One Last Dance - Nicole Böhm - E-Book
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Nicole Böhm

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Beschreibung

Gillian wollte schon immer nur eines: Tänzerin werden. Doch nun vertritt sie ihren kranken Vater als Rektorin der renommierten New York Music & Stage Academy. Ihr Leben scheint vorgezeichnet, für große Träume gibt es darin keinen Platz mehr. Dann läuft ihr eines Tages Jaz über den Weg - ein junger Streetdancer, bettelarm, aber mit unglaublichem Talent - und sie erkennt, dass es nie zu spät ist, für seine Träume zu kämpfen.

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Seitenzahl: 550

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MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2021 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Covergestaltung: Alexander Kopainski Coverabbildung: donatas1205, Bokeh Blur, OoddySmile Studio, SWEviL, jannoon028, Saibarakova Ilona, sersupervector / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745752151

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WIDMUNG

Für die beste und einzigartige Squad, die immer hinter mir steht. Danke an die PJs: Alex, Anabelle, Ava, Bianca, Jesus, Klaudia, Laura, Marie, Nina, Tami. Irgendwann können wir auch mal nach New York.

1. GILLIAN

1.
GILLIAN

Es irritierte mich nach wie vor zutiefst, wenn Menschen Angst vor mir hatten.

Ehe ich den Job als Leiterin der New York Music & Stage Academy angetreten hatte, war ich aufgrund meiner blonden Haare und der zierlichen Figur eher herablassend belächelt als ernst genommen worden. Wenn ich früher zu meinem Vater ins Büro gekommen war, während er ein Meeting durchführte, hatten seine Gäste erst mal Kaffee bei mir bestellt, weil sie davon ausgegangen waren, ich sei die Assistentin. Es war daher nicht leicht gewesen, als ich unfreiwillig das Ruder der NYMSA in die Hand hatte nehmen müssen, aber ich hatte mich im letzten Jahr etabliert und ganz offensichtlich zu einer Frau entwickelt, vor der man sich in Acht nehmen musste. Zumindest deutete Roberts Verhalten darauf hin.

Seine braunen kurz geschnittenen Haare klebten an seinem Kopf, weil er ständig mit der Hand darüberfuhr. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, war blass, und die Wangen waren eingefallen. Seine Finger zitterten, und seine Stimme bebte. Vermutlich alterte er gerade um fünf Jahre, während er vor Nervosität auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch hin und her rutschte.

»Robert, bitte entspann dich«, sagte ich und warf eine Aspirin in mein Wasserglas auf dem Tisch. Das war die zweite Tablette, die ich heute Morgen brauchte. Ich hätte es gestern ruhiger angehen lassen sollen, aber ich war auf der After-Show-Party zum ersten Geburtstag der aktuellen Broadway-Hit-Show Dance Till Midnight eingeladen gewesen. Ein Event, das ich mir unmöglich hätte entgehen lassen können, zumal ich Ende der Woche ein Interview mit den beiden Hauptdarstellern auf broadway.com führen würde.

Gut, den dritten Cocktail hätte ich wohl nicht trinken sollen, aber meine beiden Freundinnen Renée und Maureen waren da gewesen, und wir hatten uns viel zu erzählen gehabt, nachdem Renée endlich von ihren Dreharbeiten für ihre neue Netflixserie und Maureen von der National Tour von Phantom of the Opera zurückgekehrt war. Eins hatte zum anderen geführt, und schon hatte ich mehr Alkohol intus gehabt, als mir guttat.

Ich sah der Aspirin zu, die sich langsam auflöste, und stand auf. Vielleicht fiel es Robert leichter, wenn ich mich zu ihm setzte, statt wie der Boss hinter dem Tisch zu lauern. Eine Rolle, in die ich eher unfreiwillig geschlüpft war, aber nun auszufüllen hatte, bis mein Dad dem Krebs gezeigt hatte, dass sich ein Preston Blair von nichts unterkriegen ließ! Dann könnte er wieder im Chefsessel hocken und dieses millionenschwere Unternehmen leiten. Nicht, dass es mir nicht gefiel, hier zu sein. Ich liebte die Schule und würde alles dafür tun, dass sie vorankam, aber ich sah mich nicht als Frau an der Spitze. Da gehörte Dad hin.

Natürlich würde ich ihn weiter unterstützen, aber ich wollte lieber im Hintergrund bleiben, ins Showbiz abtauchen, neue Stars für den Unterricht gewinnen, netzwerken, mich mit anderen austauschen und innovative Konzepte für die Schule entwickeln. Meinen eigentlichen Traum, Tänzerin zu werden, hatte ich als Teenager schmerzlich begraben müssen und mich mittlerweile damit abgefunden.

»I-ich bin entspannt«, sagte Robert und riss mich aus meinen Gedanken. »Hab, glaub ich, Fieber, mir geht es seit gestern Abend nicht so gut, aber ich wollte mich nicht krankmelden.«

Er tupfte sich zum x-ten Mal den Schweiß von der Stirn, während ich um den Tisch herumging, mir einen Stuhl neben ihm schnappte und mich zu ihm setzte. Mit einem sehnsüchtigen Blick sah ich auf das Wasserglas, in dem sich die Aspirin aufgelöst hatte, aber erst würde ich mich hierum kümmern, ehe ich meinen Kopfschmerzen den Garaus machte.

Robert war einer der Ersten, die vor sieben Jahren von Dad hier in New York eingestellt worden waren, und seither führte er die Buchhaltung der Schule. Er war gewissenhaft und gründlich und hatte uns bisher nicht einmal enttäuscht. Aber seit Kurzem stimmte irgendwas nicht mit ihm.

»Die Zwillinge sind krank, und Margery ist noch bei ihrer Mutter, weil diese ja den Schlaganfall hatte. Mein Bruder ist mit schweren Depressionen in eine Klinik eingeliefert worden. Ich bin ein wenig … es ist viel gerade.«

»Das mit deinem Bruder hast du gar nicht erzählt.«

»Er hat vor zwei Wochen versucht, sich das Leben zu nehmen, jetzt ist er in Behandlung.«

»Mein Gott, das tut mir leid!« Ich hatte keine Ahnung! Das Pochen in meinem Kopf verstärkte sich, und ich hatte das Gefühl, dass sich gleich der Boden auftun und mich verschlingen könnte.

Dieses Gespräch lief nicht gut. Ich konnte doch nicht mit Robert ins Gericht gehen, wenn er so viel Ärger hatte. Aber wir könnten die Dinge auch nicht so weiterlaufen lassen. Wir steuerten auf einen Abgrund zu.

Ich zog den Stuhl näher an ihn heran und legte eine Hand auf sein Knie. Er zuckte zusammen, als fürchtete er, dass ich ihn schlagen wollte. Sofort lächelte ich ihn milde an, in der Hoffnung, dass er sich entspannte.

»Ich … ich kann mir dieses Minus nicht erklären«, fuhr er fort. »Ich habe die Überweisung an Chris Stevens’ Management letzte Woche getätigt. Ich habe alles gecheckt. Wirklich!«

»Es war ein Zahlendreher in der IBAN«, sagte ich. »Deshalb ist das Geld nicht angekommen.« Zum dritten Mal.

»Aber das ist unmöglich! Du weißt, wie gewissenhaft ich arbeite.«

»Ja.« Normalerweise tat er das. »Chris’ Manager hat uns abgesagt, wir brauchen einen anderen Lehrer für die Masterclass im Sommer.«

»Das kann doch nicht sein!«

»Leider ja.« Und es war eine Katastrophe. Chris Stevens war ein heiß begehrter Schauspieler. Seit der Oscarnominierung im letzten Jahr und dem Welterfolg seines letzten Films ging seine Karriere steil bergauf. Er war jung, sexy und sehr charmant. Die Schüler, die bei der Lehrerauswahl der Masterclasses ein Stimmrecht hatten, katapultierten ihn auf Platz eins der Wunschkandidaten. Wir hatten den Deal quasi im Sack gehabt, aber dann tauchten Probleme auf. Die erste Überweisung seiner Gage war schiefgegangen und kam zurück. Das Management hatte uns netterweise eine Frist gegeben, doch auch die zweite Zahlung ging nicht ein, und nun war auch die dritte geplatzt. Ich hatte gestern ein zweistündiges Telefonat mit Chris’ Manager geführt, der mir mitteilen musste, dass er den Termin nun anderweitig vergeben hatte. So lief das nun mal im Showbiz. Entweder man rannte vorne mit oder man stolperte hinterher.

Robert schwitzte noch stärker, nasse Flecken hatten sich unter seinen Achseln gebildet.

Aber ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Robert hatte als leitender Buchhalter die Verantwortung für alle Konten. Vor einem Monat stand der Gerichtsvollzieher bei uns, weil Robert vergessen hatte, eine Mahnung der Sanitärfirma zu bezahlen. Unsere Wasserleitungen mussten dringend ausgetauscht werden, was wir über die Winterpause hatten erledigen wollen, aber durch die Verzögerung waren die Arbeiten nicht fertig geworden. Nun mussten wir einen Eilzuschlag zahlen, hingen immer noch hinterher, und in zwei Wochen ging das Semester los. Die Schule war bald voll mit Studenten, und ich konnte den zweiten Stock nur zur Hälfte nutzen.

