sich unwohl fühlt. Die ältere Dame war eine weise und erfahrene Frau. Sie wusste, was gut für die Kinder war, und sie besaß eine ganz genaue Vorstellung davon, was gut für sie selber war. Also verwendete sie den größeren Teil des Kostgeldes für den eigenen Bedarf und setzte die heranwachsenden Heimkinder auf noch schmalere Kost, als ursprünglich für sie vorgesehen war. Indem sie also zeigte, dass es auch für jene, die bereits ganz unten sind, noch weiter bergab gehen kann, erwies sie sich als große Expertin der angewandten Philosophie.

Wir alle kennen die Geschichte eines anderen Vertreters der angewandten Philosophie, der die kühne These vertrat, ein Pferd könne ohne Futter überleben. Zum Beweis setzte er sein Pferd auf immer strengere Diät, bis es schließlich tatsächlich nur noch einen Strohhalm pro Tag benötigte. Aus dem Tier würde auch ohne Frage bald ein kraftstrotzendes und feuriges Ross geworden sein, das keinerlei Nahrung mehr bedurfte, wäre es nicht just vierundzwanzig Stunden, bevor es seinen ersten leckeren Bissen Luft zu sich nehmen sollte, überraschend gestorben. Unglücklicherweise führte die angewandte Philosophie der Dame, in deren Obhut Oliver Twist überstellt worden war, zu ähnlichen Ergebnissen. Gerade in dem Augenblick, wenn ein Kind es fertigbrachte, von der kleinstmöglichen Portion der dürftigsten Nahrung zu leben, geschah es seltsamerweise in achteinhalb von zehn Fällen, dass es aufgrund des Mangels und der Kälte erkrankte, unbeaufsichtigt ins Feuer fiel oder durch eine Unachtsamkeit halb erstickte. In jedem dieser Fälle wurden die armen kleinen Wesen für gewöhnlich ins Jenseits abberufen, zu ihren Vätern, die sie im Diesseits nie gekannt hatten.

Wenn zuweilen eine genauere Untersuchung als gewöhnlich stattfand, weil ein Kind beim Aufschütteln des Betts übersehen oder an den Badetagen versehentlich zu Tode verbrüht worden war – obwohl dies nicht oft geschah, da die seltenen »Badetage« im Heim ihren Namen kaum verdienten –, dann kam es den Gerichten schon einmal in den Sinn, unbequeme Fragen zu stellen, oder aufsässige Gemeinderäte setzten ihre Unterschrift unter Beschwerdebriefe.

Aber derartigen Unverschämtheiten wurde schnell durch Zeugnis und Aussage von Amtsarzt und Büttel Einhalt geboten. Der eine hatte stets den Leichnam geöffnet und nichts gefunden (was ja auch zu erwarten gewesen war), und der andere sagte aus, was immer die Ratsleute hören wollten, was von großem Pflichtbewusstsein kündet. Außerdem statteten die Vorstände des Armenhauses dem Heim regelmäßig Besuche ab, wobei sie sich stets einen Tag zuvor vom Büttel ankündigen ließen. Wenn sie eintrafen, waren alle Kinder stets sauber und ordentlich anzusehen, was wollte man mehr!

Es stand nicht zu erwarten, dass in diesen Heimen eine blühende Kinderschar herangezogen wurde. An seinem neunten Geburtstag war Oliver Twist ein dünnes blasses Kind von etwas zu kleinem Wuchs und entschieden zu geringem Körperumfang. Aber Natur oder Vererbung hatten ihm einen unbeugsamen Geist in die Brust gepflanzt. Dieser konnte sich dank der spärlichen Kost des Heimes ungehindert ausbreiten, und vielleicht ist es gar ihm zuzuschreiben, dass Oliver seinen neunten Geburtstag überhaupt erlebte. Wie dem auch sei, es war jedenfalls sein neunter Geburtstag, und er beging ihn gerade im Kohlenkeller, in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die, nachdem sie alle drei eine gehörige Tracht Prügel bezogen hatten, darin eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein, als Mrs. Mann, die ehrwürdige Leiterin des Heimes, von dem gänzlich unerwarteten Erscheinen Mr. Bumbles aufgeschreckt wurde, dem Büttel der Gemeinde, der sich vergeblich mühte, das Gartentor zu öffnen.

»Ach du meine Güte, Mr. Bumble, seid Ihr’s wirklich, Sir?«, rief Mrs. Mann, während sie mit gespielter Freude ihren Kopf zum Fenster hinausstreckte. »(Schnell, Susan, hol Oliver und die beiden andern Bengel aus’m Keller und schrubb sie ab!) Bei meiner Seel, Mr. Bumble, da freu ich mich aber, Euch zu sehen!«

Nun war Mr. Bumble ein beleibter Mensch von aufbrausendem Charakter, der, statt diese herzliche Begrüßung ebenso zu erwidern, am kleinen Gartenpförtchen rüttelte und ihm einen Tritt versetzte, wie es nur ein Büttel zu tun vermochte.

»Mein Gott, wie dumm«, sagte Mrs. Mann und eilte hinaus, denn inzwischen waren die drei Knaben aus ihrem Verlies befreit, »wie schrecklich dumm von mir! Wie konnt ich bloß vergessen, dass ich der lieben Kleinen wegen das Tor verriegelt habe! Kommt herein, Mr. Bumble, ich bitt Euch, Sir, tretet ein!«

Obwohl diese Einladung von einem Knicks begleitet wurde, der vielleicht das Herz eines Kirchenvorstands besänftigt haben mochte, ließ sich der Büttel davon keineswegs beschwichtigen.

»Mrs. Mann«, hob Mr. Bumble an und griff seinen Stock fester, »haltet Ihr es vielleicht für ein respektvolles und angemessenes Benehmen, Amtspersonen der Gemeinde am Gartentor warten zu lassen, wenn sie in Amtsgeschäften vorstellig werden, die die Waisenkinder der Gemeinde betreffen? Darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr Angestellte und Kostgängerin der Gemeinde seid?«

»Gewiss doch, Mr. Bumble, ich wollte ja nur einigen der lieben Kleinen, die so an Euch hängen, Euer Kommen ankündigen«, entgegnete Mrs. Mann unterwürfig.

Mr. Bumble besaß eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und der Würde seines Amtes. Die eine hatte er unter Beweis gestellt, die andere verteidigt, also war er’s zufrieden.

»Nun gut, Mrs. Mann«, antwortete er in milderem Ton, »sei es, wie Ihr’s sagt. Lasst uns hineingehen, denn ich bin in offizieller Angelegenheit hier und habe Euch etwas mitzuteilen.«

Mrs. Mann geleitete den Büttel in eine kleine Stube mit Steinfußboden, schob ihm einen Stuhl hin und plazierte Dreispitz und Stock sorgfältig vor ihm auf dem Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß, den die körperliche Anstrengung hervorgerufen hatte, von der Stirn, betrachtete selbstgefällig den Dreispitz und lächelte. Ja, er lächelte. Auch Büttel sind Menschen, und Mr. Bumble lächelte.

»Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten«, bemerkte Mrs. Mann mit bezwingender Liebenswürdigkeit, »aber Ihr habt einen langen Fußmarsch hinter Euch, wisst Ihr, sonst würde ich es ja gar nicht erwähnen. Wie wär’s also mit einem kleinen Schlückchen zur Stärkung, Mr. Bumble?«

»Keinen Tropfen. Keinen einzigen Tropfen«, entgegnete Mr. Bumble und winkte mit der rechten Hand bestimmt, aber nicht unfreundlich ab.

»Es würde Euch aber guttun«, hakte Mrs. Mann nach, die den Tonfall der Weigerung und die begleitende Geste wohl bemerkt hatte. »Nur’n kleines Schlückchen, mit etwas kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker.«

Mr. Bumble hüstelte.

»Nur’n kleines Schlückchen«, sagte Mrs. Mann einschmeichelnd.

»Was habt Ihr denn da?«, erkundigte sich der Büttel.

»Nun, wovon ich immer ein wenig im Hause haben muss, um es den lieben Kleinen in die Medizin zu mischen, wenn sie krank sind«, erwiderte Mrs. Mann, als sie ein Eckschränkchen öffnete, dem sie Flasche und Glas entnahm. »Es ist Gin, Mr. Bumble, ich sag’s Euch ganz ehrlich.«

»Ihr mischt den Kindern Gin in die Medizin, Mrs. Mann?«, fragte Bumble und verfolgte aufmerksam, wie Mrs. Mann den Trunk zubereitete.

