One of the Girls - Lucy Clarke - E-Book + Hörbuch
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One of the Girls Hörbuch

Lucy Clarke

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Beschreibung

Sechs Frauen. Sechs Geheimnisse. Eine Leiche. Es sollte der perfekte Kurzurlaub werden: Lexi reist mit fünf Freundinnen auf eine griechische Insel, um ihren Junggesellinnenabschied zu feiern. Von der abgelegenen Villa mit Meerblick bis hin zu den malerischen Tavernen und weiß getünchten Straßen scheint der Urlaub zu schön, um wahr zu sein. Und tatsächlich bekommt die Idylle bald Risse, denn abgesehen von ihrer Freundschaft mit Lexi haben die Frauen nur eines gemeinsam: Sie alle haben etwas zu verbergen. Nach und nach kommen versteckte Absichten ans Licht, Geheimnisse werden enthüllt und die Masken fallen – bis eine Leiche auf den Klippen unterhalb der Villa liegt…

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Zeit:11 Std. 18 min

Sprecher:Corinna Dorenkamp

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Griesi

Wenn es nichts besseres gibt...

Prolog war gut habe aber nach dem 6. Kapitel abgebrochen ist mir zu langweilig
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Lucy Clarke

ONE OF THE GIRLS

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Mimi Hall

Mittwoch

Später würden wir uns nur aus einem einzigen Grund an den Junggesellinnenabschied erinnern: wegen der Ereignisse in der Nacht des Strandfeuers. Davor gab es an diesem Wochenende auch gute Momente – sogar schöne. Unter der griechischen Sonne reichten wir Schüsseln mit Tsatsiki und glänzenden Oliven herum, tanzten barfuß am Ufer und lachten uns über Dinge schlapp, die nicht mal halb so komisch wären, wenn man sie noch mal irgendwem erzählte.

Diese Momente dürfen wir niemals vergessen.

Wären wir klüger gewesen, hätten wir genauer zugehört und besser auf sie – und uns selbst – geachtet, dann hätten wir es verhindern können. Dass es uns möglich gewesen wäre, den Lauf des Schicksals zu verändern, macht es nur noch schlimmer.

Doch nun ist es zu spät. Es ist vorbei. Wir werden niemals den Anblick ihres roten Halstuchs vergessen, das in der Morgenbrise flatterte – eingeklemmt im Reißverschluss eines Leichensacks.

1Lexi

Lexi kurbelte das Fenster des Taxis herunter. Der warme Wind duftete nach Pinien und trockener, von der Sonne aufgeheizter Erde. Reihen von weiß gekalkten Häusern schmiegten sich eng an eine Kirche mit blauer Kuppel.

Der Himmel, dachte Lexi. Mein Gott, wie weit und wolkenlos er ist. Der Ortswechsel von den regennassen Gehsteigen in London zur schimmernden Hitze Griechenlands kam ihr wie ein Zaubertrick vor. Sie konnte gar nicht glauben, dass sie wirklich hier war.

Bella zog sich den Lippenstift nach und sah den Taxifahrer über den Rand ihrer überdimensionierten Sonnenbrille an. »Wir feiern eine Hen Party«, sagte sie. »So nennt man bei uns einen Junggesellinnenabschied. Lexi ist die Braut.« Sie drehte sich auf dem Beifahrersitz um und deutete nach hinten.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte der Fahrer und sah sie im Rückspiegel kurz mit seinen freundlichen dunklen Augen an.

»Danke«, erwiderte Lexi lächelnd. Die Braut, dachte sie und schüttelte den Kopf, noch immer ein wenig darüber verwundert, dass sie das sein sollte.

»Ich bin ihre Trauzeugin«, verkündete Bella stolz. »Sie wissen schon: die beste Freundin. Die wichtigste Helferin, die das Wochenende organisiert.«

»Die selbsternannte Trauzeugin«, fügte Lexi hinzu. »Ich wollte gar keine haben.«

»Was ich ignoriert habe, da du ja nicht mal eine Hen Party wolltest.«

»Das stimmt.« Lexi verband diese Partys mit tanzenden Zwanzigjährigen hinter billigen Schleiern, Schnapsgläsern mit phallischen Strohhalmen, Blasen an den Fersen und zu kurzen Röcken. Mit zwanzig hätte Lexi so etwas geliebt. Sie hätte sich mit Tequila betrunken und in einem hauchdünnen Kleidchen auf dem Tisch getanzt. Und wenn sie Blasen an den Füßen bekommen hätte, dann hätte sie ihre Stilettos einfach weggekickt und weitergetanzt. Doch inzwischen war sie einunddreißig und hatte es satt, morgens mit einem vagen Gefühl von Bedauern und Scham aufzuwachen, das nichts mit einem Kater zu tun hatte. Zur Überraschung aller – darunter auch ihrer eigenen – würde sie nun einen Mann heiraten, den sie liebte.

