Oma geht campen - Regine Kölpin - E-Book
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Regine Kölpin

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Beschreibung

In ihrem neuen warmherzig-humorvollen Familienroman "Oma geht campen" lässt die beliebte ostfriesische Autorin Regine Kölpin erneut eine patente Oma turbulente Abenteuer, amouröse Avancen und kriminelle Ausflüge erleben. Die locker-leicht erzählte Geschichte bietet perfekte Urlaubslektüre, frisches Nordsee-Flair und authentische Camping-Erlebnisse. Regine Kölpins sympathische Heldin ist Bille Rubens, 73 Jahre alt und eigentlich eine sehr patente Frau. Trotzdem ist sie einem Betrüger aufgesessen, dem sie jetzt eine horrende Summe schuldet. Als wären das nicht genug Sorgen, verfolgt Fleischermeister Häwelmann sie mit Heiratsanträgen. Da kommt ihr das Angebot ihrer Nachbarn gerade recht: Für deren Kinder gibt Bille gern die Ersatz-Oma, und in dieser Funktion soll sie mit an die Nordsee, zum Campen. Leider reisen Billes Probleme ihr nach, weshalb es auf dem Campingplatz bald höchst turbulent zugeht. Ein Glück, dass Billes ›Enkelkinder‹ ihr beistehen, tatkräftig unterstützt von Biker Franz. Der nervt nicht mit Anträgen, dafür hat er eine Harley …

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Regine Kölpin

Oma geht campen

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Bille Rubens ist 73 und eigentlich eine sehr patente Frau. Trotzdem ist sie einem Betrüger aufgesessen, dem sie jetzt eine horrende Summe schuldet. Als wären das nicht genug Sorgen, verfolgt Fleischermeister Häwelmann sie mit Heiratsanträgen. Da kommt ihr das Angebot ihrer Nachbarn gerade recht: Für deren Kinder gibt Bille gern die Ersatz-Oma, und in dieser Funktion soll sie mit an die Nordsee, zum Campen. Leider reisen Billes Probleme ihr nach, weshalb es auf dem Campingplatz bald höchst turbulent zugeht. Ein Glück, dass Billes ›Enkelkinder‹ ihr beistehen, tatkräftig unterstützt von Biker Franz. Der nervt nicht mit Anträgen, dafür hat er eine Harley …

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Rezepte

Oma Billes Kartoffelsalat

Oma Billes Candle-Light-Dinner

Danksagungen

Leseprobe »Oma macht klar Schiff«

1. Kapitel

Klack, Tür zu, und der junge Mann war weg.

Oma Bille schüttelte fassungslos den Kopf. Wie lange war er da gewesen? Fünf Minuten? Zehn?

Zumindest lange genug, um sie um 2000 Euro zu melken, zahlbar in drei Tagen. Geld, das Oma Bille weiß Gott nicht hatte, sie war ja schon froh, wenn sie ihre Miete und das tägliche Essen bezahlen konnte. Das würde nun noch schwieriger werden. Dafür türmten sich jetzt in ihrer kleinen Küche zwei dicke Lammfelldecken nebst Kopfkissen.

Lammfelldecken! Mitten im Juli bei 30 Grad im Schatten, ein echtes Schnäppchen. Verdammt, was hatte sie da eben geritten? Oma Bille starrte auf die Rechnung, die ihr der junge Mann zum Abschied mit einem breiten Grinsen in die Hand gedrückt hatte. Er war zuerst so nett gewesen, hatte lange auf sie eingeredet, ihr die Vorzüge solcher Decken wieder und wieder aufgezeigt, so dass sie später gar nicht mehr anders gekonnt hatte, als zu unterschreiben. Vor allem, weil es doch für ihn, den armen entlassenen Strafgefangenen, so wichtig war, dass man ihm etwas abkaufte. »An uns glaubt keiner mehr. Nur so zuvorkommende alte Damen wie Sie«, hatte er mit zitterndem Kinn gesagt, und Oma Billes Mitleid für seinen bedauernswerten Zustand war groß gewesen. Wie von selbst hatten ihre Finger ihren Namenszug unter den Vertrag gesetzt. Erst danach war ihr aufgefallen, dass die Decken keine 200, sondern 2000 Euro kosteten. Der Daumen des jungen Mannes hatte versehentlich eine Null verdeckt. Danach hatte sie einen Augenblick gestutzt, weil er ihr mit einem Mal so bekannt vorgekommen war. Sie meinte plötzlich, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber da spielte ihr wohl das Gedächtnis einen Streich. Das konnte gar nicht sein, sie kannte keine Leute, die schon einmal im Gefängnis gewesen waren.

»Jetzt werden Sie es im Winter immer schön kuschelig haben«, hatte er gesagt, und Oma Bille hatte die kritischen Gedanken gleich wieder verdrängt. Sie wollte ihm eigentlich noch eine Tasse Tee anbieten, weil er doch ein so netter Mensch war, aber er hatte es mit einem Mal sehr eilig gehabt. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und sie die tatsächliche Summe entdeckte, wusste Bille auch, wieso.

»2000 Euro«, wiederholte sie und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen. Das Teewasser hörte eben auf zu blubbern und hinterließ eine eigentümliche Stille. Sie würde trotz der Decken im Winter frieren, weil sie nun ihre Heizkosten nicht mehr zahlen konnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, diese monströsen Gebilde über sich aufzutürmen und darunter in eine Art Winterschlaf zu fallen. Aber ob das etwas nützte? Bille bezweifelte das. Denn der junge Mann hatte noch etwas gesagt, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Und genau das hatte weniger freundlich geklungen. »In drei Tagen bin ich wieder da, Omi.« Er hatte seine tätowierten Muskeln spielen lassen. Der kleine, zuvor sympathisch wirkende Drache auf dem linken Unterarm schwoll plötzlich zu einem feuerspeienden Ungeheuer an. »Und wenn du nicht zahlst, nehmen wir dich und deine ganze Bude auseinander. Kapiert?«

Das hatte Bille kapiert, und wie. Ihr zitterten immer noch die Knie. Niemals war sie in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen, sie hatte ihre Rechnungen stets pünktlich bezahlt, nie etwas geklaut oder jemanden übers Ohr gehauen. Doch nun befand sie sich inmitten einer sehr unangenehmen Situation: Sie würde nicht zahlen können. Sie hatte keine 2000 Euro.

Bille strich den grauen Flanellrock glatt und zupfte die Rüschenbluse zurecht. Es war heiß, ihre Strümpfe klebten an den Beinen, ihr Oberteil hatte sie heute schon dreimal gewechselt. Obwohl sie das Fenster zum Hinterhof geöffnet hatte, durchzog keine frische Brise ihre Wohnung im zweiten Stock. Es war, als läge über ganz Oberhausen, ach was, über dem ganzen Ruhrgebiet eine zähe Schicht, unter der man kaum zu atmen vermochte. Die Fliegen schienen an den Wänden festzukleben, und auch vom gegenüberliegenden Schulhof drang kaum Kindergelächter herüber; selbst zum Spielen war es zu warm. Wer konnte, ging in eines der umliegenden Schwimmbäder und suchte sich dort ein schattiges Plätzchen. Die Übrigen dünsteten in ihren Wohnungen vor sich hin und hofften auf kühlere Abendstunden. Lammfelldecken aber kaufte sicher um diese Jahreszeit niemand.

Bille stand auf und kühlte ihre Handgelenke unter dem fließenden Wasser. Dabei bemühte sie sich, die Gedanken zu sortieren. Ein bisschen Geld hatte sie noch auf der hohen Kante, oder besser gesagt in ihrem Bierhumpen im Wohnzimmerschrank. Es waren genau 553,60 Euro. Gespart für Notfälle. Vielleicht ließ der Mann ja mit sich handeln. Waren Lammfelldecken überhaupt ein Notfall? Nun, wenn sie Gefahr lief, dass man ihr die Wohnung zerlegte, konnte man das wohl so nennen.

Sie hätte längst zum Amt gehen können, Gelder beantragen und schauen, was ihr zustand, dann würde es ihr finanziell nicht so schlechtgehen, doch sie mochte das nicht. Betteln war peinlich, sie hatte es bislang immer allein geschafft, und das sollte auch so bleiben. Ihr würde schon etwas einfallen, wie sie das Geld auftreiben konnte. Sie hatte noch nie aufgegeben, gleichgültig, welche Aufgaben das Leben ihr gestellt hatte. Nicht einmal, als ihr Karl gestorben war, nicht einmal da. Und auch jetzt würde sie eine Lösung für das Dilemma finden. Bille lachte bitter auf. Das war ja eine nette Vorstellung! Wie wollte sie denn innerhalb von drei Tagen an 2000 Euro kommen? Dazu müsste sie eine Bank überfallen oder einen Geldtransport. Zumindest die Supermarktkasse an der nächsten Ecke. Am besten gegen Abend, wenn die Einnahmen sich stapelten.