»Ja, Gott segne sie, das tue ich, auch wenn’s mich teuer zu stehen kommt«, erwiderte die alte Pflegemutter. »Wisst Ihr, Sir, ich kann sie einfach nicht leiden sehen.«

»Nein«, pflichtete Mr. Bumble ihr bei, »das könnt Ihr nicht. Ihr seid eine herzensgute Frau, Mrs. Mann.«

Sie stellte ihm das Glas hin.

»Das werde ich bei nächster Gelegenheit auch dem Vorstand mitteilen, Mrs. Mann.«

Er zog das Glas näher zu sich heran.

»Ihr seid den Kindern eine wahre Mutter, Mrs. Mann.«

Er rührte um.

»Ich … ich trinke auf Euer Wohl, Mrs. Mann«, sagte er und trank das Glas in einem Zug zur Hälfte leer.

»Und jetzt zum geschäftlichen Teil«, fuhr der Büttel fort und holte ein ledernes Notizbuch hervor. »Der Knabe, der per Nottaufe den Namen Oliver Twist erhalten hat, wird heute neun Jahre alt.«

»Gott segne ihn!«, rief Mrs. Mann und rieb sich mit dem Schürzenzipfel das linke Auge rot.

»Und trotz einer Belohnung von zehn Pfund, die später auf zwanzig Pfund heraufgesetzt wurde, trotz der größten, ja, ich möchte sagen übermenschlichen Anstrengungen, die der Gemeinderat unternommen hat«, verkündete Bumble, »ist es uns weder gelungen, herauszufinden, wer sein Vater ist, noch wo seine Mutter herkam, wie sie hieß oder welchen Standes sie war.«

Mrs. Mann hob erstaunt ihre Hände, stutzte kurz und fragte nach: »Wie kommt es dann, dass er überhaupt einen Namen hat?«

Der Büttel warf sich voller Stolz in die Brust und erwiderte: »Den habe ich ihm gegeben.«

»Ihr, Mr. Bumble!«

»Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findelkinder in alphabetischer Reihenfolge. Der letzte war ein S – den habe ich Swubble genannt. Dieser war ein T – ihn habe ich Twist genannt. Der nächste wird ein Unwin sein, und der danach ein Vilkins. Ich habe schon bis zum Ende des Alphabets Namen parat, und wenn wir bei Z angelangt sind, geht’s wieder von vorn los.«

»Na so was, Ihr seid ja gar ein Dichter, Sir!«, rief Mrs. Mann.

»Na ja«, meinte der Büttel, der das Kompliment mit offensichtlicher Genugtuung zur Kenntnis nahm, »kann schon sein, dass ich einer bin, Mrs. Mann.« Er trank sein Glas leer und fuhr fort: »Oliver ist jetzt zu alt, um weiter hierzubleiben, der Vorstand hat entschieden, ihn wieder ins Armenhaus zu holen. Ich bin höchstpersönlich gekommen, um ihn mitzunehmen, also lasst mich ihn gleich sehen.«

»Ich werde ihn sofort herbeischaffen«, entgegnete Mrs. Mann und verließ zu diesem Zwecke das Zimmer. Oliver, dem man inzwischen so viel von der Dreckkruste, die ihm Gesicht und Hände überzog, entfernt hatte, wie man mit einmaligem Waschen abzuschrubben vermochte, wurde von seiner wohlwollenden Beschützerin hereingeführt.

»Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver«, sagte Mrs. Mann.

Oliver machte einen Diener, der gleichermaßen dem Büttel auf dem Stuhl wie dem Dreispitz auf dem Tisch galt.

»Willst du mit mir kommen, Oliver?«, fragte Mr. Bumble in hoheitsvollem Ton.

Oliver wollte gerade sagen, dass er nur zu gerne bereit sei, wegzugehen, mit wem auch immer, als er aufschaute und sein Blick auf Mrs. Mann fiel, die hinter den Stuhl des Büttels getreten war und ihm mit wütender Miene mit der Faust drohte. Er verstand den Wink sofort, denn diese Faust hatte zu oft Spuren auf seinem Leib hinterlassen, um nicht auch welche in seinem Gedächtnis hinterlassen zu haben.

»Wird sie mitkommen?«, erkundigte sich der arme Oliver.

»Nein, das geht nicht«, antwortete Mr. Bumble. »Aber sie wird dich hin und wieder besuchen.«

Das war dem Knaben kein sonderlicher Trost. Trotz seines jungen Alters war er verständig genug, großes Bedauern zu heucheln, fortgehen zu müssen. Es fiel dem Jungen nicht schwer, die Tränen fließen zu lassen. Hunger und jüngst erlittene Misshandlungen sind ausgesprochen hilfreich, wenn man weinen will, und so kamen Oliver von ganz allein die Tränen. Mrs. Mann umarmte ihn tausendmal und gab ihm, was Oliver weitaus mehr zu schätzen wusste, ein Stück Brot mit Butter, damit er nicht gar so hungrig aussähe, wenn er ins Armenhaus kam. Mit der Scheibe Brot in der Hand und der kleinen Armenhäuslermütze aus grobem Tuch auf dem Kopf wurde Oliver von Mr. Bumble fortgeführt, aus seinem erbärmlichen Zuhause, wo weder ein liebes Wort noch ein freundlicher Blick die Düsternis seiner frühen Kindheit erhellt hatten. Und doch überkam ihn, als die Tür des Heimes hinter ihm ins Schloss fiel, der Schmerz kindlicher Verzweiflung. So armselig seine kleinen Gefährten, die er zurückließ, in ihrem Elend auch sein mochten, so waren sie doch die einzigen Freunde, die er je gekannt hatte, und zum ersten Mal machte sich im Herzen des Kindes das Gefühl breit, ganz allein in der großen weiten Welt zu sein.

Mr. Bumble holte mit weiten Schritten aus, der kleine Oliver trabte, sich am goldbetressten Ärmel des Büttels festklammernd, neben ihm her und erkundigte sich alle Viertelmeile, ob sie schon »bald dort« seien. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble nur kurz und barsch Antwort, denn die vorübergehende Milde, die der Gin in mancher Brust weckt, hatte sich inzwischen verflüchtigt, und er war wieder ganz Büttel.

Oliver befand sich noch keine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses und hatte kaum eine zweite Scheibe Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte und ihm mitteilte, dass gerade eine abendliche Sitzung stattfinde und der Vorstand bestimmt habe, er solle unverzüglich vor selbigem erscheinen.

Da er keine rechte Vorstellung davon besaß, was eine Vorstandssitzung wohl sein könne, war Oliver über diese Nachricht nicht wenig erstaunt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er fand auch keine Gelegenheit, darüber nachzusinnen, denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stock einen Schlag auf den Schädel, um ihn aufzuwecken, einen weiteren in den Rücken, um ihn anzutreiben, und befahl ihm, mitzukommen. Der Büttel führte ihn in ein großes, weiß getünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herrn an einem Tisch saßen. Am Kopfende des Tisches thronte in einem Lehnstuhl, noch größer als die anderen, ein besonders feister Herr mit einem kugelrunden, roten Gesicht.

»Verbeuge dich vor dem Hohen Hause«, sagte Bumble. Oliver wischte ein oder zwei Tränen fort, die ihm in die Augen getreten waren, und da er kein hohes Haus sah, sondern bloß einen großen Tisch, verbeugte er sich auf gut Glück vor diesem.

»Wie heißt du, Junge?«, fragte der Herr in dem Lehnstuhl.

Oliver war vom Anblick so vieler Herren eingeschüchtert, weshalb er zu zittern begann, und der Büttel stieß ihm erneut in den Rücken, weshalb er zu weinen anfing. Wegen beidem konnte er nur sehr leise und stockend antworten, woraufhin ein Herr in weißer Weste ihn einen Dummkopf nannte. Das war natürlich bestens geeignet, Oliver Mut zu machen und ihm seine Befangenheit zu nehmen.

»Junge«, sagte der Herr auf dem großen Stuhl, »hör mir zu. Du weißt, dass du eine Waise bist, nehme ich an?«

»Was ist das, Sir?«, fragte der arme Oliver.

»Der Junge ist wirklich ein Dummkopf … ich hab’s doch gleich gewusst«, bemerkte der Herr in der weißen Weste.