Ich liebe dich.

Diese Worte hatte sie tatsächlich laut ausgesprochen. Und es auch so gemeint. Es war beim Frühstück passiert, als die beiden mit zerzausten Haaren an der Küchentheke saßen. Er lachte gerade über seinen gescheiterten Versuch vom Vorabend, eine Lasagne zuzubereiten. Sie sagte ihm, dass das Essen kein totaler Reinfall gewesen sei – der Wein war gut! –, und dann fügte sie hinzu: Ich liebe dich. Einfach so. Drei brandneue Wörter, die zwischen der Kaffeekanne und dem Stapel Toast in der Luft hingen.

Er sah sie an. Ed Tollock. Fünfunddreißig. Dichte, angegraute dunkle Haare. Eine ruhige, tiefe Stimme. Was war es, das sie so an ihm anzog? Seine gelassene Zuversicht? Die Art, wie er sie eingehend betrachtete und dann grinsend den Kopf schüttelte, als könnte er sein Glück nicht fassen?

Er schob ihre Tassen beiseite und ergriff Lexis Hände. Seine waren braungebrannt und hatten feine goldene Härchen auf dem Rücken. »Ich liebe dich auch«, sagte er. »Und eines nicht allzu fernen Tages werde ich um deine Hand anhalten.« Dabei lächelte er sie so entspannt und offen an, dass Lexi gar nicht auf die Idee kam, ihren Mantel zu schnappen und die Flucht zu ergreifen.

Stattdessen hatte sie seinen Blick erwidert. »Ach, wirklich?«

Drei Wochen später war da plötzlich eine Ringschachtel gewesen. Es hatte kein Candle-Light-Dinner gegeben, und er war auch nicht vor ihr auf die Knie gefallen. Sie waren nur händchenhaltend an der Themse entlangspaziert und hatten das weiße Kielwasser einer startenden Ente betrachtet. Erst seine Frage, dann ihre Antwort: Ja.

Lexi betrachtete ihren Verlobungsring mit dem prächtig funkelnden Diamanten. Sie wollte keine große Sache aus der Hochzeit machen. Nur ein paar Freunde und Verwandte in einer alten Mühle, in der Trauungen vorgenommen werden durften. Ganz schlicht und intim. Sie wollte weder ein aufwendiges Kleid noch eine Hairstylistin oder einen Fotografen. Sie wollte nur ihn.

»Schon verstanden, einfach und bescheiden«, hatte Bella gesagt, nachdem Lexi ihr von ihren Hochzeitsplänen erzählt hatte. »Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du um einen Junggesellinnenabschied herumkommst. Du heiratest nur einmal, Lexi Lowe, und das bedeutet, dass wir ein Partywochenende machen werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Und genau zu diesem Zweck waren sie jetzt hier, auf der kleinen griechischen Insel Aegos. Sie waren am Flughafen in das Taxi gestiegen und hatten schon bald den Touristentrubel und die lauten Vergnügungslokale hinter sich gelassen. Mittlerweile fuhren sie auf einer leeren schmalen Straße in westlicher Richtung durch eine von Büschen bewachsene Hügellandschaft, in der die einzigen Geräusche von Ziegenglocken und einem Esel stammten, der im langen Schatten eines Olivenbaums stand.

Lexi hatte Bella gesagt, dass sie das Wochenende mit Faulenzen, Lesen, Schwimmen und Essen verbringen wollte. Bella hatte ungefähr zwei Sekunden lang mit ernster Miene genickt, dann hatte sie die Mundwinkel hochgezogen und vielsagend mit den Augenbrauen gewackelt. Offenbar hatte sie ganz andere Pläne.

Bella sagte gerade etwas zum Fahrer und machte eine ausladende Geste, was er mit einem lauten Lachen quittierte. Lexi lächelte. Gott, wie sie diese Frau liebte. Bella war ihre Ja-Person. Diejenige, die sie Tag und Nacht anrufen und mit den abwegigsten Einfällen bombardieren konnte. Bella würde stets zu allem begeistert Ja sagen.

Bellas Freundin Fen, die neben Lexi saß, war Bellas Ruhepol. Sie blickte aus dem Seitenfenster und strich sich über die kurzgeschorenen gebleichten Haare. Die kleine tätowierte Schwalbe auf ihrem Nacken sah so lebensecht aus, dass man meinte, sie könne sich jederzeit in die Lüfte erheben. Normalerweise wirkte sie entspannt und lächelte oft, doch nun runzelte sie die Stirn und mahlte mit den Zähnen.

