Omas Bankraub - Susanne Scholl - E-Book

Omas Bankraub E-Book

Susanne Scholl

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Beschreibung

Wenn am Ende vom Geld noch ganz schön viel Monat bleibt, ist Kreativität gefragt: Vier Frauen verbünden sich gegen die Altersarmut. Schlecht bezahlte Berufe, Scheidungen, aber auch die Höhen und Tiefen einer Künstlerinnenexistenz oder ein leichtsinniger Hang zu den schönen Dingen des Lebens – die Gründe für Altersarmut sind so vielfältig wie weibliche Biografien. Um dem chronischen Geldmangel zu begegnen, helfen nur Kreativität und Solidarität. Erika, die pensionierte Volksschullehrerin, Lilli, die erfolglose Musikerin, Anna, die verwitwete Verschwenderin, und Ursula, Krankenschwester mit einem fatalen Hang zu exotischen Liebesbeziehungen, erfinden "Omas Kurse" und veranstalten Wohnungsflohmärkte, backen Torten und bewirtschaften Erikas Schrebergarten. Als das alles jedoch nicht reicht, beschließen sie, ihr Glück mit illegalen Methoden zu versuchen …

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Susanne Scholl

Omas Bankraub

Roman

© 2022 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:978 3 7017 4682 8

ISBN Printausgabe:978 3 7017 1761 3

Inhalt

1 Die Verschwenderin

2 Ideen

3 Ablenkungen

4 Erika

5 Schrebergarten

6 Versuche

7 Wie weiter?

8 Es muss sein

Epilog

1

Die Verschwenderin

Anna sitzt in ihrem Wohnzimmer und öffnet die Post: die Stromrechnung, eine Mahnung für die Handyrechnung, eine zweite Mahnung für die Miete.

Anna hat überall Schulden.

Nicht, weil sie zu wenig Geld hätte. Sie hat eine ausreichende eigene Pension und bekommt zusätzlich eine Witwenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann, der Arzt war und gut verdient hat.

Anna hat Schulden, weil sie nicht mit Geld umgehen kann.

Manchmal überkommt sie eine regelrechte Kaufwut. Dann schaut sie weder rechts noch links und schon gar nicht auf ihren Kontostand.

Sie kauft. Punkt. So manches, was sie später weiterschenkt, weil sie draufkommt, dass sie es tatsächlich nicht nur nicht braucht, sondern auch nicht mag.

Als sie noch Redakteurin in einem renommierten Verlag für wissenschaftliche Publikationen war, hat sie gut verdient und dank ihrer Sprachkenntnisse auch noch nebenbei mit Übersetzungen gutes Geld gemacht. Übersetzen kann sie ja noch immer, aber die Einkünfte fließen jetzt spärlicher.

»Man wird halt nicht jünger«, seufzt Anna und legt die gesammelten Mahnungen und Zahlungsaufforderungen auf den Schreibtisch.

»Morgen geh ich auf die Bank und zahl alles ein«, nimmt sie sich vor und denkt dann ganz schnell an etwas anderes. Aber worüber Anna auch nachdenkt, am Ende geht’s eben doch immer wieder ums Geld.

Der Enkelsohn braucht ein neues Fahrrad, die Tochter einen ordentlichen Wintermantel. Nicht, dass Maria, Annas Tochter, sich den Mantel nicht selber kaufen könnte. Maria ist Architektin, arbeitet mit ihrem Mann gemeinsam an großen Projekten und hat mehr Geld als ihre Mutter.

Aber alte Gewohnheiten sterben eben nie.

Wenn »die Kinder« was brauchen, dann ist die Mutter zuständig. Also hat Anna beschlossen, dass Maria einen neuen Mantel braucht und sie ihr diesen zu Weihnachten schenken muss.

Schulden hin oder her.

Aber da ist doch noch dieses Sparbuch, da muss noch etwas drauf sein, das kann sie auflösen – dann geht sich Marias Mantel und ein Fahrrad für Alex, Annas Enkel, aus. Dafür hat sie dann kein Geld mehr für den nächsten Urlaub. Na ja, bis dahin wird ihr sicher noch irgendwas einfallen.

Anna liebt das Schöne und kann ihm nicht widerstehen. Sie hat sich ihr Leben lang elegant gekleidet, war immer Stammkundin bei Friseur und Maniküre und hat es sich auch sonst an nichts fehlen lassen. Und das will sie jetzt im Alter auch nicht.

»So alt bin ich gar nicht«, denkt Anna, während sie den Frühstückstisch abräumt.

Dann ruft sie, wie jeden Tag, ihre Freundin Ursula an. Ursula ist das genaue Gegenteil von Anna.

Ursula hat nie viel Geld gehabt und gelernt, mit dem wenigen sehr sorgsam umzugehen. Nicht wie Anna, die grundsätzlich nie auf ihr Bankkonto schaut, weil sie davon nur Magenschmerzen kriegt.

Manchmal hat Anna verrückte Ideen, um ihr Problem endgültig zu lösen. »Hast du gesehen?«, fragt sie Ursula. »Es gibt schon wieder einen Lotto-Jackpot …«

»Na ja, ich kenne niemanden, der je bei sowas gewonnen hat«, sagt Ursula, die Vernünftige.

»Aber …«, erwidert Anna träumerisch.

»Aber was?«

»Na stell dir vor, wir gewinnen …«

»Wozu brauchen wir so viel Geld?«

»Überleg doch: eine Wohnung in Paris, eine in New York, ein Haus in Sardinien und wir fliegen einfach so hin und her, nur mit der Handtasche, weil alles überall vorhanden ist …«

»Und wer kümmert sich um dein Immobilienimperium, wenn du gerade in New York oder Sardinien bist? Und dann sind immer genau die Kleider und die Bücher und die Cremes, die du brauchst, gerade nicht dort, wo du bist …«

»Du bist so fad!«

»Ja vielleicht, aber ich träume nicht irgendeinen Blödsinn«, antwortet Ursula energisch, und für dieses Mal lässt es Anna dabei bewenden. Auch wenn sie heimlich weiter davon träumt, was sie mit einem großen Geldsegen alles anfangen könnte. Maria würde sie ein Haus kaufen, für Irene eine Wohnung in Wien und Alex könnte jedes Jahr einen tollen Abenteuerurlaub machen.

