Oma wird Oma - Regine Kölpin - E-Book
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Oma wird Oma E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

In "Oma wird Oma" erzählt die beliebte ostfriesische Autorin Regine Kölpin mit viel Lokalkolorit und liebenswert schrulligen Protagonisten von Familien-Chaos, Nordseeflair und Inselfeeling. Mit ihrem unterhaltsamen Urlaubs-Roman "Oma wird Oma" entführt Regine Kölpin ihre Leser auf die Nordsee-Insel Wangerooge und mitten hinein in eine turbulente Familiengeschichte voller nicht ganz alltäglichem Glück und nur zu bekannten Sorgen, kleiner und großer Missverständnisse, Geheimnisse und wilder Pläne. Ihre Heldin, die patente Oma Suse, flüchtet nach einem merkwürdigen Besuch ihres Sohnes kurzerhand nach Wangerooge und lässt sich auf dem Leuchtturm den Wind um Nase wehen, damit sie sich nicht mehr wie ein verstaubtes Fossil fühlt. Ihr Frieden wird arg gestört, als Opa Paul mit seinen drei kleinen Enkeln auftaucht, die mit unbekümmertem Charme überall Chaos verbreiten. Wenig höflich mischt Suse sich ein und kann jedoch nicht verhindern, dass Paul und die Kinder Stück für Stück ihr Herz erobern. Nach etlichen wunderbaren Turbulenzen ist schließlich nicht nur ein Geheimnis gelüftet, sondern es werden endlich auch alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt.

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Seitenzahl: 387

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Regine Kölpin

Oma wird Oma

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Suse will nach den Strapazen ihres bisherigen Lebens einfach mal ihre Ruhe haben und zieht auf die Nordseeinsel Wangerooge, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Aber ihr neu gefundener Frieden wird arg gestört, als Paul mit seinen drei kleinen Enkeln auftaucht, die mit unbekümmertem Charme überall Chaos verbreiten und Suse sofort vereinnahmen. Sie reagiert mürrisch – und kann doch nicht verhindern, dass Paul und die Kinder Stück für Stück ihr Herz erobern. Da ist allerdings diese eine Sache, die tief in ihr rumort und von der Paul nichts weiß. Um das Geheimnis zu lüften, müsste Suse allerdings über ihren Schatten springen …

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Oma macht klar Schiff«

1. Kapitel

So also sah der Weg in ein neues Leben aus. Irgendwie hatte Suse Schadewald sich das anders vorgestellt. Ruhiger, beschaulicher. Stattdessen saß sie bei zwar herrlichem Sonnenschein in der Inselbahn von Wangerooge, aber im falschen Waggon. Im absolut falschen Waggon. Anstelle von Ruhe und Beschaulichkeit war sie zwischen kreischenden Kindern, Rucksäcken, Bollerwagen und Buggys eingepfercht, die jede freie Fläche in Anspruch nahmen. Dazwischen tummelten sich etliche Hundebesitzer. Ihre Befehle an die Vierbeiner unterschieden sich nur unwesentlich von denen der Eltern an die Kinder. Suse versuchte, die Umgebung auszublenden, und konzentrierte sich auf die draußen vorbeiziehende Wangerooger Landschaft. Wenigstens einen Hauch des neuen Freiheitsgefühls bewahren, das sie zu Hause in ihrer Vorfreude noch so wunderbar gespürt hatte. Es gelang ihr zwar nicht, aber es gab kein Zurück mehr. Alle Brücken in Jever waren abgerissen, ein Großteil der Möbel verkauft. Sie wollte auf der Insel noch einmal von vorn beginnen.

Dieser Neubeginn gestaltete sich allerdings etwas anders, als ihr Sohn Dirk und sein Täubchen Minou es sich vorgestellt hatten. Nach München hatte sie mit ihnen umziehen sollen! Was sollte sie denn da? Sie war Friesin durch und durch, außerdem verpflanzte man sich in ihrem Alter nicht mehr woanders hin. Sie war schließlich mündig und konnte tun und lassen, was sie wollte. Und eines wollte sie bestimmt nicht: in einem tristen Zimmer im Seniorenheim in einer fremden Großstadt vor sich hin faulen und auf ihr Ende warten. Sie ließ sich doch nicht hochnehmen! Dirk hatte zwar von einer schnuckeligen Seniorenwohnanlage gesprochen, aber sie kannte seine Frau Minou. Die würde keinen Cent zu viel für die Schwiegermutter opfern! O nein, das wäre nicht schnuckelig, sondern primitiv geworden. Nicht mit ihr! Sie würde nun leben, und zwar richtig. Punkt. Und das in Friesland auf einer Insel und nicht im Süden der Republik, wo man nicht »Moin« sondern »Grüß Gott« sagte. Wo man Hax’n aß und keinen Grünkohl.

Dirk war böse gewesen, als er vor drei Tagen gen München verschwunden war, und hatte doch glatt gesagt: »Du bist so stur, Mutter! Ein bisschen verstehe ich Lena, warum sie sich nicht mehr meldet. Einfach machst du es uns wirklich nicht!«

Das hatte gesessen, und der Stachel bohrte noch immer in Suse. Das Thema Lena war eigentlich tabu, und wenn Dirk es trotzdem aus der Versenkung holte, musste er ernsthaft betroffen sein.

Suse schüttelte den Kopf. Über ihre Tochter Lena wollte sie jetzt schon gar nicht nachdenken. Trotz des Inselsonnenscheins war ihre Laune derzeit sowieso nicht die allerbeste.

Dirk und Minou, das war immer eine Sache für sich gewesen. Minous Mahlzeiten bestanden aus verschiedenen Arten von Salatblättern. Reden konnte Suse mit ihrer langbeinigen Schwiegertochter nicht, weil es kaum Themen gab, die sie beide interessierten. Ab und zu debattierten sie über die herannahenden Tiefdruckgebiete, immerhin gab es davon in Friesland genug, sodass sie nicht ständig schweigend nebeneinandersaßen, wenn Dirk und seine Frau bei Suse zu Besuch weilten. So waren dann auch die Tiefs Frieda, Paula oder Maja bei ihr zu Gast. Suse dankte den Wetterfröschen jedes Mal aufs Neue, dass sie bisher nicht auf die Idee gekommen waren, eine der Schlechtwetterfronten nach Minou zu benennen, denn das hätte zu einer häuslichen Katastrophe geführt, vor allem deshalb, weil es der Wahrheit sehr nahe kam. Minou verbreitete schlechte Laune und war nun zum Glück sehr weit weg.

Suse beschlich aber auch die Furcht, mit ihrer Trotzreaktion einen Fehler gemacht zu haben. In Jever hatte Suse zumindest ihre Bekannten vom Bridge-Nachmittag und von der Wassergymnastik 60+ gehabt, hier auf Wangerooge kannte sie niemanden.

Egal, da muss ich jetzt durch, dachte sie mit einem gequälten Lächeln auf dem Gesicht, während sie aus dem Fenster der bunten Inselbahn auf die Salzwiesen starrte. Gleich darauf schaute sie sich in der Bahn um. Sämtlichen Mitreisenden hing ein seliges Lächeln im Gesicht. Sie waren im Urlaubsmodus und nicht wie Suse auf der Flucht oder beim Aufbruch in ein neues Leben. Je nachdem, wie man es sah.

Positiv denken war nun angesagt.

Suse ließ die Augen weiter durch den Waggon schweifen. Der Krach, die schlechte Luft und die ständigen Kommentare der Eltern und Hundefreunde waren unerträglich.