»Es kam auch eine Mahnung vom Finanzamt.« Ich wollte ihn nicht weiter quälen, aber ich konnte es auch nicht für mich behalten. »Du wolltest doch die Steuerzahlung veranlassen.«

»Ich … Oh Gott, ja, das hab ich getan.«

Ich griff nach den vorbereiteten Papieren auf meinem Schreibtisch und reichte sie an Robert. »Hast du nicht.«

»Was?!« Er zitterte stärker, nahm mir die Unterlagen ab und öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Hastig studierte er die Mahnung. Sein Mund klappte auf, schloss sich wieder. »D-das ist absolut unmöglich, Gillian. Wirklich.«

»Es steht da aber. Schwarz auf weiß.«

Die letzte Steuerprüfung hatte ergeben, dass wir das gesamte letzte Jahr zu wenig gezahlt hatten, und das forderten sie nun logischerweise nach. Die Summe war astronomisch hoch. Mir wurde jedes Mal schwindelig, wenn ich sie sah.

»Ich habe alles mit Paul zusammen abgestimmt«, stotterte Robert. »Er … ich habe die Zahlen von ihm und …«

»Mit Paul hab ich schon gesprochen und auch alles nachgeprüft, er hat keinen Fehler gemacht«, sagte ich. Paul und Katherine waren die beiden anderen Buchhalter, die Robert seit drei Jahren tatkräftig unterstützten.

»Aber wie …? D-das geht doch nicht!«

»Nein.« Und ich musste hier den Schlussstrich ziehen. Wir hatten Glück, denn Dad hatte sich immer gut mit dem Sachbearbeiter beim Finanzamt verstanden. Er hatte uns eine großzügige Frist zur Rückzahlung eingeräumt und die Mahngebühren halbiert, dennoch würde es ein gigantisches Loch in unsere Kasse reißen, zumal wir den Schaden, den Robert in den letzten Monaten verursacht hatte, ja auch begleichen mussten. Ich hatte viel zu lange gewartet, aber ich hatte Robert auch nicht zu sehr unter Druck setzen wollen, weil ich wusste, wie schlimm es bei ihm zu Hause lief.

»Ich verspreche, dass ich besser aufpassen werde, Gillian«, sagte er nun. »Margery kommt bestimmt bald zurück, ich finde einen zweiten Babysitter, arbeite hier länger und bereinige alle Fehler. Ich kann das.«

»Ich fürchte, nicht.«

»Aber du …«

Ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ich schätze dich, doch du musst zuerst deine privaten Probleme in den Griff bekommen. Du wirst mit sofortiger Wirkung freigestellt.«

»Du feuerst mich?«

»Nein. Ich möchte, dass du Zeit hast, alles daheim zu regeln, und sobald es besser wird, können wir noch mal reden. Bis dahin kann ich dich nicht länger diese Verantwortung tragen lassen. Paul übernimmt deinen Posten und …«

»Paul ist …« Roberts Lippen bebten, er ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte sichtlich um seine Fassung. »Ich liebe diesen Job.«

»Ich weiß. Deshalb schmeiß ich dich auch nicht raus, sondern gebe dir diese Chance. Nutze sie.«

Robert schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Ich … ich weiß nicht, ob ich … was ist mit meinem Gehalt? Ich brauche doch …«

Gott, warum muss das so schwer sein? »Du hast ja noch Urlaub übrig. Ich würde vorschlagen, wir zahlen ihn dir aus, du kommst erst mal zur Ruhe und überlegst, wie es weitergehen soll. Wir reden noch mal, wenn es dir besser geht, mh?«

Er schluckte hart, wischte sich über die Augen, und mir zog es das Herz zusammen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich sein Leben ruinieren.

»Ich kann dich wirklich nicht länger bei der NYMSA arbeiten lassen, so leid es mir tut.«

»Ich verstehe das.«

Tat er das? Ich verstand es ja nicht mal. Steuererklärungen, Mahnbescheide, kaputte Wasserleitungen, marode Decken – die NYMSA stellte sich zurzeit wie ein bockiges Pferd auf die Hinterbeine und bäumte sich gegen mich auf. Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich es wieder zähmen konnte.

Wäre ich eine bessere Chefin, hätte ich das früher gemerkt. Dad wäre das nie passiert.

Doch auch mein Kopf war mehr bei meinem Vater und seinem Gesundheitszustand als bei der Schule gewesen, weshalb ich Robert sehr gut verstand. Wenn es der eigenen Familie nicht gut ging, schlauchte das.

Ich erhob mich. Robert verstand die Aufforderung und tat es mir nach. Er legte die Papiere des Finanzprüfers zurück auf den Tisch, fuhr sich noch mal durch die Haare und nickte. »Ich … es tut mir leid, Gillian. Ich wollte der Schule nie schaden.«

»Das weiß ich. Wirklich.«

»Gut.«

»Bitte grüß Margery, und lass mich wissen, wenn ich irgendwas für euch tun kann. Auch für deinen Bruder alles Gute.«

»Mach ich. Danke. Oder so.« Er lief zur Tür.

Ich richtete den Rock meines Kostüms – bei der Arbeit war ich meist elegant angezogen – und blickte ihm nach. Meine Seele brannte, als er nach der Klinke griff und immer noch zitterte, als wäre er soeben der Hölle entstiegen.

»Es tut mir wirklich leid«, flüsterte er kaum hörbar.

»Ich weiß. Bitte pass auf dich auf.«

»Du auch.«

Robert verließ mein Büro, und ich blieb mit meinem hämmernden Schädel und den Bergen aus Schulden und Sorgen zurück. Das war nun meine Aufgabe, nicht mehr seine. Ich musste eine Lösung hierfür finden und mir überlegen, woher wir das Geld nehmen könnten, um unsere Schulden beim Finanzamt zu begleichen. Dazu die regulären Ausgaben für Lehrer, Miete, Strom und all der Kram.

Leise seufzte ich, rieb mir über die schmerzende Stirn und nahm mir endlich das Glas mit der Aspirin. Ich kippte es in raschen Zügen runter und blickte mich in meinem Büro um.

Mein Arbeitsplatz bei der NYMSA war schön, wenn auch nicht ganz so gemütlich eingerichtet, wie er sein könnte, aber irgendwie hatte ich mich noch nicht richtig getraut, ihn wohnlicher zu gestalten. Das Büro war nicht das größte im Gebäude, denn das stand meinem Dad zu, und ich würde den Teufel tun und es beziehen, denn das hieße, dass er nicht zurückkehren würde. Ich lief zur Glasfront, die auf die Straße zeigte und aus mehreren kleinen Fenstern bestand, von denen man eine Reihe kippen konnte. Die NYMSA war in einer ehemaligen Fabrik untergebracht, was man hier und da noch erkannte. Hohe Decken, diese schönen kachelartigen Loftfenster, unverbaute Stahlträger … Ich trat näher ans Glas und schloss für einen Moment die Augen. Durch das gekippte Fenster strömten die New Yorker Luft und der Lärm herein. Ich lauschte den Geräuschen der Stadt, und sofort löste sich etwas in mir. Autos hupten, Leute unterhielten sich, irgendwo schrillte eine Sirene, und dazwischen zwitscherten die Vögel. Es roch nach Abgasen, nach einem Rest Winter und einem Hauch Frühling. Die eine Jahreszeit hatte sich noch nicht richtig verabschiedet, und die andere war noch nicht bereit, sich zu zeigen. Diesen Wechsel fand ich immer recht spannend, wobei ich ihn in meiner Geburtsstadt L. A. intensiver wahrgenommen hatte als hier in New York.

Auf einmal erklang ein Klopfen, und die Tür ging auf.

»Schnupperst du wieder New York?«, fragte Bradley. Allein seine Stimme sorgte dafür, dass ich mich ruhiger fühlte. Bradley war eigentlich die rechte Hand meines Dads und hatte die letzten Jahre gemeinsam mit ihm diese Schule aufgebaut. Wir beide hatten uns von Anfang an großartig verstanden und über die Jahre hinweg eine sehr intensive Freundschaft entwickelt.

»Ja«, sagte ich, ohne mich umzudrehen.

Er lachte leise und trat ein. »Ich kenne keinen, der das Stadtleben so sehr genießt wie du.«

Ich schmunzelte.