Bille drehte den Wasserhahn ab. Sie besaß ja nicht einmal eine Strumpfmaske, von einer Knarre ganz zu schweigen. Kriminelle Vorhaben waren bislang in ihrer Lebensplanung nicht vorgesehen gewesen. »Du und deine blöde Gutmütigkeit«, schimpfte sie. »Wie konntest du ihm glauben, dass er ein armer Kerl ist?«

Der junge Mann hatte ihr wirklich leidgetan. Natürlich hatte sie ihn unterstützen wollen. Arm sein, nichts haben, das kannte Bille. Und nun steckte sie in dieser vermaledeiten Klemme: Das Geld hatte sie einfach nicht. Und sollte sie tatsächlich vermummt im Supermarkt oder in der Bank auftauchen, würde man sie allenfalls ins nächste Demenzzentrum verfrachten. Wer nahm schon eine alte Schachtel als Gangsterin ernst? Sie war keine Bonnie, und Mr. Clyde fehlte ihr auch.

Bille nahm die Rechnung, ging ins Schlafzimmer und stopfte sie in ihren Kopfkissenbezug. Aus den Augen, aus dem Sinn. Es war eine unsinnige Handlung, aber so machte das Ganze ihr weniger Angst. Vielleicht konnte sie dem jungen Mann zumindest eine Decke zurückgeben, was sollte sie mit zweien? Sie lebte a) allein und b) in Oberhausen und nicht in Sibirien.

Oma Bille schüttelte resigniert mit dem Kopf. Der Mann war kompromisslos. Eher würde der Tattoo-Drache erneut Feuer spucken. Sie musste zahlen!

»Weil ich das Geld nicht habe und ein Überfall, wie auch immer geartet, gegen mein Naturell verstößt, wäre es am besten, unterzutauchen«, murmelte sie. Ihre Ideen wurden immer abstruser. Litt sie etwa schon an Demenz? Abtauchen mit einer neuen Identität, so hatte sie das im Tatort gesehen. Aber dafür musste man der Polizei Fakten gegen Verbrecher liefern, und das einzige Faktum, das es gab, war ihre Unterschrift auf dem Kaufvertrag. Und die war wohl rechtens. Der junge Mann hatte sie schließlich nicht gezwungen. Was war das alles ein Mist!

Als es klingelte, schlurfte Bille zur Tür. Sie warf einen Blick durch den Spion. Nicht, dass der Typ ihr passend zu den Decken nun auch noch ein Bett oder Spezialmatratzen andrehen wollte.

Aber es waren Annemie und Laura, die Zwillinge aus der Wohnung gegenüber. Ihre »Ersatz-Enkel«. Die Winterbergs waren ihr in all den Jahren zur Familie geworden. Das war gut, vor allem, wenn man keine eigene hatte. Bille atmete erleichtert aus und öffnete. Der Besuch würde sie ablenken.

»Mama ist so gemein, Oma!«, legte Annemie gleich los. »Richtig fies.«

»Stimmt!« Laura stampfte mit dem Fuß auf. Die beiden zwölfjährigen Mädchen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Ihre dunklen Haare hatten sie zu Zöpfen geflochten und mit bunten Spangen verziert. Obwohl Bille beide schon von klein auf kannte, hatte selbst sie hin und wieder Probleme, sie auf Anhieb voneinander zu unterscheiden. Jedenfalls so lange, bis sie redeten. Laura war erheblich forscher als Annemie und gestikulierte ständig wie wild, während ihre Schwester eher ruhig blieb und überlegt agierte.

»Kommt erst mal rein!« Oma Bille trat zur Seite. Dabei sah sie sich sicherheitshalber um, wer wusste schon, ob ihr Geldeintreiber sich nicht doch irgendwo versteckt hielt, auch wenn er gesagt hatte, sie habe drei Tage Zeit. Wer alten Damen das Geld aus der Tasche zog und sie mit Tattoo-Drachen bedrohte, hatte bestimmt eine andere Zeitrechnung.

Die Mädchen schlüpften an Oma Bille vorbei in die Küche, wo sie wie selbstverständlich auf ihren Kakao warteten. Es war ein Ritual, von dem sie nie abrückten: Die Zwillinge hatten etwas auf dem Herzen, und Oma Bille machte Kakao. Im Sommer eisgekühlt, im Winter warm, aber nicht mit Haut. Haut war ein Graus für Kinder, das tat sie ihnen nicht an.

Oma Bille stellte die Tassen zurecht und holte Milch aus dem Kühlschrank. Ihre Enkel waren eine willkommene Abwechslung. Sie mochte nicht weiter über Lammfelldecken und fehlende 2000 Euro nachdenken. Schließlich wollten die Winterbergs übermorgen verreisen, und sie würde die beiden Mädchen für zwei Wochen nicht sehen. Dieser Gedanke verschaffte ihr ein noch größeres ungutes Gefühl. Sie war völlig allein und ihrem Widersacher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Die Mädchen hatten mittlerweile Omas Einkauf entdeckt. »Hast du Schafe gekauft?« Annemie strich über das Fell.

»Tote Schafe«, sagte Laura und stieß den Stapel an. »Sind ja nur Decken.«

»Ziemlich tot.« Annemie nickte. »Warum kaufst du so was? Kleine Schäfchen sind so süß!« Sie runzelte die Stirn. »Und ganz ehrlich, Oma: Es ist heiß draußen, was willst du jetzt damit?«

»War günstig«, sagte Bille. Sie verspürte nur wenig Lust, mit den Mädchen über ihre Kaufentscheidung zu diskutieren, zumal sie ja selbst nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Immerhin besaß sie zwei wunderbare Daunendecken, deren Inletts sie erst im Frühjahr hatte reinigen lassen. »Der Kakao ist fertig«, lenkte sie ab. »Setzt euch doch! Ich dachte, ihr wolltet was loswerden?« Sie nahm die Decken und verfrachtete sie ins Schlafzimmer. Irgendwo musste sie die Dinger in ihrer kleinen Wohnung bis zum Winter lagern, vielleicht passten sie auf den Kleiderschrank. Oder sie spielte Prinzessin auf der Erbse und packte sie unter sich auf die Matratze.

Bille ging zurück in die Küche. »So, und warum ist Mama nun fies?«, fragte sie die Mädchen.

»Weil es wieder das Meer sein muss. Und wieder der Campingplatz am Strand. Der in Hooksiel. Dabei wollen wir so gern mal in die Berge. Ich möchte wandern.«

»Das gibt aber Blasen an den Füßen«, gab Oma Bille zu bedenken. Obwohl sie auch lieber in die Berge gefahren wäre als ans Meer, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Nur stellte sich diese Frage nicht, weil sie nie irgendwohin fuhr. Außer ins CentrO oder in den Zoo nach Duisburg. Vielleicht mal nach Köln an den Rhein, mit dem Seniorenticket.

»Seid froh, dass ihr überhaupt verreisen dürft. Gerade bei dieser Hitze ist es ein Segen, ins Meer springen zu können.« Sie fächelte sich mit der herumliegenden Zeitung Luft zu. »Außerdem wisst ihr doch schon länger, wohin die Reise gehen soll.«

»Ja, aber wir dachten, wir könnten unsere Eltern noch umstimmen, und deshalb haben wir extra aus dem Reisebüro Prospekte von Garmisch und der Zugspitze geholt.« Laura zupfte drei zerknitterte Hochglanzflyer aus der Hosentasche und schob sie zu Oma hinüber. Bille faltete sie auseinander und strich glättend darüber.

»Mama hat nicht mal reingesehen, sondern einfach die Strandlaken in den Wohnwagen gebracht. Sie hört nicht auf uns.« Annemie nahm einen Schluck Kakao und hatte sofort einen dunklen Bart. »Die Nordsee ist aber langweilig!«

»Weil sie nie da ist«, ergänzte Laura mit einer ausladenden Handbewegung. »Das Meer in Friesland hat Ebbe und Flut.«

»Genau«, bestätigte Annemie. »Das ist voll doof. Bei Flut ist das Wasser ganz hoch, und wir dürfen nur ein bisschen rein, damit wir nicht untergehen. Und bei Ebbe ist da nur Matsch. Darin dürfen wir uns aber nicht mal wälzen, weil der Schlick aus den Handtüchern nicht rausgeht. Vor allem der pechschwarze ist für jede Hausfrau eine Herausforderung. Sagt Mama.«

Oma Bille sah ein, dass dies alles in Bezug auf einen gelungenen Urlaub durchaus kontraproduktiv war. Dieses »Sich-nicht-im-Matsch-wälzen-Können« glich einer elementaren Katastrophe. Nur wollte sie Maja, der Mutter von Annemie und Laura, nicht in den Rücken fallen.

»Es weht immerhin ein frischer Wind dort. Das ist doch auch schön, wenn es so heiß ist wie im Moment.« Oma Bille stellte sich ans geöffnete Fenster. Es brachte keine Erleichterung.