Lexi berührte sie am Arm. »Alles okay, Fen?«

Fen wandte sich überrascht zu ihr um und lächelte. »Alles gut. Entschuldige. Ich war mit den Gedanken gerade ganz woanders.«

Am Flughafen war Lexi die merkwürdige Spannung zwischen Fen und Bella aufgefallen. Die beiden hatten sich nur stockend miteinander unterhalten. Sie würde Bella bei nächster Gelegenheit fragen, was los war.

»Vielen Dank noch mal, dass wir in der Villa deiner Tante wohnen dürfen«, sagte Lexi.

»Keine Ursache. Das ist für mich eine gute Gelegenheit, mal wieder nach Aegos zu kommen.«

»Bella hat gesagt, dass deine Tante das Haus selbst entworfen hat.«

Fen nickte. »Ursprünglich für einen Kunden. Aber dem ist mitten im Projekt die Finanzierung geplatzt, und er konnte sich die Baukosten nicht mehr leisten. Meine Tante hatte sich da bereits so sehr in diese Gegend verliebt, dass sie ihm das Grundstück einfach abgekauft hat.«

»Hat sie hier mal gewohnt?«

»Ein paar Jahre lang, aber die Winter haben ihr ziemlich zugesetzt. Die Villa liegt sehr abgeschieden. Es gibt keine Nachbarn, nicht mal eine Straße führt daran vorbei. Inzwischen kommt sie nur noch im Sommer her und bringt dann immer mehrere Leute mit. Ich glaube, die Einsamkeit ist ihr auf die Nerven gegangen.«

Fen wandte sich wieder dem Seitenfenster zu, und auch Lexi warf einen Blick auf die Straße.

Sie würden zu sechst in der Villa wohnen. Die anderen waren mit dem zweiten Taxi zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Lexi hatte angeboten, sie zu begleiten, doch Bella hatte es nicht zugelassen. »Das ist dein Wochenende.«

Lexi nahm an, dass sie diesen Satz in den nächsten Tagen noch häufiger zu hören bekommen würde.

»Wir sind fast am Ziel«, sagte der Taxifahrer und schaltete runter. Aus der asphaltierten Straße wurde eine Schotterpiste, auf der die Reifen Staub aufwirbelten.

Während sie über Stock und Stein holperten und großräumig Schlaglöchern auswichen, hielt Lexi den Türgriff umklammert. Allmählich näherten sie sich dem Rand der Insel.

Als sie eine Hügelkuppe erklommen, konnte Lexi im ersten Moment nur das verführerisch glitzernde blaue Meer sehen. Dann kam auf einmal die Villa in Sicht. Mit ihren weißen Steinwänden und dem blauen Dach erinnerte sie an die griechische Flagge. Sie thronte auf einer Klippe über einer wunderschönen kleinen Bucht.

Lexi konnte sich gar nicht an ihr sattsehen.

Bella klatschte in die Hände. »Oh! Wow!«

Die Staubwolke hinter dem Taxi wurde immer größer, während sie mit protestierenden Bremsen den steilen Abhang auf der anderen Seite des Hügels hinunterfuhren. Lexi beugte sich vor und betrachtete durch die Windschutzscheibe das Gewirr aus Drillingsblumen, die eine Seite der Villa wie ein dichter rosafarbener Vorhang bedeckten.

Das Taxi kam mit klickendem Motor zum Stillstand.

»Das ist es«, flüsterte Fen, als spräche sie mit sich selbst.

Lexi nahm die Sonnenbrille ab und stieg aus. Trotz der fortgeschrittenen Stunde legte sich die Hitze drückend auf ihre Haut. Sie betrachtete das weiße Gebäude mit seinen geschlossenen blauen Fensterläden und atmete zum ersten Mal seit ihrer Ankunft den sauberen Salzgeruch des Meeres ein.

Als die drei das Gepäck aus dem Kofferraum holten, knirschten Kieselsteine unter ihren Sandalen. Bella winkte ab, als Lexi versuchte, den Fahrer zu bezahlen. Wahrscheinlich würde es das Beste sein, wenn sie in einem unbeobachteten Moment Geld in die Gemeinschaftskasse steckte.

Während das Taxi davonfuhr, drehte Lexi sich mit einer Hand auf der Hüfte langsam im Kreis und sog die Umgebung in sich auf.

Die Klippen, das Meer, der Berghang.

Nirgends war ein weiteres Gebäude zu sehen.

Irgendwo in der Ferne vernahm sie das klagende Meckern einer Bergziege.

Lexi spürte ein seltsames Flattern in der Brust. Sie sagte sich, dass es der Druck sein müsse, der auf ihr lastete, weil ihre Freundinnen extra für sie den ganzen weiten Weg auf sich genommen hatten. Als sich ihr Herzschlag weiter beschleunigte, wurde ihr jedoch klar, dass es mehr als das sein musste. Irgendetwas machte sie nervös. Sie konnte nur nicht sagen, ob es die Villa selbst, ihre abgeschiedene Lage oder der Grund für ihren Aufenthalt war.