»Irgendwann nehm ich dich mit auf den Appalachian Trail, damit du mal merkst, wie gut echte Luft ist.«

»Das hier ist echte Luft, und ich habe keine Lust auf Krabbelviecher in meinem Schlafsack.«

»Das mit dem Käfer ist mir nur einmal passiert.«

»Er hat dir in den Oberschenkel gezwickt, und du konntest zwei Monate nicht richtig laufen!«

»Nur weil es sich entzündet hat, das war ein dummer Zufall. In New York kann dir viel mehr passieren.«

»Ich weiß.« Man konnte zum Beispiel, ohne es zu wollen, das Leben eines Mannes ruinieren und ihm seinen Job wegnehmen.

»Wie lief es denn mit Robert?«

»Ging so«, sagte ich und drehte mich zu Bradley um. Er trug wie immer legere Kleidung, heute waren es Jeans mit einem Loch am Knie, ein weißes Shirt, das locker seinen Körper umschmeichelte, und natürlich seine Lederarmbänder, die er nie abnahm. Seine blonden Haare hatte er so lang wachsen lassen, dass er sie zu einem kleinen Dutt am Hinterkopf zusammenfassen konnte, wie es im Moment in war. Dazu der Undercut, die gebräunte Haut und die stechend blauen Augen – Bradley strahlte mit seinem Äußeren Lebensfreude und Leichtigkeit aus. Ich hatte ihn nicht ein Mal schlecht gelaunt erlebt, egal wie hektisch es wurde. Er war nur drei Jahre älter als ich, aber so viel weiser.

»Du hast das Richtige getan«, sagte er und ließ sich auf der Tischkante nieder.

»Ich weiß, aber es ist dennoch nicht leicht. Wo soll ich all das Geld hernehmen?«

»Ich habe die Bücher geprüft, und es wird in der Tat schwierig.« Er hob eine Mappe an, die er in der Hand gehalten hatte. Mein Signal, dass diese kleine Auszeit am Fenster vorüber war.

Ich schloss es wieder und lief zurück zu meinem Arbeitsplatz. Zum Glück wirkte die Tablette langsam, und mein Kopf fühlte sich schon freier an.

Bradley wechselte von der Tischkante zu dem Stuhl, auf dem Robert eben noch gesessen hatte, klappte die Mappe auf und legte ein paar Blätter bereit. »Wir haben zwar Rücklagen, aber schon die Anzahlung für die Renovierung des Theaters geleistet, und wir wollten ja das Studio im Zweiten ausbauen, sodass wir einen weiteren Aufnahmeraum haben.«

»Das müssen wir wohl verschieben, auch wenn wir den Raum dringend brauchen. Wir sind so voll wie nie.« Mehr Schüler hieß zwar mehr Einnahmen, aber auch mehr Personal, was wiederum mehr kostete.

»Und die Warteliste hat sich auf zwei Jahre ausgedehnt«, sagte Bradley.

»Wir wachsen einfach viel zu schnell.«

»Das ist doch gut.«

Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte das Gefühl, von allem überrollt zu werden. So schön der Erfolg auch war: Wir mussten aufpassen, dass uns die NYMSA nicht unter sich begrub. Sofort fiel mir Karlas Spruch von früher ein, wenn ich im Ballettunterricht zu viel zu schnell gewollt hatte.

Kind, sei wie eine Eiche. Wachse langsam und beständig und jedes Mal nur um ein kleines Stück. So baust du dir ein gutes Fundament, auf dem du sicher stehen wirst. Nicht hetzen. Nur fühlen. Und atmen.

Mein Herz zog sich zusammen, als ich an meine frühere Lehrerin dachte, und ich musste den Kloß herunterschlucken, der sich dabei jedes Mal in meinem Hals bildete.

»Wenn wir jetzt mehr Gas geben«, fuhr Bradley fort, »können wir bald ein zweites Gebäude für die NYMSA mieten. Wir könnten die Tanzsparte weiter ausbauen, eigene Studios aufmachen und so mehr Bereiche abdecken. Außerdem könnten wir die Schauspielräume um ein kleines Filmset erweitern …« Bradley redete weiter über seine Vision für die Schule. Es hörte sich gut und vielleicht auch richtig an, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich mit jedem Wort unter sich begrub. Ich teilte seine Träume, aber ich hatte keine Ahnung, wie wir sie umsetzen könnten. Sosehr ich diese Schule liebte, im Moment erdrückte sie mich.

Auf einmal kehrte Stille ein, und ich blickte auf.

»Mh? Rede weiter«, sagte ich. »Ich höre zu.«

»Tust du nicht. Du bist völlig am Ende.«

»Ich … tut mir leid.« Ich rieb mir übers Gesicht und stieß ein lautes Seufzen aus. »Manchmal denke ich, dass Dad doch besser Mateo oder Katie die Schule hätte übertragen sollen.« Meine Halbgeschwister waren viel älter und erfahrener als ich. Katie leitete eine sehr angesagte Castingagentur in L. A., und Mateo war als Produzent dick im Geschäft.

»Damit sie auch das zerstören?«, fragte Bradley. »Ich finde der Teil der Familie hat genug ruiniert.«

»Da kam vieles von ihrer Mutter.« Dads Ex Grace hatte ihm das Leben lange zur Hölle gemacht, indem sie ihn durch das Drecksloch Scheidung in Hollywood zerrte. Mittlerweile hatte ich kaum Kontakt zu meinen Halbgeschwistern und zu Grace sowieso nicht. Sie war schließlich nicht meine Mutter. »Ich habe ihnen noch immer nicht erzählt, wie es um Dad steht.« Katie und Mateo lebten auf der anderen Seite des Landes und hatten keine Ahnung, dass ihr Vater krank war.

»Es ist ja auch nicht einfach.«

»Nein, aber sie haben ein Recht darauf zu erfahren, dass er Krebs hat, auch wenn sie sich seit Jahren nicht bei ihm gemeldet haben.«

»Das machst du aber nicht heute, und wir werden uns auch nicht länger über dieses Thema unterhalten.« Bradley klappte die Mappe zu, stand auf und lief um den Tisch herum zu mir. »Es reicht.« Er griff nach meiner Hand und half mir hoch. »Du machst ne Pause.«

»Aber ich habe erst vor zwei Stunden angefangen zu arbeiten.«

»Egal. Ich kümmere mich um die Sachen.«

»Ich kann doch nicht immer alles auf dich abwälzen.«

»Doch. Du kannst, und ich mache es gern. Geh ins Bistro und lass dir von Riley eine ihrer Spezialkaffeemischungen machen, solange sie wieder für uns arbeitet.«

»Macht sich wenigstens dieser Nachfolger gut?«

»Ja. Martin gibt sich Mühe, und mit Riley an seiner Seite fällt es ihm leicht, sich einzuarbeiten. Ich bin zuversichtlich, dass es dieses Mal klappt, sonst müssen wir sie einfach wieder zurückholen.«

Falls sie das überhaupt wollte, wenn sie an der NYMSA studierte. »Ich bekomme überhaupt nichts mehr mit.«

»Das ist in Ordnung, dafür hast du mich.« Er hielt noch immer meine Hand fest, während er mich sanft, aber bestimmt zur Tür schob. Bradleys Finger fühlten sich warm an. Er rieb mit dem Daumen über meine Haut und schenkte mir so mehr von seiner Ruhe.

»Mein Fels in der Brandung.«

An der Tür blieb er stehen, lächelte mich an und legte die andere Hand auch noch über meine. Sachte hob er meine Finger an seine Lippen und hauchte einen ganz leichten Kuss darauf. »Immer gerne, Gillian.«

Sein Atem streifte über meine Haut, und ich gab ein leises Seufzen von mir.

»Jetzt raus mit dir.« Bradley öffnete und schob mich raus.

»Das ist mein Büro, aus dem du mich wirfst.«

»Ich weiß. Wir reden nachher weiter, oder noch besser: Nimm dir den Tag frei.«

»Sicher nicht.«

Bradley rollte mit den Augen und trat einen Schritt zurück. »Ich sperr dich einfach aus.«

Ich gab ihm einen Klaps gegen die Brust. Er schnaubte nur leise, und ich lächelte ihn ein letztes Mal dankbar an. »Ohne dich wäre ich längst durchgedreht.«

Er reichte mir meine Handtasche, die ich auf die Kommode gestellt hatte. »Erhol dich.«

Und dann machte er die Tür zu und sperrte mich tatsächlich aus meinem Büro aus. Ich schüttelte den Kopf, musste aber schmunzeln, weil er recht hatte.

Wie meistens.

Ich hängte mir die Tasche über die Schulter und lief zu den Treppen. Noch war es ruhig in der Schule, weil kein regulärer Unterricht stattfand. Es kamen zwar stets ein paar Studenten her, um zu üben, aber im Großen und Ganzen herrschte um diese Jahreszeit eine wundervolle Stille in der NYMSA, die ich schon immer sehr gemocht hatte. Sie fühlte sich wie die Ruhe vor dem Sturm an, wie das Warten, bis eine Show startete. Dieser heilige Moment, wenn die Lichter im Saal ausgingen, die Gespräche verstummten und alle darauf lauerten, dass sich der Vorhang hob.

Genauso ging es mir in diesen Zeiten.