»Wind ist doof. Steife Brise nennen sie es da. Man sieht aus wie ein Pudel«, sagte Laura. »Wir sind ja keine kleinen Kinder mehr und achten auf unsere Erscheinung.«

Langsam gingen Oma Bille die Argumente aus, aber offensichtlich waren die Zwillinge ohnehin nicht daran interessiert, auch nur einen Hauch von Meer gut zu finden. »Neben dem Campingplatz in den Bergen steht ein Hotel, da ist sogar schon Franz Beckenbauer abgestiegen«, erklärte Annemie.

Oma Bille sah sie erstaunt an. Franz Beckenbauer gehörte wie sie zum alten Eisen, wieso kannten die Zwillinge ihn, obwohl sie mitnichten fußballinteressiert waren?

»Wir wissen zwar nicht, wer das ist, aber er muss ja bekannt sein, wenn sie das extra im Prospekt erwähnen.« Laura sammelte die Flyer wieder ein. »Ist auch egal, Mama und Papa gehen lieber ans Meer campen.«

»Das gar nicht da ist. Oder nur manchmal«, ergänzte Annemie.

Die Mädchen waren, trotz des seelentröstenden Kakaos, heute Morgen auf Krawall gebürstet, und Oma Bille war gnadenlos überfordert. Was verstand sie schon von Urlaub?

»Noch was zu trinken? Eine Limo bei der Hitze?«, schlug sie vor, weil die Stimmung in den Keller zu rutschen drohte und ihr nichts Besseres einfiel.

Die Mädchen schüttelten die Köpfe. »Limonade hilft jetzt auch nichts, Oma. Spanien, ja das wär auch was gewesen«, sagte Annemie. »Wenn schon keine Berge.«

»Ja, Spanien«, schwärmte Laura. »Da scheint immer die Sonne. Und was tun wir? Wir fahren ins Wangerland nach Hooksiel. Allein wie das klingt! Das ist Friesland!«

»In Spanien ist es noch wärmer als hier.« Bille fand den Süden Europas generell nicht erstrebenswert. Wenn man doch schon in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Ruhrpott langsam vor sich hin garte. Im Süden musste es noch schlimmer sein. »Was sagt denn euer Bruder zu den Vorschlägen?«

»Ach, der!« Laura winkte ab. »Mit Felix ist nichts los. Der sitzt nur gelangweilt rum und quatscht dummes Zeug. Papa sagt, diese Phase muss man eben überstehen. Danach wären wir dran mit solchen Spinnereien. Wie Felix werden wir aber ganz sicher nicht. Der ist so blöd, vor allem, wenn er chillt.«

Er chillt?, wiederholte Oma Bille in Gedanken. Was das wohl bedeutete? Sie kannte Chinchillas, aber diese Tierchen hatten wohl kaum etwas mit Felix’ Gemütslage zu tun. Wobei seine momentanen Launen ohnehin nur selten mit irgendetwas was zu tun hatten. Der junge Herr pubertierte, das war in der heutigen Generation die Ausrede für alles und jedes, was man entweder nicht erklären oder nicht entschuldigen konnte. Zu Oma Billes Zeiten nannte man diesen Zustand noch »halbstark«.

»Ich denke trotzdem, dass es ein schöner Urlaub wird. Und ich freue mich, wenn ihr wieder zu Hause seid.«

Das dieses Mal garantiert noch mehr als sonst, dachte sie. Lieber gar nicht weiterdenken. Die Winterbergs fuhren immer 14 Tage lang weg, das glich einer gefühlten Unendlichkeit.

Laura trat neben Oma Bille und umarmte sie. »Na ja, dann freuen wir uns eben auch. Aber« – sie stockte – »jetzt musst du ja ganz allein in dieser Hitze ausharren, während wir am Strand rumliegen, Drachen steigen lassen, Souvenirs shoppen, Backfisch essen und so.« Laura ließ Oma Bille los. »Du wirst uns gewiss vermissen. Wer soll denn mit dir in den Zoo gehen?«

Oma Bille lächelte gequält. »Ich schaff das schon. Ich kann mit der Bahn hinfahren, zum Friedhof spazieren und ein paar Blumen ablegen und auf den Sterkrader Wochenmarkt gehen. Dort kaufe ich schöne Stoffe und nähe euch was. Das ist dann fertig, wenn ihr zurück seid.« Falls der Schlägertyp sie bis dahin nicht massakriert und ihre kleine Wohnung völlig zerlegt hatte.

»Super!«, sagte Laura strahlend. Sie liebte die bunten Kreationen, die Oma Bille für sie entwarf und dann mit geschickter Hand zusammennähte.

Gerade als die Zwillinge sich auf den Weg machen wollten, klingelte es erneut. Laura stürmte zur Tür. »Mama?«, fragte sie entgeistert, als sie sah, wer vor der Tür stand. Doch ihre Mutter wirkte keineswegs böse, sondern spazierte mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen in die Wohnung. »Puh, ist das heiß«, sagte sie. »Die ganze Stadt gleicht einer Sauna, das kann nicht gesund sein. Und genau deshalb bin ich hier.«

»Hast du für Oma Bille einen Ventilator gekauft?« Laura hüpfte auf und ab, doch ihre Mutter hielt kein Paket in den Händen.

Maja Winterberg lächelte noch immer. »Das nicht, aber ich habe etwas viel Besseres dabei als einen Ventilator.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Vor allem ihr älteren Leute leidet ganz schön unter der Hitze«, sagte sie an Oma Bille gewandt. »Manchmal bin ich deswegen richtig in Sorge.«

»Oma Bille ist nicht alt«, warf Laura ein.

»Nein, sie ist betagt«, sagte Annemie. »So nennt man das. Sie muss viel trinken, sonst fällt sie um vor Austrocknung.« Angesichts dieser nahenden Katastrophe stürzte sie zum Wasserhahn und füllte ein Glas bis zum Rand. »Trink mal was, Oma!«

Bille nahm folgsam einen Schluck. Nicht, dass sie tatsächlich kurz davor war, in sich zusammenzusacken, so wie der mit Luft gefüllte Schneemann, den ihre Nachbarn zur Weihnachtszeit auf dem Balkon gehabt hatten und der gleich am zweiten Tag tragischerweise von einem vorzeitig abgeschossenen Silvesterböller mitten in den Bauch getroffen worden war. Sie hatten die Reste des Verblichenen noch immer nicht beseitigt, und Bille wurde mit dem Drama Morgen für Morgen konfrontiert.

Das Leitungswasser schmeckte nach Chlor. Bille mochte es nicht besonders, aber es war eine Alternative zum Mineralwasser oder zur Limo, die sie nur für die Mädchen bereithielt. Wasser aus dem Hahn war gut, weil es nicht viel kostete. »Was hast du denn dabei?«, wandte sie sich an Maja, nachdem sie das Glas geleert hatte. Sie verspürte keine Lust, weiter über zusammengesackte Gestalten nachzudenken, schon gar nicht, wenn es sie selbst betraf.

»Es handelt sich eher um eine Überraschung. Jan und ich möchten uns damit bei dir bedanken.«

Bille winkte ab. Wofür wollten sie ihr danke sagen? Sie hütete ab und zu die Mädchen, doch das war keine Last, sondern eine willkommene Abwechslung. Dafür waren ihre Tage nicht so lang und trist wie bei anderen alleinstehenden alten Leuten. Und ihnen hin und wieder ein bisschen Kleidung zu nähen oder Marmelade zu kochen und Obst einzuwecken war ebenfalls eine Sache, bei der alle gewannen.

»Weißt du, Oma Bille«, sagte Maja, »du springst immer ein, wenn mich die Klinik spontan zur Nachtwache ruft, du bist da, wenn ich krank bin. Von deinen lieben Zuwendungen wie den selbstgebackenen Kuchen am Wochenende und den leckeren Marmeladen mal abgesehen. Für uns bist du unentbehrlich geworden.« Maja presste die Lippen aufeinander und runzelte zugleich die Stirn. »Ja, du hast sogar auf Felix ein Auge, und das ist im Moment alles andere als einfach.«

An der Stelle musste Bille Maja allerdings recht geben. Das war eine echte Herausforderung. Der Knabe sprach nicht. Oder wenn, dann in Ein-Wort-Sätzen, deren Kontext man sich zusammenreimen musste. Was es mit dem Chillen auf sich hatte, würde sie noch unauffällig herausfinden. Wozu gab es schließlich Google, und wozu hatte sie vor ein paar Wochen beim Seniorentreff am Computerkurs teilgenommen?

»Nun sag schon, Mami, was du Oma geben willst«, flehte Annemie. »Ich bin so neugierig!«

Maja lächelte. »Liebe Oma Bille, was hältst du von der Idee, mit uns an die Nordsee zu reisen und endlich mal Urlaub zu machen?«

Bille zuckte zurück. »Ich soll in den Urlaub fahren?«

»Ja! Hooksiel ist richtig schön. Ein ganz kuscheliger Ort mit einem romantischen Hafen und mit alten Fischkuttern, vielen Cafés und kleinen Geschäften. Dazu ein wunderbarer Sandstrand und das Hooksmeer, wo du auch spazieren gehen kannst.« Abwartend blickte Maja sie an. Bille war unsicher, was sie sagen sollte.