Ihr Blick blieb auf einem Mann in ihrem Alter hängen. Also noch nicht endgültig ein Greis, aber auch nicht mehr ganz jung. Er wirkte, als würde er zum Lachen in den Keller gehen. Vornübergebeugt hockte er mit einem leidenden Gesichtsausdruck auf der anderen Gangseite, neben ihm drei kleine Kinder. Suse schätzte sie auf ungefähr sieben, fünf und zwei. Erst dachte sie, was für eine nette kleine Halbfamilie (es fehlte schließlich die Mutter), doch dann glitt der Kleinste von der Bank und kroch auf allen Vieren durch die Reihen. Er betätigte sich als Wadenkrauler, was sicher nicht alle der Mitreisenden amüsant fanden.

Andere Eltern finden es meist nur amüsant, wenn sich die eigenen Kinder daneben benehmen, dachte Suse gehässig. Es sagte aber keiner etwas, zudem sie meist selbst damit beschäftigt waren, ihren Nachwuchs irgendwie bei Laune zu halten. Nur die Hunde wedelten mit dem Schwanz, und einige versuchten, dem Kleinen das Gesicht abzuschlecken.

Suse hoffte, dass auf Wangerooge nicht ausschließlich unfähige Eltern ihren Nachwuchs über die Insel schoben und ihr so den Alltag zur Hölle machen würden. Also, wenn sie Oma wäre …

Bist du aber nicht, Suse Schadewald. Deine Kinder möchten sich nicht vermehren! Suse erschrak vor sich selbst und schaute sich unauffällig um, ob sie die Worte etwa laut ausgesprochen hatte. Sie neigte hin und wieder zu Selbstgesprächen, aber dieses Mal hatte sie es zum Glück wohl nur gedacht. Wieder versuchte sie, sich auf den wunderbaren Ausblick über die Insel zu konzentrieren, doch es war unmöglich.

»Laurentius, schau doch mal die Ente neben dem Gleis«, quietschte die Stimme einer Mutter. Laurentius interessierte sich aber nicht für die Ente, Laurentius malte lieber mit dem Finger an der Scheibe.

»Emma, lass das!« Was Emma tat, erschloss sich Suse nicht, weil das Mädchen (Suse glaubte, dass es eines war und kein Hund) hinter ihrem Rücken saß. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie wollte einfach ihre Ruhe, Herrgott nochmal! Sie hatte definitiv den falschen Zeitpunkt für ihren Umzug gewählt. Es war unmöglich, sich mental auszuklinken und das Geschehen um sich herum zu ignorieren.

Eben leckte eine Dackelhündin dem Wadenkraulerjungen übers Gesicht. »Lass das, Amaryllis!« (Ansage an die Dackeldame), während ein spitzgedackelter Bernadodel, eine Hundekreation aus Spitz, Dackel, Bernhardiner und Pudel, sich sehr für einen kleinen Kreischer im Buggy interessierte. »Henri, kommst du wohl her!« (Ansage des Hundeherrchens an seinen Vierbeiner.)

»Mathilda, nicht!« (Ansage des älteren Vaters an das Mädchen, das den spitzgedackelten Bernadodel Henri wegstieß.)

Suse schloss die Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie im Inselbahnhof einfuhren.

»Suse, jetzt reicht es!«

Sie fuhr erschrocken hoch, aber zum Glück war sie nicht gemeint, sondern ein weißer Pudelwelpe mit rosa Haarspange, der vom Schoß seiner Besitzerin gesprungen war. Deren Frisur hatte sich der ihres Hundes auf wundersame Weise angepasst, nur war ihre Spange blau. Die kleine Suse bewegte sich schwanzwedelnd auf den überforderten Dreifachvater zu, der seiner momentanen Mimik nach zu urteilen wohl am liebsten aus dem fahrenden Zug gesprungen wäre.

Dabei müsste er seinem Sohn doch einfach nur sagen, dass er sich gefälligst auf die Holzbank setzen und still sein soll, dachte Suse.

Ein Umzug im Herbst wäre wirklich günstiger gewesen, aber sie hätte es nach Dirks Umzug keinen Tag länger in Jever ausgehalten. Nun hoffte sie nur noch, dass das Umzugsunternehmen die neue Wohnung am Steingarten schon so eingerichtet hatte, wie sie es wünschte. Ihre Anweisungen waren klar und deutlich gewesen. Am wichtigsten war natürlich ihr Telefonanschluss. Und bitte mit ihrem wunderbaren altmodischen Telefon, das noch eine Drehscheibe besaß und ein glänzendes schwarzes Gehäuse. Suse hasste diese neumodischen Teile, mit denen man in der Wohnung herumspazieren konnte. Für ein echtes Telefonat zu Hause musste man sich ohne Ablenkung Zeit nehmen. Das mit dem Anschluss würde schon geklappt haben, denn Suse hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, stets alles klar und deutlich kundzutun. Und zu Dirk hatte sie »Nein« gesagt, als er sie mit nach München hatte nehmen wollen. Und Nein blieb Nein, auch wenn es einem das Herz brach.

Ihr Blick schweifte wieder zu dem älteren Herrn, der weiterhin vergeblich versuchte, seine Brut zu bändigen. Mittlerweile turnte auch die kleine Mathilda kichernd im Gang herum. Sie hatte keinen Blick für die Schönheit der Salzwiesen und die Dünenketten im Hintergrund. Ein junges Mädchen, das mit ihren kurzen blauen Haaren einer Comic-Figur glich, strich der Kleinen freundlich lächelnd über den Kopf.

Suse war froh, als Mathilda sich in die andere Richtung trollte, sie war von den hohen Tönen schon fast taub. Der veraltete Vater war damit beschäftigt, den mittleren Jungen auf seinem Schoß zu bändigen, der seiner Schwester am liebsten nachlaufen wollte.

Ihr Banknachbar zur Rechten wiederum stopfte seinem Kleinen im Buggy immer wieder den Schnuller, der mit einer Holzkette am Pulli befestigt war, in den Schnabel. Er hatte was von einem fütternden Vogel.

Suse schloss abermals die Augen. Was interessierten sie die unfähigen Väter dieser Welt?

»Max, jetzt kommst du aber her!«, hörte Suse. Der alte Vater bequemte sich nun endlich, den Wadenkrauler wieder einzufangen.

Suse schüttelte den Kopf. Warum setzte der Mann in seinem fortgeschrittenen Alter noch Kinder in die Welt, wenn er damit maßlos überfordert war?

Bald hatte sie es geschafft, bald war sie am ersehnten Ziel und in ihrem neuen Leben angekommen. Nur noch diese Zugfahrt überstehen!

»O nein!«, hörte sie im nächsten Moment und öffnete die Augen rasch wieder.

Der ältere Vater sah peinlich berührt auf ein Häufchen mitten im Gang. Der Wadenkrauler war kalkweiß.