Ich kam an die Treppe und spähte nach oben in den vierten Stock. Die NYMSA war wie ein L gebaut. Am langen Ende waren der Eingang, das Bistro und als Abschluss an der kurzen Seite das hauseigene Theater. Unter uns im zweiten lagen die Musikstudios, im ersten alle Schauspielräume, und über mir war das, was mich am meisten anzog und zugleich auch am meisten abstieß: der Tanzbereich.

Wenn es voll war und alle übten, konnte man sogar hier unten an der Treppe ein leichtes Beben spüren. Sehnsüchtig blickte ich nach oben, und wie so oft zog sich dabei mein Herz zusammen.

Früher war das Tanzen mein Leben gewesen. Mein Ein und Alles, meine Zufluchtsstätte, meine Energiequelle. Ich hatte mit sechs Jahren das erste Mal Ballettschuhe angezogen und im Tanzstudio mein Zuhause gefunden. Nicht zuletzt dank meiner Ballettlehrerin Karla. Sie hatte mir alles gegeben, was ich zu Hause nie gefunden hatte, sie war meine Zufluchtsstätte gewesen, meine Heimat, meine …

Ein leises Geräusch ließ mich zusammenzucken. Oben hatte jemand geflucht. Ich betrat die Treppe und blickte hoch zu Studio zwei, wo die Tür offen stand.

Das leise Kratzen von Schuhen verriet mir, dass jemand übte. Ich ging die restlichen Stufen hinauf und trat näher an das Studio. All unsere Proberäume hatten Fenster in den Türen, sodass man hineinsehen konnte, ob gerade geübt wurde, ehe man eintrat.

Drinnen tanzte Valeria, unsere neue Lehrerin. Sie drehte gerade eine perfekte Pirouette und vollendete die Pose mit ausgestreckten Armen. Ihr Gesicht verzog sich, weil sie anscheinend nicht ganz zufrieden mit ihrer Leistung gewesen war. Sie ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf. Als sie in den Spiegel blickte, bemerkte sie mich und winkte mir zu. Da es nicht so aussehen sollte, als hätte ich heimlich gespickt, winkte ich zurück und trat ins Studio. Ich blieb jedoch am Rand stehen, weil niemand mit Straßenschuhen auf den Tanzboden durfte.

»Wie läuft es?«, fragte ich sie.

»Nicht gut.« Ihr russischer Akzent verlieh ihrer Stimme eine gewisse Härte, aber auch Tiefe. »Meine Tendus sind steif und meine Pirouetten eiern, als hätte ich Gleichgewichtsstörungen.«

Ich schmunzelte und nickte nur. Tänzerinnen wie sie waren selten mit ihrer Leistung zufrieden, und ich würde es niemals wagen und ihr sagen, dass sie großartig ausgesehen hatte. Sie legte eine andere Messlatte an.

»Im Bolschoi-Ballett wäre ich dafür hochkant aus der Probe geflogen.«

»Du bist aber nicht bei Bolschoi, sondern an der NYMSA, worüber ich sehr froh bin, im Übrigen.«

»Ich konnte wenig trainieren wegen des Umzugs«, fuhr sie fort, als müsste sie sich vor mir rechtfertigen.

»Das versteh ich. Sei bitte nicht so streng mit dir.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Spiegel an. Valeria hatte die typische Figur einer Primaballerina. Dünn, sehnig, muskulös. Sie wirkte wie ein zerbrechliches Geschöpf, in dem gleichzeitig unheimlich viel Kraft steckte.

»Ich bin schon besser geworden«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Vor zwei Jahren hätte ich nun geprobt bis zum Umfallen, aber mein Körper gibt das nicht mehr her. Ich merke es jeden Tag stärker.«

Dabei war sie erst Anfang dreißig.

»Was macht denn das Knie?«, fragte ich.

»Hält.« Sie rieb sich über die Stelle, an der sie sich im letzten Sommer verletzt hatte. Das Ende ihrer Profikarriere. Manchmal passierte das. »Ich freue mich übrigens sehr, hier zu sein. Danke für die Chance.«

»Wir müssen uns bei dir bedanken. Es ist toll, dass du unterrichten wirst.« Tänzerinnen wie Valeria waren Juwelen. Sie hatte auf allen wichtigen Bühnen dieser Welt getanzt, unfassbar viel Erfahrung und galt als absolutes Ausnahmetalent. Es war eine Schande, dass sie nicht mehr so tanzen konnte, wie sie wollte, aber dafür hatten wir nun eine Weltklasselehrerin mehr an der Schule.

Die einen Weltklasselohn erhielt.

Mir wurde kurz schwindelig, als ich wieder an die Bilanzen der Schule dachte.

»Ich habe gelesen, dass du auch getanzt hast«, sagte Valeria und wandte sich nun zu mir um, um mir direkt ins Gesicht zu schauen.

Ich winkte ab. »Nicht annähernd so wie du. Ich war nie gut genug für die große Bühne, aber ich habe es immer geliebt, da zu stehen.« Ich zeigte auf die Holzstange vor dem Spiegel. »Es hat mir gutgetan.«

»Du redest in der Vergangenheitsform, das heißt, du liebst es jetzt nicht mehr?«

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich keine bessere Antwort darauf wusste und weil es zu sehr schmerzte, darüber nachzudenken. Wenn ich aber ehrlich zu mir war, dann liebte ich das Tanzen immer noch. Ich spürte es jedes Mal, wenn ich an einem der Tanzsäle vorbeilief. Wenn ich hörte wie die Studenten sich im Takt der Musik bewegten, wenn ich den Anweisungen der Lehrer lauschte und es in mir kribbelte, ihnen zu folgen. Bis wieder die Erinnerung daran zurückkam, was ich verloren hatte, und alles in mir dicht machte.

»Ah«, machte Valeria, als hätte sie eben etwas Wichtiges begriffen. »Der Virus hat dich noch im Griff. Du redest dir nur ein, dass du es nicht bräuchtest.«

»Ich …«

»Das ist in Ordnung«, sagte sie und zog sich eine Strickjacke über, um nicht auszukühlen. »Ich kenne viele Tänzer, die sich der Liebe für das hier verwehren wollen.« Sie zeigte um sich herum. »Aber früher oder später wird es dich einholen, glaub mir.«

Ich seufzte und nickte. Dieses Gespräch driftete in eine Richtung, die mir gar nicht recht war. »Ich muss leider weiter. Wenn du noch irgendwas brauchst, sag Bradley oder mir Bescheid. Unsere Türen stehen dir offen.«

»Natürlich.« Sie schmunzelte, weil sie genau wusste, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte und ich mich deswegen zurückzog. »Das kann ich nur zurückgeben. Wenn ich dir helfen kann, sag gerne Bescheid.«

»Mach ich.«

Mit einem Grummeln im Bauch wandte ich mich ab und überließ Valeria wieder ihren Trainingseinheiten. Ihre Hilfe war lieb gemeint, aber ich bezweifelte, dass ich sie je annehmen würde. Eine Weltklassetänzerin wie sie und … ich, die seit Jahren keine Ballettstange mehr angefasst hatte, zumindest nicht zum Tanzen.

Es war okay. Das gehörte nicht mehr zu meinem Leben, und es war gut so.

Ich lief die Treppen hinunter, grüßte eine kleine Gruppe an Schülern, die gerade in einem der Schauspielstudios verschwand, und betrat schließlich das Bistro.

Riley hatte einiges verändert in der kurzen Zeit, in der sie für uns gearbeitet hatte. Die Außenwand und die Tür hatten einen neuen Anstrich bekommen, was bitter nötig gewesen war. Die Getränke- und Essensautomaten waren weitläufiger in der Schule verteilt worden. So hatte Riley zwar längere Wege zum Auffüllen, aber für die Studenten war es angenehmer, weil sich nicht mehr alles an einem Ort staute. Auch innen war neu gestrichen, die Tische umgeräumt, die Dekoration angepasst worden. Das Bistro war vorher schon wundervoll gewesen, aber durch Riley hatte es mehr Harmonie gewonnen. Alles wirkte nun wie aus einem Guss.

Ich betrat ihr Reich und blickte mich um. Sie stand mit dem Rücken zu mir am Tresen und notierte etwas in ein Heft. Als sie die Türglocke hörte, blickte sie sich um und lächelte mich an.

»Hi, Gillian. So früh hätte ich dich gar nicht erwartet.«

»Ich brauche eine Pause.«

Als ich Riley kennengelernt hatte, war alles sehr wild zugegangen. Wir hatten kurz vor den Masterclasses gestanden, mir hatte Personal gefehlt, Ethan wäre fast an einer Überdosis gestorben, und sie hatte uns alle gerettet. Ohne Riley wäre an diesem Tag so einiges schiefgelaufen, und ich war ihr für immer dankbar, auch wenn sie das nicht gerne hörte.

Ich nahm auf einem der Hocker vor der Bar Platz. Das Bistro war leer, aber das würde sich schon bald ändern, wenn das Semester losging und alle in Scharen einfallen würden.