Bella tauchte neben Lexi auf, hakte sich bei ihr unter und verzog das Gesicht zu einem wölfischen Grinsen. »Das wird ein perfektes Wochenende.«

2Robyn

Robyn blieb mit dem Einkaufswagen in der Kühlabteilung des Supermarkts stehen. Sie hakte einen Finger in den Kragen ihres T-Shirts und zog daran. Kühle Luft berührte ihre Haut. Himmlisch. Am liebsten wäre sie ins Kühlregal geklettert und hätte sich an die großen Becher mit griechischem Joghurt gedrückt.

Ihre Augen brannten, wie immer nach einem Flug. Wahrscheinlich lag es an der Kombination aus Klimaanlagenluft und Erschöpfung. Oder würde sie etwa gleich losheulen? Seit sie Mutter war, kam so etwas gelegentlich vor. Es war, als hätte sich jemand an ihren Tränenkanälen zu schaffen gemacht, sodass sie nun manchmal ohne jede Vorwarnung undicht wurden. Ein simpler Gedanke, ein Werbespot, ein liebevoller Blick zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Alles konnte zu einem Dammbruch führen.

Sie wartete kurz. Als keine Tränen kamen, entschied sie, dass sie einfach nur erschöpft war. Sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen und konnte nicht mal Jack dafür verantwortlich machen, der sie nur ein einziges Mal aufgeweckt hatte. Nachdem sie ihr nächtliches Repertoire an Kinderreimen vorgetragen und ihn zweimal wieder zugedeckt hatte, war sie ins Bett zurückgekehrt, aber zu wach gewesen, um noch mal einschlafen zu können. In Gedanken war sie die Checkliste mit Anweisungen für ihre Eltern durchgegangen.

Schneidet Jacks Weintrauben immer erst durch, bevor ihr sie ihm gebt. Er darf nicht länger als zwanzig Minuten fernsehen, auch wenn er schreit. Wenn die Sonne scheint, muss er seinen Hut aufbehalten.

Robyn hatte Jack noch nie allein gelassen. Sie hatte ihm demonstrieren wollen, wie viel vier Nächte waren, indem sie farbige Bauklötze zu einem Turm aufstapelte, aber er hatte ihn bloß mit seinen pummeligen Händen umgeworfen und sich köstlich über dieses Spiel amüsiert.

Sie durfte deswegen jedoch kein schlechtes Gewissen haben. Sie war wegen Lexi hier, und für die wäre sie bis ans andere Ende der Welt geflogen. Denn Lexi war ihrerseits die Art Freundin, die alles für einen tun würde. Lexis Leben war schon immer aufregend, bunt, chaotisch und wunderschön gewesen, und Robyn fühlte sich privilegiert, an dieser Feier teilnehmen zu dürfen.

Allerdings empfand sie es nicht als Privileg, jetzt die Einkäufe zu erledigen. Typisch für Bella, dass sie ihr diese Aufgabe übertragen hatte. »Du bist so wunderbar praktisch veranlagt«, hatte sie gesagt. »Ich würde nur einen Wagen voll Ouzo zur Kasse schieben.«

Sie warf eine große Packung Feta und einen Becher Kräuteroliven in den Wagen und stellte sich vor, dass die anderen bereits ihre Badesachen anhatten und sich im glitzernden Pool abkühlten. Ich bin nur die Zweitbesetzung, dachte sie. Und war es nicht genau das, was auch die anderen dachten?

Sie nahm immer alles viel zu persönlich. Das ist dein Problem, hatte ihr Ex-Mann Bill zu ihr gesagt.

Komisch, wie persönlich sich eine ganze Reihe von Affären anfühlte.

Wie auch immer. Sie freute sich auf dieses Wochenende. Wirklich. Sie verdiente es. Die letzten beiden Jahre waren schwer für sie gewesen. Nein, schwer war der falsche Ausdruck. Den verwendete sie nur, wenn sie mit ihren Eltern sprach. In Wahrheit hatte sie die beschissensten zwei Jahre aller Zeiten hinter sich. Sie war im siebten Monat schwanger gewesen, als sie herausfand, dass Bill eine Affäre gehabt hatte. Tatsächlich waren es mehrere gewesen. Wirklich viele. Und sie, Robyn, die Listen- und Plänemacherin, hatte nichts davon mitbekommen. Als er es endlich voller Empörung zugab, hatte sie auf die riesige Kugel hinabgeblickt, die ihre schlanke Taille ersetzt hatte, und sich gedacht: Wie soll ich das bloß allein schaffen?