»Ruhe!«, rief der Herr, der zuerst gesprochen hatte. »Du weißt, dass du weder Vater noch Mutter hast und von der Gemeinde großgezogen wurdest, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, erwiderte Oliver und weinte bitterlich.

»Warum weinst du?«, erkundigte sich der Herr in der weißen Weste. Und es war ja auch wirklich merkwürdig. Was sollte der Junge für einen Grund haben, zu weinen?

»Ich hoffe, du sprichst jeden Abend dein Gebet«, warf ein anderer Herr mit schroffer Stimme ein, »und bittest für die Menschen, die dir zu essen geben und für dich sorgen … wie ein guter Christ.«

»Jawohl, Sir«, stammelte der Junge. Der Herr mit der schroffen Stimme hatte, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen. Oliver wäre in der Tat ein guter, ja sogar ein vorbildlicher Christ gewesen, hätte er für die Menschen gebetet, die ihn ernährten und für ihn sorgten. Er tat es aber nicht, weil es ihm niemand beigebracht hatte.

»Gut! Du bist hier, damit du erzogen wirst und ein nützliches Handwerk erlernst«, sagte der rotgesichtige Herr in dem hohen Lehnstuhl.

»Also wirst du morgen früh um sechs Uhr damit beginnen, Werg zu zupfen«, fügte der bärbeißige Herr in der weißen Weste hinzu.

Für diesen zwiefachen Segen, der in der einfachen Tätigkeit des Wergzupfens lag, verbeugte sich Oliver auf Geheiß des Büttels und wurde dann in einen großen Saal getrieben, wo er sich auf einem harten und rauhen Lager in den Schlaf schluchzte. Welch schönes Bild der fürsorglichen Gesetze Englands! Sie lassen ihre Armenhäusler schlafen gehen!

Armer Oliver! Wie er so dalag, im glückseligen Schlummer alles um sich herum vergessend, dachte er nicht im geringsten daran, dass die Vorstände am selbigen Tag einen Beschluss gefasst hatten, der sein künftiges Geschick entscheidend beeinflussen sollte. Aber das hatten sie. Und zwar wie folgt:

Die Mitglieder dieses Vorstands waren äußerst verständige, scharfsinnige und lebenskluge Männer, und als sie ihre Aufmerksamkeit auf das Armenhaus richteten, fiel ihnen sofort auf, was gewöhnliche Leute niemals entdeckt hätten: Den Armen gefiel es dort! Für das niedere Volk war es geradezu eine öffentliche Vergnügungsstätte, ein Wirtshaus, wo man nicht zu zahlen brauchte, gratis Frühstück, Mittagstisch, Teetafel und Abendbrot, das ganze Jahr hindurch, ein steingewordenes Elysium, wo man sich nur verlustierte und nicht zu arbeiten brauchte. »Oho!«, sagten die Vorstände und machten ein schlaues Gesicht. »Wir sind die Richtigen, um diese Dinge in Ordnung zu bringen, wir setzen dem im Handumdrehen ein Ende.« Also stellten sie per Verordnung alle Armen vor die Wahl (sie wollten ja niemanden zwingen, sie nicht), langsam und allmählich im Armenhaus zu verhungern oder ganz schnell außerhalb desselben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die unbegrenzte Versorgung mit Wasser und mit einem Getreidehändler über die regelmäßige Lieferung kleinerer Mengen Hafermehls und gaben täglich drei Mahlzeiten dünnen Haferschleims aus, dazu zweimal die Woche eine Zwiebel und sonntags ein halbes Brötchen. Sie erließen noch weitere weise und menschenfreundliche Verordnungen, welche die Damen betrafen und hier nicht wiederholt zu werden brauchen, übernahmen es – angesichts der hohen Kosten eines Verfahrens im Gerichtshof Doctors’ Commons – freundlicherweise, arme Eheleute zu scheiden, und statt einen Mann dazu zu zwingen, für seine Familie zu sorgen, wie sie es bisher gehalten hatten, nahmen sie ihm die Seinen fort und machten ihn zum Junggesellen!

Man weiß nicht, wie viele Bittsteller aus allen Schichten der Gesellschaft in den letzten beiden Angelegenheiten um Unterstützung vorstellig geworden wären, hätte man diese nicht mit dem Armenhaus verknüpft. Die Vorstände waren jedoch Männer von Weitblick und hatten gegen diese Gefahr Vorkehrungen getroffen. Die fragliche Unterstützung war nicht ohne Armenhaus und Haferschleim zu haben, und das schreckte die Leute ab.

In den ersten sechs Monaten nach Olivers Umquartierung traten die neuen Verordnungen in Kraft. Anfangs war es recht kostspielig, weil die Ausgaben für die Leichenbestatter anstiegen und die Kleidung der Armenhäusler enger gemacht werden musste, da sie ihnen nach ein oder zwei Wochen Haferschleim um die abgezehrten, ausgemergelten Leiber schlotterte. Doch die Zahl der Armenhäusler nahm bald ebenso schnell ab wie sie selbst, so dass der Vorstand vollauf zufrieden sein konnte.

Der Saal, in dem die Jungen aßen, war ein großer Raum mit Steinfußboden, an dessen einem Ende ein kupferner Kessel stand, aus dem der Koch, zu diesem Zwecke mit einer Schürze bekleidet, zur Essenszeit mit einer Kelle den Haferschleim schöpfte, wobei ihm ein oder zwei Frauen zur Hand gingen. Von diesem Festtagsschmaus erhielt jeder Junge einen Napf voll, nicht mehr – außer an hohen Feiertagen, wenn es zusätzlich noch ein achtel Pfund Brot gab. Die Näpfe brauchten nie gesäubert zu werden, da die Jungen sie mit ihren Löffeln so blank polierten, dass sie glänzten. Hatten sie diese Tätigkeit beendet – was nie sehr lange dauerte, weil die Löffel fast so groß waren wie die Näpfe –, saßen sie da und starrten den Kessel an, mit so gierigen Augen, als wollten sie die Ziegelsteine, mit denen er eingefasst war, verschlingen, begnügten sich aber einstweilen damit, eifrig ihre Finger abzulecken, in der Hoffnung, ein paar Spritzer Haferschleim zu erwischen, die dort hängen geblieben sein mochten.

Jungen haben im allgemeinen einen gesunden Appetit. Oliver Twist und seine Gefährten ertrugen drei Monate lang die Qualen eines langsamen Hungertods, bis sie schließlich vor Hunger so toll und gierig wurden, dass ein Junge, der für sein Alter recht groß und an derlei nicht gewöhnt war (da sein Vater eine kleine Garküche betrieben hatte), sich gegenüber seinen Gefährten in düsteren Andeutungen erging: Wenn er nicht per diem einen weiteren Napf Haferschleim bekäme, dann fürchte er, eines Nachts noch den kleinen Jungen, der neben ihm schlief und zufällig ein schwächlicher Knabe zarten Alters war, zu verspeisen. In seinem Blick lag etwas derart Wildes und Hungriges, dass sie ihm ohne weiteres Glauben schenkten. Es wurde also beratschlagt und ausgelost, wer an diesem Abend nach dem Essen zum Koch gehen und Nachschlag verlangen sollte. Das Los fiel auf Oliver Twist.

Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Koch stellte sich in seiner Schürze an den Kessel, die Küchenhilfen aus dem Armenhaus gleich hinter ihm, der Haferschleim wurde ausgeteilt und vor der kurzen Mahlzeit ein langes Tischgebet gesprochen. Der Haferschleim verschwand, die Jungen tuschelten und gaben Oliver Zeichen, während seine Sitznachbarn ihn heimlich anstießen. Obwohl nur ein Kind, machten ihn der Hunger verzweifelt und die Not verwegen. Er stand vom Tisch auf, ging, Löffel und Napf in der Hand, zum Koch und sagte ein wenig erschrocken über seine eigene Kühnheit:

»Bitte, Sir, ich möchte noch mehr.«

Der Koch, ein rotwangiger, wohlgenährter Mann, wurde ganz bleich. Einige Sekunden glotzte er den kleinen Aufrührer bestürzt und verblüfft an, dann klammerte er sich haltsuchend am Kessel fest. Die Küchenhilfen waren starr vor Staunen, die Jungen vor Angst.

»Was?«, fragte der Koch schließlich mit schwacher Stimme.