»Und ich hätte eine Haushälterin, die sich jeden Tag überlegt, was es zu essen gibt, und sich um die Rechnungen kümmert und putzt und bügelt – und ich würde nur tun, was mir Spaß macht …«

Aber leider läutet in diesem Moment das Telefon. Ihr Bankberater macht sie darauf aufmerksam, dass ihr Konto schon wieder bis zum Zerreißen überzogen ist und sie sich etwas einfallen lassen sollte.

Anna bekommt Magenschmerzen und ruft Lilli an. Lilli ist ihre zweite beste Freundin, auch mit ihr telefoniert Anna täglich. Lilli hat zwar ebenfalls immer Geldprobleme, behauptet sie, aber sie nimmt das nicht so schwer wie Anna. Lilli und Ursula mögen sich nicht, aber für Anna sind, seit ihr Mann gestorben ist, beide die wichtigsten Lebensmenschen geworden – was für ein sperriges Wort, denkt sie und verabredet sich mit Lilli zum spazierengehen, weil man ja zurzeit in kein Kaffeehaus oder Restaurant oder gar in ein Kaufhaus zum Geldausgeben gehen kann.

»Das Virus hat uns gerade noch gefehlt«, denkt Anna und wickelt sich in ihren wärmsten Schal. Eigentlich ist es ja noch zu kalt zum spazierengehen, aber irgendwas muss man ja tun in Zeiten des Eingesperrt-Seins.

Heute trifft sie sich lieber mit Lilli – Ursula ist ihr zu vernünftig. Wenn sie sich bei Ursula beschweren würde, dass die Bank ihr schon wieder gedroht hat, würde die ihr nur vorrechnen, wo sie sparen könnte. Da trifft sie lieber Lilli, die genau wie Anna immer dann besonders gern und viel Geld ausgibt, wenn sie keines hat. Mit Lilli kann sie auch viel besser fantasieren, was sie täten, wenn sie im Lotto gewinnen würden.

»Seit alles zu ist, spare ich so viel Geld«, sagt Lilli fröhlich.

»Ich nicht«, brummt Anna wütend.

»Wieso? Man kann doch gerade gar kein Geld ausgeben«, flötet Lilli vergnügt.

»Ich scheine zu können«, brummt Anna noch wütender.

»Komm, wir fahren in den Prater, vielleicht fängt dort schon etwas an zu blühen«, sagt Lilli tröstend.

»Okay«, sagt Anna gnädig, »aber nicht einmal einen Kaffee kann man trinken«, murrt sie dann noch hintennach.

»So ist das Leben«, lacht Lilli.

Als Anna nach dem Spaziergang wieder zu Hause sitzt und sich mit einer Kanne Tee aufwärmt, hat der Traum vom Lotto-Sechser sie noch immer nicht losgelassen. Warum kann sie nicht so viel Geld haben, wie sie gerne hätte? Weil sie keine reichen Eltern hatte, sagt sie sich. Ihr Vater war Arzt, die Mutter Hausfrau, und Anna wuchs mit drei Schwestern sowie der Tante auf, die als unterbezahlte Sekretärin ihr Leben fristete und schon deshalb bei ihnen wohnte, weil sie sich eine eigene Wohnung nicht hätte leisten können.

»Dein Vater ist ein Held«, hat Annas Schulfreund Fredi, mit dem sie in ihrer Jugend eine völlig unverbindliche Beziehung pflegte, einmal gesagt.

»Lebt mit sechs Frauen und dreht nicht durch …«

»Es geht ihm ja auch gut, er wird rundherum verwöhnt und außerdem ist er nie zu Hause …«

»Na klar, bei so vielen Weibern muss er viel verdienen, also viel arbeiten …«

»Du bist blöd und ein Sexist …«, hat Anna Fredi beschimpft und ihm gleich auch noch eine Ohrfeige verpasst.

Fredi hat nur gelacht. Anna war 1,50 groß und dünn wie eine Vogelscheuche, Fredi selbst 1,80 und 100 Kilo schwer. Eine Ohrfeige, wie sie Anna trotzdem gern verteilte, war meistens nicht viel mehr als ein etwas energischeres Streicheln.

Das waren noch Zeiten, denkt Anna und dreht den Fernseher auf. Wenn sehr viele Rechnungen auf ihrem Schreibtisch liegen, geht sie gar nicht erst ins Arbeitszimmer.

Was wohl aus Fredi geworden ist? Irgendwer hat ihr einmal erzählt, dass er später die Evi aus der 3b geheiratet hat, eine dickliche Blonde – ungefähr das genaue Gegenteil von Anna. Sie hätte nie gedacht, dass aus den beiden was hätte werden können. Na ja, denkt sie, wo die Liebe hinfällt. Aber Fredi und Evi waren beide passionierte Computer-Freaks. Fredi hat Anna in Mathematik immer abschreiben lassen, weil sie in diesem Fach eine absolute Null war.

Und deshalb kann ich eben auch nicht mit Geld umgehen, denkt Anna und ist sehr zufrieden mit dieser soeben entdeckten Entschuldigung dafür, dass sie sich kindisch und verantwortungslos benimmt, sobald es um Geld geht. Diese Zufriedenheit begleitet sie in den nächsten Tagen.

Manchmal allerdings überkommt sie große Trauer. Dann denkt sie, dass sie ihren Kindern gar nichts hinterlassen wird. Maria, überlegt sie, braucht nichts, der geht’s gut. Aber Irene, Annas jüngere Tochter, hat, obwohl sie über dreißig ist, immer noch nicht herausgefunden, was sie einmal machen will, »wenn ich groß bin«, sagt sie. Und weil Irene Anna darin so unglaublich ähnlich ist, liebt diese sie ganz besonders – und macht sich besondere Sorgen um sie.