Bill war bis zu Jacks Geburt geblieben, doch nach drei Monaten voller schlafloser Nächte und kalter Blicke hatten es beide nicht mehr länger miteinander ausgehalten. Robyn und Jack waren bei ihren Eltern eingezogen, und da wohnten sie noch immer.

Bill besuchte Jack jeden Sonntagnachmittag und brachte ihm flauschige Kuscheltiere mit. Anschließend kehrte er zu seiner neuen Freundin zurück, die noch immer feste Brüste hatte und keine silbernen Schwangerschaftsstreifen sowie eine Kaiserschnittnarbe. Robyn wusste, dass sie auf diese körperlichen Veränderungen – die Landkarte ihres Lebens – eigentlich stolz sein sollte, doch ehrlich gesagt hatte sie ihren straffen alten Körper lieber gemocht. Er hatte sie auf Berge befördert, sie nicht ständig mit Rückenschmerzen gequält und einen scharfen Verstand beherbergt, der nicht von andauernder Erschöpfung benebelt wurde.

Sie schob den Wagen weiter und schloss in der Süßwarenabteilung zu Eleanor auf. Auf deren blasser Stirn stand Schweiß. Offenbar war ihr in der Bluse und den gebügelten Shorts unangenehm heiß. Eleanor war Eds Schwester. Sie hatte nicht an der Verlobungsfeier teilgenommen. Lexi hatte erklärt, dass erst vor Kurzem ihr Verlobter gestorben sei und sie vermutlich keine Lust darauf habe, die bevorstehende Hochzeit von jemand anderem zu feiern. Um ehrlich zu sein, hätte sich auch Robyn, die nach wie vor in Scheidung lebte, deutlich verlockendere Abendaktivitäten vorstellen können. Doch es ging um Lexi, und die würde sie niemals im Stich lassen.

»Selbst wenn Cadbury draufsteht, kann man sich nicht sicher sein«, sagte Eleanor mit gerunzelter Stirn. »Im Ausland schmeckt Cadbury anders als bei uns zu Hause. Ist dir das schon mal aufgefallen? Ich glaube, es liegt an der Milch.«

»Dann sollten wir besser nicht alles auf eine Karte setzen und einen Vorrat mit unterschiedlichem Süßkram mitnehmen.«

»Brillante Idee«, erwiderte Eleanor und drehte sich um. Robyn sah, dass der Einkaufskorb an ihrem Arm bereits verschiedene Schokoriegel und Honignüsse enthielt.

Sie gingen gemeinsam weiter durch den Supermarkt. Eleanor packte viel Obst, Gemüse, Kräuter und frisches Brot ein. Als sie mit den Einkäufen fertig waren und gezahlt hatten, schob Robyn den Wagen in die sengende Nachmittagshitze hinaus.

Ana stand im Schatten des Supermarktvordachs. Sie hatte sich ein orangefarbenes Kopftuch um die Zöpfe gebunden und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Diese Frau hat definitiv kein Problem mit undichten Tränenkanälen, dachte Robyn. Sie hatten sich im Flugzeug kennengelernt. Robyn hatte erfahren, dass Ana eine alleinstehende Mutter mit einem fünfzehnjährigen Sohn war und sich ihren Uniabschluss an der Abendschule erkämpft hatte. Inspiriert von der Gehörlosigkeit ihrer Schwester arbeitete sie als freiberufliche Gebärdensprachdolmetscherin und legte ihre zahlreichen Termine so, dass sie nach Schulschluss für ihren Sohn da sein konnte.

Als Robyn kleinlaut erklärt hatte, dass sie gerade bei ihren Eltern lebe, hatte Ana sie mit festem Blick angesehen. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Wir tun, was wir können, um zurechtzukommen. Es gibt nichts Mutigeres, als um Hilfe zu bitten.«

Ana merkte nicht, dass Robyn und Eleanor sich ihr näherten. »Es war ein Fehler hierherzukommen«, sagte sie mit gesenktem Blick und gerunzelter Stirn leise ins Handy.

Robyn verlangsamte ihre Schritte und bemerkte, dass Eleanor das Gleiche tat. Ein Fehler? Wieso?

Ana sah zu ihnen auf, weitete kaum merklich die Augen und sagte rasch ins Telefon: »Wir sprechen später weiter.«

»Ist alles in Ordnung?«, wollte Robyn wissen und fragte sich gleich darauf, ob es nicht besser gewesen wäre, so zu tun, als hätte sie nichts gehört.

»Alles gut«, erwiderte Ana. Sie steckte das Handy ein, strich ihr Kleid glatt und kam zum Einkaufswagen. Als sie die Ouzo-, Gin-, Prosecco- und Bierflaschen sah, hellte sich ihre Miene auf. »Das Alkohol-Nahrungsmittel-Verhältnis finde ich ausgezeichnet.«

Eleanors Mundwinkel hoben sich, und einen Moment später lächelte auch Robyn.