»Bitte, Sir«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch mehr.«

Der Koch schlug mit der Schöpfkelle nach Olivers Kopf, packte sich den Jungen und schrie laut nach dem Büttel.

Der Vorstand tagte gerade in streng vertraulicher Sitzung, als Mr. Bumble in heller Aufregung in den Saal stürmte und an den Herrn im hohen Stuhl gewandt sagte:

»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr verlangt!«

Bestürzung machte sich breit. Auf allen Gesichtern zeichnete sich Entsetzen ab.

»Mehr verlangt!«, rief Mr. Limbkins. »Reißt Euch zusammen, Bumble, und antwortet geradheraus. Verstehe ich recht, dass er mehr verlangte, nachdem er die ihm zum Abendessen zustehende Ration verspeist hat?«

»Das hat er, Sir!«, erwiderte Bumble.

»Dieser Junge wird noch mal am Galgen enden«, sagte der Herr in der weißen Weste. »Denkt an meine Worte, der wird noch mal am Galgen enden.«

Niemand widersprach dieser prophetischen Aussage des Herrn. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver kam unverzüglich in Arrest, und am nächsten Tag wurde außen am Tor eine Bekanntmachung angebracht, die jedermann, der Oliver Twist der Gemeinde abnähme, eine Belohnung von fünf Pfund versprach. Mit anderen Worten, jedem, ob Mann oder Frau, der für welches Handwerk, Gewerbe oder Geschäft auch immer einen Lehrjungen brauchte, wurden Oliver Twist und obendrein fünf Pfund angeboten.

»Noch nie in meinem Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen«, sagte der Herr in der weißen Weste, als er am nächsten Tag ans Tor klopfte und die Bekanntmachung las, »noch nie im Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen, wie davon, dass dieser Junge am Galgen enden wird.«

Da ich im Laufe des Buches noch darlegen werde, ob der Herr in der weißen Weste recht behält oder nicht, würde ich bloß das Interesse an dieser Erzählung (so sie denn auf selbiges stößt) schmälern, wenn ich mich bereits jetzt in Andeutungen erginge, ob das Leben des Oliver Twist tatsächlich ein solch gewaltsames Ende nimmt.

Drittes Kapitel

Beschreibt, wie Oliver Twist beinahe eine Stellung antrat, die alles andere als ein Ruheposten gewesen wäre.

Nachdem er die frevelhafte und gotteslästerliche Missetat begangen hatte, mehr zu verlangen, blieb Oliver eine Woche lang streng bewacht in dem dunklen und einsamen Verlies, in das er aufgrund der Weisheit und Gnade des Vorstands gesperrt worden war. Auf den ersten Blick schien es nicht abwegig, anzunehmen, Oliver würde, hätte er der Vorhersage des Herrn in der weißen Weste den gebührenden Respekt gezollt, um den Ruf dieses Weisen als Prophet ein für alle Mal zu festigen, ein Ende seines Taschentuchs an einem Haken in der Wand befestigen und sich selbst am anderen aufknüpfen. Der Ausführung dieser Tat stand indes ein Hindernis im Weg, weil Taschentücher ganz entschieden als Luxusartikel galten und daher ausdrücklich auf in feierlicher Sitzung beschlossene, verbriefte und besiegelte Anordnung des Vorstands zukünftig und für alle Zeiten von den Nasen der Armen ferngehalten wurden. Ein noch größeres Hindernis stellten Olivers junges Alter und kindliches Gemüt dar. Also weinte er bloß den ganzen Tag, und als die trostlose lange Nacht hereinbrach, presste er seine kleinen Hände auf die Augen, um die Dunkelheit auszusperren, und versuchte, in die Ecke gekauert zu schlafen. Immer wieder fuhr er mit einem Ruck hoch und zitterte, rückte näher und näher an die kalte und harte Wand heran, als verspräche er sich in der Düsternis und Einsamkeit, die ihn umgaben, selbst von dieser Berührung Schutz.

Die Feinde des »Systems« sollen aber nicht meinen, Oliver seien während der Zeit seiner Einkerkerung die Wohltaten körperlicher Ertüchtigung, das Vergnügen der Geselligkeit oder der Segen religiösen Trostes vorenthalten worden. Was die körperliche Ertüchtigung betrifft, so herrschte schönes kaltes Wetter, und es war ihm gestattet, jeden Morgen im gepflasterten Hof an der Pumpe seine Waschungen vorzunehmen, in Gegenwart Mr. Bumbles, der durch wiederholte Anwendung seines Stocks auf Olivers Haut ein prickelndes Gefühl hervorrief, um so einer Erkältung vorzubeugen. Was die Geselligkeit betrifft, so wurde Oliver jeden Tag in den Saal geführt, wo die Jungen speisten, um dort zur allgemeinen Warnung und als abschreckendes Beispiel vor jedermann gezüchtigt zu werden. Und der Segen religiösen Trostes blieb ihm schon gar nicht versagt, vielmehr wurde er jeden Abend zur Gebetszeit mit Fußtritten in den gleichen Saal getrieben, wo er zur Tröstung seiner Seele dem gemeinsamen Bittgebet der Jungen lauschen durfte. Dieses enthielt einen besonderen Zusatz, der auf Geheiß des Vorstands eingefügt worden war, in dem die Jungen darum baten, gut, tugendhaft, bescheiden und gehorsam zu sein und vor den Sünden und Lastern des Oliver Twist bewahrt zu werden. Dieser, so legte der Zusatz klar und deutlich dar, erfreue sich des besonderen Wohlwollens und Schutzes der Mächte des Bösen und sei direkt der Werkstatt des Teufels entsprungen.

Als die Dinge für Oliver gerade derart hoffnungsvoll und vielversprechend aussahen, ging eines Morgens zufällig Mr. Gamfield, der Kaminkehrer, die High Street hinab seines Weges, eifrig über Möglichkeiten nachsinnend, wie er gewisse Mietrückstände, wegen derer sein Hauswirt Druck zu machen begann, begleichen könne. Selbst wenn er die günstigsten Berechnungen seines Guthabens anstellte, fehlten Mr. Gamfield noch immer ganze fünf Pfund an dem notwendigen Betrag. In einem Anfall mathematischer Verzweiflung malträtierte er gerade abwechselnd sein Hirn und seinen Esel, als er am Tor des Armenhauses vorbeikam und sein Blick auf die Bekanntmachung fiel.

»Wo-ho!«, rief Mr. Gamfield dem Esel zu.

Der Esel befand sich jedoch in einem Zustand tiefer Versunkenheit. Wahrscheinlich grübelte er darüber nach, ob er wohl in den Genuss von ein oder zwei Kohlstrünken kommen würde, wenn er die beiden Säcke Ruß, mit denen der kleine Karren beladen war, abgeliefert hätte, also trottete er, ohne das Kommando zu beachten, einfach weiter.

Mr. Gamfield stieß einen wüsten Fluch aus, gegen den Esel im allgemeinen, aber insbesondere gegen dessen Augen, lief ihm nach und verpasste ihm einen Schlag auf den Kopf, der jeden anderen Schädel als den eines Esels unweigerlich zerschmettert hätte. Dann bekam er die Zügel zu fassen, riss den Esel mit einem Ruck am Maul, um ihn sanft daran zu erinnern, dass er nicht sein eigener Herr sei, und drehte ihn herum. Dann versetzte er ihm einen weiteren Schlag auf den Kopf, einfach, um das Tier bis zu seiner Rückkehr ruhig zu stellen. Als er all diese Vorkehrungen getroffen hatte, schritt er zum Tor und las die Bekanntmachung.

Der Herr in der weißen Weste stand, nachdem er im Sitzungssaal einige tiefgründige Bemerkungen von sich gegeben hatte, mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Tor. Da er Zeuge der kleinen Auseinandersetzung zwischen dem Esel und Mr. Gamfield gewesen war, lächelte er frohgemut, als dieser Mensch nun herantrat, um die Bekanntmachung zu lesen, denn er erkannte sofort, dass es sich bei Mr. Gamfield genau um jene Art von Lehrherrn handelte, die Oliver Twist benötigte. Mr. Gamfield lächelte ebenfalls, als er das Schriftstück studierte, denn fünf Pfund waren genau die Summe, die er brauchte, und was den Jungen betraf, den man obendrein nehmen musste, so wusste Mr. Gamfield, der mit der Kost des Armenhauses vertraut war, dass er nur von schmächtiger Gestalt sein konnte, gerade richtig für die Kamine mit Ventilklappen. Also buchstabierte er die Bekanntmachung noch einmal von oben bis unten durch und sprach dann, indem er sich als Zeichen der Ergebenheit an die Fellmütze tippte, den Herrn in der weißen Weste an.

