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Regine Kölpin

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Beschreibung

Ein Roman wie eine frische Nordseebrise Verschwindet ein Geburtstag, wenn man fest genug nicht an ihn denkt? Oma Jette genießt ihr postfamiliäres Dasein auf der Insel Langeoog – sagt sie jedenfalls – und plant, ihren Sechzigsten einfach zu ignorieren. Enkelin Marie plant derweil eine Geheimoperation. Was Jettes Jugendliebe Günther plant, als er sich samt Scheidungs-Hamster Emma bei ihr einquartiert, ist ungewiss. Sicher ist nur, dass Jettes Leben plötzlich gehörig kopfsteht.  »Regine Kölpin versteht es, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, die mich verzaubern. Ich mag ihre Schreibe.« Klaus-Peter Wolf, Autor des Bestsellers »Ostfriesenfeuer«

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Seitenzahl: 467

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Regine Kölpin

Oma zeigt Flagge

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

V

Inhaltsübersicht

Blersum im SommerNoch vierzehn TageNoch dreizehn TageImmer noch dreizehn TageImmer noch dreizehn TageImmer noch dreizehn TageNoch zwölf TageNoch immer zwölf TageNoch immer zwölf TageNoch immer zwölf TageNoch elf TageNoch zehn TageImmer noch zehn TageNoch neun TageNoch acht TageImmer noch acht TageNoch immer acht TageNoch sieben TageNoch sechs TageJetzt nur noch drei TageNoch zwei TageNoch einen TagDer Tag XDanksagung
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Blersum im Sommer

Die Sonne scheint über der ostfriesischen Landschaft, Mähdrescher klopfen ihren Rhythmus, die Luft duftet nach frisch geschnittenem Gras. Möwen ziehen kreischend ihre Kreise, über der Wiese rüttelt ein Falke.

Die meisten Rentner beschäftigen sich während dieser Jahreszeit mit ihrem Garten, fahren mit dem Rad oder frönen ihrer Angelleidenschaft. Im ostfriesischen Blersum aber lebt ein Pensionär, der liebt nicht nur das, er liebt auch Enten. Lebendige Enten, mit Schnäbeln, Watschelfüßen und Federn. Nur mag er nicht die gemeinen Vögel, die landläufig vor allem zur Weihnachtszeit im Ofen gebraten, mit Thymian gewürzt und krosser Haut, serviert werden, sondern die mit den langen Hälsen. Indische Laufenten oder auch Flaschenenten genannt. Die Exemplare dieses Pensionärs würden mitnichten auf dem Teller landen, behandelt er sie doch wie wahre Persönlichkeiten. Sie haben Namen, jede ein eigenes Stallzimmer, einen kleinen ovalen Teich und natürlich auch einen beheizten Entenswimmingpool für besondere Anlässe.

Der Pensionär füttert wie jeden Morgen seine Laufenten, reinigt den Stall und stellt ihnen heute als besonderes Highlight einen neuen Futternapf (verchromt, dreißig Zentimeter Durchmesser, rostfrei) hin. Dazu streut er eine besondere Sorte Stroh (Marschboden, Seelage, schnell getrocknet, guter Jahrgang) ein. Vor lauter Dankbarkeit verspeist der Erpel zwei besonders dicke Nacktschnecken und rettet auf diese Weise mindestens einem Salatkopf das Leben. Eine honore Leistung. Seine Weibchen sind trotz der Bonusgaben nicht willig, zusätzliche Schnecken zu vertilgen, und besonders die weiße mit dem gelben Schnabel treibt sich neugierig an den Büschen herum. Plötzlich taucht die Ente den Kopf unters Gebüsch und verschwindet in Richtung Straße.

Der Pensionär hört das Unheil mehr, als dass er es sieht. Normalerweise durchqueren diese Straße mit Sackgassenlage am Tag etwa vier Fahrzeuge und das Ganze mal zwei. Einmal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg. Manchmal gesellen sich während der Saison ein paar verirrte Touristen hinzu, die gleich wieder wenden, nachdem sie ihren Irrtum eingesehen haben. Hier geht es nicht weiter, hier ist nichts los. Hier kann man nur umdrehen oder sterben, wenn man Ersteres nicht tut und deswegen verhungert.

Es sei denn, man hat hier ein Häuschen wie der Pensionär und seine Nachbarn. Was es aber nie gibt, sind Motorräder. Das Auftauchen dieser Spezies ist in der Sackgasse in dem kleinen ostfriesischen Dorf so wahrscheinlich wie das Auftauchen einer fliegenden Untertasse. Und doch hört sich das Jaulen, das der Pensionär vernimmt, genau so an wie diese Höllenmaschinen auf zwei Rädern.

Er hechtet seiner Entendame durch die Hecke hinterher, zerreißt sein linkes Hosenbein, aber er spürt den Kratzer am Oberschenkel nicht, sieht er doch nur den roten Helm, hört die durchdrehenden Räder und ein kurzes lautstarkes Schnattern, was seiner Ente spontan die füllige Form nimmt.

Nun hätte sie problemlos durch den Schlitz unterhalb der Haustür gepasst. Der Pensionär trägt das Tier zurück in den behüteten Garten und schaufelt dort ein kleines Grab. Mit seiner Trauer ist er allein, der Erpel schert sich nicht um das Ableben seines einen Eheweibes und begattet derweil die übrig gebliebene Entendame.

In dem Augenblick, als die letzte Schaufel Erde die weiße Ente bedeckt, weiß der Pensionär, dass er etwas in seinem Leben ändern muss. Das tragische Ableben seiner weißen Lieblingslaufente ist ein Zeichen, ein Wendepunkt in seinem Leben. Er würde es tun. Er würde endlich das zurechtrücken, was er vor dreißig Jahren verbockt hat.

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1

Noch vierzehn Tage

Wenn dein Haus in Flammen steht, dann wärme dich daran.

(Aus Spanien)

Das Telefon schrillte. Jette griff nach dem Hörer und blickte aus dem Küchenfenster auf die Straße. »Blümerant«, meldete sie sich und beobachtete Pablo, der mit seinem weiß gestrichenen Hollandrad gemächlich über die Hauptstraße in Richtung Kaapdüne radelte. Er sah allen jungen Frauen nach und rammte dabei fast eine Kutsche. Pablo bemerkte es rechtzeitig, stoppte und fiel beinahe einer blonden Strandschönheit mit langen Beinen und überdimensionaler Oberweite vor die Füße, die sein Missgeschick mit einem Lächeln quittierte und ihn, ohne zu zögern, ins nächste Café abschleppte. Jette ignorierte das leichte Magengrummeln. Pablo war eben Pablo, sie wollte sich über ihn jetzt nicht den Kopf zerbrechen.

»Also ist es abgemacht?«, schnappte Jette die letzten Worte aus dem Telefonhörer auf.

»Was? Hallo?«, hakte sie nach. Pablo hatte sie so stark abgelenkt, dass sie gar nicht realisiert hatte, mit wem sie eigentlich sprach.

»Ich bin es, Kea, deine Tochter. Falls du auf deiner Nordseeinsel vergessen haben solltest, dass es mich und die Kinder noch gibt!«

»Ach, Kea, du bist es! Entschuldige bitte, ich war gerade unkonzentriert.«

»Wir kommen dann morgen mit der zweiten Fähre nach Langeoog! Schön, oder?«, flötete Kea.

Dieser Ton machte Jette hellhörig. Schon von Kindesbeinen an bedeutete das stets: Ich will etwas von dir. Weil Jette nicht sofort antwortete, ging das Flöten abrupt in eine Art Fauchen über. »Mama! Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe dir eben unseren Besuch angekündigt!«

»Ja, ihr wollt kommen«, wiederholte Jette stupide und strich sich mit der Hand durchs wirre Haar. Zum Kämmen war sie heute noch nicht gekommen, so, wie sie zu so manchen Dingen noch nicht gekommen war, die sie für einen respektablen Start in den Tag brauchte.

»Mama, ich glaube, du wirst alt. Na ja, immerhin steht dein Sechzigster an! Also jetzt ganz langsam, damit du wirklich jedes Wort mitbekommst: Ich bin morgen um kurz nach zehn mit den drei Kids auf Langeoog. Wir müssen über deinen Geburtstag sprechen! Man nullt ja nicht ständig, und wer weiß, wie oft du das noch feiern kannst! Bis morgen dann.« Klack, aufgelegt.