Als Alex der Ältere, Annas Mann, noch gelebt hat, hat er darauf bestanden, ein kleines Sommerhaus mit Garten im Speckgürtel um Wien anzuschaffen. Das war wirklich idyllisch, aber Anna ist einfach weder eine Gärtnerin, noch mag sie einen weiteren Haushalt führen, und alleine hat sie sich dort nie wohl gefühlt. Und da weder Maria, die damals noch keine Kinder hatte, noch Irene große Zuneigung zu dem Häuschen und dem Garten zeigten, hat Anna es nach Alex’ Tod verkauft und den Erlös unter den Töchtern aufgeteilt. Das ist allerdings auch schon eine Weile her …

Doch nun sitzt sie zu Hause und grübelt, mit welchem Geld sie ihren heißersehnten Urlaub am Meer finanzieren wird. Weil ihr bisher immer irgendetwas eingefallen ist, schiebt sie den Gedanken einfach weg und macht sich auf den Weg in den Prater.

»Wir sind einfach für alles zu blöd«, schimpft Lilli, mit der Anna sich auch heute zum Spazierengehen verabredet hat. Wenigstens kostet das nichts … »Wir hätten wenigstens eine Thermoskanne mit Kaffee und ein paar belegte Brote mitnehmen können.«

»Dann gehen wir halt weniger spazieren und fahren zu mir. Du kannst bei mir Kaffee trinken und ich koch uns schnell was«, sagt Anna, der ohnehin schon wieder kalt ist.

»Aber wir wollten doch …«

»Was wir wollen, ist das eine, und was wir machen, das andere«, sagt Anna und lacht.

»Auch wieder wahr«, gibt Lilli klein bei und die Freundinnen marschieren zur U-Bahn.

»Weißt du, die Ursula fährt gerade nicht mit den Öffis«, sagt Anna im Plauderton.

»Blöde Kuh«, knurrt Lilli.

»Sei nicht so gemein, sie findet halt, dass das nicht sicher ist …«

»Dann soll sie eben zu Hause bleiben …«

»Eh. Und außerdem werden wir eh bald geimpft, so alt und krank, wie wir sind«, sagt Anna und kichert.

»Ja, ja, alt und krank und schirch und grau und am besten mit Stock oder Rollator …«

»Also meine Mutter …«, setzt Anna an.

»Deine Mutter war ein Beispiel dafür, wie man am besten alt wird, und hat bis zu ihrem Tod nie einen Stock oder einen Rollator gebraucht …«, leiert Lilli herunter, als hätte sie es auswendig gelernt, »und dabei ist sie hundert geworden, und das sind gute Aussichten, weil du hast ihre Gene und überhaupt …«

»Du bist unausstehlich«, ärgert sich Anna und denkt, dass sie heute vielleicht doch eher mit Ursula hätte spazieren gehen sollen, denn Lilli ist ganz offensichtlich mit dem falschen Fuß aufgestanden.

»Aber mit Geld hat sie genauso wenig umgehen können wie ich«, sagt Anna versöhnlich. Lilli nickt und brummt irgendetwas unter ihrer türkisen Maske, was Anna nicht versteht.

»Was?«, fragt Anna so richtig unhöflich.

»Wie bitte, sagt man«, macht Lilli sich wichtig.

»Ja, Frau Lehrerin«, beißt Anna zurück. »Also so wird das nix – was soll ich kochen?«, fragt sie dann, um auf andere Gedanken zu kommen. Denn Kochen mag sie. Nicht immer und nicht für jeden, aber meistens und vor allem für Lilli, die gerne isst und Annas Küche immer lobt.

»Mach uns Spaghetti, das wärmt so schön«, murmelt Lilli unter ihrer Maske.

»Das ist eine einfache Übung«, erwidert Anna lässig und so sitzen sie wenig später an ihrem Küchentisch vor dem dampfenden Topf mit Pasta »à la Anna«.

»Das schmeckt großartig, was hast du da alles hineingegeben?«

»Ach, ich habe nur improvisiert«, schwindelt Anna stolz. In Wirklichkeit hat sie am Tag davor einen Topf mit Sugo eingefroren, weil die Kinder zum Essen kommen wollten, der kleine Alex aber im letzten Moment hohes Fieber bekommen hat. Das verrät sie Lilli aber nicht.

»Das hast du schon fertig gehabt, gib’s zu«, sagt Lilli, die ihre Freundin zu gut kennt.

»Ja«, gibt Anna zu.

»Gib mir noch einen Löffel«, sagt Lilli und hält ihr den Teller hin.

Später sitzen sie im Wohnzimmer und Lilli liest aus der Zeitung vor.

»Wieder Bankraub in Ottakring. Beute 10 000 Euro.«

»Nicht genug«, murmelt Anna.

»Was heißt, nicht genug?«

»Na, wie weit kommst du schon mit zehntausend Euro?«

»Also meine Schulden könnte ich damit wenigstens bezahlen«, lacht Lilli.

»Aber den armen Deppen haben sie an der nächsten Hausecke erwischt. Er hat gesagt, er hat seine Miete nicht mehr zahlen können und wollte nicht, dass ihm die Kinder weggenommen werden.«

»Schrecklich«, sagt Anna. »Was ist denn das für eine Welt, in der wir leben …«

»Na die, die wir gebaut haben«, sagt Lilli und schmeißt die Zeitung in die Ecke.

»Wie führst du dich denn in meiner Wohnung auf?«, schreit Anna, hebt die Zeitung auf und wirft sie in den Korb für Papierabfälle.