»Dieser Junge hier, Sir, wo die Gemeinde in Lehre geben will«, sagte Mr. Gamfield.

»Ja, guter Mann«, entgegnete der Herr in der weißen Weste mit einem leutseligen Lächeln, »was ist mit ihm?«

»Wenn die Gemeinde will, dass er’n leichtes und nützliches Handwerk lernt, bei nem ehrbarn Kaminkehrer«, sagte Mr. Gamfield, »ich brauch’n Lehrjungen und würd’n nehm.«

»Kommt herein«, forderte ihn der Herr in der weißen Weste auf. Mr. Gamfield, der noch kurz zurückblieb, um den Esel ein weiteres Mal auf den Kopf zu schlagen und am Zügel zu reißen, als Mahnung, in seiner Abwesenheit ja nicht fortzulaufen, folgte dem Herrn in der weißen Weste in das Zimmer, wo Oliver diesen zum ersten Mal gesehen hatte.

»Das ist ein schmutziges Handwerk«, erklärte Mr. Limbkins, als Gamfield sein Anliegen erneut vorgebracht hatte.

»Es sind schon viele junge Burschen in den Kaminen erstickt«, bemerkte ein anderer Herr.

»Bloß desweg’n, weil se’s Stroh anfeuchten, bevor se’s im Kamin entzünden, um se wieder rauszujagen«, sagte Mr. Gamfield. »Das gibt bloß Rauch, keine Flammen, aber Rauch taucht nix, wenn man die Burschen rausjagen will, der macht se bloß schläfrich, das ham se sogar gern. Die Jungs sin nämlich richtich widerborstich un faul, es gibt nix Bessres als tüchtich lodernde Flammen, um se aus’m Kamin rauszujagen. Is außerdem auch menschenfreundlich, meine Herrn, denn falls se wirklich ma im Kamin feststecken, dann zappeln se, wenn man ihnen die Füße röstet, so lang, bis se wieder freikomm.«

Diese Ausführungen schienen den Herrn in der weißen Weste sehr zu belustigen, doch seiner Heiterkeit wurde durch einen Blick von Mr. Limbkins umgehend Einhalt geboten. Die Vorstände berieten sich dann einige Minuten untereinander, aber mit so gedämpften Stimmen, dass nur die Worte »Kostenersparnis«, »macht sich gut in den Büchern« und »öffentlicher Rechenschaftsbericht« zu vernehmen waren, und auch nur deshalb, weil sie des öfteren und mit großem Nachdruck wiederholt wurden.

Schließlich verstummte das Getuschel, und als die Mitglieder des Vorstands wieder ihre Plätze und ihre würdevolle Haltung eingenommen hatten, verkündete Mr. Limbkins:

»Wir haben Euer Ansinnen geprüft, lehnen es jedoch ab.«

»In vollem Umfang«, warf der Herr in der weißen Weste ein.

»Mit aller Entschiedenheit«, fügten die anderen Vorstände hinzu.

Da Mr. Gamfield nun zufällig mit dem leichten Makel behaftet war, bereits drei oder vier Lehrjungen totgeprügelt zu haben, kam ihm der Gedanke, der Vorstand habe sich vielleicht aus einer unerklärlichen Laune heraus in den Kopf gesetzt, sich in seinem Vorgehen von diesem unwesentlichen Umstand beeinflussen zu lassen. Falls dem so war, würde das zwar dessen sonstigem Geschäftsgebaren so gar nicht ähnlich sehen, aber da er nicht unbedingt den Wunsch hegte, diese Gerüchte erneut aufleben zu lassen, drehte er seine Mütze in den Händen und entfernte sich langsam vom Tisch.

»Ihr wollt’n mir also nich geb’n, meine Herrn?«, fragte Mr. Gamfield, als er bei der Tür innehielt.

»Nein«, erwiderte Mr. Limbkins, »zumindest sind wir der Meinung, dass Ihr, weil es sich um ein solch schmutziges Gewerbe handelt, Euch mit weniger als dem von uns gebotenen Lehrgeld zufriedengeben solltet.«

Mr. Gamfields Miene hellte sich auf, als er schnellen Schrittes zum Tisch zurückkehrte und sagte:

»Was wollt’er denn geb’n, meine Herrn? Ich bitt Euch, seid nich zu hart zu nem armen Mann. Was wollt’er geb’n?«

»Ich würde meinen, drei Pfund zehn seien mehr als genug«, sagte Mr. Limbkins.

»Zehn Shilling zu viel«, warf der Herr in der weißen Weste ein.

»Ich bitt Euch«, erwiderte Gamfield, »sag’n wir vier Pfund, meine Herrn, und Ihr seid’n für immer los. Schlagt ein!«

»Drei Pfund zehn«, wiederholte Mr. Limbkins unbeirrt.

»Gut, komm wir uns auf halb’m Weg entgegen, meine Herrn«, hakte Gamfield nach. »Drei Pfund fuffzehn.«

»Keinen Heller mehr«, beharrte Mr. Limbkins.

»Ihr werd mich noch ruiniern, meine Herrn«, sagte Gamfield, sich langsam geschlagen gebend.

»Aber, aber, das ist doch Unsinn!«, rief der Herr in der weißen Weste. »Selbst ohne Lehrgeld würdet Ihr mit dem Jungen noch ein gutes Geschäft machen. Seid nicht dumm, nehmt ihn! Er ist der rechte Bursche für Euch. Hin und wieder braucht er den Stock, das wird ihm nur guttun, und seine Verpflegung dürfte Euch kaum teuer zu stehen kommen, denn in dieser Hinsicht ist er in seinem Leben bisher nicht sonderlich verwöhnt worden, hahaha!«

Mr. Gamfield blickte bauernschlau in die Runde und begann, da er auf allen Gesichtern ein Lächeln erkennen konnte, ebenfalls vorsichtig zu lächeln. Man war sich handelseinig. Mr. Bumble wurde umgehend angewiesen, Oliver Twist noch am selbigen Tag samt Lehrvertrag zur Unterschrift und Genehmigung vor den Amtsrichter zu führen.

In Ausführung dieses Beschlusses wurde der kleine Oliver zu seinem großen Erstaunen aus der Gefangenschaft entlassen und angewiesen, sich in ein sauberes Hemd zu kleiden. Kaum hatte er diese ungewohnte Leibesübung ausgeführt, als Mr. Bumble ihm eigenhändig einen Napf Haferschleim brachte und dazu die Feiertagsration von einem achtel Pfund Brot. Bei diesem ungeheuerlichen Anblick begann Oliver jämmerlich zu weinen, da er, was man nachvollziehen kann, dachte, der Vorstand müsse entschieden haben, ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke zu töten, denn warum sonst sollten sie beginnen, ihn derart zu mästen.

»Heul dir nicht die Augen aus, Oliver, sondern iss und sei dankbar«, sagte Mr. Bumble mit wichtiger Miene. »Du kommst jetzt in die Lehre, Oliver.«

»In die Lehre?«, fragte das Kind bange.

»Jawohl, Oliver«, antwortete Mr. Bumble. »Die gütigen und segensreichen Herren, die dir deine Eltern ersetzen, da du ja keine hast, wollen dich in die Lehre geben. Sie werden dir den Weg ins Leben ebnen und einen Mann aus dir machen, obwohl es die Gemeinde drei Pfund und zehn Shilling kostet, Oliver! Siebzig Shilling! Einhundertundvierzig Sixpence! Und all das bloß für einen ungezogenen Waisenjungen, den niemand mag.«

Als Mr. Bumble innehielt, um nach dieser Ansprache, die er in ehrfurchtgebietendem Ton gehalten hatte, Atem zu holen, liefen dem armen Jungen die Tränen übers Gesicht, und er schluchzte bitterlich.

»Na, na«, sagte Mr. Bumble ein wenig milder, denn es verschaffte ihm ein Gefühl der Zufriedenheit, zu sehen, welche Wirkung seine Redekunst hervorgerufen hatte. »Na, na, Oliver! Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab, und heul nicht in den Haferschleim, das ist dumm von dir, Oliver.« Womit er recht hatte, denn dieser war schon wässrig genug.