Das war typisch Kea, feinfühlig wie ein Schaufelbagger. Jette fühlte sich überrollt. Es war ja nicht so, dass sie sich nicht freute, wenn Kea mit ihren Kindern kam. Nur war es Jette entschieden lieber, wenn sie zumindest gefragt wurde, ob es ihr überhaupt passte. Kea meldete sich verdammt selten. Jette schmerzte das, nur war sie dennoch der Ansicht, man könne Termine auch absprechen und müsse sie nicht gleich so überfallen. Sie hatte schon lange ein Leben jenseits ihrer Familie. Nun aber war Keas Erscheinen nicht mehr zu verschieben. Sie wollte also über Jettes sechzigsten Geburtstag sprechen.

»Ich muss mir bis dahin überlegen, wie ich sie stoppen kann! Ich will diesen Tag auf keinen Fall feiern! Nicht dass sie plant, sämtliche Nachbarn, ja alle Insulaner mit Rang und Namen einzuladen. Womöglich den Bürgermeister! Den Shantychor de Flinthörners und de Likedeeler. Den Gospelchor, den Judoverein …« Kea war es zuzutrauen, den jährlichen Bunten Inselabend mit allen Akteuren in Jettes Haus zu verlegen. Vielleicht aber reichte ihr die musikalische Inselprominenz nicht und sie plante noch Größeres. Jettes Terrasse zu einer Weltbühne umzufunktionieren zum Beispiel. Helene Fischer einzuladen, Abba wieder zusammenzubringen und bei ihrem Geburtstag »The Winner Takes It All« singen zu lassen. Oder gar Robbie Williams’ Hüftschwung nach Langeoog zu katapultieren. Kea war nie etwas gut genug, und solche Events zu organisieren vermittelte ihrer Tochter ein Gefühl von Kümmern. Egal, ob ihre Mutter, die sie offenbar für senil hielt, bekümmert werden wollte oder nicht. »Halbe Sachen mache ich nicht, Mutter. Das habe ich von dir gelernt. Wie sonst hättest du uns drei Kinder gegen den Rest der Welt aufziehen können?« Keas ewiger Spruch. Zu schlecht konnten ihre Kinder es in der Tat nicht gehabt haben, denn auch Kea war mit Anfang zwanzig bereits begeisterte Mutter geworden, genau wie Jette.

In Gedanken spürte sie bereits den Geburtstagsschampus auf sich niederregnen. Sie hörte wichtige Worte von ihr fremden Menschen und sah ein unendliches Blumenmeer, in der Fülle nur mit dem einer Beerdigung vergleichbar. Da konnten alle schon mal üben. Gut einstudiert und erprobt würde auch ihre Beisetzung das Event der Insel werden, bei dem Kea als vorbildliche Tochter glänzen konnte.

Schwarze Kutsche, schwarzes Pferd, betretene Gesichter, die sich mit gesenktem Kopf als Trauerzug in Richtung Dünenfriedhof bewegten. Ganz sicher plante Kea ein Grab neben dem von Lale Andersen für sie. Etwas anderes wäre nicht stimmig für solch ein Inselevent! Notfalls würde sie den Gruftnachbarn exhumieren und dessen Grabstelle mit Jettes Leichnam füllen. Die Kaffeetafel hätte immense Ausmaße, stilecht erklängen die getragenen Likedeeler Gesänge, in Abwechslung mit dem Gospelchor. Ähnlich wie auf Jettes geplantem sechzigsten Geburtstag. Es war ja nicht so, dass Jette die Musik der Gruppen ablehnte, im Gegenteil. Nur wollte sie keine Menschenansammlungen um sich. Weder tot noch lebendig.

»Sie ist deine Tochter!«, maßregelte sie sich selbst. »Sie meint es gut. Und sie ist das einzige Kind, das es nicht in die große weite Welt verschlagen, sondern sich tapfer in der norddeutschen Provinz gehalten hat.« Aber ihre Tochter Kea war wie sie und an Organisationstalent nebst Kontrollwahn unübertroffen. Nun, vor der Beerdigung galt es zunächst, den Sechzigsten mit Anstand zu meistern. »Ich glaube, ich brauche eine Dusche!«

Jette huschte ins Bad und prustete laut, als die Tropfen auf ihrer Haut abperlten. Dann drehte sie den Regler auf kalt. Das regte Geist und Sinne an. Genau wie ihre tägliche Tasse Grüntee. Stoffwechsel angekurbelt, Verdauung gefördert, sämtliche sich anbahnenden Krankheiten im Keim erstickt. Und so wollte sie die nächsten Jahre weiter gut und in Ruhe überstehen. Ohne Weltbühne, Robbie Williams, Abba-Revival und die gute Helene.

Jette hatte die Weichen mit der Flucht nach Langeoog rechtzeitig gestellt. Weg vom Festlandmief in die Freiheit der ostfriesischen Insel. Sie genoss jeden Tag, jede Stunde ihrer Unabhängigkeit, die sie sich hart erkämpft hatte. Denn obwohl ihre Kinder lange ein eigenes selbstbestimmtes Dasein führten, fanden sie es reichlich schräg, ausgerechnet auf Langeoog abzutauchen. »Kauf dir doch eine Finca auf Malle, dann hast du es immer warm«, war Knuts Vorschlag gewesen. Ihr Sohn weilte im Augenblick zwischen den Papuas auf Neuguinea. Kathrin hingegen badete mit den Leguanen auf den Galapagosinseln oder streichelte Schildkrötenpanzer oder die Nase von Seelöwen. Darüber hatten sie in Biologie mal einen Film gesehen, und seitdem war sie besessen von der Idee, dort zu leben. Der eine Sohn weilte also inmitten eines lendenbeschurzten Naturvolks, die andere Tochter zwischen schuppigen Leguanen und Riesenschildkröten und die dritte in Oldenburg.

Na immerhin war diese Stadt so bekannt, dass Jette sie Fremden, die nachfragten, nicht ständig buchstabieren musste. So wie damals, als Kea eine Zeitlang in der ostfriesischen Pampa in Rechtsupweg gelebt hatte. Das Dörfchen kannte wirklich niemand. »Hauptsache, die vier kommen nur kurz«, murmelte Jette, während sie sich trockenrubbelte und zugleich in Gedanken ihr heutiges Outfit durchging. Das war ihr immens wichtig. Niemals würde man Jette in Jogginghosen oder farblich nicht zusammenpassender Kleidung vorfinden. Jette war bunt. Und das nicht nur äußerlich. »Es ist ja nett, Kea und die Kinder wiederzusehen, aber ich muss auch meinen Laden den ganzen Tag geöffnet haben, es ist Saison.« Sie beschloss, gleich die Tarotkarten zu legen. Damit war sie gewappnet und wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte, falls es doch anstrengend wurde. Weil Kea Robbie Williams bereits gebucht hatte. Oder Helene Fischers neuer Song, extra und eigens für Jette Blümerant verfasst, bereits in der Pipeline ausharrte und sie ihr nun den neusten Megahit versaute. Die Karten würden Jette den richtigen Weg weisen. So, wie sie es immer taten.

»Ich sag ihnen morgen schlichtweg, wie es ist. Keine große Feier. Wenn es sein muss, kann ich eine Kaffeetafel organisieren. Das reicht.« Jette hängte das Handtuch an den Haken.

Haken.

Jette zuckte zusammen. Warum sie ausgerechnet beim Aufhängen ihres Handtuchs diese Assoziation hatte, war ihr ein Rätsel, aber im Schlafzimmer hing dieses vermaledeite Gemälde! Am Haken eben. Es war so schwer gewesen, es im maroden Putz zu befestigen. Dieses Bild musste bis morgen verschwunden sein. Niemals durften Kea und die Kinder es sehen. Das ging gar nicht! Sie stürzte in ihr Schlafzimmer.

Das Kunstwerk hing an der sorgsam gestrichenen hellblauen Wand. Dabei handelte es sich allerdings nicht um irgendein Gemälde, sondern um einen Akt, den Pablo im Frühsommer von ihr angefertigt hatte. Jette Blümerant mit gefühlten fünfzig, aber realistisch neunundfünfzigeinhalb Jahren auf Leinwand in Öl.

Nackt.

Und in der Größe eines DIN-A0-Umschlags.

Das konnte unmöglich im Schlafzimmer hängen, wenn Kea mit den drei Teenagern hier einfiel!