»Sei nicht so pedantisch, du bist ja auch nicht gerade ein Ausbund an Ordnung.«

»Nein, aber ich mag nicht, wenn die Zeitung am Boden herumliegt …«

»Spielen wir eine Partie Canasta?«

»Zu zweit? Geh nein, das ist doch fad …«

Aber dann spielen sie doch und richten währenddessen sämtliche gemeinsamen Freunde aus, die lebenden genauso wie die toten.

Später liegt Anna auf dem Sofa und schaut sich einen kitschigen Liebesfilm im Fernsehen an. Und denkt an den armen Deppen, der eine Bank überfallen hat, um seine Miete zahlen zu können.

»Und was ist, wenn ich delogiert werde, weil ich Gas und Strom für die große Wohnung nicht mehr zahlen kann?«, denkt sie und es wird ihr ein bisschen kalt.

»Ich müsste bei Maria unterkommen. Irene kann sich ja nicht einmal selbst erhalten. Das wäre schrecklich. Maria würde mich hassen und mir das alles ewig vorhalten. Das würde ich nicht aushalten.« Aber so weit wird es doch nicht kommen, denkt sie weiter. Sie hat ja im Grunde mehr als genug zum Leben, sie muss nur versuchen, das Konto nicht zu sehr zu überziehen.

Aber weil ihr der Schreck immer noch in den Knochen sitzt, trifft sie sich am nächsten Tag doch mit Ursula. Die ihr selbstgemachte Marmelade mitbringt und sie damit wieder einmal unauffällig und doch deutlich daran erinnert, dass man ja nicht unbedingt alles kaufen muss, was man gernehat.

Uff. So eine Moralistin, denkt Anna heimlich, bedankt sich aber natürlich überschwänglich. Tatsächlich freut sie sich schon darauf, Ursulas Marmelade zu kosten. Ursula ist nämlich ziemlich fantasievoll bei derlei Unternehmungen. Also beim Marmeladekochen.

Einmal hat sie Himbeeren mit Erdnüssen eingekocht. Nicht sehr erfolgreich. Die Himbeeren wurden dunkelbraun und die Erdnüsse schauten aus wie weiße Würmer.

»Aber geschmeckt hat das gar nicht so schlecht«, sagt Ursula beschwichtigend, als Anna sie daran erinnert.

»Na ja«, meint Anna, »wenn man nicht hingeschaut hat, weil eigentlich hat’s geschmeckt, wie es ausgeschaut hat.«

»Du hast eben keine Fantasie«, erwidert Ursula beleidigt.

Heute treffen sie sich ausnahmsweise nicht im Grünen, sondern in der Stadt. Weil Anna findet, dass es ohnehin nichts bringt, unter kahlen Bäumen zu spazieren.

»Die ausschauen wie Männer mit Glatze«, fügt Ursula hinzu, denn auch sie kennt Anna nur allzugut.

»Genau«, sagt Anna, »dann doch lieber interessante Fassaden. Schau, da zum Beispiel.«

Anna bleibt vor einem Hauseingang stehen. Neben der Türe befindet sich ein großes metallenes Schild, auf dem steht, dass die Bewohner dieses Hauses diese Tafel der Familie Pollak, den einstigen Hausbesitzern, widmen, die von den Nazis deportiert und in Auschwitz ermordet wurden.

Anna ist beeindruckt.

Ursula liest, nickt und putzt sich die Nase.

»Was ist los?«

»Na ja, meistens müssen solche Erinnerungen auf dem Gehsteig vor dem Haus angebracht werden, weil die Hausherren nicht wollen, dass man die Wände ihrer Zinsobjekte mit hässlichen Erinnerungen verschandelt. Das hab ich wirklich irgendwo so gelesen. Ich finde das toll, dass die das hier selbst gemacht haben …«

»Komm, vielleicht gibt’s irgendwo einen Kaffee zum Mitnehmen«, sagt Anna schnell, um abzulenken. Ursula ist in solchen Dingen sehr empfindlich, weil ihr erster Mann Jude war. Seither ist sie immer gleich auf den Barrikaden, wenn es um dieses Thema geht.

Sie hat ihn dann wegen eines Ägypters verlassen, der sie wiederum verlassen hat, weil er zu Hause schon eine Braut hatte. Aber immer noch empfindet sich Ursula als eine Art Ehrenjüdin. Obwohl sie derzeit mit einem Senegalesen namens Ibu lebt, der in Dakar Architektur studiert hat und nun versucht, hier in seinem Beruf Fuß zu fassen. Kennengelernt hatten sich die beiden, als Ibu bei Maria und ihrem Mann ein bisschen aushalf.

Und dieser Ibu ist Moslem. Was niemanden weiter stört. Ihn nicht, weil er nicht besonders religiös ist, und Ursula nicht, weil ihr Judentum ja ein sozusagen angeheiratetes ist. Anna wiederum bewundert Ursula für ihre Freizügigkeit. Und für ihre Fähigkeit, sich verschiedenen Männern mit verschiedenen Vorgeschichten so einfach anzupassen. Denn das tut Ursula. Seit sie mit Ibu zusammenlebt, versteht sie sich als Expertin für Afrika, den Islam und die Ungerechtigkeit in der Welt. Anna geht das ein bisschen auf die Nerven, aber solange man Ursula nicht mit irgendwelchen Fragen provoziert, ist sie durchaus auszuhalten. Und für Anna ist sie genauso wichtig wie Lilli.

Lilli ist so ziemlich das Gegenteil von Ursula. Sie sagt von sich selbst, dass sie oberflächlich sei.

In Wirklichkeit ist sie eine begabte Sängerin, die es aber in ihrem Beruf nie wirklich an die Spitze geschafft hat. Nicht, weil sie nicht gut genug gewesen wäre, sondern weil sie gerne und häufig in wichtigen Momenten falsche Entscheidungen getroffen hat. Die sie keineswegs bereut.

Eine dieser Entscheidungen heißt Julius, ist inzwischen 35 und Lillis höchstes Glück.