»Wie immer?«, fragte sie und wollte sich schon daranmachen, mir meinen üblichen Latte zuzubereiten.

»Nein, überrasch mich. Irgendwas Süßes mit viel Energy.«

»Harter Tag?«

»Hartes Leben.«

Sie seufzte leise und nickte. Riley hatte selbst genügend mitgemacht in den letzten Jahren und wusste, wie es in diesem Geschäft zugehen konnte, doch sie hatte sich durchgebissen und verwirklichte nun ihre Träume. Schritt für Schritt, genau wie es sein sollte.

Wie eine Eiche. Langsam und beständig. Nicht hetzen. Nur fühlen. Und atmen.

Ich spähte auf die Unterlagen, in die sie eben noch vertieft gewesen war, während sie mir mein Getränk zubereitete. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie sich Sachen für den bald startenden Unterricht notierte, aber es sah eher nach Buchhaltung aus. »Was machst du?«

»Ich bringe das Inventar des Bistros auf Vordermann.« Sie schäumte rasch Milch auf und wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war, ehe sie weitersprach. »Dachte, wenn mein Nachfolger kommt, hat er es so leichter.«

Die roten Zahlen und Striche sahen allerdings nicht so aus, als wäre alles in Ordnung. Ich drehte die Unterlagen herum, da es ja um etwas ging, was die Schule betraf, und sah mir ihre Notizen an. »Seit wann ist die Spülmaschine kaputt?«

»Seit zwei Wochen. Ich hab es Bradley gemeldet, der es auch schon an den Hausmeister weitergegeben hat.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Hat er gar nicht gesagt.« Oder hatte er es gesagt, und ich hatte es wieder vergessen?

»Bradley meinte, dass er erst noch warten müsse, bis die Wasserleitungen repariert wären, sonst würde die neue Maschine auch gleich kaputt gehen.«

»Das ist im Moment überall so. Wir arbeiten schon dran.«

»Hab ich mitbekommen.«

»Hak bei solchen Sachen noch mal bei mir nach. Ich hoffe, du hast nicht alles per Hand gespült.«

»Es war ja zum Glück nicht viel, weil kaum was los ist, aber wenn das Semester anfängt, muss wirklich ein Ersatz her.«

»Ich kläre das mit der Sanitärfirma. Sie sollen es priorisieren.«

»Danke. Und so ungern ich das auch sage, aber wir brauchen vermutlich auch bald eine neue Zapfanlage für die Softdrinks. Letzte Woche hat es einen Rückstoß in der Wasserzufuhr gegeben, und einige Ventile sind geplatzt. Das Ding wird es nicht mehr lange machen, wenn der große Ansturm kommt.«

Ich rieb mir übers Gesicht und nickte. Das waren alles keine riesigen Summen, die wir investieren mussten, aber auch diese Kleinigkeiten läpperten sich. Unsere maroden Leitungen machten uns wirklich zu schaffen, und so wie sich das alles auftürmte, fürchtete ich, dass noch mehr kaputt gehen würde.

»Ich kümmere mich.« Ich zückte mein Handy und nahm Bradley rasch eine Sprachnachricht auf, um ihn über alles zu informieren. Riley machte in der Zeit mein Getränk fertig und stellte mir ein nach Karamell duftenden Kaffee mit wunderschön drapiertem Milchschaum vor die Nase. Im To-go-Becher, weil ich nie bei ihr im Bistro verweilte, aber heute hatte ich das erste Mal das Bedürfnis, genau das zu tun. Ich wollte mich auf eine der Bänke da drüben in die Ecke fläzen und so tun, als müsste ich nicht den ganzen Laden schmeißen.

»Ist alles klar bei dir?«, fragte Riley zaghaft.

»Nicht wirklich«, gab ich wahrheitsgemäß zurück.

»Kann ich irgendwas tun?«

Ich schmunzelte und verzog das Gesicht. Es war nicht Rileys Aufgabe, irgendwas für mich zu tun. Bald würde sie unsere Schülerin in der Musicalsparte sein, und ich war … die Frau, die alles irgendwie zusammenhielt. Ich war nur ein Jahr älter als Riley, aber mir kam es vor, als wären es zehn. Mein Körper war steif von der Schreibtischarbeit. Ich hatte seit Monaten keinen Sport mehr getrieben, schlief nicht länger als vier Stunden jede Nacht. Wenn ich nicht hier war, fuhr ich zu Dad in die Hamptons. Ich ertrank im Papierkrieg und hatte das Gefühl, dass alles über mir zusammenkrachte.

»Danke«, sagte ich und nahm mir meinen Becher. »Geht schon.« Sosehr ich mir auch wünschte, mir all das von der Seele reden zu können, hier war nicht der richtige Ort und Riley nicht die richtige Ansprechpartnerin. Ich trank einen Schluck und überlegte, was ich tun könnte, um ein wenig abzuschalten. Einen weiteren Abend wie gestern mit Renée und Maureen würde ich nicht noch mal überleben, außerdem hatte Renée heute Probe für eine Gala, die sie am Wochenende moderierte, und Maureen wollte sich mit ein paar Leuten aus ihrem Ensemble treffen. Sicherlich könnte ich mich dort anschließen, aber ich vermutete, dass es wieder feuchtfröhlich zugehen würde, und mir wurde schon beim Gedanken an Alkohol übel.

Ich ging weiter die Menschen durch, die ich in New York kannte und mit denen ich etwas unternehmen könnte. Viele arbeiteten selbst im Showbiz und hatten Vorstellungen am Abend. Sie lebten ihr Leben außerhalb meiner Arbeitszeiten, und das hatte mich in den letzten Monaten einiges an Kontakten einbüßen lassen.

Rileys Telefon klingelte. Sie sah mich entschuldigend an, aber ich hatte kein Problem damit, dass sie während ihrer Arbeitszeit telefonierte, denn sie war eine der gewissenhaftesten Personen, die ich kannte.

»Jules, hey«, sagte sie leise. »Ich kann gerade nicht.«

Sofort flutete Wärme mein Herz. »Tu dir bitte keinen Zwang an«, sagte ich. Julian Sloan war einer der wenigen, die von Dads Zustand wussten. Ich hatte ihm in einem Moment der Schwäche davon erzählt. Weil er da gewesen war und weil er einer der Menschen war, die immer Verständnis für mich hatten. Er war wie ein Bruder für mich. »Sag ihm bitte liebe Grüße von mir.«

Riley lächelte und gab weiter, dass ich bei ihr im Bistro saß.

»Ja, richte ich ihr aus«, sagte sie und schmunzelte. Ihre Wangen färbten sich leicht rot, und sie kicherte leise. Ein Geräusch, das ich sehr selten von ihr hörte, aber es stand ihr gut.

Ich schnappte mir mein Getränk, packte einen Deckel drauf und lief zur Tür. »Wann kommt die Band eigentlich zurück in die Stadt?«, fragte ich, ehe ich rausging.

»Heute Abend!«, sagte Riley freudestrahlend.

Ich nickte und verließ das Bistro. Beyond Sanity war schon lange ein Teil meines Lebens. Nicht nur mit Julian hegte ich ein inniges Verhältnis, sondern auch mit Ethan. Wobei ich mit ihm Dinge getan hatte, die ich mit Julian nie tun würde.

Ethan war ein Vulkan, der sehr heftig explodieren konnte. Er war feurig, man konnte sich an ihm die Finger verbrennen, und vielleicht war er genau das, was ich heute Abend brauchte …

2. JAZ

2.
JAZ

Der Schweiß tropfte mir von den Schläfen und rann über meinen Rücken. Mein Shirt klebte an mir, obwohl es nur knapp über null Grad hatte. Meine Muskeln brannten, meine Arme zitterten, aber ich drehte mich weiter und weiter, machte einen einfachen Salto und landete sicher auf den Füßen, ehe ich in einer Rückwärtsbewegung im Takt von BTS’ Mic Drop herumschwang und mich zum Finale vorarbeitete.

Die kalte Luft strömte über meinen erhitzten Körper, und mein Atem tanzte vor meinem Gesicht. Leider blieb trotz meiner Anstrengungen und der neuen Choreo, die ich mir ausgedacht hatte, kaum jemand stehen. Dieses verdammte Märzwetter ging mir auf die Nerven und schadete dem Geschäft.

Ich machte eine letzte Drehung und endete dann in meiner finalen Pose mit ausgestreckten Armen. Schmerz schoss mir durch den rechten Ellbogen, und ich musste mir auf die Lippen beißen, um mir nichts anmerken zu lassen.

Ein Pärchen schenkte mir leisen Applaus, und zwei andere Typen nickten anerkennend. Sie kramten in ihren Taschen nach Geld, während ich die Arme sinken ließ und nach Atem rang. Es wurde bereits dunkel, aber ich hatte heute noch einen letzten Auftritt vor mir. Vermutlich würde er mir nicht viel bringen, weil zu wenig los war, aber es war besser, als zu Hause zu frieren. Die paar Kröten, die dadurch noch reinkämen, würden mir morgen über den Tag helfen.