Pablo war ein Schmeichler, hatte er doch die Falten an den meisten Stellen geflissentlich ignoriert und nicht auf Leinwand gebannt. Jette trug nicht einmal ein züchtiges Tuch um die Hüften, sondern zeigte sich in ihrer vollen Blöße. Wie peinlich war das, wenn ihre Familie ein solches Bild von ihr sah! Sie war Großmutter von drei Enkeln. Mutter von drei erwachsenen Kindern. Auch wenn sie diese Tatsachen hin und wieder verdrängte.

Entstanden war der Akt nach einer gemeinsamen Nacht. Beim Malen hatten die überschießenden Hormone Pablos Künstlerhände gelenkt. So schmeichelhaft, wie das Gemälde war. Er kannte ihr wahres Alter nicht, und ihr war seines unbekannt. Aber er war fünfzehn Jahre jünger als sie. Mindestens.

Jette setzte sich auf die Bettkante, um einen klaren Gedanken zu fassen. »Entspann dich!«, machte sie sich selbst Mut. »Du nimmst es einfach ab, versteckst es für den einen Tag. Sie sind schließlich nur kurz zu Besuch.« Kea muss sicher arbeiten, und sie hasst das Inselleben. Fenna hat bestimmt irgendein Ökoprojekt am Laufen, Maries Bedürfnis nach Laufstegen, Kosmetiksalons und Nagelstudios mit für sie ausreichender Kompetenz wird auf dem Eiland genauso wenig erfüllt wie Kilians Interesse an der Nordpolarwelt oder anderen wissenschaftlichen Aktivitäten. Höchstens einen Tag. Sie bleiben höchstens einen Tag! Wenn überhaupt. Und den können wir gemeinsam genießen.

Länger als die Zeitspanne von ihrer Ankunft bis zur letzten Fähre würde ihre Tochter für die Geburtstagsplanungen nicht brauchen. Schon deshalb, weil sie alles ohnehin längst schriftlich fixiert hätte. Als Organisationstalent war sie so gestrickt. Und da Jette alle Vorausüberlegungen zunichtemachen würde, war ein ausgedehnter Besuch mit weiterer und eventueller Detailplanung völlig überflüssig.

»Ich bin das Familienleben einfach nicht mehr gewohnt«, flüsterte Jette. »Es überfordert mich, auch wenn ich es mir nicht eingestehe.«

Zumindest hatte sie mittlerweile ihr heutiges Styling im Kopf, es würde ein dem Sommertag angepasster, farbenfroher Look werden. Mit gezieltem Blick fuhr sie über die sorgfältig, stets Kniff auf Kniff zusammengefalteten Teile und fischte das heraus, was sie sich vor ihrem geistigen Auge zurechtgelegt hatte. Sie schlüpfte in die grüne Leinenhose und den knallroten Kasack, kämmte das dunkelbraune Haar, das sie neuerdings kinnlang trug, weil es so einfach zu pflegen war und trotzdem weiblich wirkte, und legte Lidschatten auf. Ein Hauch von Rouge und etwas Lippenstift: So fühlte sie sich wohl. Anschließend nahm sie den Akt von der Wand und versteckte ihn, in ein Badetuch eingewickelt, unter dem Bett.

»Na bitte, Jette Blümerant. Es geht doch! Du wirst dich doch nicht von so einem bisschen Besuch aus der Fassung bringen lassen!«

Zurück in der Küche, sah Jette erneut aus dem Fenster. Die Sonne knallte vom Himmel und strahlte den Bahnhof an, den sie von hier aus gut erkennen konnte. Der Vorplatz des roten Backsteingebäudes mit den weißen Sprossenfenstern glich an einem Tag wie diesem der Piazza S. Pietro in Rom, zumindest was die Menschenmassen anging, die aus der bunten Inselbahn strömten. »Es wird ein toller Tag, Jette. Ein ganz toller Tag! Und morgen ebenfalls. Sogar wenn Kea und ihre Brut kommen.« Um sich das selbst zu bestätigen, beschloss Jette, ihren Frühstückstee und das Müsli auf der Terrasse einzunehmen, auch die Karten ließen sich an der frischen Luft besonders gut legen. Dabei hätte sie den herben Duft der Nordsee in der Nase, nirgendwo war die Luft so klar wie auf den Inseln.

Jette nahm die Müslipackung und die Milch aus dem Schrank, stellte Honig und eine Tasse aufs Tablett und wartete, bis das Wasser kochte. Den Tee ließ sie auf die Minute ziehen und setzte sich anschließend auf die Terrasse. Sie rührte den Honig ein, nahm einen Schluck, genoss die vertrauten Geräusche, die von der belebten Hauptstraße zu ihr herüberdrangen. Die Touristenströme schoben sich über Langeoog in Richtung Strand. Der Ort war geprägt vom Rattern der Trolleys, Stimmengewirr, dem Klappern der Pferdehufe und Kindergeschrei. Fahrräder reihten sich Schutzblech an Schutzblech. Man könnte meinen, diese vielen Menschen würden die Insel übervölkern, aber sie verloren sich in der Weite der Landschaft. Allein Langeoogs vierzehn Kilometer langer Strand bot jedem genügend Platz. Eng wurde es schon mal auf den Fahrrad- und Wanderrouten in Richtung der Meierei, aber jenseits der Hauptrouten, auf den kleineren Dünenpfaden, glaubte man sich oft allein auf der Welt mit den Seevögeln und den zirpenden Grillen. Jette übergoss das Müsli, das sie sich aus ausgesuchten Körnern selbst zusammenmischte, mit der Milch. Aus den Augenwinkeln erkannte sie Pablo.

Er war, wie immer einem Judoka gleich, in Naturweiß gekleidet und flanierte mittlerweile mit der grellblonden Strandschönheit die Hauptstraße entlang. Ihren Kaffee hatten sie offenbar schon eingenommen und waren danach nicht willens, sich zu trennen. Die junge Frau wirkte so grazil, dass sie dem Nordseewind ohne Pablos stützende Hand sicher nicht lange standhalten konnte. Jette schloss die Augen und wandte den Blick bewusst ab. »Interessiert mich alles nicht! Er soll tun und lassen, was er will. Wir haben uns nichts versprochen. Gar nichts. Wir sind frei wie der Nordseewind. Deshalb leben wir hier und nicht auf Malle. Nichts ist für die Ewigkeit«, murmelte sie vor sich hin.

Dennoch konnte Jette ein gewisses Grummeln im Bauch nicht völlig beiseiteschieben. Aber sie wollte keine Verpflichtungen, keine Verantwortung mehr. Beides hatte sie jahrelang gehabt. Mit einstündiger Verspätung öffnete Jette ihr Lädchen mit der Galerie und einer Bernsteinschleiferei. Dazu verkaufte sie ausgesuchte Kleidung, die ihrem eigenen Styling ähnelte. Es wirkte ein bisschen alternativ und zugleich sehr edel. Nichts von der Stange. Alles klein, fein und ein bisschen bunt. Der Laden befand sich im vorderen Teil ihres weißen Inselhäuschens, von wo sie das aktuelle Langeooger Geschehen hautnah miterleben konnte.

»Ist ja nicht so, dass ich neugierig bin, aber es schadet auch nichts, alles zu wissen«, sagte sie zu sich. In letzter Zeit führte sie verdammt häufig Selbstgespräche. Wurde sie doch alt?

Mumpitz. Was ist schon alt, dachte sie im Stillen bei sich.

Sie öffnete die Tür, die klassisch mit grünen Fenstersprossen versehen war. Auf den Gehweg stellte sie einen Ständer mit kleinen, erschwinglichen Strandmotiven und drapierte eine Grünpflanze in einer angerosteten Milchkanne dazu. »Muss Rost dran sein«, hatte Pablo gesagt. »Antiquitäten kommen immer gut bei Urlaubern an. Ist in Spanien so und hier auch.« Er hatte recht, denn diese Kanne zog oft die bewundernden Blicke der Gäste auf sich, so dass Jette Pablo erlaubte, mit dem Hammer ein paar Beulen hineinzuschlagen, um das Alte deutlicher zu machen. Das hatte sie in einem Otto-Waalkes-Film gesehen.