Ich soll in den Urlaub fahren?, wiederholte sie stumm. Ich weiß ja kaum noch, wie man das buchstabiert, dachte sie. Aber der Gedanke ließ sie innerlich auflodern. Wann hatte sie zuletzt Urlaub gemacht? Das war in den 70er Jahren gewesen. Damals hatte Bille mit ihrem Mann Karl das Allgäu bereist. Sie hatten den Grünten bestiegen und in dem kleinen Ort Kranzegg gewohnt. In einer winzigen Ferienwohnung mit rot-weiß karierten Gardinen, einem so dicken Federbett, dass man fast darunter erstickte, und einem Kruzifix an der Wand. Aber sie hatte neben Karl gelegen und nachts sein Schnarchen gehört. Obwohl sie deswegen unruhige Nächte gehabt hatte, war es dennoch ein vertrautes Geräusch gewesen. Das war vorbei. So war das Leben. Man merkte immer erst im Nachhinein, welchen Schatz man besessen hatte, weil man stets glaubte, der Reichtum ließe niemals nach. Seit diesem Urlaub liebte Bille die Berge als den Inbegriff von Glück.

Hooksiel war allerdings ganz weit weg davon, lag in der völlig anderen Richtung, um genau zu sein. Dazu war es dort flach, und es gab viel Wasser und viel Wind und Regen, wenn sie die Ausführungen ihrer Nachbarin Frau Meyer-Semmelmann für bare Münze nahm.

Bille musste jetzt etwas sagen, denn alle drei Augenpaare waren abwartend auf sie gerichtet. Hooksiel war nicht Kranzegg. Aber die Entfernung zwischen Oberhausen und diesem Fischerort war ihr sympathisch. Dort war sie unauffindbar für den jungen Mann, der ihr in drei Tagen den Marsch blasen würde, sollte sie nicht zahlen. Unter diesem Aspekt war eine Reise die Lösung!

»Du bist sonst so allein, und niemand bekäme mit, wenn dir etwas passiert«, argumentierte Maja weiter. Sie schien wirklich zu wollen, dass Bille mitfuhr. Es war kein Angebot, bei dem sie hoffte, dass die Beschenkte ablehnte. Das war ernst gemeint.

»Stell dir vor, du bekommst einen Schwächeanfall oder dich überfällt jemand. Nicht auszudenken! Und ein Tapetenwechsel würde dir sehr guttun.« Sie wischte sich erneut mit dem Handrücken über die Stirn. »Außerdem kann man dich bei dieser Hitze wirklich nicht hier allein lassen.«

Stimmt, dachte Bille. Wenn es die nächsten Wochen weiterhin so stickig blieb … Und dann die Sache mit dem jungen Mann … Der Plan mit Hooksiel klang nicht verkehrt. Es gab allerdings noch ein paar Details zu klären.

»Ihr fahrt mit eurem Wohnwagen auf einen Campingplatz. Wo soll ich denn schlafen?« Neben Felix im Zelt, der chillte, wovon sie noch nicht sagen konnte, ob sie das guthieß? Hinzu kam, dass Felix stets ein Doppelbett oder in dem Fall eine Doppelluftmatratze für sich allein beanspruchte. Er lag immer quer. Das hatte er schon als Baby getan.

»Wir haben für dich einen Leihwohnwagen organisiert, der gleich neben unserem Stellplatz aufgebaut wird. So hast du dein eigenes Reich. Die Mädchen schlafen bei uns im Wohnwagen, Felix hat sein Wurfzelt.«

Bille ging in sich, sie musste stets alles beleuchten, bevor sie eine Entscheidung traf. Das Ganze stellte sich folgendermaßen dar: Sie liebte die Berge und sollte nun an die Nordsee. Sie war 73 Jahre alt, träumte heimlich schon länger von einem feinen Hotel mit Schwimmbad und Sauna (so etwas hatte sie erst kürzlich als Reisetipp in einer Frauenzeitschrift beim Friseur gesehen) und würde stattdessen in einem Wohnwagen hausen. Sie sollte Urlaub machen, würde jedoch als Ersatzoma für quirlige Zwillinge und einen halbstarken Chiller fungieren (an dieser Stelle wurde ihr die Dringlichkeit des zeitnahen Googelns noch einmal sehr deutlich). Anstelle der angepeilten Seniorenwassergymnastik im gut temperierten Thermalbad würde sie sich entweder im Schlick (der nicht aus den Handtüchern zu waschen war) suhlen oder beim Baden in der Flut ihr Leben riskieren. Hinzu kam das wegen der steifen Brise nicht zu unterschätzende Frisurproblem. Der Wind wehte immer und überall und ständig von vorn. Das hatte Bille den Erzählungen der Winterbergs entnommen, wenn sie von ihren Radtouren erzählten. Bille legte aber großen Wert auf einen guten Sitz ihrer Dauerwelle. Da stimmte jede Locke.

Es gab bei dieser Reise also etliche Argumente dagegen, aber auch ein unschlagbares dafür: Das große Problem mit den zu zahlenden 2000 Euro würde in weite Ferne rücken. Dagegen waren ein Halbstarker und alle anderen Widrigkeiten eigentlich Peanuts, wie die Zwillinge es ausdrücken würden. Oma Bille grinste. Das Leben funktionierte manchmal perfekt.

»Wäre denn genug Platz für meine Bücher da?«

Maja lächelte, kannte sie doch Billes Vorliebe für dicke Schmöker. »Du wirst viel Zeit zum Lesen haben. Versprochen!«

»Und dann geht es also übermorgen wie geplant los?«

»So ist es, Oma Bille.« Maja strahlte übers ganze Gesicht, die Mädchen führten einen Freudentanz auf. »Es ist alles organisiert. Damit du dich wirklich gut erholen kannst. Wegen der Blumen, der Treppenhausreinigung und dem Briefkasten habe ich schon Frau Meyer-Semmelmann gefragt. Sie macht das liebend gern für uns.«

Bille nickte. Frau Meyer-Semmelmann waren diese Arbeiten wie auf den Leib geschnitten, es gab in ganz Oberhausen bestimmt keine Mittfünfzigerin, die so erpicht auf solche Hilfsdienste war wie sie. Darüber brauchte sich Oma Bille also nicht den Kopf zu zerbrechen.

»Übermorgen … Ich freue mich«, hörte sie sich sagen. In Gedanken packte sie bereits ihren Koffer und überlegte, welche Bücher sie sich noch aus der Stadtbücherei besorgen sollte, wo sie Stammgast war. In zwei Tagen lägen zwischen ihr und dem Geldeintreiber ungefähr 300 Kilometer. Das klang nach einer gesunden Distanz. Dennoch ließ ihr Magengrummeln nicht ganz nach. Aufgeschoben war nicht aufgehoben.

2. Kapitel

Fleischermeister Häwelmann packte Bille sechs Salamiwürste ein. »Sie sollen in Hooksiel ja nicht darben, Werteste«, sagte er und lächelte sie an. Und weil Bille so nett zurücklächelte, legte er noch ein Stück Schinken dazu. Bernd Häwelmann senior hätte aus Altersgründen schon lange nicht mehr in seinem Laden stehen müssen, aber er war kein Typ, der freiwillig Verantwortung abgab, und schon gar nicht an seinen sich bereits dem Rentenalter nähernden Sohn. Das war wie mit Prinz Charles, der auch kein König werden durfte.

Fleischermeister Häwelmann senior war stets sehr bemüht um Billes Wohlergehen, genauer gesagt, er wollte sie heiraten. Er war ebenso lange verwitwet wie Bille und hätte gegen eine Rubens-Häwelmann Verbindung nichts einzuwenden gehabt. Deshalb führte er sie einmal im Jahr zum Fest in der Kleingartenanlage am Bahndamm aus und schob sie dort energisch übers Tanzparkett. Öfter mochte Oma Bille die Fleischerhände nicht an ihrem Körper fühlen, selbst wenn sie den einzigartigen Schinken und seine Mettwurst, die er seit Jahren nach alter Tradition herstellte, durchaus schätzte. Doch es bestand ein Unterschied zwischen wohlschmeckender Mettwurst und der Berührung durch die Finger, die diese Wurst herstellten. Deshalb war Bille den Annäherungsversuchen des Fleischermeisters bereits dreimal erfolgreich ausgewichen.

Er hatte vorhin etwas betrübt gewirkt, als Bille ihm von dem bevorstehenden Urlaub erzählte, sich dann aber sofort überlegt, was er ihr zur Erinnerung an ihn mitgeben konnte. Natürlich wunderbare Wurstqualitäten. Er glaubte, damit ihr Frauenherz doch eines Tages erobern zu können. »Spätestens wenn Sie im Heim leben, Frau Rubens, werden Sie sich nach meiner Wurst sehnen.« Er sah Oma Bille so durchdringend an, dass sie sich verlegen ihre Dauerwelle richtete. Vermutlich würde er lange vor ihr dort landen, denn er zählte sieben Lenze mehr als Bille.