Die Typen und das Paar warfen zwei Geldscheine in meine Tasche, die vor mir offen bereitlag, nickten mir zu und verabschiedeten sich dann. Ich dankte ihnen kurz, schnappte mir meinen Sweater, tupfte den Schweiß von der Stirn und zählte meine Ausbeute durch. Acht Dollar und dreiunddreißig Cent. Ich hasste es zwar, wenn Leute ihr Kleingeld bei mir abluden, aber nun ja, besser als nichts.

Ich zog die Nase hoch und packte rasch alles zusammen, ehe ich zu sehr auskühlte. Es reichte schon, dass mein Ellbogen muckte und es mir bis in den Oberarm zog. Diese dämliche Verletzung wollte einfach nicht richtig abheilen, obwohl sie schon zwei Monate alt war.

Es dauerte nicht lange, bis ich die kleine Musikanlage in der Tasche verstaut hatte, mich warm genug eingepackt und ein letztes Mal gecheckt hatte, ob ich nichts vergaß.

»Nette Show, Jaz«, rief Sven mir zu. Er stand hinter seinem Würstchenstand, rieb sich die Hände warm und nickte dem Kunden zu, den er gerade versorgt hatte.

»Danke«, sagte ich und lief zu ihm. Der Geruch der Hot Dogs und warmen Brezeln stieg mir in die Nase und trieb mir das Wasser im Mund zusammen. Ich rechnete schnell im Kopf durch, ob ich mir etwas leisten konnte, aber mit den acht Dollar von heute stand ich aktuell bei einundzwanzig siebzig. Das Geschäft lief schlecht. Morgen war Dienstag, einer der schwächsten Tage der Woche, genau wie Mittwoch. Ich zog noch mal die Nase hoch und blickte sehnsüchtig auf das Essen, das ich mir heute sparen musste.

Sven verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Manchmal gab er mir was ab, aber er musste am Ende des Tages alles genau durchzählen und bei seinem Boss abliefern. Zwar könnte er einen gewissen Verlust abschreiben, aber ich war nicht der Einzige, der Hunger hatte, und vermutlich hatte er heute schon dem einen oder anderen ausgeholfen.

»Ich muss weiter«, sagte ich, um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, mir doch noch etwas anbieten zu müssen.

Sven nickte erleichtert und winkte mir hinterher.

Ich verließ den Central Park und lief Downtown. Heute Abend wollte ich noch rüber nach Brooklyn und unter der Bridge tanzen. Dort an der Subwaystation war um diese Zeit immer viel los, wenn die Leute nach Hause gingen und die Linie wechseln mussten. Vermutlich würde ich knapp zehn Dollar verdienen können. Nur ein paar Kröten, aber besser, als nichts zu tun.

Ich zog den Kopf ein, schulterte die Tasche fester und lief an den Passanten vorbei, die ihre letzten Besorgungen machten. Der Tag heute war unspektakulär gewesen. Die Touristenzeit hatte noch nicht begonnen, es gab keine wichtigen Feiertage, das Wetter war seit einer Woche trüb, und viele hatten schlechte Laune.

Februar, meist noch der März, definitiv der November. Das waren meine schlechtesten Monate im Jahr, die ich irgendwie überstehen musste und in denen ich oft mehr tanzte als in der restlichen Zeit des Jahres, einfach, um etwas bessere Ausbeute zu haben. Im Grunde störte mich das nicht, und ich kam gut mit der extra Belastung klar, aber mein Ellbogen machte mir Sorgen. Erst hatte ich letzten Sommer in diesen beschissenen Nagel gefasst, der sich in meine Handinnenfläche gebohrt hatte, was sich natürlich sofort entzündete, dann war ich vor zwei Monaten bei einem Salto so blöd aufgekommen, dass ich mir den Ellbogen aufgeschlagen hatte. Seither war das Gelenk geschwollen und fühlte sich oft heiß an.

Im letzten halben Jahr hatte ich mehr Verletzungen gehabt als in den acht Jahren zuvor, und das sorgte mich. Auf der Straße sagte man, dass diese Kleinigkeiten der Anfang vom Ende waren, und ich verstand, was damit gemeint war. Die Entzündung in der Hand hatte ein heftiges Loch in meine Ersparnisse gerissen, weil ich sie hatte behandeln lassen müssen. Mein Kumpel Blade wäre vor einem Jahr fast an einer Blutvergiftung hops gegangen, weil er einen kleinen Schnitt nicht ernst genug genommen hatte. Hinterher hatte es ihn mehr gekostet, als wenn er gleich zum Arzt gegangen wäre. Vermutlich sollte ich den Ellbogen auch checken lassen, ehe es schlimmer wurde oder versteifte …

Mein Handy klingelte, und ich angelte es aus der Tasche. Es war Blade.

»Hey, alles klar, Mann?«, fragte ich.

»Yep. Wollte checken, was du treibst.«

»Bin am Central Park und gehe jetzt rüber nach Brooklyn. Letzter Gig für heute.«

»Läuft was?«

»Nee.«

»Dachte ich mir. Das Wetter ist zu beschissen. Wenn du willst, komm zu uns. Wir hängen ab.«

Abhängen hieß Volldröhnen.

»Pearl hat Frozen Sugar aufgetrieben. Haut gut rein.«

Frozen Sugar war irgendeine neue beschissene Droge, die sie sich gerade alle reinzogen. Keine Ahnung, was in das Zeug gepanscht wurde, und ich hatte auch nicht vor, es herauszufinden. »Du weißt doch, dass ich nichts nehme.«

»Ja, du Langweiler! Ich frage dich trotzdem. Kann ja sein, dass du vernünftig wirst.«

»Ich verzichte auch heute, aber danke fürs Angebot.«

»Irgendwann sagst du Ja, glaub mir.«

Damit hatte er vermutlich nicht unrecht.

Blade lebte seit fünfzehn Jahren auf der Straße und war fünf Jahre älter als ich. Er hatte zu Beginn auch seine Regeln gehabt, war clean geblieben, bis er es nicht mehr ausgehalten hatte. Irgendwann beugte dieses Leben jeden.

»Ich muss weiter«, sagte ich, weil ich keine Lust mehr auf das Gespräch hatte.

»Weißt ja, wo du uns findest.«

»Klar, viel Spaß. Oder so.«

»Den werden wir auf alle Fälle haben.«

Ich legte auf, und zum ersten Mal breitete sich eine komische Leere in meinem Bauch aus. Diese Art von Leere, die einem sagte, dass man auf sich allein gestellt war. Ich schätzte und mochte die anderen. Wir waren eine coole Clique, die zusammenhielt, wenn es ernst wurde, aber an solchen Tagen wie heute fühlte ich mich wie ein Außenseiter.

Es könnte so viel leichter sein. Einfach ab und an was einwerfen, das Hirn wegdröhnen, sich fallenlassen, vergessen.

Ich schüttelte mich und schalt mich für die trüben Gedanken, die mir heute mehr zu schaffen machten als üblich. Keine Ahnung, warum ich in diese Richtung driftete, denn eigentlich war ich ganz zufrieden mit meinem Leben. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, musste mich vor niemandem rechtfertigen und war mein eigener Chef. Damit besaß ich mehr als so mancher Sesselscheißer da draußen.

Das zumindest redete ich mir ein, wenn mein Geist zu trübsinnig wurde.

Ich war ein freier Mann.

Ich lebte meinen Traum.

Ich …

»Pass doch auf!«, blaffte mich ein Kerl an, der gerade die Stufen von der Subway hochkam und mich angerempelt hatte. Wieder schoss mir der Schmerz durch den Ellbogen. Ich biss die Zähne aufeinander und wartete, bis er abklang, aber mit jedem Mal, dass er sich meldete, wurde mir bewusster, dass ich einen Arztbesuch nicht ewig würde aufschieben können.

Mit verzerrtem Gesicht wartete ich, bis der Rush der Leute nachließ, die gerade mit der Bahn angekommen waren. Von unten drangen die Geräusche der ankommenden und abfahrenden Züge hoch, genau wie dieser typische Geruch aus Abfall und Kanalisation. Die Subway kam mir jedes Mal vor wie eine ganz eigene Welt, die unter New York existierte. Ich kannte sogar einige, die dort lebten und nur nach oben kamen, wenn es absolut notwendig war.

Als der Menschenstrom abriss, lief ich schließlich nach unten und warf einen Blick ins Kassenhäuschen. Perfekt! Amanda hatte heute Dienst. Darauf hatte ich gehofft, denn sie war am leichtesten zu beeindrucken.