Ein Urlauberpaar erstand sogleich ein Bild des weißen Wasserturms auf der Kaapdüne, ein anderes kaufte eines von Wellen und Meer mit den bunt gestreiften Strandkörben. Niedliche Motive, die das Urlaubsgefühl zu Hause noch eine Weile nachhallen ließen. Wirklichen Kunstkennern konnte Jette nicht allzu viel bieten, dafür gab es kein Publikum auf Langeoog. Also malte sie in ihrem Atelier, das sich ganz oben in ihrem Wohnhaus befand und durch die geschickt eingearbeiteten Dachfenster ein optimales Licht bescherten, meist Strand- und Inselmotive.

Hin und wieder steuerte auch Pablo ein Motiv bei. Er hatte sich allerdings auf Vorhängeschlösser und Dünengrashalme spezialisiert. Beides bot ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten. Inspirieren ließ sich Pablos Künstlerseele von den zahlreichen Schlössern am Aufgang zum Wasserturm mit seiner eigentümlichen Kuppel, der sich auf der Kaapdüne befand. Dort hatten sich genügend Pärchen damit verewigt. Tag für Tag kamen neue Schlösser hinzu. Mit Initialen, mit kleinen Motiven, mit Sprüchen von Liebenden, die sich die Ewigkeit versprachen. Warum Pablo, für den ein solches Gedankengut nicht existierte, sich gerade für dieses Motiv entschieden hatte, verstand Jette zwar nicht, aber alles musste man auch nicht verstehen. Das machte das Zusammensein mit ihm so geheimnisvoll. Jette wusste nie, woran sie bei ihm war. Pablo, der Freigeist.

Seine Spezialität war ohnehin die Aktmalerei. Hier gab es ständig Frischfleisch, sowohl in blond als auch in brünett. Er ließ sich immer wieder etwas Neues einfallen. Pablo war ein Thema für sich.

»Themenwechsel, Jette! Du hast wahrlich genug andere Sorgen!«

Auf jeden Fall hatte sie in ihrem Laden eine Menge zu bieten. Alles, was das Urlauberherz begehrte. Bis auf aufblasbare Plastiktiere, Muscheln in Netzen und kitschige Leuchttürme, die des Nachts sogar blinkten. Das wäre zu viel des Guten für sie. Solche Dinge gab es woanders.

Pablo schaute gegen Mittag vorbei, kurz bevor sie das Geschäft schloss. Keine Spur mehr von seiner Strandschönheit.

Das wäre ja auch noch schöner gewesen, wenn er die mitgebracht hätte.

Pablo sah wie immer fantastisch aus, war schokoladig gebrannt, hatte die Sonne der letzten Wochen für sich genutzt. Gegen ihn wirkte Jette wie ein beigefarbiges Bettlaken, sie wurde einfach nicht braun, egal, was sie anstellte. Also mied sie ausgedehnte Sonnenbäder, denn die Auswirkungen bescherten ihr allerhöchstens das Aussehen einer Cocktailtomate.

Pablos Füße zierten auch heute nur Flip-Flops. Weiteres Schuhwerk lehnte er ab, selbst im Winter. Aber zumindest ließ er an den Füßen etwas anderes als Weiß zu, so dass die Badelatschen wie ein Farbtupfer an ihm wirkten, zumal er sie häufig mit Perlen oder Muscheln aufpeppte. »Wollen wir am Abend an den Strand?«, fragte er und strich Jette übers Handgelenk. »Mir ist ein wunderbares Motiv eingefallen. Muy bien! Ich will dich malen! Die Frau mit der fahlen Haut im fahlen Mondschein.«

Geht es noch charmanter?

Pablo umfasste Jettes Hüfte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Du warst doch eben unterwegs mit diesem Mädchen!«, hakte Jette nach.

Ich will wissen, ob da was war.

»Sie ist dünn«, erklärte Pablo sogleich und tauchte seine dunkelbraunen Augen in ihre. »Wie ein tapezierter Knochen, so dürr!« Er krauste die Stirn. »Lass uns an den Strand gehen heute Abend. Keine Frau kann dir das Wasser reichen!« Er tätschelte Jette wohlwollend über den Po.

Dick bin ich auch nicht. Nur da rund, wo es hingehört!

Für einen Augenblick war Jette tatsächlich versucht, seinem Schmeicheln nachzugeben. Aber sie fürchtete, Pablos Charme völlig zu erliegen und deshalb morgen früh nicht rechtzeitig zu Hause zu sein. Kea und die Kinder würden sie suchen und Fragen stellen.

Vergiss es, das geht gar nicht!

Außerdem wusste Pablo nichts von Kea. Geschweige denn von Kathrin auf den Galapagosinseln oder von Knut mit dem Lendenschurz, wobei er das vielleicht noch recht cool finden würde. Sie könnten sich über alternative Schuhmode unterhalten oder über die Sommerkollektion der Naturvölker. Von ihren drei Enkeln wusste Pablo natürlich erst recht nichts, und Jette fand es auch vorteilhafter, wenn das so bliebe. Genauso wie es besser war, wenn er keine Ahnung von Jettes sechzigstem Geburtstag in zwei Wochen hatte. Diese Zahl musste auf ihn dinosauriermäßig wirken. Er, der Maler aus Spanien, alterslos und unabhängig. Eine freie Existenz im Hier und Jetzt ohne Verantwortung. Nie und nimmer würde er eine Frau ihres Alters haben wollen.

Morgen war sie also für einen Tag Oma Jette, ob es ihr gefiel oder nicht. Da war es unmöglich, kurz zuvor das Liebesleben einer Anaïs Nin zu führen. »Heute kann ich leider nicht, Pablo. Übermorgen vielleicht!«

Ein Funken von Enttäuschung huschte über sein Gesicht, doch die Trauer hielt nicht lange an, er lächelte schon bald wieder. »Du willst mir ärgern«, hauchte er in gebrochenem Deutsch, das er stets herauskramte, wenn er sie rumkriegen wollte. In Jette löste das einen Beschützerinstinkt aus, diese Masche funktionierte immer.

Heute bleibe ich standhaft. Es geht nicht!

»Habe so viel zu tun, wenn die zahlreichen Gäste auf der Insel sind«, wich Jette aus und fragte sich gleichzeitig, warum sie sich rechtfertigte. Er tat es schließlich auch nicht, wenn er als spanischer Ritter mal wieder unabkömmlich war und sämtliche Keuschheitsgürtel knackte. »Ich werde heute Abend sehr müde sein.«

Pablo sah sie erstaunt an, denn von einem Besucheransturm konnte man in der Galerie im Augenblick nicht reden. Doch er war kein Mann, der sich Gedanken über irgendetwas machte, und so trollte er sich mit einer Kusshand. Er würde für den Abend Ersatz finden.

Als die Tür sich hinter ihm schloss, war Jette ein wenig erleichtert. Je länger sie mit der Vorstellung schwanger ging, dass ihre Tochter tatsächlich mit den Kindern auf dem Weg hierher war, ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass sie sich auf die vier freute. Das Haus würde kurz zum Leben erwachen … Lachen touchierte die Wände. Sie könnte für alle Unmengen kochen, so wie früher.

Um Gottes willen, das will ich doch gar nicht mehr!, schoss es ihr durch den Kopf. Ich bin eine unabhängige Frau!

Nicht zugedrehte Zahnpastatuben, herumliegende Einzelsocken, Tassen und Teller auf, statt in der Spülmaschine. Ein Apparat, der unmöglich von anderer Hand als der von Jette ausgeräumt werden konnte, weil den Griff der Maschine ein unerklärbares Geheimnis umrankte und das Öffnen vermutlich mit einer Gefahr für Leib und Leben einherging. Klebrige Überreste auf dem Küchentisch oder wahlweise am Kühlschrank, der eigentümlicherweise auch für ungeübte Hände zu öffnen war … Nein, das wollte sie nicht mehr. Sie war frei!

Ja, es war gut, wenn Kea und ihre Brut rasch wieder verschwanden. Man konnte sich nichts schönreden. Viele Menschen in einem Haushalt bedeuteten Chaos, erst recht, wenn diese Menschen sich altersmäßig unterhalb der Dreißigergrenze befanden. Nein, es gab absolut nichts schönzureden.

* * *

»Langeoog? Wie ätzend ist das denn?« Fenna sprach das laut aus, was ihre beiden Geschwister dachten.