Bernd Häwelmann war aber noch nicht fertig. »Und nach mir werden Sie sich auch sehnen«, flüsterte er mit seinem unverkennbaren Salami-Atem, der vom häufigen Kosten der Dauerwurstvielfalt herrührte.

Bille mochte ihn ja, denn Bernd Häwelmann war durchaus ein angenehmer Zeitgenosse, nur wollte sie ihn deswegen nicht gleich heiraten. »Ich danke Ihnen, Herr Häwelmann«, sagte sie deshalb ausweichend. »Natürlich werden Sie eine Ansichtskarte von mir bekommen.«

»Ach, liebe Bille – wenn Sie aus Hooksiel, oder wie auch immer das Kaff heißt, wohin Sie nun für eine so lange Zeit entschwinden, zurück sind … Werden Sie mich dann erhören? Sie brauchen doch einen starken Mann an ihrer Seite!« Fleischermeister Häwelmann ließ seinen Oberarmmuskel spielen. Er wirkte wie Arnold Schwarzenegger nach seinen besten Tagen.

»Jetzt verreise ich erst einmal, Herr Häwelmann.« Bille lächelte. Sie hatte bereits seinen ersten Antrag im vorigen Herbst abgelehnt und im Winter den zweiten. Nummer drei war im Frühling erfolgt, und sie glaubte nicht, dass sich an ihrer Abneigung gegen eine Eheschließung nach ihrem Nordseeurlaub etwas ändern würde.

Fleischermeister Häwelmann packte eine weitere Wurst ein. Dieses Mal die grobe Kalbsleberwurst mit Bärlauchnote. Dann verneigte er sich und reichte Bille die prall gefüllte Wursttüte über den Tresen. »Ich wünsche eine gute Reise, meine Liebe. Lassen Sie sich meine Wurst munden, und verschwenden Sie in diesen Augenblicken ein paar kurze und freundliche Gedanken an mich.« Er machte eine Pause, beugte sich hinunter und schnitt eine Scheibe Bierschinken ab. »Kosten Sie die bitte noch, Frau Rubens. Sie werden es nicht bereuen.«

Bille lehnte ab und verabschiedete sich eilig. Herr Häwelmann behandelte sie stets wie ein Kind, dem man eine Scheibe Wurst mit auf den Nachhauseweg gab, damit es an Mamas Hand nicht so herumnörgelte.

»Dabei bin ich schließlich nicht käuflich und schon gar nicht mit Wurst«, murmelte sie. Ein Grund mehr, Herrn Häwelmann keinesfalls zu erhören. Wer wusste, was ihm noch einfallen würde, wenn er mit ihren Aktivitäten nicht einverstanden war.

Fleischermeister Häwelmann fehlte das, was einen Mann ausmachte, den Oma Bille sich auf ihre alten Tage an ihrer Seite wünschte. Einen, neben dem sie am Morgen aufwachen wollte. Einen, mit dem sie auch über andere Dinge sprechen konnte als über passende Gewürze für die neue Wurst- und Fleischproduktion. Bille las doch so gern und liebte die Natur. Eben nicht nur die Produkte, die man aus Kühen und Schweinen herstellen konnte.

»Nur Freundschaft«, hatte Bille immer zu ihm gesagt und seinen traurigen Blick ignoriert. Wegen eines traurigen Blickes konnte man nicht heiraten, das wäre nicht richtig.

Jetzt gehe ich erst einmal campen, dachte sie und lächelte. Ihre Unruhe war allerdings noch nicht völlig verflogen. Ständig sah sie sich um, ob der junge Mann irgendwo herumlungerte und ihr auflauerte, doch er ließ sich nicht blicken.

Bille musste sich beeilen, denn sie hatte vor der Abreise noch viel zu tun. Bei der Hitze war es nicht einfach, alles in kurzer Zeit zu bewerkstelligen. Zunächst galt es ohnehin, dieses riesige Wurstpaket im Kühlschrank zu verstauen und so vor dem Verderben zu retten.

Nachdem Bille das erledigt hatte, beschloss sie, einen Proviantkorb zu packen. Ein bisschen erkenntlich musste sie sich der Familie Winterberg gegenüber schließlich zeigen, und was lag näher, als das mit schmackhaftem Essen zu tun? Sie holte die selbstgebackenen Kekse aus dem Schrank, eilte in den Keller, wo es angenehm kühl war, und suchte drei Sorten Marmelade aus. Sie fand tatsächlich ein letztes Glas Quittengelee, von dem sie wusste, dass Jan Winterberg es liebte. Quitten machten unglaublich viel Arbeit, aber Bille hatte im Alltag sonst kaum etwas zu tun, und sie liebte es, zu kochen, zu backen und einzuwecken. War das ähnlich wie die Wurstherstellung? Bille schob den Gedanken rasch weg.

Die ersten Dinge waren eingepackt, den Rest würde sie morgen hinzufügen. Mit Maja galt es nachher noch zu besprechen, wo sie all die Wurst lassen sollte. Ihren Koffer hatte Jan Winterberg bereits vom Speicher geholt und auf Billes Bett gestellt.

Jetzt lief Bille der Schweiß über die Stirn, und sie musste sich auf die Bettkante setzen. Was zum Teufel nahm man in einen Campingurlaub mit? Wie kleidete man sich auf einem Campingplatz? Sie kannte nur die Fernsehserie Die Camper. Eine leichte Gänsehaut kroch über Billes Rücken. Ob es da wirklich solche Gestalten gab? Nun, dann hätte sie wenigstens was zu lachen. Aber das löste ihr Kleidungsproblem leider auch nicht. Sie warf einen Blick auf ihre Bücher. Lesestoff musste sie auch ganz dringend einpacken.

Bille stand auf und inspizierte ihre Bestände. Viel besaß sie nicht, weil sie sich sommers wie winters eher klassisch kleidete. Grauer oder beigefarbiger Flanellrock, dazu ein dünner oder dickerer Pulli, und wenn sie sich schick machte, eine Bluse. An heißen Tagen wie heute durfte die auch kurzärmelig sein. Ging sie mit Herrn Häwelmann zum Tanzen, schlüpfte sie in ein schwarz-weiß gemustertes Kleid, das mit einem dunklen Gürtel gehalten wurde. Mehr brauchte Bille nicht. Nur – trug man Flanellröcke beim Campen? Bille war ratlos und räumte ihren Koffer nun schon zum dritten Mal ein und wieder aus.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass die Winterbergs gerade ihre Sachen in die Schränke des riesigen Wohnwagens luden. Der blockierte seit zwei Stunden mehrere Parkplätze vor dem Haus und gab Anlass zu lauten Hupkonzerten, weil die Kunden der Apotheke nicht direkt davor parken konnten. Jan Winterberg kümmerte das nicht, er war in Urlaubslaune. Morgen früh würden sie sich auf den Weg an die Nordsee machen.

Der Campingplatz lag hinterm Deich, man hatte dort wohl die See vor der Nase. Wenn sie da war und nicht Ebbe spielte. Bille hatte die Gezeiten noch nie erlebt und war auf den Blick übers Watt gespannt. Nordsee ist Mordsee, hatte sie mal gelesen, weil es gefährlich war, bei Ebbe zu weit hinauszulaufen, denn das Wasser konnte plötzlich von allen Seiten zurückkommen. Aber sicher war es dort nicht gefährlicher als in der Thüringer Straße in Oberhausen, wo sie bei glühender Hitze Lammfelldecken angedreht bekam und bei Nichtzahlung um Leib und Leben fürchten musste.

Mittlerweile freute sich Bille auf die Reise, auch wenn sie nicht ganz mit einem Urlaub in einem schicken Hotel vergleichbar war. Aber einem geschenkten Gaul sah man nicht ins Maul, und so kam sie zumindest mal raus und vor allem weit weg von hier und ihren unüberschaubaren Problemen. »Deiche sind auch Hügel, fast Berge«, tröstete sie sich. Immerhin gab es Mühlen und Leuchttürme, Möwenschiss und das Wattenmeer.

Bille wandte sich wieder dem Packen zu, und schließlich war der Koffer bis zur Hälfte gefüllt. »Ich wusste gar nicht, wie viele Sachen ich tatsächlich im Schrank habe«, sagte sie zu sich und nahm erfreut eine hellblaue Bluse in die Hand, deren Existenz sie völlig vergessen hatte.

»Was brauche ich noch?« Wichtig war ihre Schürze. Maja, Jan und die Kinder würden wohl kaum auf ihre Kochkünste verzichten wollen, auch wenn Bille das Campingkochen erst noch erproben musste. Aber Maja hatte gesagt, im Wohnwagen gäbe es einen Gaskocher, und sie könnten zudem auf einem Zweiflammer draußen im Vorzelt kochen. Das bekam Oma Bille gewiss hin. Nur aufs Backen würde sie verzichten müssen. Doch zurück zur Kleidungsfrage. Auf Campingplätzen trug man Jogginghosen, jedenfalls sah das in Filmen immer so aus.