»Max hat gekotzt! Max hat gekotzt!«, sang das Mädchen und hüpfte zu seinem Vater. »Das ist voll ekelig!«

»Da läuft Ihnen wohl gerade alles aus dem Ruder«, entfuhr es Suse, und sie sprang auf. Dieses Drama konnte sie nicht mehr mit ansehen. Kurzentschlossen holte sie ihre Tempotaschentücher aus der Tasche und warf sie auf das stinkende Häufchen. Als die Packung leer war, blickte sie sich auffordernd um, doch alle anderen sahen betreten und betont unbeteiligt aus dem Fenster. Passierte ihnen so etwas mit ihren Kindern nie? Suse stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das gibt es doch gar nicht! Na, wird’s bald, meine Herrschaften? Ich bin ja wohl nicht die Einzige, die hier Papiertücher in der Tasche spazieren trägt!«

Vorsichtige Blicke taxierten Suse, die sich wie ein Feldwebel vor ihrer neu zu kommandierenden Truppe aufbaute. Ein paar der Umsitzenden wühlten in Jacken, Rucksäcken und Reisetaschen. Der weiße Berg auf dem Boden wurde immer höher. Suse zupfte eine Plastiktüte aus der Handtasche und stopfte die Papiertücher hinein. Anschließend säuberte sie ihre Hände mit einem Hygienetuch. Sie war stets für alle Eventualitäten gewappnet.

»Danke«, sagte der Mann. Er wirkte unglaublich hilflos, es war kaum zu ertragen. »Darf ich mich vorstellen?« Er stand auf, fiel aber sofort zurück auf die Holzbank, weil die Inselbahn in dem Augenblick heftig ruckelte.

Besser nicht, schoss es Suse durch den Kopf. Ich habe dir aus der Patsche geholfen und nun ist es gut. Es reicht mir, dass ich eine stinkende Tüte in der Hand halten darf.

»Herzog mein Name. Paul Herzog.« Der Mann lächelte von unten herauf zu Suse und reichte ihr die Hand.

»Schadewald«, antwortete sie knapp und runzelte dann die Stirn. Sein Blick war so durchdringend, fast … nein, das war ausgeschlossen. Sie konnte ihm wegen dieses Eingreifens doch wohl kaum so imponiert haben, dass er sie attraktiv fand! War das eine neue Masche? Kind verbreitet Chaos, Vater gibt sich hilflos und nimmt Kontakt zu kompetenter Frau und vielleicht zukünftiger Ersatzmutter auf?

Nichts wie weg!, schrie es in Suse. Das fehlte ihr noch! Mit Familienthemen war sie durch. Und nun war Gelassenheit angesagt, gepaart mit geordnetem Rückzug. »Gern geschehen, Herr Herzog«, sagte sie mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen und sah aus dem Fenster. »Oh, da sind wir ja! Ich wünsche Ihnen und Ihren Kindern eine schöne Zeit auf der Insel. Das Wetter soll ja warm bleiben.« Das waren schon fast ein paar Sätze zu viel, aber Suse wollte höflich bleiben. Sie nickte ihm kurz zu und sprang als eine der ersten vom Waggon. Dabei rempelte sie die blauhaarige Comic-Figur an, die nur mit dem Kopf schüttelte.

Im Bahnhof entsorgte Suse die Tüte im nächstbesten Mülleimer und freute sich über das Willkommensschild:

Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.

Super Slogan. Suses Blick wanderte sehnsüchtig zu dem roten Leuchtturm mit dem weißen Aufbau, und alte, wehmütige Erinnerungen kämpften sich hoch. Ein bisschen war es ihr Leuchtturm. Ein kleines bisschen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Mann mit den drei Kindern gerade vergeblich versuchte, den festgekeilten Buggy aus dem Waggon zu manövrieren. Sie sollte jetzt wirklich verschwinden.

 

Beeke war mit dem Tidebus vom Bahnhof Sande aus gefahren (das gab es auch nur hier, dass sich ein Bus mit den Abfahrtszeiten nach Ebbe und Flut richtete), dann mit der Fähre, und hatte schließlich in der überfüllten Inselbahn einen Platz auf der Holzbank ergattert. Rechts das Wattenmeer, links die hohen Dünen, davor der viereckige Westturm, über den sich die Mitreisenden freuten, weil er das Wahrzeichen dieses Eilands war. Aber es war zu laut hier, irgendwie war sie in den falschen Waggon geraten. Zu viele Kinder. Zu viele Hunde. Zu viele Fahrzeuge. Die Mitreisenden musterten sie kritisch, da sie mit ihren schlumpfblauen, raspelkurzen Haaren doch ein bisschen aus dem Rahmen fiel. Aber das kannte Beeke schon.

Der Zug ruckelte langsam über die Gleise in Richtung Ort. Wenn das die Geschwindigkeit war, mit der sie hier dauerhaft konfrontiert wurde … Beeke seufzte. Wie sehr würde sie ihre Freunde Fipsi, Enna und BVB-Bert vermissen! Sie würden zu Hause in Wilhelmshaven am Südstrand chillen, während sie auf Wangerooge irgendwelchen Putzarbeiten nachging. Immerhin hatten sie Beeke in Aussicht gestellt, vielleicht auf einen Sprung auf die Insel zu kommen.

»Warum will deine Mutter überhaupt, dass du nach Wangerooge gehst? Da ist doch nichts los!« Die Frage war berechtigt gewesen, aber Beekes Mutter hatte ab und zu so komische Ideen. Maike Bellinghorst war als Mutter quasi missionarisch unterwegs. Sie bemühte sich stets, ihre Tochter auf den rechten Weg zurückzubringen, wobei ja eigentlich erst definiert werden müsste, was das genau bedeutete, denn Beeke fand sich selbst und ihren Weg ganz okay.

Doch Beekes Clique gehörte nach dem Verständnis von Maike Bellinghorst nicht zu einem geraden und aussichtsreichen Lebensweg, deshalb setzte sie alles daran, ihre Tochter von ihren Freunden fernzuhalten. Und dafür ging sie wiederum ihre eigenen Wege.

Im letzten Jahr musste Beeke »Urlaub auf dem Bauernhof« machen, was so viel hieß, wie: Wer hat die meiste Ausdauer beim Ausmisten? Beeke war nämlich nicht auf einem friesischen Marschbauernhof untergekommen, wo die glücklichen Kühe sich im Sommer von grünem Gras ernährten – sodass sie am Ende allein wegen des schöneren Fells und des strafferen Euters sogar zur Miss Ostfriesland gekürt werden konnten –, sondern in irgendeinem hessischen Betrieb, wo man den Tieren das Gras unsinnigerweise geschnitten vor die Nase warf, anstatt sie selbst grasen zu lassen. Ihr Tierschutzprotest war an dem Landwirt, der ohnehin nichts von Mädchen hielt, weil er sie für zu emotional hielt, abgeprallt. Er hatte ihr nur wortlos die Mistgabel gereicht, und Beeke war sich vorgekommen wie bei »Bauer sucht Frau«, wo sich die Bauern auch immer sehr daran erfreuten, wenn die Zukünftige bis zum Schaft durch den Dreck waten musste.

Geläutert war Beeke danach nicht, eher wütend. Es war nur zu hoffen, dass in diesem Jahr Onkel Hein die bessere Alternative war, selbst wenn sie wie Witwe Bolte das Putztuch schwingen musste. Ihr Onkel besaß auf Wangerooge ein Haus – oder, wie ihre Mutter es ausdrückte, eine Immobilie –, wo sie ihm zur Hand gehen sollte.