Kea sah ihre Kinder mit festem Blick an. »Ich regle das mit Oma! Und ihr tut ausnahmsweise mal das, was ich euch sage. Oma Jette ist eine alte Frau, sie wird schon sechzig! Wer weiß, wie lange wir sie noch haben.«

»Jopi Heesters ist über hundert geworden. Schafft Oma das auch, hat sie noch mindestens so lange zu leben, wie du jetzt alt bist«, korrigierte Kilian seine Mutter und rückte die runde Brille mit den flexiblen grünen Bügeln wissend auf seiner sommersprossigen Stupsnase zurecht.

Kea überging den Kommentar und betrachtete Marie, die ihre Ohren zugestöpselt hatte und sich mit irgendeiner Musik beschallte. Definierbar waren einzig die wummernden Bässe. Sie zog Marie den Stöpsel aus dem Ohr. »Was sagst du dazu?«

»Wozu?«

»Langeoog. Die Insel, auf der Oma ihr Einsiedlerleben lebt«, erklärte Fenna. »Und wo echt kein normaler Mensch auf dieser Welt leben möchte. Außer Oma.«

»Gibt es da Nagellack? Einen brauchbaren Drogeriemarkt für meine Tönungen? Eben was man zum Überleben braucht?« Maries Haar glänzte seit gestern pechschwarz und hatte das zuvor rostig wirkende Rot abgelöst. Von ihrem einstigen Honigblond war schon seit längerer Zeit nichts mehr zu erkennen.

»Wir fahren schließlich nicht in den Dschungel«, antwortete Fenna. »Auf Langeoog gibt es alles. Aber zu welch ökologischen Bedingungen schaffen sie da alles hin! Es ist eine Katastrophe für die Umwelt!«

Marie zuckte mit den Schultern und stöpselte die Kopfhörer gleich wieder ein. »Wenn mein Styling garantiert ist, fahre ich mit.«

Kea hatte keine leichte Mission vor sich, aber dieses eine Mal mussten sich ihre Kinder fügen. »Es ist nur für kurze Zeit, meine Süßen. Papa kann nicht kommen, um auf euch achtzugeben, er hat gerade ein interessantes Eisbärprojekt!«

»Vielleicht sollten wir uns ein weißes Kuschelfell und eine schwarze Nase zulegen, damit er sich ab und zu an uns erinnert«, konterte Fenna. »Wir können doch auch allein zu Hause bleiben. Das schaffen wir schon. Sogar mit dem da!« Sie wies mit einem Kopfnicken auf Kilian, der ihr die schwarze Zunge rausstreckte. Er hatte zuvor einen Lakritzlolli geschleckt. »Es ist völlig ausgeschlossen, auf diese Insel zu fahren. Auf Langeoog dominiert der Massentourismus! Überlege mal, wie viele Leute täglich dorthin transportiert werden, und wir gehören nun auch noch dazu! Das hält kein Ökosystem aus! Selbst wenn alle so tun, als ob.«

»Ach, es gibt da so wunderbare einsame und idyllische Ecken!«, wandte Kea ein. »Da haben sowohl Tourismus als auch die Tierwelt ihren Platz. Ihr dürft dort eine Weile leben, wo andere Urlaub machen. Ihr solltet dankbar sein.«

»Deshalb behauptest du auch ständig, sobald das Gespräch auf Oma kommt, dass sie so jwd wohnt, dass es kein normaler Sterblicher länger als vier Stunden auf diesem ostfriesischen Eiland aushält! Janz weit draußen eben. Was für ein beknacktes Wortspiel!«

Kea startete einen letzten Versuch: »Oma wird sich bestimmt freuen, wenn sie mal was von euch hat. So oft sieht sie euch ja nicht.«

»Ich habe aber keine Lust, den Seniorenbespaßer zu geben! Ich bin doch keine Altenpflegerin!« Fenna sprang auf und verließ die Küche. Dabei verfing sich ihr Oberteil, das sie sich aus groben Leinenstoffresten selbst zusammengenäht hatte, im Türrahmen. Fenna ruckelte einmal kräftig daran, dann löste es sich, und sie stolperte lautstark von dannen.

Kilian folgte ihr mit den Worten: »Ich wäre lieber an den Nordpol gefahren! Da hätte ich wenigstens was für die Menschheit tun und forschen können! Aber nein, das klappt natürlich wieder nicht! Papa und du, ihr seid so spießig!« Die Tür schepperte zu.

Marie hämmerte eine WhatsApp in ihr Handy. Sie hatte offenbar nicht vor, sich weiter an der Diskussion zu beteiligen, war sie doch startklar für alle Eventualitäten, die in den nächsten Tagen auf sie zukamen. Ihr Haar war frisch gefärbt, der Schminkkoffer und ihr sonstiges Outfit konnten mit. Internet gab es auf der Insel ebenfalls. Papa hatte Zeugnisgeld springen lassen, so dass der Langeooger Shoppingtrip gesichert war. Für ihr persönliches Überleben war gesorgt. »Niemals!«, schimpfte Fenna lautstark aus dem Flur. Sie riss die Tür zur Küche noch einmal auf. »Ich bin alt genug, um allein hierzubleiben! Ich brauche keine Kindergärtnerin, und erst recht keine, die wahrscheinlich dement ist und bei der ich mich allmorgendlich neu vorstellen muss, weil sie schon wieder vergessen hat, dass ich ihre älteste Enkelin bin!«

»Da lernt man ja jeden Tag neue Leute kennen, wenn man alt und vergesslich ist!«, überlegte Kilian, der ihr auf Schritt und Tritt gefolgt war und ständig an ihrem Oberteil zerrte. »Zumindest scheint das so.«

»Ich fahre auf keinen Fall mit!«, bockte Fenna. Sie riss sich von Kilian los und stapfte die Treppe nach oben. Das ganze Haus erzitterte, als sie ihre Tür zuknallte.

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2

Noch dreizehn Tage

Lass dich überraschen!

Da sind wir!« Keas schrille Stimme war unüberhörbar. Genau wie das Gezanke ihrer Kinder.

»Kilian, du nervst mit deinem Gelaber!«

»Und du hättest dir was Anständiges anziehen können. Oma findet Jutesäcke an Mädchenkörpern bestimmt blöd.«

»Besser als Maries künstlicher Look! Wie kann man sich so eine Gruftifrisur machen?«

»Was hast du gegen ein gepflegtes Äußeres?«

»Ruhe, wir sind da«, beendete Kea das Ganze. Sie strahlte ihre Mutter an, als Jette vor die Haustür trat. Hinter Kea tauchten drei sommersprossige Gesichter auf, die allerdings nur entfernte Ähnlichkeit mit den lächelnden Sprösslingen auf den Fotos hatten, die Kea ihr regelmäßig zusandte. Als Ausdruck, weil sie glaubte, ihre Mutter könne nicht mit einem PC umgehen. »Ist ja einfacher in deinem Alter, wenn man Bilder so angucken und in der Hand halten kann, Mama.«

Das hatte sie vermutlich irgendwo in einem Seniorenratgeber gelesen. Haptische Wahrnehmung oder so.

Jette lächelte jetzt dennoch. Im unverbindlich Lächeln war sie schon von Berufs wegen gut. Sonst könnte sie nicht Tag für Tag dieselben »Kunstwerke« überzeugend verkaufen.

Die Kids an Keas Seite strahlten weder Zuversicht noch Lebensfreude aus, wie man es dem Foto nach hätte erwarten können. Diese Exemplare waren unübersehbar stinksauer und alles andere als niedlich. Blond waren ebenfalls nur zwei der Enkel, eines war zu Schneewittchen mutiert. Oder zu einem Goth oder wie man das heute nannte. Oder doch Grufti, Satanist? Jette kannte sich nicht so genau damit aus, aber Schneewittchen hatte ja auch in einem gläsernen Sarg gelegen, so weit lag das schließlich nicht auseinander. Jette würde bestimmt noch erfahren, warum Marie sich den Schneewittchenattributen, so rot wie Blut, so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz, angeglichen hatte. Vielleicht war sie auch nur ein begeisterter Märchenfan.

Das andere Wesen hatte unübersehbare Pubertätserscheinungen in Form von Pickeln, wobei der erste Blick aber eher auf die individuell geprägte Kleidung fiel, die sicher selbst entworfen und aus gebrauchten Anziehsachen hergestellt und neu zusammengeschustert worden war. Der vorherrschende Ton war Grau, als Farbtupfer diente ein Braun, das allerdings schon recht verblichen war. Das Styling war für Jette, die sich Morgen für Morgen genau überlegte, was sie trug, fast eine Beleidigung. Fennas Kleidung betonte nichts, versteckte alles und hing einfach schlapp und farblos an dem viel zu dünnen Körper herunter.