Ich strich mir durch die Haare, rieb mit der Zunge über meine Zähne und checkte rasch mein Outfit. Nicht, dass es sehr spektakulär war: dunkle Sweatpants, ein verblichener dunkelgrauer Pulli mit einem Loch in der Seite, ein Schal, meine ausgelatschten Turnschuhe und eine dünne Winterjacke, die ich vor zwei Wochen im Müll gefunden hatte, obwohl sie noch gut in Schuss war.

Ich lief zu Amanda hinüber und setzte schon von Weitem ein Lächeln auf. Sie bemerkte mich und erwiderte es sofort. Amanda war Anfang dreißig und arbeitete erst seit Kurzem an dieser Station, weshalb ich auch meistens hierherkam, wenn ich Subway fahren wollte.

»Hey«, sagte ich und wartete, bis sie das Geld vom Kunden zuvor wegsortiert hatte.

»Jaz!« Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Wangen färbten sich rot. »Wie läuft es so?«

»Ganz gut.« Ich blickte mich um, weil ich niemanden aufhalten wollte, der es eilig hatte, aber hinter mir war keiner mehr. Also lehnte ich mich lässig mit dem gesunden Ellbogen auf der Ablage für die Münzen ab. »Und bei dir? Ist viel los?«

»Ach, das passt schon. Die Rushhour kommt ja erst noch.«

Ich strich mit den Fingern über die Ablage und tippte einen leisen Rhythmus darauf. Amanda behielt meine Hand im Blick, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fantasierte sie gerade darüber, ob ich meine Finger wohl genauso über ihren Körper gleiten lassen könnte.

Könnte ich nicht.

Ich vermischte keinen Spaß mit der Arbeit, und genau dazu zählte Amanda.

Abgesehen davon hätte ich einer Frau sowieso nichts zu bieten, außer einem netten Körper, der durchs Tanzen recht gut in Schuss war.

»Ich müsste Downtown fahren«, sagte ich leise. »Will zur Brooklyn Bridge.«

Sie reckte das Kinn und funkelte mich an. Ich drehte mich zu ihr, setzte ein leichtes Lächeln auf und sah sie intensiv an. Amanda war nicht ganz mein Typ Frau, aber sie hatte wunderschöne blaue Augen, die sie leider zu stark schminkte. Ich räusperte mich und fuhr mir noch mal durch die Haare, weil ich wusste, dass ihr das gefiel.

»Im Moment läuft das Geschäft schleppend, und ich frage mich, ob es okay wäre, wenn ich ausnahmsweise so durch kann.« Mittlerweile fiel es mir leicht, um derlei Dinge zu bitten. Eine der Lektionen, die man auf der Straße lernte. Sobald man den Stolz einmal heruntergeschluckt hatte, ging es fast wie von selbst.

»Mein Boss steht da drüben und telefoniert«, sagte sie und deutete auf einen älteren Mann in dunkler Uniform. Er hatte uns den Rücken zugewandt und bekam unser Gespräch nicht mit.

»Ich bring dich nicht in Schwierigkeiten, versprochen, aber du würdest mir einen großen Gefallen tun.« Meistens fuhr ich nicht schwarz, sondern ging zu Fuß, aber heute wollte ich mir den Weg nicht antun. Natürlich könnte ich mich auch reinschmuggeln und übers Drehkreuz springen, wie es viele machten, aber das mied ich wenn möglich.

Sie biss sich auf die Unterlippe, sah noch mal zu ihrem Boss und nickte mir dann zu. Ich schenkte ihr ein weiteres Lächeln und hätte nach ihrer Hand gegriffen, aber die Scheibe trennte uns.

»Danke«, sagte ich, küsste meine Finger und hielt sie gegen das Glas. »Du bist ein Goldstück.«

Sie zuckte verlegen mit den Achseln und wies mich mit einem Kopfnicken an, zum Drehkreuz zu gehen. Kaum erreichte ich es, drückte sie auf den Buzzer und ließ mich passieren. Ich winkte ihr ein weiteres Mal zu und blickte mich auf dem nahezu leeren Bahnsteig um.

Auf zur Brooklyn Bridge.

3. GILLIAN

3.
GILLIAN

Ich warf den Kopf in den Nacken und klammerte mich an Ethans Schulter. Er packte mich an der Hüfte und drückte mich tiefer in die Matratze.

»Gott, Gill!«, stöhnte er in mein Ohr, während er härter und härter in mich stieß. Mir war heiß, mein Körper stand unter Hochspannung, und mit jedem weiteren Stoß kam ich der Erlösung näher. Ethan füllte mich mit einer Vertrautheit, die mir guttat und die ich ein Stück vermisst hatte. Er gab mir den Halt, der mir im Moment fehlte. Er nahm mich, ohne Fragen zu stellen, und das war genau das, was ich heute brauchte.

Ich bohrte die Fingernägel in seine Schultern und schrie meinen Höhepunkt hinaus. Ethan richtete sich etwas auf, packte mit einer Hand meinen Hintern und drückte mit der anderen mein Bein weiter nach oben, ehe er den Rhythmus steigerte und so ebenfalls an sein Ziel kam.

Er pulsierte dumpf in mir nach und stöhnte ein letztes Mal, ehe er auf mir zusammensackte.

»Fuck«, murmelte er an meinen Hals. »Du machst mich fertig.«

»Das meinst du hoffentlich nicht wörtlich«, gab ich von mir und rang gleichzeitig um Atem. Wäre nicht das erste Mal, dass Ethan nach dem Sex ohnmächtig wurde. Wobei er heute nicht den Eindruck gemacht hatte, als hätte er Drogen genommen. Soweit ich wusste, war er seit dem Entzug clean, aber ich hatte auch nicht viel Kontakt zu ihm.

»Nein, keine Sorge, mir geht es gut.« Er küsste mich unters Ohr auf meine erhitzte Haut, zog sich vorsichtig aus mir zurück, streifte das Kondom ab und verknotete es, ehe er es auf den Boden warf. »Dir auch?«

»Ja. Bestens.« In mir kribbelte es wohlig nach, und ich lauschte den sanften Wellen der Befriedigung, die durch meinen Körper rauschten.

Eine Weile blieben wir so liegen, bis sich unser Atem beruhigt hatte. Ethan rollte zur Seite, damit er mich ansehen konnte, und stemmte sich auf einen Ellbogen.

Ich spürte, dass er mit mir reden wollte, doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, schlüpfte ich aus dem Bett und fing an, meine Sachen zusammenzusuchen.

»Ah, diese Nummer willst du also abziehen«, sagte Ethan und richtete sich auf.

»Welche Nummer?«

»Na, von wegen rasch nen Abgang machen und so. Ich kenn das.«

Ich schüttelte den Kopf, aber er hatte natürlich recht. Als er vorhin die Tür geöffnet hatte, hatte ich ihm nicht viel Zeit gelassen, sondern ihn einfach gepackt, an mich gezogen, und danach waren wir auch schon in seinem Bett gelandet.

»Willst du darüber reden?«, fragte er leise.

»Nein.« Ich drückte meine Hose und die Bluse an mich und suchte meinen BH, den ich hier irgendwohin geworfen hatte.

»Da vorne«, sagte Ethan und erhob sich nun auch aus dem Bett. Er nahm sich frische Unterwäsche aus der Kommode, schlüpfte hinein und half mir dann den Rest meiner Sachen zusammenzusuchen. Mit einem süffisanten Grinsen ließ er meinen Slip von seinem Finger baumeln und hielt ihn mir hin.

»Danke«, sagte ich, schnappte mir alles und lief ins Bad, um mich kurz frisch zu machen und anzuziehen.

»Wein? Kaffee? Ne zweite Runde Sex? Irgendwas?«, rief Ethan von draußen.

»Nicht nötig, ich kann nicht bleiben.« Doch, könnte ich. Die ganze Nacht, wenn es sein müsste. Ich könnte mit ihm abhängen und mich von ihm vögeln lassen, und er würde es tun. Ich könnte mich der Illusion hingeben, nicht allein mit meinen Problemen zu sein, und auch das würde er erfüllen.

Ethan machte nie viel Aufheben von etwas, er nahm, was das Leben ihm vor die Füße warf, und im Moment war ich das wohl.

Ab und an tat ich so etwas wie heute. Ab und an nahm ich mir einfach, was ich wollte. Gerade bei Ethan wusste ich, dass er mich verstand. Abgesehen davon war das heute nicht unser erstes Mal gewesen. Wir hatten vor einigen Jahren ein paar sehr heiße und intensive Wochen miteinander verbracht, bei denen wir mehr im Bett als außerhalb gewesen waren.

Ich suchte in meiner Handtasche nach dem kleinen Kamm, den ich immer bei mir hatte, und richtete rasch meine Haare. Als ich rauskam, stand Ethan hinter dem Küchentresen und trug eine locker sitzende Jogginghose.

»Willst du wirklich heim?«, fragte er und nippte an einer Tasse. Ich trat näher, nahm ihm das Getränk ab und wollte es schon probieren, als ich merkte, dass es Tee war.