Bille durchwühlte die Kommode. Sie besaß nur eine einzige von diesen Hosen. Darin nahm sie ab und zu am Seniorensport teil. Schließlich durfte sie nicht einrosten, musste Krampfadern vorbeugen. Vielleicht gab es auch auf Campingplätzen so etwas wie morgendliche Strandgymnastik.

Ihr zweiter Flanellrock war sicher verstaut, dazu ein Stapel Feinstrumpfhosen und eine dunkelgrüne Strickjacke.

»Eine normale Hose muss noch mit«, sagte Bille zu sich. Irgendwo musste doch eine sein? Sie überlegte kurz, öffnete dann die Schublade und zerrte die dunkelblaue Jerseyhose mit Gummibund heraus. Eigentlich unterschied sie sich nur unwesentlich von ihrer Jogginghose. Für Jeans fühlte Bille sich zu alt, und außerdem fand sie, dass sie nicht besonders gut zu ihrer schmalen Figur passten.

Es klingelte. Laura stand vor der Tür. Sie folgte Bille ins Schlafzimmer und inspizierte den Kofferinhalt mit neugierigem Blick. »Was willst du denn mit Röcken und diesen Strumpfhosen auf einem Campingplatz? Da kriegst du höchstens Laufmaschen.« Sie krauste die Nase, als sie die eben erst verstaute Jerseyhose mit spitzen Fingern herauszupfte. »Und ganz ehrlich, Oma: So was macht dich uralt! Dabei bist du das doch gar nicht. Uralt, meine ich.«

Bille winkte ab. »Man sollte Tatsachen nicht beschönigen. Mit 73 kriecht man nicht mehr frisch aus der Tupperdose, man hat Runzeln an Leib und Seele, so ist es nun mal.«

»Du könntest zehn Jahre jünger aussehen, weil du gar nicht viele Falten hast«, entgegnete Laura. »Neue Frisur, schicke Klamotten, und du bist wie neu!«

»Ich laufe nun mal so rum. Das ist mein Style, wie ihr so schön sagt. Eine alte Karosserie sollte man nicht mehr neu spritzen.« Bille suchte mittlerweile nach ihren Lockenwicklern, ohne die sie den Tag nicht beginnen konnte. Ihre Dauerwelle war ihr heilig, dafür legte sie immer einen Betrag zurück. Gleichgültig, wie eng es bei ihr finanziell war. Die Haare mussten sitzen, Locke an Locke. Sie hasste es, wenn sie herauswuchsen. Das sah scheußlich aus. Bille seufzte. Der Friseurbesuch würde mit ihren horrenden Schulden bald nicht mehr möglich sein.

»Stimmt nicht, Oma Bille«, riss Laura sie aus ihren Gedanken. »Man ist so alt, wie man sich fühlt, sagt Mama immer. Außer mit deiner altmodischen Kleidung wirkst du gar nicht so old school.«

Was war das nun schon wieder für ein altkluger Spruch? Bille kam nicht dazu, nachzufragen, weil Laura derweil ihren Schrank durchwühlte. Plötzlich schrie sie begeistert auf. »Du hast ja sogar eine super Hose, Oma! Eine Jeans! Wie cool ist das denn?« Sie warf eine nagelneue Jeans aufs Bett. Am Bund baumelte noch das Preisschild. »Wenn du die anhast, siehst du aus wie eine Oma und nicht wie eine Uroma.« Laura machte eine Pause. »Nee, wie eine coole Frau.«

»Sind Omas keine Frauen?« Bille nahm Laura die Jeans aus der Hand. »Die findest du gut?«

»Klar, besser als deine Röcke. Sitzt die eng?«

Bille schluckte und musterte unauffällig Lauras Jeans, die sich gut an ihren Po schmiegte. In Lauras Alter war das ja in Ordnung, aber sie auf ihre alten Tage in einer Pelle im Jeansdesign? Da kam sie sich ja schon vor wie die Fleischmassen, die Herr Häwelmann in seine Häute drückte. Ihr Bauch würde eingequetscht werden, keine schöne Vorstellung. Außerdem setzte eine Jeans einen Hintern voraus, ein Gesäß, was sie nicht vorweisen konnte.

Laura hatte Oma Billes Zögern nicht wahrgenommen, oder sie ignorierte ihre Skepsis. »Hast du denn keine zweite? Vielleicht in Schwarz? Ich stell mir grad so vor, wie du damit über den Campingplatz läufst!«

Oma Bille stellte sich das lieber nicht vor. »Ich hab nur die eine, und die bleibt, wo sie ist. Ich werde sie nach meiner Rückkehr in die Altkleidersammlung geben. Zu mir passt so etwas gar nicht.«

Sie hatte nämlich nicht vor, auf ihre alten Tage noch cool zu werden. Sie war, wie sie war.

»Pack sie trotzdem ein, wer weiß, was alles passiert.« Laura legte die Jeans in den Koffer und kaute auf ihrer Unterlippe. »Wenn es so heiß bleibt, brauchst du Shorts.«

Bille lachte auf. Lauras Modeberatung nahm groteske Züge an. Sie schob das Mädchen beiseite, denn sie hatte ganz hinten im Regal ihren großblumigen Badeanzug erspäht. »Wenn es warm ist, ziehe ich den am Strand an. Ich hab immerhin keine Krampfadern.«

Laura kommentierte das nicht, für eine Zwölfjährige waren Krampfadern definitiv kein Thema. Sie kramte ein paar hellblaue und gelbe Kurzarmshirts mit Lochmuster aus dem Schrank und reichte sie Oma Bille.

»Jetzt noch die Nachthemden und mein Morgenmantel. Man muss doch über den Platz zur Toilette laufen, oder?«

Laura seufzte. »Das kannst du im Bademantel tun. Ein Jogginganzug wär aber auch gut. Da gibt es ganz flotte.«

Das war sicher der Fall, wenn man Geld hatte und das kaum vorhandene nicht für Lammfelldecken hinauswarf.

Laura sah sich um. »Hast du keine Badelatschen? Zum Duschen sind die wichtig.«

Oma Bille seufzte. Zum Glück ging sie außer zum Seniorensport auch zur Wassergymnastik 60+. »Im Bad, rechter Schrank unten.«

Laura stürzte dorthin, brach aber gleich in lautes Lachen aus. »Oma, das ist nicht dein Ernst, oder? Aus welchem Gruselfilm hast du die denn?«

»Was?« Bille blickte zur Tür und sah Laura mit ihrer Badekappe auf dem Kopf hereintanzen. Die Badelatschen schwenkte sie locker in der rechten Hand.

»Was hast du daran auszusetzen? Die trage ich beim Schwimmen, sonst ruiniert das Chlor meine Haare.«

»Die willst du nicht wirklich mitnehmen, oder?« Laura setzte die Kappe ab und fuhr mit den Fingerkuppen über die Spitzen der orangefarbenen Rüschen. »Es gibt in Hooksiel ein Meerwasserschwimmbad, das ist ohne Chlor. Nur mit Unmengen Salz, genau wie die See. Also weg damit!« Sie schleuderte das Ungetüm aufs Bett.

Doch Bille grapschte sofort danach. »Salz ist auch Gift für die Haare!« Ich muss meine Dauerwelle nun besonders schonen, dachte sie. Ich habe Schulden … »Pass auf, ich lasse dir zuliebe diese Jeans im Koffer. Kleiner Kompromiss. Ansonsten nehme ich nur mit, was ich mag. Und deshalb« – sie deutete auf die von Laura in den Koffer gelegten Klamotten – »fliegt das alles wieder raus. Ich mag diese Sachen nicht mehr anziehen!«

Billes Tonfall bewirkte, dass Laura die Shirts anstandslos zurück in den Schrank legte. Bille nickte zufrieden. Diese Jeans mitzunehmen bedeutete ja keineswegs, sie auch anzuziehen. Bestimmt fand sich in Hooksiel ein Altkleidercontainer, in dem sie das Ding rasch entsorgen konnte.

»Das hätten wir«, sagte Laura kurz darauf und klappte den Deckel des Koffers herunter. Doch er ging nicht zu und sah aus wie ein Fisch mit aufgerissenem Maul.

Es klingelte an der Tür. Bille warf einen nervösen Blick Richtung Flur. Nicht, dass der Mann … Jetzt so kurz vor ihrer Flucht …

»Ist nur Felix«, sagte Laura. »Dann hau ich mal ab. Ältere Brüder sind die Pest, und den muss ich noch in Hooksiel tagelang ertragen.«

Felix schob sich an ihr vorbei und blickte skeptisch auf den gefüllten Koffer. »Wir essen in ein paar Minuten, Schwesterlein. Beeil dich. So kurz vorm Urlaub herrscht Notstand zu Hause. Man lehnt sich besser nicht auf. Mama gleicht gerade einer Furie.«

Laura huschte aus der Tür, aber Felix rührte sich nicht vom Fleck und schaute abwartend zu Bille.