Das kleine Männchen trug eine Brille, die jeden zerstreuten Professor hätte neidisch werden lassen. Seine Frisur stand zudem in alle Himmelsrichtungen ab, so als raufe er sich ständig das Haar.

Ein kleiner Albert Einstein, Gott bewahre!

Jette hatte ihre Enkel fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, doch hatten sie sich in diesen Monaten zu einer höchst eigentümlichen Spezies verwandelt. Kein Vergleich mehr zu den strahlenden Sonnenscheingesichtern, die als Makel allenfalls einen schokoladenverschmierten Mund vorzuweisen hatten und problemlos für jegliche Art der Süßigkeitenwerbung hätten herhalten können.

Jetzt strotzte Jette aber die personifizierte Lustlosigkeit entgegen. Der Widerwillen kroch den Jugendlichen aus jeder Pore.

Super! Da besuchen dich die Enkel und finden das so nervig, dass sie sich nicht einmal anstandshalber freuen können, dachte Jette.

Sie schob die Enttäuschung beiseite, immerhin hatte auch sie keinen Freudentanz aufgeführt, als sie von deren Kommen gehört hatte, also war es vermessen, Ansprüche zu stellen. »Dann erst mal rein in die gute Stube!«, forderte sie ihre Familie in gemütlichem Oma-Ton auf und merkte, wie sie sogleich in ihre alte Rolle zurückfiel. Ungeachtet des Unbehagens, das sich von Minute zu Minute heftiger einstellte.

Einmal Mama, immer Mama …

Konnte sie da nicht aus ihrer Haut?

Die drei Enkel betrachteten sie argwöhnisch. In ihren Gesichtern spiegelten sich die verschiedensten Gedanken. Offensichtlich waren alle drei bemüht, diese Großmutter irgendwo zwischen Altersstarrsinn und Begräbnis einzuordnen. Das buntgewandete Gesamtbild passte nicht zu dem, was Kea über sie erzählt hatte.

»Oma sieht nicht aus wie eine Oma. Sie ist ein bisschen bunt, weil sie immer vergisst, wie alt sie schon ist. Sie ist aber ganz normal. Ihr müsst euch nicht fürchten. Sie ist schon etwas senil, fast sechzig eben, und nicht mehr belastbar, weshalb sie sich auf die Insel zurückgezogen hat. Obwohl ich von Beginn an dagegen war! Aber sie freut sich auf euch, ganz sicher tut sie das. Sie sieht euch ja so selten.«

Jette kannte Keas nicht zu stoppenden Redeschwall, wenn sie andere überzeugen wollte. Jette war kurz versucht, einen ketzerischen Kommentar loszulassen, doch dann schluckte sie die Bemerkung herunter. Es handelte sich ja nur um ein paar Stunden …

Vorhin hatte sie vorsichtshalber noch einmal überprüft, ob der Akt auch unversehrt und für keinen sichtbar unter ihrem Bett schlummerte.

Alles save, Jette! Alles gut!, beruhigte sie sich.

Nun galt es, das hier anstandslos zu überstehen. Sie machte einen Schritt beiseite und winkte die vier in die Stube durch.

Kea trat eher vorsichtig ein, zog ihre Pumps nicht aus und klackerte über die Fliesen. Sie trug trotz der enormen Hitze, das Thermometer hatte die Dreißig-Grad-Marke fast erreicht, eine hautfarbene Perlonstrumpfhose, was ihre Beine makellos erscheinen ließ. Kea, die Perfekte, die Planende. Sie würde sich nie ändern und nie etwas dem Zufall überlassen. Das war schon so, als sie ein Kind war: »Mama, ich habe schnell aufgeschrieben, was ich mit in den Urlaub nehmen will!« Kea hatte Jette einen Zettel gereicht, damals war sie acht Jahre alt gewesen und konnte gerade einigermaßen sicher schreiben. Sie hatte jede Socke, jede Unterhose und jeden Stift vermerkt, den sie mitzunehmen gedachte.

Jette sah ihre Tochter an, doch noch lugte kein Papier aus ihrer Hand oder Tasche.

Es gibt also Hoffnung auf ein friedliches Ende.

Ihr folgte Fenna, dann Marie, und schließlich stolperte Kilian hinterher. Noch während die Kinder ihre Rucksäcke in die Ecke pfefferten und sich aufs Sofa flegelten, warf Kea, die nur mit einer kleinen Handtasche bewaffnet war, ihrer Ältesten einen warnenden Blick zu. Die Kids musterten Jettes Stube mit kritischem Blick, fügten sich aber den stummen Anweisungen ihrer Mutter.

Klar hat sie auch das im Griff, schmunzelte Jette.

Sie hatte die Stube mit erlesenen Antiquitäten eingerichtet. Modern hätte nicht in das kleine Friesenhaus gepasst. Ein Ohrensessel mit rotem Samt stand vor dem Fenster, ein dunkelbrauner Sekretär war an der Stirnwand neben einem Spinnrad platziert. Die Sofaecke zierten schmale Streifen, das Polster hatte Jette auf dem Festland passend anfertigen lassen. Der Couchtisch stammte aus der Biedermeierzeit. Vor den Fenstern hingen feine weiße, seitlich geraffte Gardinen.

Jettes Enkel waren in den zwei Jahren, seit sie hier lebte, noch nie auf Langeoog gewesen, hatten sich stets geweigert, in diese »Pampa« zu fahren.

So war Jette zuletzt im vergangenen Jahr nach Oldenburg gereist. Nach zwei Tagen aber war ihr die Hektik auf dem Festland schon aufs Gemüt geschlagen. Ihre Enkel sahen sich in ihrem Vorurteil bestätigt, dass Oma zwar bunt wie ein Paradiesvogel durch die Lande schwebte, aber doch alt war, wenn sie »das bisschen Stadt« nicht aushielt. »Die Verpackung täuscht«, waren Maries Worte gewesen.

Jette sah den abschätzenden Blicken ihrer Enkel an, dass sie eine weniger spießige Einrichtung erhofft hatten. Apfelsinenkisten oder ein Sperrmüllsammelsurium wären in ihren Augen passender gewesen und hätten ihre starre Mimik bestimmt aufgeweicht.

»Wollen wir zuerst einen Tee trinken? Tee ist Balsam für die Seele!«, durchbrach Kea die Stille, die nur vom unterschwelligen Brummen aus Maries Player durchbrochen wurde.

»Ich koche welchen«, schlug Jette vor. »Kommt, wir gehen in die Küche!« Sie wollte sich beeilen, bevor die ersten Flecken das Sofa verunzierten. Oder die Federn des Biedermeiersofas kaputt waren, denn Kilian hüpfte mittlerweile doch bedenklich schwungvoll auf und nieder.

Jette war froh, als das Wasser kochte und der Tee schließlich auf dem Stövchen stand. Eine Stunde war schon geschafft, nur noch kurze Zeit, und alles war gut!

Jette bedeutete Fenna, Marie und Kilian, ihr zu folgen. »Wenn man schon nach Langeoog kommt, ist Ostfriesentee genau das Richtige! Kekse habe ich auch.« Sie bemühte sich um einen munteren Tonfall, der trotz aller aufgesetzten guten Laune aber nur wie in Moll gesungen anzukommen schien. Immer wieder taxierte sie ihre Tochter nach verdächtigen Anzeichen.

Wann kam Kea endlich auf den Punkt? Viel Zeit blieb ihr nicht, wenn sie eines der nächsten Schiffe zurücknehmen wollte.

Es hing etwas in der Luft.

Hoffentlich geht es wirklich nur um meinen Geburtstag. Dann sind wir schnell durch.

Jette wurde immer nervöser. Etwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

Mechanisch füllte Jette die Kekse nach, die erste Packung war binnen einer halben Minute vertilgt. Die Krümelreste verteilten sich in drei Wegen über den Tisch, aber der zu Kilian war mit Abstand am breitesten. Jette goss Tee nach, erzählte vom grandiosen Sommerwetter, das seit Wochen auf der Insel herrschte, Inselwetter eben, dass der Laden wunderbar lief und wie anstrengend ein paar der Feriengäste waren. Sie redete und redete, Antworten bekam sie keine. Ihr Blick schweifte ständig zur Uhr. Doch Kea tat weiterhin, als lausche sie ihr intensiv, Marie tippte auf der Handytastatur herum, Kilian beeilte sich, auch die zweite Kekspackung leer zu bekommen.