Während sie die Einkäufe ins Taxi luden, konnte Robyn immer noch nicht so recht fassen, dass dies wirklich der Auftakt zu Lexis Junggesellinnenabschied war. Lexi hatte stets behauptet, dass sie niemals heiraten würde – und alle hatten es ihr geglaubt. Den Großteil ihrer Zwanziger hatte sie als Backgroundtänzerin für verschiedene Popstars verbracht. Sie hatte in Tourbussen und Penthouses Partys gefeiert und sämtliche Club-Besitzer in Soho persönlich gekannt. Vor zwei Jahren hatte sie sich dann das Schienbein gebrochen. Von da an war es mit dem Tanzen und den Partys schlagartig vorbei gewesen. Doch wenn sich eine Tür schließt, geht eine andere auf. Nun, zumindest war es bei Lexi so gewesen. Sie ließ sich zur Yogalehrerin ausbilden, lernte Ed kennen, verliebte sich in ihn und nahm seinen Heiratsantrag an. Und nun waren sie hier in Griechenland, um all das zu feiern. Hatte man schon mal von so einer Wendung des Schicksals gehört?

Vielleicht war genau das ja Robyns Problem. Sie hatte nie intensiv gelebt. Nie etwas riskiert. Sie hatte immer den sicheren Weg gewählt: Juraexamen, Eigentumswohnung, Karriere, Ehe, Baby. Check, check, check.

Und was hatte ihr das eingebracht? Sie war dreißig, lebte mit ihrem achtzehn Monate alten Sohn bei ihren Eltern, stand beruflich auf dem Abstellgleis und würde schon bald geschieden sein.

Die Zweitbesetzung, dachte sie.

Immer nur die verdammte Zweitbesetzung.

Wir waren sechs Frauen, die einen Junggesellinnenabschied feierten, aber wir waren alles andere als eine homogene Gruppe.

Vergesst das nicht.

Manche von uns begannen den Tag mit einem Sonnengruß oder gingen joggen oder drückten sich in ihrem leeren Bett ein Kissen an die Brust. Manche wollten an diesem Wochenende ihren öden Alltag hinter sich lassen, um sich wieder daran zu erinnern, wie wild und frei wir in unserem Innersten doch waren. Die anderen wollten es nur hinter sich bringen und die Stunden absitzen, bis wir wieder nach Hause zurückkehren würden.

Wir waren alle aus unterschiedlichen Gründen gekommen. Doch eine von uns hatte sich mit einem ganz bestimmten Hintergedanken auf dieses Partywochenende eingelassen.

Dumm nur, dass wir anderen das erst erkannten, als es bereits zu spät war.

3Fen

Fens Körper versteifte sich, während sie den Schlüssel im Schloss drehte, als wappnete sie sich gegen einen Schlag.

Sie atmete tief durch und stieß die Tür auf.

Im kühlen Inneren der Villa begrüßte sie der vertraute Kalkgeruch. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie sieben Jahre zuvor hier angekommen war, überwältigt von der schieren Schönheit der Insel und all den Möglichkeiten, die dieser neue Ort für sie bereithielt. Fen, die damals gerade erst den Kontakt zu ihren strengen, kirchengläubigen Eltern abgebrochen hatte, war von ihrer unkonventionellen Tante genauso fasziniert gewesen wie von deren Freunden mit ihren Pinseln, Skizzenbüchern und verführerischen Lebensentwürfen.

Daran wollte sie sich erinnern.

Doch in diesem Gebäude waren auch andere Erinnerungen eingeschlossen.

Sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zog sie die Sandalen aus und bewegte sich über den kühlen Steinboden. Sie entriegelte die Fensterläden und schwang sie auf. Gleißendes Licht beleuchtete das Haus und die aufgewirbelten Staubflusen.

Fen sah sich blinzelnd um. Würde sie es noch bereuen, dass sie die Villa für das gemeinsame Wochenende organisiert hatte? Ihre Tante hatte Fen und Bella zwischen zwei Bissen Sashimi bei ihrem Lieblingsjapaner verkündet, dass sie das Anwesen verkaufen wolle. »In Kroatien hat sich ein anderes Projekt ergeben, für das ich Kapital brauche«, hatte sie gesagt und hinzugefügt, dass Fen die Villa auf jeden Fall nutzen solle, solange sie noch leer stand.

Bella hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt und sich vorgebeugt. »Lexis Hen Party! Lass uns die in Griechenland feiern!«

Fens Tante hatte sich begeistert ausgemalt, wie das Haus mit feiernden Frauen und Musik erfüllt sein würde. Und so war ihre Reise hierher bereits beschlossene Sache gewesen, als die zweite Flasche Sake auf den niedrigen Tisch gestellt wurde.