»Der einzige Mann, den ich wirklich ernsthaft und herzlich liebe«, sagt Lilli über ihren Sohn, den sie bekommen hat, obwohl der dazugehörige Vater sich gleich nach der Nachricht von der Schwangerschaft aus dem Staub gemacht und Lilli selbst deshalb auf eine vielversprechende Karriere an der Oper in Sidney verzichtet hat. Denn als klar wurde, dass sie eine alleinerziehende Mutter sein würde, hat sie beschlossen, vor der Geburt doch lieber nach Wien zurückzukehren, wo zumindest ihr Vater und ihre beste Freundin Anna lebten.

Danach hat sie sich und Julius als Gesangslehrerin durchgebracht und hie und da mit einigem Erfolg Konzerte gegeben. Vor allem, wenn Lilli mit Liedern von Hans Eisler oder Kurt Weill auftritt, sind Anna und Ursula immer zur Stelle. Aber wirklich leben konnte Lilli davon nie. Doch dass sie Julius zur Welt gebracht hat, hat Lilli trotz aller Schwierigkeiten nie bedauert. Der ist inzwischen als Pianist ein sehr viel erfolgreicherer Musiker, als es seine Mutter je war. Nur hat er leider beschlossen, den Spuren seines verantwortungslosen Vaters zu folgen, und feiert jetzt auf der anderen Seite der Welt Erfolge, von denen Lilli regelmäßig Fotos und Zeitungsausschnitte bekommt. Viel mehr nicht. Aber Lilli ist zufrieden damit, dass Julius sein Leben in den Griff bekommen hat, und findet, alles sei schon richtig so, wie es ist. Julius ruft sie auch von Zeit zu Zeit an und alle paar Jahre kommt er zu Besuch, wenn er wieder einmal eine Tournee durch Europa absolviert. Lilli sitzt dann im Konzerthaus in der ersten Reihe, hört seinem Klavierspiel zu und ist glücklich. Anna hat sie mehrmals begleitet und dann immer das Gefühl gehabt, als sei Julius auch ein bisschen ihr Sohn. Die Freundinnen sind danach mit stolzgeschwellter Brust in die Künstlergarderobe geeilt und haben sich gefreut, weil der 1,90 große Julius sich zu ihnen hinunterbeugte, um sie zu küssen.

Aber.

Julius interessiert sich kaum für das Leben seiner Mutter in Wien, von dem er annimmt, dass es so läuft, wie es immer gelaufen ist. Lilli hat ihre finanziellen Probleme immer fein säuberlich vor ihm geheimgehalten und tut das auch jetzt.

»Meine Miete ist wieder erhöht worden«, seufzt Lilli ein paar Wochen später, als sie wieder im Kaffeehaus sitzen dürfen und sich eigentlich darüber freuen.

»Wie kann das sein?«, fragt Anna empört, die das Glück hat, in einer Eigentumswohnung zu leben, die ihr Mann vor Jahrzehnten gekauft hat.

»Weiß nicht«, sagt Lilli. »Bald muss ich mich unter der Brücke einrichten.«

»Na, bevor das passiert, kannst du bei mir einziehen«, sagt Anna und denkt zur gleichen Zeit, dass das vielleicht gar nicht so angenehm wäre. Denn sie ist ziemlich froh, allein zu leben.

Wenn Lilli bei ihr einzöge, könnte sie nicht mehr den ganzen Tag im Nachthemd herumlungern und sich kitschige Serien im Fernsehen anschauen, wann immer ihr danach zu Mute wäre. Und essen, wenn sie Hunger hat – eben auch Frühstück um sechs Uhr nachmittags.

Lilli – die chaotische Künstlerin, wie Anna und Ursula sie immer heimlich genannt haben und das nicht ganz ohne Neid – ist in Wahrheit eine »sehr strukturierte Person«. Diese Beschreibung stammt von Annas Friseur Josef, zu dem sie Lilli manchmal mitnimmt, wenn deren grau-schwarze Locken schon beginnen, ihr Gesicht zuzudecken. Lilli kann sich Josef nicht leisten, aber Anna schenkt ihr hie und da eben einen Gutschein. Meistens tut sie so, als hätte sie ihn selbst geschenkt bekommen.

Josef also behauptet, Lilli sei eine sehr strukturierte Person. Woher er das wissen will, hat Anna bisher nicht herausgefunden. Aber sollte das stimmen – und Anna vertraut Josefs Menschenkenntnis vorbehaltlos –, dann wäre ein Zusammenleben wahrscheinlich ziemlich unerträglich.

»Wie können die einfach die Miete erhöhen?«, fragt sie Lilli noch einmal, aber die sagt, dass sie keine Ahnung habe, dass ihr die Wohnung aber ohnehin auf die Nerven gehe und sie vorhabe, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen.

»Brrrrr«, sagt Anna darauf. »Stell dir vor – wie in alten Zeiten darum streiten, wer wann ins Bad darf und wer mit Geschirrwaschen dran ist – entsetzlich …«

In ihrer Jugend haben Anna und Lilli einmal ein paar Monate mit ihren damaligen Freunden in einer großen Wohngemeinschaft gelebt. Beide hatten sich in zwei gerade sehr angesagte Folk-Musiker ohne Geld verliebt. Also zogen sie zu viert in besagte Wohngemeinschaft, in der auch noch ein glückloser Pianist mit seiner schwangeren Frau, ein Volksschullehrer in seinem Probejahr und ein Psychologiestudent lebten. Insbesondere der Psychologiestudent Paul machte Lilli und Anna damals mit seinen Lehrbuchweisheiten wahnsinnig. Aber vor allem Anna litt unter der verdreckten Badewanne und dem ewigen Streit ums Kochen, Einkaufen und Aufräumen. Lilli schien das damals ziemlich egal zu sein, so viel zur »sehr strukturierten Person«. Sie verbrachte aber auch die meiste Zeit mit dem Folk-Gitarristen im Bett. Was Anna so gar nicht verstand, zumal ihre Liebe zu Ludwig, dem Folk-Sänger, bald erkaltete. Wenig später traf sie Alex und zog direkt zu ihm in die Wohnung, die er später kaufte, in der Irene und Maria aufgewachsen sind und in der Anna noch immer lebt.