Aushalten musste sie diese Ferienbeschäftigung Jahr für Jahr nur, weil Maike Bellinghorst als Alleinerziehende allen zeigen wollte, dass sie eine perfekte Mutter war und dass sie es schaffte, ein perfektes Kind großzuziehen. Beeke grinste über diese Versuche. Ihre Mutter hatte schließlich auch ihre Macken. Zugegebenermaßen harmlose, aber irgendwie auch verrückte, denn ihre Mama hatte zum Beispiel ein Faible für Trinkbecher mit abgefahrenen Sprüchen oder besonderem Design. Sie schlürfte ihre Getränke stets aus schwarzen Ninja-Tassen oder Bechern mit goldenen Dollarzeichen als Henkel. Irgendwoher musste Beeke ihre Besonderheiten ja haben. Egal, ihre Mutter war nun weit weg, und sie selbst musste auf der Insel für ein paar Wochen mit einem altertümlichen Onkel auskommen, der Briefe schrieb! Briefe! Keine E-Mails. Er hatte nicht mal einen PC oder ein Notebook. Von einem Handy oder Tablet ganz zu schweigen. »Auf Wangerooge sind alle entschleunigt, meine Gute«, hatte ihre Mutter gesagt. Damit konnte Beeke locker leben, aber musste es auch noch hinterwäldlerisch sein?

Ganz in Gedanken strich Beeke einem kleinen Jungen über den Schopf, der an ihren Füßen vorbeikrabbelte und der sich gleich darauf im Gang übergab. Das war zu viel für Beeke, sie sah lieber aus dem Fenster, bis das Malheur beseitigt war. Zum Glück hielt die Inselbahn bald mit einem kräftigen Ruck. Alle Insassen erhoben sich von den Sitzen. Allerdings beileibe nicht mehr im Zeitlupentempo, sondern eher so, als seien sie aus einem Drogenrausch erwacht. Es wurde gerempelt und gestoßen, jeder wollte der Erste an der Gepäckausgabe sein und sich mit dem Trolley zur Herberge begeben. Oder wahlweise mit dem Bollerwagen in Richtung Strand. Beeke reihte sich in die Schlange ein und wurde heftig von der älteren, etwas fülligeren Dame angestoßen, die sich nicht einmal entschuldigte. Da sie eine Tüte in der Hand hielt, aus der es verdächtig nach Erbrochenem roch, war sie es wohl gewesen, die sich um die Beseitigung gekümmert hatte.

Arrogante Tusse, dachte Beeke. Ein bisschen Höflichkeit würde dir ganz gut stehen. Dann sah sie sich um. Sie erkannte Onkel Hein sofort! Er wartete auf dem Bahnsteig in einem blau-weißen Hemd mit Joppe und seiner speckigen Schippermütze. Die Pfeife steckte im Mund. Keine Veränderung in all den Jahren, außer dass seine Falten mehr Tiefe bekommen hatten und einem Mäander von ausgetrockneten Flussläufen ähnelten. Er lächelte seine Nichte an und nahm dazu sogar die Pfeife aus dem fast zahnlosen Mund. »Jou, denn wullt wi mol seh’n, wa?«, sagte er und fügte noch ein: »Mien Deern«, hinzu, was für ihn ein schon fast revolutionär langer Vortrag war. Dann wuchtete er Beekes Koffer, der überdimensionale Ausmaße hatte, in den mitgebrachten Bollerwagen. Der hatte auch schon bessere Tage gesehen, das Holz war nicht nur sparkig, sondern auch von Löchern durchsetzt. Vermutlich amüsierten sich seit Jahren Holzwürmer darin. So wunderte sich Beeke keineswegs, als schon nach wenigen Metern ein Rad abfiel, was Onkel Hein mit einem schlichten »Jou« kommentierte.

Er gab Beeke den Koffer in die Hand und stemmte den Bollerwagen mit angewinkelten Armen über seinen Kopf. Diese Kraft hätte Beeke dem eher schwächlich wirkenden Mann nicht zugetraut, aber so konnte man sich irren. Als er dann links zum Steingarten abbog, machte ihr Herz einen Hüpfer. Hier standen solide gebaute Häuser, sicher hatte er ihr darin ein Zimmer freigehalten. Mal was anderes als im letzten Jahr ihre Haft auf dem Bauernhof, wo sie über dem Hühnerstall gehaust hatte und morgens um vier vom Krähen des überaus potenten Hahns geweckt worden war. Nach seinem Brunftschrei war der regelmäßig vor seinem Frühstück über mindestens drei Hennen hergefallen.

Das Haus, auf das sie jetzt zusteuerten, war zwar nicht modern, wirkte aber gepflegt. Weiß, Holzsprossenfenster und zweistöckig, gegenüber von einer kleinen Parkanlage.

»Hier wohnst du also«, sagte Beeke und lachte sich insgeheim ins Fäustchen bei der Vorstellung an das Gesicht ihrer Mutter, die sich das aus erziehungstechnischen Gründen für ihre Tochter bestimmt ganz anders vorgestellt hatte.

»Onkel Hein, der steht für Schlichtheit. Schlichtheit in Worten, Werken und auch in der Wohnsituation«, hatte der O-Ton von Maike Bellinghorst gelautet.

»Das ist ein tolles Haus. Super, dass du so schön wohnst.«

Doch Onkel Hein schüttelte entschieden den Kopf und stellte den Bollerwagen kurz ab. »Hier machst du deinen Job«, sagte er, sprach das »Job« aber nicht englisch aus, sondern mit einem einfachen J. Immerhin war das ein vollständiger Satz jenseits von »Jou« und »Denn wullt wi mol seh’n, wa.« In der Kommunikation war noch Luft nach oben, was das Zusammenleben mit ihm auf jeden Fall erleichtern würde.

»Aha«, antwortete Beeke, um auch etwas zu sagen, wenn Onkel Hein schon eine solch ungewöhnliche Wortflut auf sie niederregnen ließ. Doch es kam sogar noch mehr. »Musst auch den Hausflur und den Garten pflegen. Jou. So’n büschen jedenfalls.« Er lüftete die Mütze und kratzte sich umständlich am Kopf. »Reicht für eine junge Deern, nicht übertreiben, das alles. Wenn du das dann mal nicht schaffst, ist das auch nicht so schlimm. Wird nix Schlimmes passieren.« Er setzte die Mütze wieder auf, hob den Bollerwagen erneut an und stapfte weiter. Beeke schleppte sich mit dem Koffer ab. Mittlerweile glaubte sie, dass ihre Arme in der Länge denen von Gibbons glichen. Warum zum Teufel hatte sie solche Mengen eingepackt? Und warum zum Teufel in einem altersschwachen Koffermodell? Am schwersten waren die fünf paar Schuhe, sie hatte schließlich nicht wissen können, welche Farbe sie brauchte. Ihre Sneakers besaß sie in 14 verschiedenen Varianten, es war schwer genug gewesen, sie auf dieses Minimum zu reduzieren.

Mühsam schlich sie weiter hinter Onkel Hein her.