Entweder er neidet unter Futterneid oder er hat den ganzen Morgen noch nichts zu essen bekommen.

Fenna hielt die Augen geschlossen, während sie den Keks zu Brei zermalmte.

Erst als es nichts, aber auch gar nichts mehr zu erzählen gab, wagte Jette es, Kea abwartend anzusehen. Bereit für die Botschaft, die sie gleich zweifelsohne treffen würde und die sie im Keim ersticken musste. Dazu brauchte sie drei Sätze:

»Nein, Kea, ich bestehe weder auf Robbie Williams noch auf die Abba-Zusammenführung. Ich möchte nicht feiern. Spart das Geld für meine Beerdigung.«

Jettes Stimme zitterte nur leicht, als sie es nicht mehr aushielt und fragte: »So, und ihr wollt meinen Geburtstag planen?«

Kea lächelte wissend. »Mutter, du wirst sechzig. Ein stolzes Alter, und du bist so fit! Dafür können wir dankbar sein. So dankbar!«

Stimmt, noch kann ich auf den Rollator und passierte Kost verzichten. Und Windeln brauche ich ebenfalls nicht.

Jette riss sich zusammen. Jetzt oder nie. »Ihr braucht trotzdem nichts zu planen und zu organisieren. Ich möchte keine Feier.« Nun war es heraus. Der Tee plätscherte beim nächsten Einschenken überlaut in die winzigen Tassen, das Zerspringen des Kandis knallte wie ein Schuss.

Jette lächelte noch immer gewinnend.

Zog die Brauen abwartend hoch.

Stellte die Kanne zurück aufs Stövchen.

Nahm einen Schluck.

Es herrschte jedoch Schweigen. Nichts als Schweigen, nur unterbrochen vom gelegentlichen Knacken, wenn Kilian einen weiteren Keks erlegte. Der Löffel klirrte, als er ihn zurück auf die Untertasse knallte. Die Uhr zerhackte mit ihrem Ticken die unangenehme Stille. Noch nie hatte Jette diesen Ton als so laut empfunden.

»Ist gut, dann feiern wir nicht«, lenkte Kea ein. »Wenn du nicht magst, ist es in Ordnung.«

Jette sah ihre Tochter erstaunt an. Kein Abba-Revival oder der Po von Robbie Williams, kein bahnbrechender Helene-Fischer-Song ihr zu Ehren? Nicht einmal de Flinthörners, keine Likedeeler und kein Bürgermeister? Sondern Ruhe? Einfach nur Ruhe?

Das geht zu einfach, das geht zu leicht! Verdammt, das geht zu leicht.

Wie die singende Tonfolge eines Jahrmarktschreiers glitten Jette diese Sätze warnend durchs Ohr. Dennoch lächelte sie ihre Älteste abwartend an.

»Ich muss beruflich in die Staaten«, sagte Kea schließlich gepresst. Ihre Stimme zitterte ein bisschen, als sie weitersprach. »Es handelt sich um einen wichtigen Auftrag. Morgen Mittag. Und das für zwei Wochen. Bis zu deinem Geburtstag bin ich zurück.«

»Das ist ja schön für dich!« Jette fiel ein Stein vom Herzen, denn wenn es das war, was ihre Tochter loswerden wollte, war alles halb so wild. Die Staaten, das war Zivilisation, das war bar jeden Lendenschurzes und frei von großen, drachenähnlichen Schuppentieren. Weg waren die anderen auch, nun war also Kea dran, sich abzusetzen. Der Lauf der Dinge und für die Enkel sicher eine tolle Erfahrung! In Amerika war ihnen mit allem gedient. Es gab Internet, es gab Nationalparks. Es gab Shoppingmeilen und Friseure, und es gab bestimmt auch irgendetwas, was den kleinen Professor a) satt werden ließ und ihm b) Raum für seine Forschungen gab. Die Forschergene steckten ihm väterlicherseits im Blut, wenngleich die präferierten Eisbären in Braunbären getauscht werden mussten. Jette hoffte, dass der Kleine da flexibel war.

Sie beschloss, es ihrer Tochter so leicht wie möglich zu machen. »Das ist ja ganz wunderbar, Kea! Es sind Ferien und Amerika ist ein tolles Erlebnis für deine Kinder. Welche Möglichkeiten bieten sich ihnen dort!« Jette schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein und erfreute sich am befreienden Knacken des Kandis. Morgen war alles wieder, wie es war. Ach, morgen! Heute bereits. Wenn gegen Abend die letzte Fähre fuhr.

Die Gesichter der drei Enkel hatten sich bei Jettes Sätzen zusehends verfinstert. Ihre Bemerkung über die Möglichkeiten in Amerika war definitiv die falsche gewesen, und sie bohrte ganz offensichtlich in einer offenen Wunde.

Fenna stand plötzlich auf, und wie von einem unsichtbaren Zeichen gesteuert, erhoben sich auch ihre Geschwister und folgten ihr. Zurück kamen sie mit drei Koffern. Sie stellten alles brav ab, drehten um und betraten das Haus ein weiteres Mal. Jetzt schleppte jedes der Kinder eine große Sporttasche.

Jette gefror das Lächeln. »Das sieht nach einem längeren Aufenthalt aus«, versuchte sie zu scherzen und damit die aufkommende Panik in Schach zu bekommen. Es durfte nicht heißen, was sie vermutete. Auf gar keinen Fall!

»So ist es«, knurrte Fenna schließlich. »Genau so ist es! Ein verdammt langer Aufenthalt.«

»Es handelt sich summa summarum um exakt dreizehn Tage, einschließlich des heutigen Datums«, sagte Kilian. »Unsere Mutter wird genau am zwölften Tag mit dem Flieger nach Europa zurückkehren.« Beim p von Europa hatte Kilian den Kekskrümel im rechten Mundwinkel nicht mehr ganz unter Kontrolle und spie ihn Jette in den Tee. »Das bedeutet, sie wird mit einem nicht unerheblichen Jetlag an deinem sechzigsten Geburtstag, folglich Tag dreizehn, auf dieser Insel ankommen.« Er zog ein blaues Notizbuch aus der Tasche. »Ich habe alles notiert!«

»Die Kinder sollen bei mir bleiben?« Jettes Frage war so überflüssig wie ein Kropf. Kilian hatte ihr die Antwort ja eben lang und breit gegeben. Außerdem stand die unumstößliche Tatsache in Form des Gepäcksammelsuriums in der Friesenstube. Und offensichtlich war alles in diesem blauen Notizbuch schriftlich fixiert.

Jette konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Ihr blieb jedes weitere Wort im Hals stecken, als sie in Keas Augen sah und anschließend die Mienen ihrer Enkel musterte. Keiner brauchte es auszusprechen. Kea würde nach Amerika reisen. Fenna, Marie und Kilian nicht.

»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Jette nach einer Weile. »Ich habe meine Galerie mit dem Laden, und es ist Hochsaison. Außerdem hättest du mich vorher fragen müssen!«

»Du hast viel Zeit, Mama. Die Kinder sind groß, machen wenig Mühe. Das bisschen Essen und Wäsche. Ist doch eine tolle Überraschung.« Kea stimmte dieses Rudi-Carrell-Lied an: »Lass dich überraschen!« Es klang leicht schief.

Weil Jette nicht antwortete, setzte Kea noch eins drauf: »Du wirst sie kaum bemerken.«

Wie zur Bestätigung kreischte Maries Handy los. »Get up, stand up … for your rights!« Bob Marley.

Jette hätte diesen Ton auch grad gern als Klingelton. Sie würde Marie fragen, ob sie ihn ihr herunterlud. Die war im Augenblick vermutlich nicht willens, sprang auf und nuschelte so etwas wie: »Das ist Julia!«, und stürmte aus der Küche.

Fenna saß mit verstocktem Blick am Fenster und stierte hinaus. »Wir werden zu Umweltsündern in größtmöglichem Ausmaß!« Sie machte ein Gesicht, als sähe sie Harmagedon förmlich auf Langeoog zurasen.