Ein paar Wochen später bringt Lilli ihre Freundin Erika mit zu Anna. Eigentlich haben sie sich zum Kartenspielen verabredet, aber, sagt Lilli, das sei zu zweit ohnehin nicht so prickelnd, und Ursula, die auch dabei sein sollte, hat im letzten Moment abgesagt, weil Ibu sie in ein Trommelkonzert eingeladen hat.

»Wenn sie was Besseres vorhat …«, sagt Lilli spitz zu Anna am Telefon.

»Du bist so blöd.« Anna ärgert sich über Ursula, aber auch über Lilli.

»Wenn ihr das eine Freude macht, dann ist das doch ihr gutes Recht! Karten spielen mit uns kann sie immer …«

»Ja, ja«, gibt Lilli zu. »Du, darf ich meine neue Freundin Erika mitbringen?«

»Du darfst – wenn sie geimpft ist. Und wenn sie mir unsympathisch ist, schmeiß ich euch hinaus«, sagt Anna und lacht.

»Jö, das ist aber hübsch, ist das neu?«, fragt Lilli und streicht bewundernd über den Ärmel von Annas Seidenkleid.

»Ja, war im Ausverkauf, ganz billig«, sagt Anna ein bisschen verschämt, weil sie Lilli und Ursula ja seit Wochen mit ihren Geldproblemen in den Ohren liegt.

»Schön haben Sie es hier«, lobt Erika und durchbricht damit das ein bisschen peinliche Schweigen.

»Ja, nicht wahr?«, erklärt Lilli. »Die Anna ist so ein Glückspilz. Ihr Mann hat die Wohnung gekauft und mit seinem Erbe haben sie sich die Wohnung so eingerichtet, wie sie es gebraucht haben.«

»Das ist toll, gratuliere Ihnen«, sagt Erika höflich, und Anna fragt sie, ob sie sich nicht duzen wollen, wo Erika doch mit Lilli befreundet ist und Lilli wiederum fast so etwas wie eine Schwester.

»Gern«, erwidert Erika.

Ein paar Tage später gibt es einen Rundruf von Anna.

»Ich halt das nicht mehr aus«, teilt sie Lilli entnervt mit und wenige Stunden später auch Ursula. »Ich sitz zu Hause und tue gar nichts und trotzdem hab ich kein Geld!«

Die Freundinnen sind ratlos.

»Kommt zu mir«, sagt Anna kurzentschlossen, und obwohl gerade Ursula so ihre Zweifel hat, stimmen letztlich beide zu, weil sie sich genauso einsam fühlen wie Anna.

Ich komm mir vor wie aus der Zeit gefallen, denkt Anna und findet diesen Satz sehr poetisch. »Nichts freut mich, nichts interessiert mich«, sagt sie später, als sie mit den Freundinnen bei weit offenen Fenstern trotz ziemlich einstelliger Temperaturen in ihrem Wohnzimmer sitzt.

Ursula besteht aber darauf, dass die Fenster offenbleiben, schließlich seien sie alle »schon nicht mehr taufrisch« und gehörten somit zur höchsten Risikogruppe.

»Hurra, ich bin eine Risikogruppe«, kichert Lilli und dreht sich im Kreis.

»Dummes Huhn!«

»Also hörst du? Ich bin wirklich eine Risikogruppe, ich hab zu hohen Blutdruck und eine nicht funktionierende Schilddrüse. Ich hab im Internet gelesen, dass das sehr gefährlich ist, wenn ich mich anstecke. Also bitte!«

»Alte Frauen im Internet«, murmelt Anna und grinst.

»Obwohl erfrieren auch nicht gerade ungefährlich ist«, gibt Lilli etwas leiser zu bedenken.

»Zieht euch halt noch einen Pullover an«, sagt Ursula streng.

»Ich komme mir vor wie aus der Zeit gefallen«, sagt Anna mit Drama in der Stimme.

»He – du bist unter die Dichter gegangen …«, ruft Lilli fröhlich, aber Ursula rümpft missbilligend die Nase.

»Das hast du irgendwo gelesen«, sagt sie zu Anna, die enttäuscht dreinschaut und dann zugeben muss, dass ihr dieser schöne Satz tatsächlich nicht selbst eingefallen sein dürfte.

»Das Entscheidende ist doch nicht, ob ich das selbst erfunden hab. Das Entscheidende ist, dass ich mich so fühle!«

Die drei schauen sich an.

»Irgendwas muss passieren!«, sagt Lilli energisch. »So geht das nicht weiter!«

»Was eigentlich?«, fragt Ursula.

»Vor allem unsere Geldprobleme!«, sagt Anna bestimmt.

»Und diese komische Stimmung, wo man jeden erst fragen muss, ob er getestet ist, bevor man ihn in die Wohnung lässt«, fügt Lilli hinzu.

»Also mir geht’s gut«, sagt Ursula. »Ich bin so froh, dass ich nichts zu tun hab. Ich sitz zu Hause und koche ein bisserl für mich und den Ibu. Und der putzt die Wohnung und baut mir gerade ein schönes neues Bücherregal. Legt euch halt Partner zu, dann geht’s euch gleich besser.«

»Woher nehmen und nicht stehlen«, murmelt Lilli und schaut traurig.

»Also mir können die alle gestohlen bleiben«, sagt Anna bestimmt.

»Und außerdem ist das auch keine Lösung! Dein Ibu hat noch weniger Geld als ich, also wozu dann? Und außerdem: Seit wir alle geimpft sind, sind wir auch nicht mehr so eingesperrt …«

Tatsächlich sind die Freundinnen erleichtert, sich wieder im Kaffeehaus treffen zu können. Vielleicht würde Lilli auch bald wieder ein Konzert geben dürfen. Doch Anna tröstet sich über das unbestimmte Gefühl einer weiterhin präsenten Gefahr hinweg, indem sie einkauft. Computerspiele für Alex, Kleider für sich, Schmuck für die Töchter. Nichts davon ist notwendig, aber es beruhigt sie, obwohl sie weiß, dass ihre Kaufsucht fatal ist.