2. Kapitel

Und deine verstockte Mutter wollte bis zum Schluss tatsächlich nicht mit nach München?« Minou blies ihre frisch lackierten Nägel trocken. Heute glänzten sie in Pink, und auf dem Mittelfinger leuchtete ein silberner Strassstein. Sie liebte ihr neues Domizil in Schwabing schon jetzt. »Ich dachte, sie bricht noch ein und kommt doch mit.«

Dirk schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Sie ist ein alter Baum, der nicht verpflanzt werden möchte.«

»Sie ist kein alter Baum, sie ist stur! Und jetzt? Was ist, wenn sie nicht klarkommt oder plötzlich irgendwelche Aktionen startet, damit du zurückkommst?«

»Das wird sie schon nicht tun. Mutter ist selbstständig.«

Minou schnaubte. »Deine Mutter bringt es glatt fertig und lässt sich einsperren, um dich zurück in die friesische Einöde zu holen. Ihr wird jedes Druckmittel recht sein, glaube es mir!«

»Meine Mutter bringt höchstens ihrerseits Leute in den Knast.« Dirk lächelte. »Sie ist überkorrekt, das weißt du.« Er vermutete, dass Minou in Wahrheit gar nicht so böse darüber war, die Schwiegermutter weit entfernt in Friesland zu wissen. »Es wird alles wunderbar, warte es nur ab!«

Minou testete den Lack, er war trocken. Sie ritualisierte ihre Maniküre in einer Form, der Dirk, obwohl er es für arg übertrieben hielt, doch einen gewissen Respekt zollte. Dann sah sie ihren Mann lächelnd an. »Ja, du hast recht. München ist mondän, München ist eine Metropole, man kann es hier mit dem ländlich-langweiligen Leben in Friesland gar nicht vergleichen, nicht wahr?« Sie pustete die Luft aus. »Endlich frei, raus aus dem kleingeistigen Mief!«

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Auf den Mund küsste er sie nur am Abend, sie mochte das tagsüber nicht, weil der Lippenstift verwischen konnte, obwohl sie einen teuren trug, der garantiert kussecht war, denn er färbte nicht einmal am Wasserglas. Aber Dirk hatte aufgehört, mit Minou darüber zu diskutieren. Er wollte eine außergewöhnliche Frau, und die hatte er mit ihr. Sie sah stets aus wie einem Modelkatalog entsprungen. Bevor Dirk sie kennenlernte, hatte er gar nicht geglaubt, dass es Frauen wie Minou überhaupt gab. So perfekt, so schön. So makellos.

Das hatte natürlich seinen Preis, denn keine Frau konnte diesen Level so hoch halten, wenn sie nichts dafür tat. Deshalb war es auch ausgeschlossen, dass Minou einer beruflichen Tätigkeit nachging. Sie war den ganzen Tag mit ihrem Schönheitsschlaf, der Pedi-und Maniküre und Ähnlichem beschäftigt. Zum Arbeiten fehlte ihr schlichtweg die Zeit. Manchmal beneidete Dirk seine Freunde, die wesentlich unkompliziertere Partnerinnen hatten. Aber dafür waren deren Frauen auch nicht so perfekt. Ihm wiederum entgingen die bewundernden Blicke nicht, die die anderen Männer seiner Frau zuwarfen. Sie ahnten ja nicht, dass er das wunderbare Geschenk nur hin und wieder auspacken durfte.

»Dann lass sie bleiben, wo der Pfeffer wächst«, riss Minou Dirk aus den Gedanken.

»Ich versuche trotzdem, noch einmal mit Mutter zu sprechen. So ganz wohl ist mir einfach nicht, sie allein auf dieser Insel zu lassen. Sie kennt dort doch keinen Menschen.«

»Deine Mutter ist nun mal eigenartig«, flötete Minou und cremte ihre Hände mit einer nach Vanille duftenden Lotion ein. »Richtig schlau wird man aus ihr nicht. Du nicht. Ich nicht. Keiner!«

»Sie ist trotzdem meine Mutter«, erwiderte Dirk. »Ich bin verantwortlich.«

»Mag sein.« Minou stellte die Cremetube auf den Tisch. »Dennoch könnte ja auch deine werte Schwester mal antraben und sich kümmern. Aber keiner weiß, was sie so treibt. Sie hat sich komplett aus der Verantwortung und eurem Leben gestohlen, und alles lastet auf dir. Das ist echt nicht die feine englische Art.«

Dirk zuckte mit den Schultern. Lena war ein heikles Thema in der Familie. »Wenn ich wüsste, wo sie sich gerade rumtreibt, würde ich das auch glatt einfordern. Aber ich weiß es eben nicht. Keiner von uns weiß das. Leider.« Er strich Minou wieder vorsichtig über den Unterarm, was sie dieses Mal mit einem leichten Lächeln quittierte. »Meine Eltern haben sich zum Glück beizeiten nach Australien abgesetzt und sind autark. Gut, dass wir das Problem der Elternversorgung nur einmal haben.«

»Manchmal bist du ganz schön scharfzüngig«, sagte Dirk, aber wo Minou recht hatte, hatte sie recht. Ihm wurde die Sache mit seiner Mutter auch oft zu viel, aber er war der einzige Verwandte, der geblieben war.

»Es ist, wie es ist, mein Lieber.« Minou war das Thema offenbar leid, sie zog sich vor ihrem Kosmetikspiegel die Lippen nach.

Dirk stand auf und ging zum Telefon. »Ich rufe Mutter mal an. Ich glaube, sie braucht doch ein bisschen Zuspruch. Bestimmt wartet sie darauf. Sie könnte schon in ihrer neuen Wohnung sein. Zum Glück habe ich die Nummer.« Er gab die Zahlen in die Tastatur ein. Doch ihm schallte nur das Rufzeichen entgegen. Auch sein Anruf auf ihrem Handy blieb erfolglos.

»Na, hoffentlich ist sie nicht bereits dabei, eine Dummheit zu begehen«, lästerte Minou. Sie fuhr mit den Fingern über ihre Parfümflakons, bis sie das passende für den heutigen Tag gefunden hatte.

 

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Beeke, nachdem Onkel Hein in ein Wäldchen abgebogen war, indem sich eine Gartenkolonie befand. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte sie. Schließlich konnte es auch jenseits des Wäldchens Zivilisation geben.

Onkel Hein antwortete nicht, sondern stapfte munter durch das kleine Waldstück. Eine Laube reihte sich an die nächste. Alle waren auf großen Parzellen gelegen, ein paar der Gärten waren gepflegt, andere völlig verwildert. Onkel Hein blieb vor einem Grundstück der letzteren Sorte stehen und stieß ein verrottetes Gartentor auf. Durch das viel zu hoch gewachsene Gras schlängelte sich ein Trampelpfad, an dessen Ende eine Gartenlaube aus dem Grün ragte. Das Dach der Hütte hatte schon bessere Zeiten gesehen, an der Sonnenseite hing eine Uhr, die fremd anmutete und aus der soeben ein kleiner Vogel sein »Kuckuck« in die Welt schrie.

»So, mien Deern, da sind wir to huus!« Onkel Hein stellte den Bollerwagen neben dem Eingang ab und öffnete die Tür. Sie war nicht abgeschlossen, aber Beeke konnte sich auch nicht vorstellen, dass man in diesem Chaos irgendetwas hätte stehlen wollen.

Die Laube bestand aus zwei Räumen. Durch die offenstehende Tür in den zweiten Raum erkannte Beeke buntes Bettzeug, es war wohl das Schlafgemach ihres Onkels. Im vorderen, geräumigeren Zimmer gab es links eine Küchenzeile, die man wegen des sich stapelnden Geschirrs, den Zeitungen und anderer undefinierbarer Gegenstände allerdings nicht auf Anhieb als solche erkennen konnte. Rechts stand ein zerschlissenes rotes Sofa, daneben ein mit dunkelgrünem Samt bezogener Sessel.

»Mein ganzer Stolz«, sagte Onkel Hein lächelnd und zeigte Beeke, dass man ihn nach hinten kippen konnte. Vor den Sitzmöbeln befand sich ein dunkler Holztisch, bei dem an vielen Stellen Lack und Farbe abblätterten. Ein einst weißes Spitzendeckchen (nun zierten es braune Flecken in verschiedenen Größen) sollte wohl Behaglichkeit vermitteln.