Auf dem Weg zum Amtsrichter schärfte Mr. Bumble Oliver ein, er brauche nichts weiter zu tun, als möglichst fröhlich dreinzuschauen und, wenn der Herr Richter ihn frage, ob er denn in die Lehre gehen wolle, zu antworten, er könne sich nichts Schöneres vorstellen. Oliver versprach, beiden Anweisungen Folge zu leisten, umso mehr, da Mr. Bumble dunkel andeutete, dass, falls er auch nur den geringsten Ungehorsam zeigen sollte, nicht abzusehen sei, was mit ihm geschähe. Als sie beim Amt eintrafen, wurde er allein in ein kleines Zimmer gesperrt und von Mr. Bumble ermahnt, sich nicht vom Fleck zu rühren, bis er ihn holen komme.

Dort wartete der Junge mit klopfendem Herzen eine halbe Stunde lang. Als diese Zeit verstrichen war, steckte Mr. Bumble seinen Kopf, der Zierde des Dreispitzes entblößt, herein und sagte mit lauter Stimme:

»Oliver, mein Bester, komm jetzt zu dem Herrn.« Dabei setzte Mr. Bumble eine grimmige und bedrohliche Miene auf und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Denk dran, was ich dir gesagt habe, du kleiner Halunke!«

Auf diese widersprüchliche Anrede hin blickte Oliver Mr. Bumble unschuldig ins Gesicht, der Büttel gab ihm jedoch keinerlei Gelegenheit, etwas zu erwidern, sondern führte ihn sofort durch eine offenstehende Tür ins benachbarte Zimmer. Es war ein geräumiger Saal mit großem Fenster. Hinter einem Schreibpult saßen zwei alte Herren mit gepuderten Perücken auf dem Kopf. Der eine las in der Zeitung, während der andere mit Hilfe einer Hornbrille ein kleines, vor ihm liegendes Dokument prüfte. Mr. Limbkins stand auf der einen Seite vor dem Pult, und Mr. Gamfield, mit flüchtig gewaschenem Gesicht, auf der anderen, während zwei oder drei derb aussehende Männer in Stulpenstiefeln müßig umhergingen.

Der alte Herr mit der Brille döste allmählich über dem kleinen Dokument ein, und nachdem Oliver von Mr. Bumble vor das Pult postiert worden war, entstand eine kurze Pause.

»Das ist der Junge, Euer Ehren«, sagte Mr. Bumble.

Der alte Herr, der in der Zeitung las, hob kurz den Kopf und zupfte den anderen alten Herrn am Ärmel, woraufhin zuletzt Genannter aufwachte.

»Oh, das ist also der Junge?«, fragte der alte Herr.

»Das ist er«, erwiderte Mr. Bumble. »Verbeuge dich vorm Herrn Richter, mein Guter.«

Oliver schreckte auf und machte seinen schönsten Diener. Er hatte sich, die gepuderten Perücken der Richter betrachtend, gerade gefragt, ob alle Amtspersonen mit diesem weißen Stoff auf ihren Köpfen geboren würden und aus diesem Grund sogleich ein Amt erhielten.

»Nun«, sagte der alte Herr, »ich nehme an, ihm gefällt das Kaminkehren?«

»Er ist ganz versessen darauf, Euer Ehren«, entgegnete Bumble, wobei er Oliver verstohlen zwickte, um ihm zu verstehen zu geben, besser nichts Gegenteiliges zu behaupten.

»Und er möchte wirklich gern Kaminkehrer werden, nicht wahr?«, erkundigte sich der alte Herr weiter.

»Gäben wir ihn woanders in die Lehre, würde er noch am selben Tag fortlaufen«, antwortete Mr. Bumble.

»Und dieser Mann soll sein Lehrherr werden? Ihr, Sir … Ihr werdet ihn doch gut behandeln, ihn verpflegen und all das, nicht wahr?«, fragte der alte Herr.

»Wenn ich was sach, tu ich’s auch«, erwiderte Mr. Gamfield verdrossen.

»Eure Rede klingt ungeschliffen, mein Freund, aber Ihr seht mir wie ein braver und rechtschaffener Mann aus«, meinte der alte Herr und richtete seine Brille auf den Anwärter für Olivers Lehrgeld, dessen Schurkengesicht einem ordnungsgemäß abgestempelten Beleg für Grausamkeit gleichkam. Doch der Richter war halb blind und halb kindisch, also konnte man von ihm nicht ernsthaft erwarten, das zu erkennen, was anderen offensichtlich erschien.

»Das will ich doch hoff’n, Sir«, brummte Mr. Gamfield mit einem scheelen Seitenblick.

»Ich zweifle nicht daran, dass dem so ist, mein Freund«, entgegnete der alte Herr, rückte die Brille auf der Nase zurecht und schaute sich suchend nach dem Tintenfass um.

Dies war ein entscheidender Augenblick für Olivers Schicksal. Wäre das Tintenfass dort gestanden, wo der alte Herr es vermutete, hätte er seine Schreibfeder eingetaucht und den Lehrvertrag unterzeichnet, und Oliver wäre unverzüglich fortgeschafft worden. Da es aber zufällig direkt vor seiner Nase stand, suchte er natürlich den ganzen Tisch danach ab, ohne fündig zu werden. Bei dieser Suche fiel sein Blick auf das bleiche und entsetzte Antlitz Oliver Twists, der ungeachtet aller warnenden Blicke und Winke Mr. Bumbles die abstoßende Visage seines künftigen Lehrherrn betrachtete, mit einer Mischung aus Angst und Schrecken, die zu eindeutig war, um missverstanden zu werden, auch nicht von einem halbblinden Richter.

Der alte Herr hielt inne, legte die Schreibfeder nieder und sah von Oliver zu Mr. Limbkins, der versuchte, mit heiterer und unbekümmerter Miene eine Prise Schnupftabak zu nehmen.

»Mein Junge«, sagte der alte Herr über das Pult gelehnt. Oliver fuhr bei diesen Worten zusammen, was verständlich ist, denn sie wurden in einem freundlichen Ton gesprochen, und ungewohnte Laute können einen durchaus erschrecken. Er bebte am ganzen Leib und brach in Tränen aus.

»Mein Junge«, sagte der alte Herr, »du siehst blass und verängstigt aus, was bedrückt dich?«

»Tretet ein wenig zur Seite, Büttel«, befahl der andere Richter, legte die Zeitung fort und beugte sich mit aufmerksamer Miene vor.

»Jetzt erzähle uns, was dich bedrückt, mein Junge. Hab keine Angst.«

Oliver fiel auf die Knie und flehte mit gefalteten Händen, sie sollten ihn wieder in die finstere Kammer sperren, ihn hungern lassen, prügeln oder gar töten, wenn sie wollten, aber bloß nicht mit diesem schrecklichen Mann fortschicken.

»Also wirklich«, sagte Mr. Bumble und erhob mit feierlicher Würde Hände und Augen, »also wirklich, von allen gerissenen und arglistigen Waisenjungen, die mir je untergekommen sind, Oliver, bist du doch einer der unverschämtesten!«

»Haltet den Mund, Büttel!«, befahl der andere alte Herr, als Mr. Bumble sich mit diesem gesteigerten Eigenschaftswort Luft gemacht hatte.

»Ich bitte Euer Ehren um Verzeihung«, sagte Mr. Bumble, der seinen Ohren nicht trauen mochte. »Haben Euer Ehren mit mir gesprochen?«

»Jawohl. Haltet den Mund.«

Mr. Bumble war starr vor Staunen. Einem Büttel den Mund verbieten! Eine moralische Revolution!

Der alte Herr mit der Hornbrille sah seinen Kollegen an, dieser nickte vielsagend.

»Wir lehnen es ab, diesen Lehrvertrag zu genehmigen«, verkündete der alte Herr und schob das Dokument zur Seite.