»Ernsthaft? Seit wann trinkst du – wie hast du es immer genannt – warme Blättersuppe.«

»Das ist bester Gyokuro-Tee, von dem hundert Gramm fast hundert Dollar kosten. Und ja, ernsthaft. Ich habe meine Leidenschaft dafür im Entzug entdeckt. Puscht besser als jeder Kaffee.«

Und besser als jede Droge? Die Frage lag mir auf der Zunge, aber ich konnte sie gerade so zurückhalten. Ich nahm doch einen Schluck und runzelte die Stirn, weil er tatsächlich sehr lecker schmeckte.

»Cool, mh?«, fragte er.

»Ja.« Ich musterte Ethan, der sich langsam nachgoss und so zufrieden dabei wirkte wie lange nicht mehr. Die Anspannung und Sorge, die ihn letztes Jahr noch begleitet hatten, waren gewichen. Er wirkte ruhiger, gesetzter, und er hatte etwas zugenommen, was ihm überaus gut stand. Sogar muskulöser war er geworden.

»Ich bin einfach so hier eingefallen«, sagte ich. »Wie geht es dir denn?«

»Gut, und du darfst jederzeit so einfallen. Bist meine Erste in diesem neuen Leben.« Er drehte sich zu mir und reichte mir seine Tasse ein weiteres Mal. Ich nahm sie schmunzelnd entgegen.

»Und bist du darüber hinweg?«, fragte ich vorsichtig, weil ich keine Ahnung hatte, welche Fragen man jemandem stellen durfte, der einen Entzug hinter sich hatte.

»Nein. Das werde ich auch nie sein. Ich bin süchtig. Punkt.« Er mahlte mit dem Kiefer und zog die Augenbrauen zusammen. In Ethans Miene trat ein Ausdruck, den er auch manchmal als Lehrer in der Masterclass gehabt hatte. Ab und an hatte ich ihn beobachtet, um zu sehen, wie alles lief, und gerade zum Ende des Unterrichts hatte er genauso betreten geschaut wie jetzt.

Ich kannte Ethan nicht gut genug, um das richtig zu deuten, aber mir war natürlich klar, dass er etwas in sich trug, das ihm zu schaffen machte. Sonst wäre er auch nie abhängig geworden. Als wir das erste Mal vor vier Jahren zusammengekommen waren, hatte er zwar auch gerne gefeiert, aber er hatte gewusst, wann er aufhören musste.

»Ich will dir nicht zu nahetreten«, sagte ich rasch und gab ihm die Tasse zurück. Der Tee war wirklich lecker, ich sollte mir auch welchen holen.

Ethan schüttelte sich und setzte wieder das anzügliche Lächeln auf, das ich so gut von ihm kannte.

»Doch, tritt mir so nahe, wie du möchtest.« Er stellte die Tasse auf den Tresen, legte eine Hand auf meinen Hintern und zog mich zu sich heran. Ehe ich reagieren konnte, berührte er mit seinen Lippen meine, und seine Zunge drang in meinen Mund. Ethan wusste genau, welche Knöpfe er bei Frauen drücken musste, um sie auf Touren zu bringen. Er nahm sich, was er brauchte, gab aber genauso viel zurück. Mit ihm war es feurig, heiß und prickelnd. Ich würde auch ein zweites oder drittes Mal voll auf meine Kosten kommen, wenn ich wollte. Mit Ethan würde es unkompliziert bleiben, egal was heute Nacht passierte.

Dennoch legte ich eine Hand auf seine Brust und schob ihn von mir weg. Er gab einen leisen missmutigen Laut von sich und strich ein weiteres Mal zärtlich über meinen Hintern.

»Sicher?«, hakte er nach.

»Nein, aber ich sollte nach Hause. Ich hab noch einiges zu tun.« Da ich heute früher Feierabend gemacht hatte, ließ ich mir Unterlagen nach Hause schicken. Ich würde mir eine Flasche Wein aufmachen, mich in meinen gemütlichen Sportklamotten auf die Couch fläzen und darüber brüten, wo und wie ich Geld herumschieben konnte, damit wir alle Löcher flicken könnten, die sich in der Schule aufgetan hatten. Vermutlich würde ich nicht drumherum kommen, dafür einen Teil meines eigenen Vermögens zu verwenden. Dad hatte das früher auch häufiger gemacht, mir aber von Anfang an gesagt, dass man damit aufpassen müsse, denn das könnte schnell ein Fass ohne Boden werden.

Ethan beugte sich vor und strich mit seinen Lippen sanft über mein Ohr nach unten Richtung Hals. Ich erschauderte, und mein Körper bebte, während er zarte Küsse auf meine Haut hauchte.

»Wirklich ganz sicher?«

»Ethan.« Ich schob ihn energischer von mir. Er lachte leise, ließ aber von mir ab. »Danke für die … die Ablenkung.«

»Jederzeit gerne wieder«, sagte er und breitete die Arme aus. »Aber mal abgesehen davon: Wenn du einfach nur reden willst, komm gerne vorbei, ja? Du siehst aus, als könntest du ein offenes Ohr brauchen.«

Ich zuckte mit den Schultern und wollte mich abwenden, aber Ethan nahm mich am Handgelenk.

»Gill, ernsthaft: Geht es dir gut?«

»Ja.« Nein. Keine Ahnung. Wenn ich jetzt anfing zu erzählen, was in der Schule und in meinem Leben zurzeit los war, würde ich in Tränen ausbrechen und doch wieder in seinen Armen landen. Ethan würde mir zuhören, ohne Zweifel, aber ich wollte nicht meinen Ballast bei ihm abladen, wo er selbst genug hatte, mit dem er klarkommen musste. Er sollte sich erst mal erholen, ehe er sich um andere kümmerte.

Ich machte mich von seinem Griff los und lief Richtung Tür. »Wie lange ist die Band denn in der Stadt?«

»Drei Wochen. Jules wollte unbedingt dabei sein, wenn Riley mit dem Unterricht anfängt. Ich werde übrigens auch mal in die Schule kommen, wollte ein paar Studenten wiedertreffen, die bei mir in der Masterclass waren. Drei haben es weiter geschafft und wurden ins Musikprogramm aufgenommen.«

»Oh, dann sehe ich euch ja zum Orientierungstag.« So nannten wir den ersten Tag, an dem sich alle Studenten einfanden. Sie bekamen die Schule gezeigt, wurden über die Nachbarschaft aufgeklärt, auswärtige Schüler erhielten einen Einblick in New York und bekamen Tipps, wie sie sich in der Stadt verhalten sollten. Es war immer aufregend für alle, und ich freute mich darauf, die Neuankömmlinge begrüßen zu dürfen.

»Ja.«

»Und wie geht es dir sonst mit der Band und allem?« Ethan hatte sich ja eine Pause für seinen Entzug genommen und war bisher nicht zu Beyond Sanity zurückgekehrt. Der Presse hatte er gesagt, dass er gesundheitliche Probleme habe, und natürlich spekulierten viele darüber, ob es etwas mit seinen Eskapaden in der Öffentlichkeit – bei denen er mehr als einmal betrunken gewesen war – zusammenhing.

»Ganz okay, eigentlich. Mit Jules, Breeze und Casey ist ja alles klar. Sie drängen mich zu nichts, und dafür bin ich ihnen dankbar.«

»Aber wirst du mit Beyond Sanity weitermachen?«

Er rümpfte die Nase und schnaubte. »Das ist genau die Frage, die mir in den letzten Monaten gefühlt tausendmal gestellt wurde.«

»Sorry«, schob ich rasch nach. »Ich wollte nicht wie die Presse klingen.«

»Schon gut. Wir werden einfach noch abwarten. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Ich nickte, weil ich ihn nicht drängen wollte und das seine Sache war.

Ethan lief an mir vorbei und öffnete mir die Tür. »Danke, für den tollen Abend.«

Ich spürte sehr wohl, wie schwer dieses Thema auf ihm lastete, aber ich wusste auch, dass wir beide nicht die Richtigen füreinander waren, um die Probleme des anderen zu lösen.

»Pass auf dich auf und meld dich, wenn ich dir helfen kann«, sagte er.

»Mach ich. Du auch.«

»Klar.« Er nickte, ich passierte ihn und gab ihm einen letzten Kuss auf die Wange, ehe ich mich verabschiedete und in den leeren Flur trat. Die Tür klickte hinter mir, und ich atmete einmal tief durch. Mein Körper fühlte sich besser an, ruhiger, aber ob sich das auch auf meinen Geist auswirken würde, müsste sich zeigen. Ein letztes Mal blickte ich zurück und fragte mich, ob ich nicht doch die Nacht bei Ethan verbringen sollte.

Fallenlassen. Träumen. Vergessen.

Und morgen würde mich der Berg aus unerledigter Arbeit anschreien und über mir zusammenbrechen.

Mit einem Seufzen wandte ich mich ab, verließ das Gebäude und trat in die kalte Nachtluft von Williamsburg. Ethan wohnte in einer wunderschönen Gegend am East River mit Blick auf Manhattan.