»Ist noch was?«, fragte sie, während sie sich bemühte, den Koffer zu schließen. Es gelang ihr nicht, weil er viel zu voll war und ständig ein Stück Ärmel oder anderer Stoff herauslugte.

Felix zog die Mundwinkel hinunter. »Ja, schon.« Pause.

»Nun sag, was ist!« Ein Stück vom Reißverschluss hatte Oma Bille tatsächlich bereits zubekommen.

»Ist wirklich merkwürdig, aber vor dem Haus lungert ein Typ herum. Üble Sorte. Er hat nach dir gefragt.«

Bille bemühte sich, gleichmütig zu wirken, und beschäftigte sich weiter mit ihrem Gepäck. »Ach, was wollte er denn?«

»Keine Ahnung. Hab ihn ignoriert«, sagte Felix betont beiläufig. »Er tut so, als wäre er saugefährlich. So ein echter Muskel-Angeber.«

»Ich weiß nicht, wer das ist«, sagte Bille lächelnd. Bloß keine Aufregung zeigen! »Kann nicht wichtig sein.«

»Ich würde an deiner Stelle nicht runtergehen.« Felix schlug Oma Bille aufmunternd auf die Schultern. »Bis später, ich hau jetzt auch mal ab, sonst wird Mama tatsächlich noch zum Monster.«

»Kannst du mir kurz helfen?« Oma wies auf den Kofferdeckel, der noch immer nicht geschlossen war. Felix drückte, Bille zog, und dann war die letzte Lücke des Reißverschlusses zu.

Nachdem Felix davongeflitzt war, schlich Oma Bille zum Fenster und schaute vorsichtig am Schlitz der Gardine vorbei. Der junge Mann lehnte am Laternenpfahl und rauchte in aller Seelenruhe eine Zigarette. Bille zuckte zusammen und stieß dabei an die Gardine, so dass die sich bewegte. Der Mann sah hoch. Ein kurzes, höhnisches Nicken, dann pustete er den Qualm in ihre Richtung, ließ die angerauchte Zigarette fallen und trat demonstrativ langsam die Glut aus. Abschließend strich er noch mit der Handkante an seinem Hals entlang und trollte sich.

Die Warnung hatte gesessen. Für einen Augenblick hatte Bille das Gefühl, ihr Herz bleibe stehen. Doch dann beruhigte sie sich. Er konnte ihr nicht mehr drohen, ab morgen war sie weg und vorerst in Sicherheit. Wie gut, dass er das nicht wusste! Sie grinste breit: Oma Bille ging campen.

 

Frau Meyer-Semmelmann lauerte Bille im Treppenhaus auf, als sie ihren Koffer nach unten brachte. »Frau Rubens, Sie wollen tatsächlich verreisen? Ich hätte nie geglaubt, dass die Winterbergs Sie dazu überreden können.«

»Ja, nach Hooksiel. Das liegt in Friesland an der Nordsee.«

»Ach herrje! Da wollen Sie hin?« Das Entsetzen in Frau Meyer-Semmelmanns Stimme war unüberhörbar.

»Warum fragen Sie das? Ich meine, ich fahre zwar campen, aber ja nicht ins Dschungel-Camp«, erwiderte Bille lachend, doch der Blick ihrer Nachbarin irritierte sie.

Frau Meyer-Semmelmann verdrehte die Augen, was Bille noch stärker verunsicherte. »Frau Rubens! Die sprechen da eine sehr komische Sprache. Allein das!«

»Aber doch Deutsch?«

»Plattdeutsch. Versteht kein Mensch. Und in jedem Dorf eine andere Variante. Das ist kein Dialekt, dieses Platt, das ist eine eigene Sprache mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Also, wenn Sie mich fragen, grenzt das ein bisschen an Revolution!«

Das fand Bille ziemlich übertrieben, aber Frau Meyer-Semmelmann war nicht mehr zu stoppen. »Und wissen Sie, was ich kürzlich in der Zeitung gelesen habe? Die Friesen gelten als anerkannte Minderheit. Von unserer Regierung anerkannt. Also ich meine, ein Volk mit eigener Kultur und Sprache.«

Frau Meyer-Semmelmann war gut informiert, das musste man ihr lassen, aber was sollte Oma Bille mit einer solchen Information anfangen?

Ihre Nachbarin war noch nicht fertig. »Und die sagen immer Moin! Tag und Nacht.«

Nun konnte Oma Bille punkten, denn das Geheimnis hatte Annemie am Nachmittag bereits gelüftet. »Das hat ja auch mit dem Morgen nichts zu tun, Frau Meyer-Semmelmann. Moin kommt von ›moi‹ und heißt so etwas wie ›gut‹ oder so.«

Das wollte ihre Nachbarin nicht hören. Sie stieß den Besen einmal heftig auf die Fliesen, als müsse sie sich Gehör verschaffen. »Es ist doch nun wirklich egal, woher das stammt. Sie sagen es, das ist ausschlaggebend. Und jetzt kommt es, Frau Rubens: Die Ostfriesen und Friesen trinken ständig schwarzen Tee, ich weiß gar nicht, ob es dort Kaffee überhaupt gibt!«

Bille schluckte. Sie mochte keinen schwarzen Tee, sollte sie doch besser zu Hause bleiben? Ein Frühstück ohne Kaffee? »Ich denke, die Winterbergs haben eine Maschine, damit können wir ihn selbst kochen, Frau Meyer-Semmelmann.«

Die Nachbarin rümpfte ihre Nase, weil Bille sie dauernd unterbrach. »Es ist völlig exotisch, wenn da jemand Kaffee trinkt. Nur die ostfriesische Tee-Mischung ist erlaubt, drei Minuten gezogen, kleine Tassen, in die eigentlich gar nichts reingeht, gefüllt mit einem Zuckerklumpen, den sie Kluntjes nennen. Da wird dieser Tropfen Tee draufgegossen, ein Schuss Sahne drübergekippt, und stellen Sie sich vor, Frau Rubens, das Zeug darf man nicht mal umrühren! Obwohl das so ja bitter schmeckt. Ich sage Ihnen, das ist ein ganz eigenartiges Völkchen. Und wissen Sie was? Den Löffel nehmen die nur, um ihn in die Tasse zu legen, wenn sie keinen Tee mehr wollen. Hallo?«

Bille rauschten die Ohren. Sie wollte sich nicht verunsichern lassen. Es war nur wichtig, so rasch es ging aus Oberhausen fortzukommen, sie musste schließlich fliehen, nur wusste ihre Nachbarin das nicht. Frau Meyer-Semmelmann fand ohnehin kein Ende und plauderte über weitere Eigenarten der Menschen an der Nordseeküste, und nach einer Weile glaubte Bille tatsächlich, dass Friesland ebenso exotisch war wie Hawaii oder die Fidschis.

»Ich muss weiterpacken …« Mit diesen Worten versuchte Bille schließlich der misslichen Lage zu entkommen, aber Frau Meyer-Semmelmann war noch lange nicht fertig mit ihren Ausführungen. Sie wäre bestimmt eine gute Reisebegleiterin bei den Kaffeefahrten geworden, wenn sie denn je das Bedürfnis verspürt hätte, arbeiten zu gehen, dachte Bille. Nur hätte sie in dem Fall zu viel von dem verpasst, was in ihrem Mietshaus vor sich ging.

»Nehmen Sie lieber den Wollmantel mit, Frau Rubens«, sagte sie gerade. »In Friesland ist es oft deutlich kälter als hier bei uns, das lassen Sie sich mal gesagt sein! Ach, Frau Rubens, am sichersten ist man ja doch zu Hause …«

Was Oma Bille im Moment nicht bestätigen konnte, aber den Rest nahm sie dennoch sehr ernst. Zum Beispiel dieser Ostfriesentee … Als alter Mensch konnte und durfte man seinem Körper nicht mehr alles zumuten. Nahrungsumstellungen förderten Verstopfung oder Diarrhöe, je nach Veranlagung. Also stieg Bille wieder in den Keller und packte Vorräte ein. Ein zweiter Koffer war nun mit eingeweckten Köstlichkeiten gefüllt. Kirschen süß. Kirschen sauer. Pflaumen, Bohnen und Gulasch.

Billes Gepäckvolumen hatte sich im Laufe des Nachmittags verdreifacht, weil ihr Stunde um Stunde mehr Dinge eingefallen waren, auf die sie während der nächsten zwei Wochen unmöglich verzichten konnte. Frau Meyer-Semmelmann hatte sie zusätzlich beunruhigt. Deshalb stapelten sich in ihrem kleinen Wohnzimmer jetzt mehrere Gepäckstücke.