»Warum wohnst du in einer Laube, Onkel Hein?«, fragte Beeke vorsichtig. Immerhin hatte er mitten auf Wangerooge ein wunderschönes Haus und konnte deshalb nicht arm sein.

»Ist doch schön hier«, erwiderte er grinsend, und seinem Tonfall nach meinte er das tatsächlich so. Er kam regelrecht in Redefluss. »Kiek, mien Deern, hier stört mich kein Mensch. Ich kann schnarchen, ohne dass die Nachbarn an die Decke klopfen. Muss nicht aufräumen, mich um kein Gesabbel der anderen kümmern. Hier bin ich frei.« Er reckte sich umständlich, der Bollerwagen war ihm wohl doch zu schwer gewesen. »Und hier kann mein Kuckuck schreien, ohne dass sich irgendwer mokiert.«

Das sind ja rosige Aussichten, dachte Beeke und ärgerte sich, dass sie nicht Fipsis Vorschlag gefolgt war, Ohropax mitzunehmen. Er hatte sie kurz vor der Abreise gewarnt und behauptet, dass alle alten Männer schnarchten. Von einem Kuckuck in einer schrecklichen Uhr hatte er aber nicht gesprochen! Die ganze Clique hatte sich massiv darüber amüsiert, dass Beeke nun schon zum zweiten Mal alternativen Urlaub machen durfte, während die anderen drei richtig abhängen konnten.

»Du kannst einem echt leid tun!«

»Ich würd ja lieber tot überm Zaun hängen, als auf eine Ostfriesische Insel zu fahren und da zu putzen!«

»Beeke?«, stieß Onkel Hein sie an. Er hatte sie etwas gefragt, aber sie hatte nicht zugehört. Irgendwie befand sie sich in einer Art Schockstarre.

»Ja, Onkel Hein?«

»Ich habe dir einen neuen Becher gekauft, mien Deern.« Onkel Hein sah stolz aus, und Beeke beschlich das Gefühl, er freute sich tatsächlich über ihren Besuch. Beifall heischend hielt er ihr einen Kaffeebecher entgegen, auf dem der Westturm, den sie vorhin aus dem Zugfenster betrachtet hatte, abgebildet war.

Noch so ein Becherfreak, dachte Beeke. Das musste an den Genen liegen.

»Das ist der Westturm!«, erklärte Onkel Hein. »Kennst du wahrscheinlich. Kennt ja jeder, der herkommt.«

Während Beeke angesichts des kitschigen Designs schluckte, fiel ihr Blick auf das restliche Geschirr, das in den abenteuerlichsten Farben und mit abgeblättertem Dekor auf den Regalen vor sich hin staubte. Vor allem die Becher, in der Anzahl recht übersichtlich, taten sich zusätzlich durch fehlende Griffe und abgeschlagene Ränder hervor. Innen waren sie eher braun als weiß.

»Das macht der Tee!«, erklärte Onkel Hein, der ihren Blick bemerkte und richtig deutete. »Aber für meine Lütte hab ich ja einen neuen Becher erstanden. So junge Deerns brauchen etwas Luxus.«

Onkel Hein war mittlerweile an den Herd getreten und räumte beiseite, was die Herdplatte verdeckte. Neben den Zeitungen fanden sich auch Socken und ein Geschirrhandtuch, an dem zahlreiche Mottenlarven Gefallen gefunden hatten. Danach füllte er einen Kessel mit Wasser, das aus dem Hahn gluckste, als könne es sich nicht recht entscheiden, ob es wirklich einen durchgängigen Strahl bilden wollte. Onkel Hein prüfte die Herdplatte und feuerte den Ofen mit weiterem Holz an, das er in eine Ofenklappe schob.

»Hast du keinen normalen Herd?«, fragte Beeke vorsichtig. Immerhin gab es Strom, an der Decke baumelte eine vereinzelte Glühbirne. Also würde sie zumindest das Handy problemlos aufladen können.

»Ich heize nur auf diese Weise. Gas gibt es nicht, und warum soll ich neumodischen Kram wie einen Elektroherd hier hinstellen? Geht so viel feinfühliger.«

Beeke warf einen Blick auf die dicken kurzen Finger des Onkels und verkniff sich einen Kommentar.

»Jetzt trinken wir erst eine moi Tass Tee«, sagte Onkel Hein lächelnd und goss das heiße Wasser in die Teekanne. »Darf nicht kochen, das Wasser! Das machen nur Dilettanten!«

Beeke nickte und guckte sich um, ob in der Laube auch so etwas wie ein Esstisch mit Stühlen zu finden war, aber die einzige Sitzgelegenheit waren das Sofa und der Sessel.

»Sett di dol!«, forderte Onkel Hein sie auf, und als er bemerkte, dass Beeke ihn nicht verstanden hatte, weil sich ihre rudimentären Plattdeutschkenntnisse auf »Mien Deern«, »Lütte« und »Moin« beschränkten, wiederholte er: »Setz dich da vorn hin!« Er deutete auf den zerschlissenen Ohrensessel. Beeke spürte, dass es eine große Ehre war, wenn er ihr diesen Platz überließ. Sie hockte sich auf die vordere Kante, den Wangerooge-Becher noch immer in der Hand. Es war eigenartig bei Onkel Hein. Seinem Zuhause haftete der unverkennbare Charme eines Trödelladens an.

Während der Tee zog, riss Onkel Hein die Tür des einzigen Hängeschranks auf, in dem genauso ein Chaos herrschte wie in der gesamten Laube, und kramte eine dieser winzigen Teetassen heraus. »Du trinkst ja sicher lieber aus dem Becher. Ihr Jungen mögt es ja nicht gediegen.«

Ohne Beekes Entgegnung abzuwarten, platzierte er Kandis in die Mitte des Tisches und entschuldigte sich sofort, weil ihm die Sahne ausgegangen war. Beeke störte das nicht weiter, war sie doch ohnehin keine Teetrinkerin und zog einen starken Kaffee oder einen Latte macchiato dem braunen Friesengetränk vor. Aber da sich Onkel Hein solche Mühe gab, wollte sie ihn nicht brüskieren. »Ich brauche sowieso keine Sahne. Alles gut, Onkel!«

Erleichtert entnahm er das Teesieb und schenkte Beeke ein. »Hab dir auch ein Bett gemacht, mien Deern.« Onkel Hein trank nur einen winzigen Schluck und stand sofort wieder auf. Er zog einen Vorhang beiseite, den Beeke zuvor nicht wahrgenommen hatte. Wobei der Begriff »Vorhang« für die zerlöcherte dunkelbraune Wolldecke etwas hoch gegriffen war. Dahinter befand sich ein kleiner Anbau mit einer Pritsche, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Beeke überlegte für eine Sekunde, ob sie doch lieber wieder zu ihrem hessischen Bauern fahren und Mist schaufeln wollte, statt sich auf das Abenteuer Wangerooge einzulassen. Wenigstens wirkte die Bettdecke sauber – sah man mal von der dicken schwarzen Spinne ab, die demonstrativ langsam darüberkroch.