Kilian schüttete sich indes den halben Topf Sahne in die Tasse, die der weißen Sahnewolke oder, wie man auf Friesisch sagte, der Wulkje nicht gewachsen war, die Untertasse überschwemmte und von dort einen Bachlauf bildete, der wie ein Wasserfall auf den Boden stürzte. Dessen ungeachtet grabschte er nach dem letzten verbliebenen Keks und versenkte ihn in seinem Forschermund, dessen Kauwerkzeuge augenblicklich zu mahlen begannen.

Jette sprang auf, zerrte ein paar Blatt Küchenkrepp von der Rolle und wischte die Fliesen trocken. »Hast recht«, keuchte sie. »Sie werden kaum Arbeit machen.«

Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Sie würde nach den zwei Wochen aussehen wie das Knochengestell gestern an Pablos Seite. Würde die dunkelsten Augenringe aller Zeiten haben, deshalb den Kajal einsparen. Wimperntusche sowieso. Wenn ihr die Tränen in die Augen schossen, würde sie ohnehin verlaufen. Jette Blümerant wäre nach diesen dreizehn Tagen, heute mitgerechnet, ein Wrack. Nach all den »würdes« sog Jette die Luft ein, legte den Kopf in den Nacken und hoffte, alles wäre nur ein böser Traum.

»Du wirst sie kaum bemerken, Mama!«, wiederholte Kea.

Willkommen im Leben, Jette!

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3

Immer noch dreizehn Tage

Ich glaub, mein Schwein pfeift

Da sind wir nun!« Marie betrachtete das kleine Zimmer mit Argwohn und rümpfte die Nase. »Wie spießig!« Sie zupfte an der Scheibengardine, die seitlich mit einem Band gehalten wurde wie die Gardinen fast überall in Jettes Haus. »Ich dachte im ersten Moment, als ich Oma so interessant gekleidet gesehen habe: Mann, ist die cool drauf. Aber dieses Friesengetue ist doch echt der Hohn! Sie ist alt, auch wenn sie das nicht wahrhaben will.«

Fenna warf einen Blick nach draußen, wo gerade eine Kutsche mit einem braunen Pferd und gelber Plane vorbeipolterte. »Na wenigstens verpesten hier keine Abgase die Umwelt. Immerhin etwas!«

Marie antwortete ihr nicht mehr. Sie hatte mittlerweile ihren Laptop aufgeklappt und hämmerte wie wild auf der Tastatur. Als das keinen Erfolg zeigte, mühte sie sich mit dem Handy ab. »Wir haben hier null Netz!«, stieß sie verzweifelt aus. »Fenna! Kilian! Was für ein Desaster!«

Ihre Schwester runzelte die Stirn und blickte hochmütig auf die Jüngere hinab. »Das nennst du Desaster? Hast du vorhin nicht gesehen, dass extra Versorgungsschiffe eingesetzt werden müssen, damit die Menschen auf dieser Insel in Saus und Braus leben können? Das waren diese rot-blauen, die man dann auch noch nett und freundlich als Onkel Otto tituliert. Weißt du, was das an Benzin und Öl kostet und wie viel Energie vergeudet wird? Das ist ein Desaster!«

Marie hörte Fenna gar nicht zu. »Hoffentlich hat Oma Internet. Ich frag sie mal nach dem Key. Und hoffe, sie weiß, was das ist. Ich sterbe sonst!«

»Klar stirbst du, wenn du nicht auf deiner Datenautobahn herumkurven kannst!«, knurrte Fenna. »Aber wir werden allesamt früher oder später am Fortschritt krepieren.« Sie warf sich rücklings aufs Bett. »Mama fliegt morgen nach New York und setzt dem Klimaschaden noch eins drauf. Wir werden alle sterben! Und ich zuallererst, sollte ich diese zwei Wochen tatsächlich auf Langeoog bleiben müssen.«

»Es ist anzumerken, dass es sich a) um nur dreizehn Tage und nicht zwei volle Wochen handelt. Und b) ist zu klären, ob das der richtige Augenblick für dein Ableben ist«, dozierte Kilian. »Wenn du auf der Insel stirbst, muss ein Sarg vom Festland nach Langeoog gebracht werden. Haben die hier ein Bestattungsunternehmen, ändert das auch nichts, weil sie die Dinger bestimmt nicht selbst herstellen oder zumindest das erforderliche Material herschaffen müssten. Sprich: Es kostet unnötige Treibhausgase, auf einem Eiland dahinzuscheiden. Das kann nicht in deinem Sinne sein!« Er rückte die Brille mit dem Zeigefinger ein paar Millimeter nach oben und betrachtete seine Schwester. »Wenn du meine Meinung hören möchtest: Warte die Tage lieber ab, bis wir drüben sind. Dein Tod hier ist äußerst unökologisch.«

Fenna nickte düster. »Danke, kleiner Professor. Fürs Augenöffnen, du hast recht. Ich kann und darf noch nicht sterben.«

»Gern geschehen.« Er bückte sich und zerrte sein Notizbuch heraus, in das er sofort seine Nase steckte. Er fläzte sich aufs Bett und tat konzentriert, was man am ständigen Zucken seiner Zehen bemerkte. »Ich für meinen Teil habe vor, mich hier weiterzubilden. Ich gehe quasi wie ein Mönch im Kloster in Klausur. Mehr kann man ohnehin nicht tun.« Er zückte seinen Stift und kritzelte etwas auf die leere Seite.

Marie überließ ihre Geschwister kurz sich selbst und hüpfte hinunter zu Oma Jette, die ihr den Internetschlüssel bereitwillig zusteckte.

»Kinder, ich habe Nehetz!!! Oma wusste tatsächlich sofort, was ich will«, jubelte Marie, als sie wieder oben war. »Netz! Auf dieser Insel. Es gibt hier wirklich Internet!« Sie würde folglich nicht sterben, sie war gerettet.

* * *

Jette entkorkte die Weinflasche, ließ sich auf den Gartensessel fallen und schloss die Augen. Eine orangefarbene Wollstola umhüllte ihre Schultern, denn auch wenn es ein lauer Abend war, kühlte es doch merklich ab. Neben ihr lag ein Stapel Tarotkarten. Sie hatte das Kleine Kreuz und Das Hufeisen für heute und für morgen gelegt und wünschte, es besser gelassen zu haben. Die Karten sagten nichts Gutes, absolut nichts Gutes. Chaos und Unbill.

»Jetzt bin ich sogar zu müde, mir den Wein einzuschenken«, murmelte sie und ärgerte sich augenblicklich über ihre Selbstgespräche. Diese Macke nahm immer mehr zu. »Bin ich vielleicht einsam?«

Blödsinn. Alles ist gut so, wie es ist. Ich liebe meine Freiheit.

Kea war, nach einem kurzen und schmerzlosen Abschied, mit dem letzten Schiff zurück nach Bensersiel gefahren. So ganz hatten ihr die Kinder das Parken auf der Insel bei Oma Jette nicht verziehen.

Die schrak zusammen, als sie merkte, dass sie schon wieder nicht allein war. Vor ein paar Minuten hatte Marie sich den Internetschlüssel geholt, war allerdings wie ein Orkan gleich nach oben ins Zimmer gewirbelt.

Nun war Fenna neben sie getreten und beäugte das Obst auf dem Tisch mit kritischem Blick.

Wäre gut, wenn dieses Kind auch mal was anderes als Äpfel in sich reinfutterte, dachte Jette. Sie ist viel zu dünn. Kea hatte auch immer zu wenig gegessen und glich bis heute der Statur nach einer dünnen Birke. Das hatte sie vom Vater geerbt, der ähnlich drahtig gewesen war.

Fenna nahm einen Apfel in die Hand und studierte den Aufkleber im Schein des Windlichtes. »Die stammen zwar aus biologischem Anbau, haben aber eine äußerst negative Klimabilanz.«

Jette zog fragend die Brauen hoch. »Warum? Sind doch einfach nur Äpfel. Am Baum gewachsen, geerntet und hierhergebracht.«

Fenna schüttelte energisch den Kopf. »Die kommen nicht nur vom Festland, sondern sind auch noch gleich aus Südamerika eingeflogen. Weißt du, wie viele Tonnen Kohlendioxid ein solcher Import kostet?«

»Auf Langeoog wachsen nun mal keine Äpfel«, wagte Jette einzuwenden. »Vielleicht vereinzelt.«