Lilli hatte eine weitere Mieterhöhung erhalten und begann ernsthaft, nach einem Untermietzimmer zu suchen, weil sie sich ihre Wohnung bald nicht mehr würde leisten können. Ursula und Ibu saßen zu Hause und hatten Sorgen wegen Ibus Aufenthaltsgenehmigung. Das ist der Stand der Dinge, als Lilli eines Tages »eine Sitzung« einberuft. So nennen die Freundinnen seit Jahren ihre Treffen, wenn es Ernsthaftes zu besprechen gibt.

»Ich bring die Erika mit«, teilt Lilli so nebenbei am Telefon mit.

»Aha?«, sagt Anna, die nicht sicher ist, ob Lilli vielleicht im zarten Alter von 69 plötzlich lesbisch geworden ist. Na und wenn, denkt sie dann bei sich, wenn es ihr gut geht …

Aber so ganz wohl fühlt sie sich trotzdem nicht bei dem Gedanken, Lilli könnte jetzt plötzlich eine Partnerin gefunden haben. »Und ich bin allein«, denkt Anna und gibt dem Foto von Alex, das neben ihrem Sofa auf dem Tischchen im Wohnzimmer thront, einen kleinen Kuss.

»Aber ich bin ja nicht allein. Ich hab ja die Kinder …«

»Also ich werde demnächst unter der Brücke hausen müssen«, eröffnet Lilli »die Sitzung«, nachdem sich alle bei Anna getroffen, Kaffee getrunken und die großartigen Kuchen aufgegessen haben, die Anna nicht selbst gebacken, sondern beim Bäcker um die Ecke gekauft hat.

»Aber geh, nein, bevor du unter die Brücke ziehst, kommst du zu mir«, rufen Anna und Ursula wie aus einem Mund. Anna, die es überhaupt nicht mag, wenn jemand bei ihr wohnt, und sogar froh ist, dass ihre Töchter eigene Wohnungen haben und am Abend wieder gehen, wenn sie sie besucht haben.

Und Ursula, die mit Ibu auf fünfzig Quadratmetern haust und sich mit Lilli eigentlich nicht besonders versteht …

»Keine Sorge«, sagt Lilli, die mit ihrem dramatischen Auftritt sehr zufrieden ist. »Keine Sorge, denn Erika und ich haben eine Lösung gefunden!«

»Ja«, erklärt Erika leise, »ich geh in drei Monaten in Pension und weiß schon jetzt, dass ich mit dem, was ich dann monatlich krieg, nicht auskommen werde. Und ich wohne in einer Wohnung, die groß genug ist. Also hab ich Lilli angeboten, zu mir zu ziehen. Wir eröffnen eine Alters-WG!« Erika lacht.

Anna fällt ein Stein vom Herzen. Zum einen, weil das doch keine lesbische Geschichte ist, die dann womöglich mit Heulen und Zähneknirschen endet, und zum anderen, weil sie Lilli nicht bei sich aufnehmen muss.

»Wieso kriegst du so wenig Pension?«, fragt Ursula, die Praktische.

»Tja, so ist das eben. Ich war Volksschullehrerin und da verdient man nicht besonders viel, und deshalb kriegt man dann eben noch viel weniger Pension. Obwohl wir die sind, die dafür sorgen sollen, dass die nächste Generation anständig, gescheit und tolerant wird. Aber viel Geld ist das keinem wert«, sagt Erika und zuckt mit den Achseln.

»Wie blöd ist das denn?«, sagt Anna empört, obwohl das für keine von ihnen wirklich überraschend ist.

»Kurz und gut: Ich gebe meine Wohnung auf und zieh bei der Erika ein. Und weil ich dort nicht so viel Platz haben werde wie bei mir jetzt, werde ich demnächst einen Flohmarkt veranstalten, und dazu brauch ich eure Hilfe, weil sowas hab ich noch nie gemacht!«

Einen Flohmarkt veranstalten? Anna ist begeistert, bis ihr klar wird, dass sie dabei nicht als genussvoll schlendernde Liebhaberin von »Vintage«-Dingen zu Gast ist, sondern als die funktionieren soll, die Lillis Zeug anpreist.

»Oje, dafür bin ich gar nicht geeignet«, sagt sie deshalb kleinlaut.

»Also Ibu und ich helfen dir natürlich«, meint Ursula, die Lilli nicht besonders mag, weshalb es ihr gar nicht schwerfällt, sich mit der Idee anzufreunden, Lillis persönliche Sachen zu verscherbeln.

»Wo und wann?«, fragt sie dann, weil sie doch die Praktische ist.

»Keine Ahnung, so bald wie möglich, weil ich das Geld für die Übersiedlung brauchen kann!«

»Kann dein Sohn dir nicht helfen?«, fragt Erika. »Nicht, dass ich einen Rückzieher machen will, aber der könnte dir doch Geld für die Übersiedlung schicken …«

»So weit kommt’s noch, dass ich mir vom Julius Geld fürs Übersiedeln schicken lasse. Der braucht das, was er verdient, selbst – er wird nämlich –Trommelwirbel – endlich Vater! Hurra«, ruft Lilli stolz.

»Super, gratuliere, das ist ja eine wunderbare Nachricht. Wann ist es so weit? Fährst du dann hin?«, fragt Anna begeistert.