»Ich hoffe«, stammelte Mr. Limbkins, »ich hoffe, die Herren Amtsrichter gelangen aufgrund der unbestätigten Aussage eines bloßen Kindes nicht zu der Auffassung, die Vorstände des Armenhauses hätten sich irgendeines ungebührlichen Verhaltens schuldig gemacht.«

»Es war nicht Aufgabe des Gerichts, über derlei zu befinden«, sagte der andere alte Herr scharf. »Bringt den Jungen wieder ins Armenhaus und behandelt ihn gut. Er scheint es nötig zu haben.«

Am selben Abend erklärte der Herr in der weißen Weste im Brustton der Überzeugung, dass Oliver nicht nur am Galgen enden, sondern obendrein auch noch geschunden und gevierteilt werden würde. Mr. Bumble schüttelte finster und geheimnisvoll den Kopf und sagte, er wünschte, Oliver möge bald in die richtigen Hände geraten, worauf Mr. Gamfield erwiderte, er wünschte, Oliver möge ihm in die Hände geraten. Auch wenn er ansonsten in den meisten Dingen mit dem Büttel übereinstimmte, schienen sich diese beiden Wünsche doch zu widersprechen.

Am nächsten Morgen wurde die Öffentlichkeit ein weiteres Mal davon in Kenntnis gesetzt, dass Oliver Twist »in Stellung« abzugeben sei, und jedem, der ihn nehmen wolle, fünf Pfund gezahlt würden.

Viertes Kapitel

Oliver, dem eine andere Stellung angeboten wird, tritt ins Berufsleben ein.

Wenn sich in großen Familien für einen jungen heranwachsenden Mann kein sicheres Unterkommen findet, was Besitz, Anwartschaft, Erbe oder sonstige Aussichten betrifft, so ist es ein durchaus üblicher Brauch, ihn zur See zu schicken. Nach dem Muster dieses ebenso weisen wie empfehlenswerten Vorbilds beriet der Vorstand über die Zweckmäßigkeit, Oliver Twist eine Heuer zu verschaffen, an Bord irgendeines kleinen Handelsschiffes, das Kurs auf einen möglichst ungesunden Hafen nimmt. Dies empfahl sich als das Bestmögliche, was man mit ihm tun konnte, denn wahrscheinlich würde ihn der Schiffer eines Tages nach dem Essen aus einer Laune heraus zu Tode peitschen oder ihm mit einer Eisenstange den Schädel einschlagen. Beiderlei Kurzweil ist, wie allgemein bekannt, bei Herren dieses Standes ein sehr beliebter und üblicher Zeitvertreib. Je länger die Vorstände unter diesem Gesichtspunkt über den Fall berieten, umso mehr Vorteile schien dieser Plan zu besitzen. Also gelangten sie zu dem Schluss, dass die einzige Möglichkeit, Oliver endgültig zu versorgen, darin bestehe, ihn unverzüglich zur See zu schicken.

Mr. Bumble, der ausgesandt worden war, um vorab Erkundigungen einzuholen, ob sich irgendein Kapitän finde, der einen Schiffsjungen ohne Anhang haben wolle, kehrte gerade ins Armenhaus zurück, um über die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu berichten, als er am Tor niemand Geringerem begegnete als Mr. Sowerberry, dem Leichenbestatter der Gemeinde.

Mr. Sowerberry war ein großer, hagerer und grobknochiger Mann, der einen fadenscheinigen schwarzen Anzug, gestopfte Strümpfe der gleichen Farbe und dazu passendes Schuhwerk trug. Seine Züge waren von Natur aus nicht dazu geschaffen, ein Lächeln zu zeigen, aber im allgemeinen neigte er durchaus zu berufsmäßiger Heiterkeit. Sein Schritt war beschwingt und sein Gesicht verriet eine innere Zufriedenheit, als er sich Mr. Bumble näherte und ihm herzlich die Hand schüttelte.

»Ich habe gerade Maß genommen bei den zwei Frauen, die gestern nacht gestorben sind, Mr. Bumble«, sagte der Leichenbestatter.

»Ihr werdet noch ein reicher Mann, Mr. Sowerberry«, bemerkte der Büttel, als er mit Daumen und Zeigefinger in die dargebotene Schnupftabakdose des Leichenbestatters griff, die das kunstvolle Miniaturmodell eines Sargs darstellte. »Ich sage Euch, Ihr werdet noch ein reicher Mann, Mr. Sowerberry«, wiederholte Mr. Bumble und klopfte dem Leichenbestatter freundlich mit dem Stock auf die Schulter.

»Meint Ihr?«, fragte der Leichenbestatter in einem Ton, der die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses halb einräumte und halb bezweifelte. »Die Summen, die mir die Gemeinde erstattet, sind nur sehr klein, Mr. Bumble.«

»Genau wie die Särge«, erwiderte der Büttel und deutete gerade so viel von einem Lachen an, wie es sich ein wichtiger Amtmann erlauben durfte.

Mr. Sowerberry, den diese Bemerkung sehr erheiterte, was sie ja auch sollte, lachte eine ganze Weile ohne Unterlass. »Nun ja, Mr. Bumble«, sagte er schließlich, »es lässt sich nicht leugnen, seit es die neuen Regeln zur Armenspeisung gibt, sind die Särge um einiges schmaler und flacher als früher, aber wir müssen ja auch irgendwie auf unsere Kosten kommen, Mr. Bumble. Gut abgelagertes Holz ist teuer, Sir, und die Eisengriffe kommen auf dem Kanalweg eigens aus Birmingham.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Bumble, »jedes Geschäft hat so seine Tücken. Aber dennoch sollte ein anständiger Gewinn dabei herausspringen.«

»Natürlich, natürlich«, entgegnete der Leichenbestatter, »und wenn ich mal bei dem einen oder anderen Auftrag keinen Gewinn erziele, dann hole ich es auf lange Sicht eben woanders wieder herein, nicht wahr, hehehe!«

»Genau«, bemerkte Mr. Bumble.

»Obwohl ich sagen muss«, fuhr der Leichenbestatter mit seinen Betrachtungen, die der Büttel unterbrochen hatte, fort, »obwohl ich sagen muss, Mr. Bumble, dass ich mit einem großen Nachteil zu kämpfen habe, weil nämlich all die wohlbeleibten Leute am schnellsten wegsterben. Die Leute, denen es früher einmal besser gegangen war und die der Gemeinde viele Jahre lang Steuern gezahlt haben, gehen als erste zugrunde, wenn sie ins Armenhaus kommen, und ich sage Euch, Mr. Bumble, drei oder vier Zoll mehr, als man berechnet hat, reißen ein großes Loch in die Kasse, besonders wenn man Familie besitzt, für die man sorgen muss, Sir.«

Da Mr. Sowerberry mit der gerechten Empörung eines Mannes sprach, dem Unrecht widerfahren war, und Mr. Bumble spürte, dass die Sache dazu angetan schien, ein schlechtes Licht auf die Ehre der Gemeinde zu werfen, hielt es letzterer Herr für geraten, das Thema zu wechseln. Und weil er gerade vor allem die Sache mit Oliver Twist im Kopf hatte, kam er auf ihn zu sprechen.

»Ach, übrigens«, begann Mr. Bumble, »Ihr kennt wohl niemanden, der einen Lehrjungen sucht? Einen Jungen aus dem Armenhaus, der uns augenblicklich bloß zur Last fällt, ein Mühlstein am Hals der Gemeinde, wenn ich so sagen darf. Zu den besten Bedingungen, Mr. Sowerberry, zu den besten Bedingungen!« Während Mr. Bumble sprach, hob er seinen Stock zu der Bekanntmachung, die über ihm hing, und schlug dreimal kräftig auf die Worte »fünf Pfund«, die dort in riesigen Lettern gedruckt standen.

»Alle Wetter!«, rief der Leichenbestatter und fasste Mr. Bumble an den goldgesäumten Aufschlägen seines Amtsrocks. »Genau darüber wollte ich mit Euch reden. Wisst Ihr – herrje, was für ein schmucker Knopf, Mr. Bumble, der ist mir bisher nie aufgefallen!«

»Ja, der ist recht hübsch«, sagte der Büttel und schaute stolz auf die großen Messingknöpfe herab, die seinen Rock zierten. »Dieselbe Prägung wie auf dem Gemeindesiegel, der barmherzige Samariter hilft dem kranken, verwundeten Mann. Der Vorstand hat ihn mir am Neujahrsmorgen verliehen, Mr. Sowerberry. Ich habe ihn, das weiß ich noch genau, zum ersten Mal bei der Leichenschau dieses bankrottgegangenen Händlers getragen, der um Mitternacht in einem Hauseingang gestorben ist.«

»Ich entsinne mich«, sagte der Leichenbestatter, »die Gutachter vom Gericht kamen zu dem Ergebnis: ›Starb durch Kälteeinwirkung und infolge mangelnder Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten‹, nicht wahr?«

Mr. Bumble nickte.