Bella kam hereingestürmt und lief mit klackernden Absätzen über den Steinboden. »Mein Gott!«, rief sie. »Seht euch nur mal dieses Haus an!«

Die Villa war im traditionellen kykladischen Stil erbaut worden und sah aus, als wäre sie aus dem Fels gemeißelt worden, auf dem sie stand. Die dicken Steinwände waren weiß gekalkt, ihre Ecken abgerundet. Der Raum war nur spärlich mit niedrigen Holzmöbeln eingerichtet, um einen Eindruck von Weite zu erzeugen. Gekrönt wurde das Ganze von einer weißen Gewölbedecke, die mit Balken aus salzgebleichtem Holz eingerahmt war.

»Das ist alles so schön!«, staunte Bella. Sie strich mit den Fingern über die Quasten eines weizenbraunen Wandbehangs und ging zu einem Beistelltisch weiter, der komplett aus einem einzelnen Baumstamm geschnitzt war. »Oh, sieh mal!«, rief sie und nahm ein gerahmtes Foto in die Hand. »Bist du das?« Sie klopfte mit einem neonfarbenen Fingernagel auf das Glas. »Mein Mädchen, mit diesen Kurven siehst du absolut heiß aus!«

Die Aufnahme war auf der Terrasse vor der Villa entstanden. Auf dem Foto kniff Fen im abendlichen Sonnenlicht die Augen zusammen, in ihrem Gesicht lag ein entspanntes Lächeln. Sie trug einen Minirock aus Jeansstoff, durch dessen Gürtelschlaufen ein Halstuch gefädelt war. Darüber eine alte Weste mit dem Aufdruck Let Love Rule, die sie für drei Pfund in einem Secondhandladen gekauft hatte. Auf ihrem Kopf saß eine rote Sonnenbrille. Sie wusste noch, wie sie später an diesem Abend voller Energie zum Essen in die Altstadt gegangen war. Die Erinnerung an das, was danach geschehen war, traf sie wie ein körperlicher Schlag. Sie wandte sich rasch ab und eilte an Bella vorbei aus dem Haus. Auf der Terrasse stellte sie sich in den Schatten der Pergola, ließ den Blick auf dem ovalen Pool ruhen und atmete langsam ein und aus.

»Schatz?«, sagte Bella, die ihr ins Freie gefolgt war. »Geht es dir gut?«

»Ja, mir ist seit dem Flug nur ein bisschen schwindelig«, versuchte Fen nicht nur Bella, sondern auch sich selbst einzureden.

Lexi gesellte sich zu den beiden. Sie ging zum Rand der Terrasse, legte die Hände auf die niedrige Steinmauer und ließ den Blick über das glitzernde blaue Meer gleiten. »Was für eine Aussicht.« Plötzlich schreckte sie zurück. »O verdammt, ist das tief!«

Bella ging zu ihr und spähte ebenfalls über die Kante, wobei sie die Bügel ihrer Sonnenbrille festhielt. »Krass! Wer da runterfällt, ist tot.«

Die Klippe ragte mehr als dreißig Meter über schroffen Felsplatten auf. »Deswegen wollte bisher noch niemand die Villa haben«, erklärte Fen. »Sämtliche Kaufinteressenten werden von diesem Abgrund abgeschreckt.«

Bella deutete nach Osten, auf die perfekte Bucht am Fuß der Klippe. Sie sah aus wie ein Bild aus einem Reisekatalog. »Ist das unsere?«

»Ja, das ist ein Privatstrand.« Am Ufer lag ein Holzruderboot mit türkisfarbenem Anstrich, der langsam abblätterte. Fen dachte daran, wie sehr sie es damals genossen hatte, frühmorgens um die Felsen zu einer versteckten Stelle zu rudern, wo das Meer eine weitere Bucht in die Klippe gegraben hatte.

Nicht alles hier war schlecht.

»Wollen wir an einem Abend ein Feuer am Strand machen?«, fragte Lexi.

Bellas Augen leuchteten auf. »Eine Strandparty! Au ja! Das wäre der perfekte Abschluss für dieses Wochenende.«

Lexi überquerte die Terrasse und bückte sich, um an den Kräutern in den Terracotta-Töpfen zu schnuppern.

Bella ging zu Fen, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste sie auf die Wange. »Ist alles in Ordnung zwischen uns beiden?«, flüsterte sie und schlang Fen einen Arm um die Hüften.

Fen konnte sich selbst in Bellas Sonnenbrille sehen. Ihre Stirn war gerunzelt, ihre Lippen verkniffen. Na klar ist alles in Ordnung, wollte sie sagen und sich darüber freuen, dass sie mit Bella Urlaub machte, doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen.