»Spinnst du? Wie soll ich mir denn einen Flug nach Australien leisten?«, fragt Lilli traurig. »Wir skypen und er wird mir viele Fotos schicken und irgendwann, wenn der Pamperletsch bissi größer ist, bringt er ihn dann einmal mit!«

»Pamperletsch – das hab ich schon lang nicht mehr gehört«, sagt Erika begeistert. »So ein hübsches Wort!«

»Na, ich weiß nicht«, sagt Ursula, »das klingt irgendwie ein bisserl abwertend.«

»Sei doch nicht so todernst«, erwidert Anna und stößt Ursula unter dem Tisch. »Pamperletsch ist doch lieb gemeint …«

»Also jedenfalls zieh ich bei der Erika ein«, sagt Lilli entschlossen und die nickt bestätigend mit dem Kopf.

»Wir machen eine Einweihungsparty, wenn es so weit ist«, sagt sie und lacht.

»Aber ihr kennt euch doch gar nicht …«, meint Ursula und schüttelt missbilligend den Kopf.

»Gut genug, um zu wissen, dass wir beide kein Geld haben«, sagt Lilli fröhlich.

»Aber was ist, wenn ihr euch nach zwei Wochen furchtbar auf die Nerven geht?«, fragt Ursula immer noch skeptisch.

»Dann geht jede in ihr Zimmer und macht die Türe zu«, sagt Erika leichthin, und Anna denkt, dass Lilli und Erika ganz gut zusammenpassen.

Später am Abend, auf dem Sofa liegend, schaut sich Anna eine wirklich blöde Quizsendung an und denkt plötzlich, dass sie das nicht könnte. Mit jemandem, den sie kaum kennt, zusammenziehen.

Da müsste ich mich so anpassen, da könnte ich ja nicht einmal mehr zu Hause so sein, wie ich bin. Für mich ist die Wohnung der Ort, wo ich loslassen kann, aber wenn ich bei jemandem wohnen müsste, dann wäre ich nie so richtig entspannt.

Aber, denkt Anna später, während sie sich die Zähne putzt, vielleicht sind die zwei gar nicht so unterschiedlich … Also beneiden tu ich die Lilli jedenfalls nicht. Obwohl … heute ist schon wieder eine Mahnung von der Bank gekommen, weil das Konto so überzogen ist.

Ich geh morgen und spiel Lotto. Vielleicht hilft’s ja und auf die paar Groschen kommt’s auch nicht mehr an. Mit diesem Beschluss schläft Anna beruhigt ein.

Lillis Flohmarkt wird ein großer Spaß. Finden die Freundinnen. Sogar Ursula unterhält sich prächtig. Sie ist eine geborene Verkäuferin und entwickelt großen Ehrgeiz beim Anpreisen von Lillis Nippes und Kleidern. Zur Sicherheit haben sie den Flohmarkt in den Garten vor Lillis bisherigem Wohnhaus verlegt.

Anna thront auf Lillis altem Schaukelstuhl – »der passt nicht in das Zimmer bei Erika und im Wohnzimmer steht eh einer« – und beobachtet die anderen. Es kommen vor allem Freundinnen von Lilli und Erika, und die meisten auch nur zum Tratschen, nicht zum Kaufen. Aber auch wenn sich alle prächtig amüsiert haben, müssen die Freundinnen am Abend feststellen, dass wenig verkauft wurde und noch weniger Geld in die kleine Kasse geflossen ist.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Anna in die Runde, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

»Also, zuerst sucht ihr euch jede etwas aus. Und den Rest stell ich einfach auf Willhaben«, meint Lilli sorglos.

»Aber du brauchst doch das Geld«, sagt Ursula streng.

»Was ist schon Geld?«, fragt Lilli und zuckt mit den Achseln.

»Kann ich den Schaukelstuhl haben?«, fragt Anna und schämt sich ein bisschen. »Dann bleibt er für dich bei mir stehen«, fügt sie schnell wie als Entschuldigung hinzu.

»Nein«, sagt Ursula energisch, »der bringt sicher viel Geld, das die Lilli braucht. Nimm dir was Kleines, was nix bringen würde!«

»Schade«, sagt Anna. »Aber du hast natürlich recht. Den musst du um viel Geld verkaufen!«

»Das Ganze geht mir so auf die Nerven«, murmelt Lilli nun doch niedergeschlagen und setzt sich auf besagten Schaukelstuhl, von dem Anna gerade aufgestanden ist. »Warum kann ich nicht reich sein?«

»Frag ich mich auch die ganze Zeit«, sagt Anna.

»Wir waren zu blöd und jetzt ist es zu spät«, beschließt Ursula resignierend und dieses Mal gibt ihr sogar Lilli recht.

»Wir müssen uns was ausdenken, womit wir zu sehr viel Geld kommen, und dann schmeißen wir uns an einen Strand in der Karibik und vergessen alles rundherum«, sagt Anna.

»Gute Idee, aber was?«, fragt Ursula.

»Ich kann stricken«, sagt Erika leise.

»Na, das ist doch schon ein Anfang«, sagt Anna gut gelaunt.

»Ich kann häkeln«, steuert Ursula bei, und Anna erinnert sich, dass sie eine Zeit lang Taschen genäht hat.

»Na bitte, wir machen einen ›Pop-up-Store‹ mit Gestricktem, Gehäkeltem und Genähtem«, sagt Ursula.

»Was ist ein Pop-up?«, fragt Lilli erstaunt.

»Na sowas, was auf einmal da ist und dann wieder weg …«, erklärt Ursula etwas vage.

»Und damit werden wir reich?«, fragt Lilli.

»Weiß ich doch nicht, aber versuchen könnten wir’s!«, erwidert Ursula missmutig.

»Ich bin dafür, was kann schon passieren?«

»Na gut, und wo verkaufen wir das dann?«, fragt Erika.

»Auf den verschiedenen Flohmärkten«, sagt Anna, »das wird eine Hetz!«

»Also ich weiß nicht, muss man da nicht irgendeine Bewilligung haben?«, fragt Ursula besorgt, die ihre eigene Idee vom Pop-up schon wieder selbst in Frage stellt.

»Aber geh, auf einem Flohmarkt kann doch jeder verkaufen, was er will …«, sagt Lilli sorglos.