»Sieht doch gut aus, oder?«, fragte Onkel Hein. Er schmatzte, rieb sich den langen Seebärbart und fegte die Spinne mit einer lässigen Bewegung zu Boden. »Beeke, mien Deern, ich bin froh, dass du Leben in die Bude bringst. Manchmal gleicht das hier ja einem Totentanz, so sehr ich die Ruhe liebe. Aber ab und zu so eine leichte Brise, dat is moi!« Er kratzte sich am Bart. »Bist ja auch bald wieder weg, für die Zeit halten wir es schon miteinander aus!«

Das mochte ja heiter werden. »Ich freue mich auch, hier zu sein«, begann Beeke vorsichtig und sah sich um. »Aber du könntest wirklich mal aufräumen …«

Onkel Hein begann laut zu lachen. Er griff hinter sich und holte eine weitere Pfeife aus der Dose, die er, noch immer vor sich hin kichernd, mit Tabak füllte und dann anzündete. »Du bist wie deine Mutter, obwohl du echt anders aussiehst, so mit den bunten Haaren. Jou, ich könnte mal aufräumen. Aber« – er sog einmal kräftig an der Pfeife – »ich kann auch andere Sachen tun.« Wieder diese beeindruckende Wortgewalt!

»Und die wären?«

»Nichts.«

»Nichts?«, hakte Beeke nach.

»Jou, nichts.«

Beeke trank ihren Tee und brachte danach den Koffer in ihr neues »Zimmer«. Ratlos hielt sie den Kulturbeutel in der Hand. »Du, Onkel Hein?«

»Jou?«

»Wo ist denn dein Bad?«

»Zähne putzen wir in der Küchenspüle, und die Dusche, die steht draußen hinter der Laube.«

»Die Dusche ist im Garten?«

»Jou.«

3. Kapitel

Als Suse am nächsten Morgen erwachte, durchzog ein feiner Geruch das Zimmer. Es duftete nach ungewohntem Leben, ein bisschen nach Farbe, neuen Möbeln und frischen Gardinenstoffen. Und wenn Suse die Augen wieder schloss, glaubte sie, dass auch eine kleine Meeresbrise in dem Geruch verborgen war. Sie fühlte sich fast wie im Urlaub. »Dabei habe ich keinen Urlaub, sondern werde hier meinen Lebensabend verbringen!«, sagte sie laut. Obwohl Lebensabend so alt klang. Und alt war sie mit ihren 70 Jahren noch lange nicht.

Suse war bereits vor langer Zeit mal auf Wangerooge gewesen und erinnerte sich noch entfernt an den Seelenpfad, auf dem man Gedichte lesen und Lieder hinaus in Nordsee und die Dünen schmettern konnte. Und an den verfallenen Ostanleger. Gab es den noch? Es würde interessant sein, auf diesen Spuren zu wandeln. Sie verband mit Wangerooge wunderbare Erinnerungen. Wegen Lena, mit der sie hier so schöne Stunden verbracht hatte. Suses Mann Martin war damals nicht dabei gewesen. Alles, was sie ohne ihn getan hatte, war gut. Besser als dieses jahrelange verlogene Possenspiel, das er Suse und den Kindern präsentiert hatte, ohne dass sie es bemerkten. Nach seinem stilvollen Abgang von der Lebensbühne (Martin war nach seinem Unfall von den Toten nicht wieder auferstanden und wurde bei seiner Beisetzung gefeiert wie ein Medienstar) hatte der Vorhang plötzlich Risse bekommen, die zunächst aber nur Suse entdeckte. Was sie schließlich dahinter fand, war ein Seelenkiller ersten Grades. Zerstört hatte es drei Menschen: sie, Dirk und vor allem Lena, die nun wer weiß wo hauste. Ein Giftpfeil, den Suse nicht herausziehen konnte. Aber das war Vergangenheit!

»Weg mit diesen Gedanken!«, schimpfte sie. »Es ist, wie es ist. Und hier kann ich leben!«

Sie wusste, dass es nicht ganz so war, dass es wahrscheinlich nie wieder vollständig gut sein würde. Denn sie, Suse Schadewald, hatte sich nach Martins Tod und Lenas Weggang verändert. Sie steckte falsch eingeworfene oder fehlerhaft adressierte Post nicht mehr einfach nebenan in den richtigen Briefkasten. Nein, sie schickte sie zurück an den Absender, damit dieser entweder seinen eigenen oder den Fehler des Postboten erkannte. Sie borgte einer Nachbarin ein Ei nur gegen den Zins von zwei Eiern aus. Sie hatte in Jever auch darauf geachtet, dass die Leute korrekt parkten. Taten sie das nicht, war es ihr eine liebe Gewohnheit geworden, kleine Zettel hinter die Scheibenwischer zu klemmen. Jedes Mal mit einem Spruch wie: Parken will gelernt sein. Ihre Stoßstange ragt fünf Zentimeter über den Gehweg. Denken Sie an Ihre Mitmenschen. Oder: Wenn Sie Ihre Führerscheinprüfung wiederholen müssten, würden sie durchfallen, Ihr Auto ist nicht sachgemäß abgestellt. Suse hatte stets ein Maßband dabei und gab die genaue Übertretung an. Da war sie korrekt. Allerdings verzichtete sie darauf, die Polizei zu rufen. Mit denen wollte sie nichts zu tun haben, weder im Guten noch im Schlechten, das rief nur böse Erinnerungen wach.

Vielleicht würde sie auf der Insel weicher werden. Es konnte hier ja keine Parksünder geben, obwohl – was sie gestern allein an Fahrrad-Vergehen entdeckt hatte! Da gab es definitiv viel zu tun.

Und sie hatte ins Altenheim ziehen sollen! Nach dem Willen von Dirk und seiner Minou! Zu allem Überfluss hatte ihr Sohn sogar schon mit einem Beerdigungsinstitut einen Sonderpreis für ihre Einäscherung vorbereitet! Dirk war ein Sparfuchs, aber das ging Suse doch entschieden zu weit.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Suse, dass es gerade erst acht war und sie eigentlich noch Zeit zum Dösen hätte. Aber es war sehr verlockend, gleich an den Strand zu gehen und sich am Spülsaum die Füße vom Meer nassspritzen und die Haare vom Wind durchpusten zu lassen. Zu genießen, was sie auch Dirk und Minou suggerierte: Mir geht es gut!

Gestern hatte sie den beiden noch eine kurze WhatsApp zukommen lassen. Mit dem Leuchtturm als Motiv. »Alles gut. Gruß, Mutter.« Das musste reichen.

Dirk hatte ihr sofort geantwortet und ein Bild vom Hofbräuhaus geschickt. Seine Pseudo-Besorgnismail nach den Anrufen, die sie natürlich nicht angenommen hatte, hätte er sich auch schenken können. »Geht es dir wirklich gut, Mutter?« Ein küssender Smiley begleitete die Frage. Was war denn das für ein Kitsch?

Trotzdem konnte sich Suse eine bissige Antwort nicht verkneifen. »Klar geht es mir gut. Bin schließlich in Friesland und muss mir die grandiose Aussicht nicht von riesigen Felsen verstellen lassen.« Suse hatte rasch auf »Senden« gedrückt.

Den Zahn, sie ins Heim abzuschieben, hatte sie ihm schnell gezogen. Dirk würde schon bald erkennen, dass Suses Alleingang genau die richtige Entscheidung gewesen war. Für alle. Sie und Minou weiterhin langfristig in nächster Nähe – da wären schon bald Köpfe gerollt.

Suse sog ein weiteres Mal den wunderbaren Duft ihres neuen Zuhauses ein und stellte nach dem Aufstehen in der Küche die Kaffeemaschine an. Sie sah hinaus in den Steingarten, reckte und streckte sich und beschloss, dass dieser Tag ein richtig guter war. Und genauso wollte sie ihn verbringen.