»Und ich meine«, fuhr der Leichenbestatter fort, »es war ein besonderes Gutachten, weil sie noch einige Worte hinzufügten, die besagten, wenn der Armenfürsorger seiner Pflicht …«

»Ach was, dummes Zeug!«, unterbrach ihn der Büttel. »Würden die Vorstände jeglichem Unsinn, den ignorante Gerichtsgutachter von sich geben, Beachtung schenken, hätten sie viel zu tun.«

»Wohl wahr«, sagte der Leichenbestatter, »das hätten sie.«

»Diese Leute vom Gericht«, sagte Mr. Bumble und packte seinen Stock fester, wie es seine Gewohnheit war, wenn er sich in Rage redete, »sind allesamt ein verbildetes, gemeines Lumpenpack von Leisetretern.«

»Das sind sie«, stimmte der Leichenbestatter zu.

»Die ham nich so viel Ahnung vom wirklichen Leben oder von volkswirtschaftlichen Dingen«, sagte der Büttel und schnippte verächtlich mit den Fingern.

»Nicht so viel«, pflichtete der Leichenbestatter bei.

»Ich verabscheue sie«, sagte der Büttel und wurde ganz rot im Gesicht.

»Ich auch«, schloss sich der Leichenbestatter an.

»Und ich wünschte bloß, wir hätten solche aufsässigen Leute vom Gericht mal ein oder zwei Wochen im Armenhaus«, fuhr der Büttel fort, »die Regeln und Anordnungen des Vorstands würden ihr Mütchen schon kühlen.«

»Das täte ihnen wahrlich gut«, meinte der Leichenbestatter und lächelte zustimmend, um den wachsenden Zorn des aufgebrachten Gemeindedieners zu beschwichtigen.

Mr. Bumble nahm den Dreispitz ab, holte aus der Wölbung des Hutes ein Taschentuch hervor, wischte sich damit den Schweiß, den seine Erregung hervorgerufen hatte, von der Stirn, setzte den Hut wieder auf, wandte sich an den Leichenbestatter und fragte mit ruhigerer Stimme:

»Also, wie steht’s mit dem Jungen?«

»Oh«, erwiderte der Leichenbestatter, »nun, wisst Ihr, Mr. Bumble, ich zahle eine ganze Menge Armensteuer.«

»Soso«, bemerkte Bumble. »Und?«

»Und«, fuhr der Leichenbestatter fort, »da dachte ich mir, wenn ich so viel für sie zahle, hab ich auch das Recht, so viel aus ihnen rauszuholen, wie ich kann, Mr. Bumble, und da … da hab ich mir halt überlegt, den Jungen selbst zu nehmen.«

Mr. Bumble griff den Leichenbestatter am Arm und führte ihn in das Gebäude. Der Vorstand beriet sich fünf Minuten lang vertraulich mit Mr. Sowerberry, dann wurde vereinbart, Oliver solle noch am selben Abend »auf Probe« zu ihm gehen. Diese Floskel bedeutet bei einem Jungen aus dem Armenhaus, dass der Lehrherr, wenn er nach kurzer Probezeit feststellt, dass er aus dem Jungen mehr Arbeitskraft herausbekommt, als er Essen in ihn hineinsteckt, denselben für einige Jahre überlassen bekommt, um nach Belieben über ihn zu verfügen.

Als der kleine Oliver am Abend »den Herren« vorgeführt und davon unterrichtet wurde, dass er noch heute als Gehilfe zu einem Sargmacher gehen solle, und er, falls ihm das nicht passe oder er jemals ins Armenhaus zurückkehre, zur See geschickt werde, um entweder zu ertrinken oder den Schädel eingeschlagen zu bekommen, zeigte dieser so wenig Gemütsregung, dass sie ihn einhellig einen verstockten kleinen Halunken hießen und Mr. Bumble befahlen, ihn unverzüglich fortzuschaffen.

Obwohl es nur allzu natürlich war, dass die Vorstände, mehr als irgendwer sonst auf der Welt, angesichts des geringsten Anzeichens der Gefühllosigkeit von tugendhaftem Erstaunen und Entsetzen ergriffen wurden, so lagen sie in diesem besonderen Fall jedoch falsch. Es verhielt sich einfach so, dass Oliver nicht zu wenig Gefühl besaß, sondern eher zu viel, und sich auf dem besten Weg befand, durch die schlechte Behandlung, die er erfahren hatte, für den Rest seines Lebens auf den verrohten Zustand tierischen Stumpfsinns herabgewürdigt zu werden. Er vernahm die Nachricht über sein neues Schicksal ohne einen Ton zu sagen, und als man ihm sein Gepäck in die Hand drückte – was nicht schwer zu tragen war, da alles in einen braunen Pappkarton passte, einen halben Fuß im Quadrat und drei Zoll hoch –, zog er sich die Mütze tief ins Gesicht, hängte sich ein weiteres Mal an Mr. Bumbles Ärmelaufschlag und wurde von diesem Würdenträger an den Schauplatz seiner nächsten Leiden geführt.

Eine Weile zog Mr. Bumble Oliver hinter sich her, ohne ihn zu beachten oder anzusprechen, denn er trug seinen Kopf hoch erhoben, wie es einem Büttel geziemt, und da es ein windiger Tag war, wurde der kleine Oliver immer vollständig von Mr. Bumbles Rockschößen eingehüllt, wenn sie, von einer Bö erfasst, einen Blick auf die ganze Pracht seiner zerknitterten Weste und mausgrauen Kniehosen aus Plüsch freigaben. Als sie sich ihrem Ziel näherten, hielt es Mr. Bumble jedoch für angebracht, herabzuschauen, um zu prüfen, ob sich der Junge in geeignetem Zustand für die Musterung durch seinen neuen Herrn befinde, was er dann auch mit einer dazu passenden und angemessenen Miene gnädiger Gönnerschaft tat.

»Oliver!«, rief Mr. Bumble.

»Ja, Sir?«, fragte Oliver leise mit bebender Stimme.

»Schieb dir die Mütze aus dem Gesicht und halte deinen Kopf gerade, Junge.«

Obwohl Oliver sofort tat, wie ihm geheißen, und sich mit dem Rücken seiner freien Hand rasch über die Augen wischte, hing noch eine Träne darin, als er zum Büttel aufsah. Unter Mr. Bumbles strengem Blick rollte sie ihm die Wange hinab. Ihr folgte eine weitere und dann noch eine. Das Kind versuchte, sich mit aller Macht zusammenzureißen, doch vergebens. Oliver entzog Mr. Bumble die andere Hand, schlug beide vors Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen durch die dünnen, knochigen Finger rannen.

»Also wirklich!«, rief Mr. Bumble aus und blieb abrupt stehen, um seinem kleinen Schutzbefohlenen einen höchst gehässigen Blick zuzuwerfen. »Also wirklich! Von allen undankbaren und ungezogenen Jungen, die ich je gekannt habe, Oliver, bist du der …«

»Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und umklammerte die Hand, die den nur allzu vertrauten Stock hielt, »nein, Sir, nein, ich will ja brav sein, ganz ehrlich, Sir! Ich bin doch bloß ein kleiner Junge, Sir, und so … so …«

»So was?«, begehrte Mr. Bumble verwundert zu wissen.

»So allein, Sir! So ganz allein!«, weinte das Kind. »Alle hassen mich. Oh, Sir, seid nicht böse mit mir!«

Das Kind schlug sich mit der Hand gegen die Brust und schaute seinem Begleiter mit Tränen großer Seelenpein ins Gesicht.

Mr. Bumble betrachtete einen Moment lang leicht erstaunt Olivers klägliche und verzweifelte Miene, räusperte sich drei-, viermal, und nachdem er mit belegter Stimme etwas von »diesem lästigen Husten« gebrummt hatte, hieß er Oliver, sich die Tränen zu trocknen und ein braver Junge zu sein. Dann nahm er wieder seine Hand und ging schweigend mit ihm weiter.

Der Leichenbestatter hatte soeben die Läden seiner Werkstatt geschlossen und nahm beim passenderweise trüben Licht einer Kerze einige Einträge in sein Kassenbuch vor, als Mr. Bumble eintrat.