Jan zog die Stirn in Falten, als er sah, was Bille mitzunehmen gedachte. »Wir fahren nicht in den Dschungel«, sagte er vorsichtig. »In Hooksiel gibt es Supermärkte mit allem, was man braucht. Es ist ganz zivilisiert dort.«

Bille tat so, als hätte sie seinen Einwand nicht gehört, schließlich widersprachen die Aussagen von Frau Meyer-Semmelmann dieser Behauptung. Es war besser und sinnvoll, auf Nummer sicher zu gehen.

Jan schaute auf den noch nicht ganz gefüllten Proviantkorb, den Bille auf dem Küchentisch abgestellt hatte. »Der soll morgen auch noch mit?«, fragte er entgeistert. »Wo soll ich den verstauen? Oma Bille, ich fahre keinen Linienbus mit Gepäckraum im Bauch. Wir haben nur einen Van, und Felix hockt auf dem Sitz im Kofferraum.«

»Wir müssen unterwegs doch etwas essen«, sagte Bille.

»Lass bitte den großen Korb hier. Den müsstest du auf den Schoß nehmen, und dann sitzt du nicht mehr bequem«, versuchte Jan Bille umzustimmen. Doch sie wusste, was sie wollte, und dazu gehörte ein gut bestückter Proviantkorb. Sie hatte der Familie gegenüber eine Verantwortung, und es war wichtig, dass alle angemessen versorgt waren.

»Oma Bille …« Maja hatte sich dazugesellt und Jans Worte mitbekommen. »Die Fahrt dauert höchstens drei Stunden. Da müssen wir nicht einmal Rast machen. Und für den Hunger zwischendurch reicht ein Brötchen für jeden.«

Bille schüttelte den Kopf. Man musste auf dieser Reise auf alles gefasst sein. Fernab jeglicher Zivilisation auf einem Campingplatz am Meer, da galt es vorzusorgen. Sie dachte an schlechte Zeiten, Unwetter und Überfälle. In der Truhe war noch Hackfleisch gewesen, davon hatte sie Frikadellen gebraten. Natürlich durfte auch ihr spezieller Gugelhupf mit Schokoglasur nicht fehlen. Und weshalb hatten Laura und Annemie ihr beigebracht, wie man die amerikanischen Minikuchen, diese Muffins, buk? Was wären die Frikadellen ohne die eingemachten Senfgurken? Zum Nachtisch schmeckten die Sauerkirschen von Frau Meyer-Semmelmanns Sohn, der seinen Baum jedes Jahr sachgerecht zurechtschnitt, einfach köstlich, und auch die Birnen aus der Kleingartenanlage von Herrn Häwelmann. Na ja, und die anderen eingeweckten Sachen wollte sie nicht zurück in den Keller schleppen, so heiß, wie es war. Nur auf Kartoffelsalat hatte sie wegen der Hitze verzichtet. Den würde sie auf dem Campingplatz bei einem Grillabend beisteuern.

»Und wozu brauchst du zwei große Koffer und eine Reisetasche? Man kann auf dem Platz waschen. Dafür gibt es Waschmarken und bei Regen einen Wäschetrockner.« Maja lächelte sie weiter freundlich an, doch was das anging, war Oma Bille erst recht altmodisch. »Ich trockne meine Sachen seit Jahrzehnten auf dem Speicher oder draußen an der frischen Luft. Ordentlich geradegezogen, so dass man kaum bügeln muss. Wäschetrockner, pah!« Sie legte ein paar Servietten in den Proviantkorb. »Das muss alles mit. In einem Koffer sind zusätzliche Vorräte. Die werden wir brauchen beim Campen. Jan sagte zwar, man bekommt dort alles, aber ich habe da andere Informationen!«

Zum ersten Mal, seit Maja Bille eingeladen hatte mitzufahren, zeigten sich nun Zweifel auf ihrem Gesicht, ob dies wirklich eine gute Idee gewesen war.

3. Kapitel

Bille wartete seit einer halben Stunde auf das Zeichen zur Abreise, aber das zog sich hin, weil Jan den Wagen bereits zum wiederholten Male komplett aus- und wieder einräumte, in der Hoffnung, Billes Proviantkorb doch noch irgendwo unterzubekommen. Endlich winkte er, und Bille konnte die Tür hinter sich abschließen. Es war ein befreiendes Gefühl, so als würde sie mit dieser Geste ihre Probleme und den jungen Bodybuilder einsperren.

Jan war das Kunststück gelungen, Gepäck, Kinder, Ehefrau und Oma Bille optimal zu verstauen, der Proviantkorb passte allerdings tatsächlich nur noch auf ihren Schoß. Jan hatte diesbezüglich gewisse Befürchtungen, aber auch der letzte Versuch, Oma Bille umzustimmen, das Essen zu Hause zu lassen, war kläglich gescheitert.

Die Strecke auf der A1 zog sich endlos dahin. Außerdem drückte der Henkel gegen Billes Kinn, und wenn Jan über eine Bodenwelle fuhr, stieß er gegen ihren Hals, was einen Hustenreiz auslöste. Erst nach einer Stunde hatte Bille eine Sitzposition gefunden, die zumindest ihren vorzeitigen Tod verhinderte.

Sie hatten bisher vorsichtshalber nicht angehalten, weil a) keiner nach einer Pipipause verlangte und b) Jan fürchtete, seine Mitreisenden danach nicht mehr vollständig in den Van zu bekommen.

Am Ende fuhren sie von der Autobahn ab und gelangten auf die Landstraße in Richtung Hooksiel. Die Gegend war hinter Oldenburg bereits ganz flach geworden. Und nachdem sie Varel passiert hatten, durchquerten sie ein unendlich weites Land.

Die höchsten Erhebungen sind hier die Maulwurfshügel, schoss es Bille durch den Kopf, als sie aus dem Fenster sah und die grünen Wiesen erblickte, auf denen sich schwarzbunte Kühe und Schafe tummelten. Dazwischen staksten weiße Möwen herum, und auf einer Wiese hatte sich ein Graureiher dazugesellt. Kurz hinter einem Ort, der Sengwarden hieß, ragten auf der rechten Seite Fabrikschornsteine in den Himmel. Flankiert wurden sie von einer erhöhten grünen Linie, die Lauras begeisterten Ausrufen nach der Deich zur Nordseeküste war. Dass sie ursprünglich eigentlich in die Berge hatte fahren wollen, war offenbar völlig vergessen.

Bille fiel auf, dass einige der Bauernhöfe auf Hügeln gebaut waren. »Das sind Wurten«, erklärte Jan. »Bevor es Deiche in ausreichender Höhe gab, war das der einzige Schutz gegen die Sturmfluten.«

Bille zuckte zusammen. Beruhigend klang das nicht, doch inzwischen schienen die Deiche wohl hoch genug zu sein. Maja griff nach hinten und tätschelte Billes Hand. »Ganz ruhig, der Campingplatz liegt zwar vor dem Deich, aber im Sommer sind Sturmfluten nicht zu erwarten.«

Mittlerweile war Annemie, die seit Münster in einen komaähnlichen Tiefschlaf gefallen war, erwacht und verlangte nun doch nach einer Pause, weil sie zur Toilette musste, was Jan aus Grund b) jedoch verweigerte. »Außerdem sind wir ganz bald da«, sagte er.

Felix hatte die gesamte Fahrt über teilnahmslos aus dem Fenster geschaut oder die Augen geschlossen und sich zwei Knöpfe ins Ohr gesteckt. Er chillte. Bille hatte gestern noch mit dem Laptop, das Jan ihr mal überlassen hatte, gegoogelt, und der Sinn dieses Wortes hatte sich ihr erschlossen. Laut Wikipedia hatte dieser Zustand mit »abhängen« zu tun. Das beherrschte der Junge perfekt, wobei Bille froh war, dass sich ihre anfängliche Befürchtung nicht bestätigte. Denn als sie das Wort »abhängen« gelesen hatte, war sie im ersten Moment doch sehr besorgt gewesen. Abhängen tat auch das Fleisch von Herrn Häwelmann, das allerdings auf einem Haken. Zum Glück hatte dort als Nächstes etwas von »entspannen« gestanden …

 

Annemie akzeptierte die Absage ihres Vaters bezüglich der Pause und vertrieb sich nun mit Laura die Zeit damit, die nächsten Urlaubstage zu planen. Die Mädchen freuten sich mittlerweile doch auf Hooksiel.

»Gut, dass du mal aus der Stadt weg bist, Oma, und nun mit uns spielen kannst. Du hast dir vor lauter Langweile ja schon tote Schafe gekauft«, sagte Laura, als sie Hooksiel bereits auf der Umgehungsstraße umrundeten. Jan durchfuhr einen Kreisverkehr, und zu Billes Erstaunen zeigte sich links ein hochmoderner Supermarkt. Ob Frau Meyer-Semmelmann doch wieder schamlos übertrieben hatte, so wie es ihre Art war? Bille ärgerte sich, sie hätte es wissen müssen.