Nachdem sie den Ausblick aus dem Fenster eine Weile lang genossen hatte, ging sie ins Bad. Hier empfing sie ein Traum in Weiß mit heizbarem Handtuchhalter und einem riesigen Spiegel. Der Hausbesitzer hatte wirklich alles renovieren lassen, und zwar vom Feinsten. Den funktionierenden Festnetzanschluss gab es tatsächlich schon, es war kein Problem gewesen, ihn mit ihrem alten Telefon zu verbinden. Suse freute sich schon, Herrn Janssen, den Hausbesitzer, kennenzulernen. Er hatte alles einem Notar in die Hände gegeben, sodass sich die Kommunikation auf wenige schriftliche Kontakte beschränkt hatte, denn Herr Janssen besaß nicht einmal ein Handy, von einem Computer ganz zu schweigen. Er hatte ihr zu Beginn einen Brief geschrieben, um die Modalitäten abzustimmen. Und einmal hatten sie übers Festnetz telefoniert, er allerdings aus einer Telefonzelle. »Ich brauch so einen Kram nicht«, war seine Erklärung auf Suses Frage gewesen, warum sie nicht per E-Mail kommunizierten. »Ich hab das Haus außerdem nur geerbt. Lasse die Vermietungen über einen Verwalter abwickeln. Sichert mich so ab.« Seine Wortkargheit hatte das Gespräch arg abgekürzt.

Das Einzige, was Suse über den Eigentümer wusste, war, dass er sehr zurückgezogen auf Wangerooge lebte und früher mal Fischer gewesen war. Das hatte sie ihm noch entlocken können.

Suse zog sich aus und trat unter die Dusche. Gleich wollte sie in Ruhe frühstücken. Ein Frühstück, das schmeckte. Ein Frühstück, das sie sich von niemandem wegen der Kohlenhydrate oder dem Fettgehalt des Croissants schlechtreden lassen würde. Suse liebte es zu essen. Auch wenn sie dadurch in den letzten Jahren arg in die Breite gegangen war. Von der einstigen Konfektionsgröße 38 hatte sie sich vor Jahren nach ihrem »persönlichen Sommer«, wie sie die Wechseljahre titulierte, verabschiedet und es klaglos hingenommen, dass eines Tages sämtliche Hosen zwickten.

Ihre Weggefährtinnen (zu einer wirklichen Freundschaft hatte es nie gereicht) hingegen hatten sich durch einen Diätmarathon nebst Bauch-Beine-Po-Wundergymnastik gequält. Wahlweise hatten sie sich im Walken oder Joggen versucht, was bei der einen zu einem Hüft- und bei der anderen zu einem dauerhaften Knieschaden geführt hatte. Da Suse von dieser Stockschwingerei beim Walken oder dem stupiden Rennen mit Ohrstöpseln im Ohr ohnehin nichts hielt, fühlte sie sich darin bestätigt, die Finger von all dem zu lassen. Nun trug sie eben Größe 42. Das war nicht mehr dünn, aber als dick wollte sie sich auch nicht bezeichnen. Körperumschmeichelnd war jetzt angesagt. Trotz ihrer Pfunde sah sie weiblich aus. Zu einem Körper jenseits der 60 passte das Gewicht einer Dreißigjährigen nun mal nicht. Da gab es nur die Entscheidung »pro Gesicht oder pro Körper«. Beides bot eher ein unbefriedigendes Ergebnis, da war es zumindest gut, wenn man sich wohlfühlte.

Suse stellte die Dusche aus und griff nach dem flauschigen Handtuch.

 

Anschließend fühlte Suse sich so erfrischt wie lange nicht. Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen. Sie huschte rasch zum Bäcker, erstand ein Körnerbrötchen und das heiß ersehnte Croissant. Danach schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und kam sich an ihrem perfekt gedeckten Tisch mit Kerze, Serviette und hübschem Platzset fast vor wie in der bekannten Kaffeewerbung. Fehlte nur noch, dass sie die feinen Schwaden sehen konnte.

Und diese Ruhe! Kein Autolärm, nur ab und zu Kinderstimmen oder das Kläffen eines Hundes. Alles weit genug weg.

Der Vermieter hatte wirklich ganze Arbeit geleistet und die Einrichtungsfirma perfekt angewiesen. Suse hatte alles genauso vorgefunden, wie sie es sich gewünscht hatte. Dazu hatte sie einen millimetergenauen Plan gezeichnet und haarkleine Instruktionen erteilt. Noch gestern Abend hatte Suse das Geschirr und die Anziehsachen einsortiert, Bücher ins Regal gestellt, überflüssige Staubkörner beseitigt. Viel war es nicht, was sie vom Festland mitgebracht hatte.

Gerade als sie genüsslich ins Körnerbrötchen biss, knallte etwas gegen ihre Wohnungstür. Dann hörte es sich an, als ob sich jemand daran zu schaffen machte. Suse hielt augenblicklich mit dem Kauen inne und lauschte, ob sich die Geräusche wiederholten.

Einbrecher am helllichten Tag? So früh am Morgen? Es war erst knapp halb neun. Man las ja immer wieder, dass sich diese Halunken nicht mehr in den Abendstunden anschlichen, sondern dreist tagsüber einstiegen. Hatten sie nicht mitbekommen, dass sich in dieser Wohnung jemand befand? Suse schnappte den Schrubber, der in den neuen vier Wänden noch kein Zuhause gefunden hatte, und näherte sich der Haustür. Das Poltern und Schaben hatte noch nicht nachgelassen. Dreimal tief ein- und ausatmen. Konzentrieren! Dann riss Suse die Tür auf – und stoppte mitten in der Bewegung.

Vor ihr kniete ein Mädchen mit einem hellblauen, kurzhaarigen Schopf, das angesichts der Schrubberbedrohung entsetzt die grünen Augen aufriss. »Wenn ich den auf den Kopf kriege, hinterlässt das einen Abdruck! Das hatte ich schon mal. Mein Cousin wollte mich ärgern und –« Das Mädchen stoppte den Redefluss. »Moment, ich kenne Sie! Aus dem Zug gestern!«

Jetzt erinnerte sich auch Suse.

Sie ließ den Schrubber sinken. Das junge Mädchen, Suse schätzte es auf etwa 16 Jahre, stand langsam auf. Seine Hände steckten in gelben Gummihandschuhen, zwischen dem Gelb tropfte es nun bräunlich aus einem Feudel und hinterließ auf den hellen Fliesen unschöne Flecken. Die behandschuhten Hände erinnerten Suse an Micky Maus, die Farbe des Haarschopfes eher an einen Schlumpf. Das Mädchen hatte während Suses Gedanken ununterbrochen weitergeplappert, aber erst jetzt verstand Suse, dass sie sich bei ihr vorstellte.

»Ich heiße Beeke, hab ja noch gar nicht gesagt, wer ich bin und was ich mache. Moin erst mal!«

»Moin«, antwortete Suse, ein wenig überfordert mit dem Überfall.

»Also genauer gesagt heiße ich Beeke Bellinghorst. Ich bin die Nichte des Hausbesitzers Hein Janssen und für den Hausflur zuständig. Alles muss hier gepflegt sein. Und weil meine Mutter, sie lebt mit mir allein in Wilhelmshaven, meinte, ich würde zu viel Zeit darauf verschwenden, die Haarfarbe zu wechseln – ich muss dazu sagen, dass ich zuvor eher aussah wie Pumuckl –, haben sie gedacht, ein Job würde mir guttun. Also habe ich –«