Ein paar Stunden zuvor hatte Fen am Flughafen Gatwick herausgefunden, dass Bella sie seit ihrer ersten Begegnung angelogen hatte. Bella hatte mit bleichem Gesicht den Griff ihres Koffers umklammert und Fen gebeten, es ihr nicht zu verübeln. Doch wie sollte das gehen? Schließlich hatte sie sich vor allem von Bellas unerschütterlicher Aufrichtigkeit angezogen gefühlt – von ihrer Weigerung, sich für ihre Entscheidungen zu rechtfertigen.

Ihr Gespräch war von der Ankunft der anderen unterbrochen worden. Während Bella sich den Lidschatten aus den Augen wischte und ihnen mit aufgesetztem Lächeln und ausgebreiteten Armen entgegenlief, hatte Fen nur dagestanden und gedacht: Wie schafft sie das bloß?

Fen wand sich aus Bellas Umarmung. »Ich lüfte mal die Schlafzimmer.«

In das kühle Gebäude zurückzukehren, war eine Erleichterung. Sie nahm ihren Koffer und trug ihn in ihr Zimmer hinauf. Als sie die Fensterläden öffnete, fiel eine tote Fliege auf den breiten Steinsims. Sie hörte, wie Stuhlbeine über die Terrasse schabten und Bella und Lexi sich im Schatten der Pergola unterhielten. Bella sagte offenbar etwas Komisches, denn Lexi brach in Gelächter aus.

Fen wollte wieder zu ihnen hinuntergehen, doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Also zog sie stattdessen ihre Laufhose, ein ärmelloses Top und ihre Turnschuhe an, um den Kopf freizubekommen. Als sie sich bückte, um die Schnürsenkel zu binden, erblickte sie sich selbst im Schlafzimmerspiegel. Sie betrachtete ihre muskulösen Oberschenkel und glaubte seine Stimme zu hören: Du widerst mich an.

Die Erinnerung an diese Worte traf sie wie eine unerwartete schallende Ohrfeige.

Fen stand rasch auf. Nein, sie würde dieser Stimme nicht zuhören. Die Sache war sieben Jahre her und damit längst vorbei. Sie nahm ihre Wasserflasche und kehrte auf die Terrasse zurück.

Bella sah überrascht auf. »Gehst du laufen? Wir sind doch gerade erst angekommen.«

»Nur eine kurze Runde, bevor es dunkel wird.«

Bella schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich nur an eine Joggerin geraten?«

»Du hattest eben unglaubliches Glück«, erwiderte Lexi.

»Ja«, stimmte Bella ihr zu. »Das hatte ich.«

Fen verließ die Terrasse in Richtung des staubigen Pfads, der von der Klippe ins Vorgebirge führte. Der Duft von wildem Thymian hing in der heißen Luft. Während sie dem gewundenen Weg folgte, schrumpfte die Villa hinter ihr schon bald zu einem bloßen Schatten zusammen.

4Bella

Bella freute sich bereits auf dieses Wochenende, seit sie von Lexis Verlobung wusste. Wenn man schon seine beste Freundin an einen Ehemann verliert, sollte man das wenigstens mit einer großen Party feiern.

Lexi Lowe würde heiraten. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Natürlich hatten im Lauf der Jahre viele um ihre Hand angehalten. Männer mussten nur die gleiche Luft wie Lexi atmen, um sich in sie zu verlieben. Die Überraschung war, dass Lexi sich ausgerechnet in Ed verliebt hatte. (Sie musste aufhören, seinen Namen auf diese Weise auszusprechen – und sei es nur in Gedanken. Als hätte er einen faden Beigeschmack. Oder wie eine Frage: Ed?) Ed war charmant. Er war großzügig. Er liebte seine Arbeit. (Was immer er genau tat. Er war irgendeine Art Anwalt. Robyn wusste es sicher genau.) Er war loyal. Und am allerwichtigsten: Er vergötterte Lexi.

Aber – und bei Bella gab es meistens ein Aber – er war nicht das, womit sie gerechnet hatte. Sie wusste, dass Lexi keine Lust mehr auf Partys hatte. Aber trotzdem … Hätte sie sich nicht in einen französischen Yogaguru mit gepiercten Brustwarzen verknallen können? Oder in den geläuterten Sänger irgendeiner Band, der keine Trips mehr schmiss, dafür aber in rauen Mengen CBD-Öl konsumierte? Jemand mit ein paar mehr Ecken und Kanten, der ein bisschen weniger stromlinienförmig wirkte.

»In welches Zimmer soll ich meine Sachen bringen?«, fragte Lexi. Trotz der mehrstündigen Anreise fielen ihr die karamellfarbenen Haare noch immer locker über die grazilen Schultern. Und auch ansonsten sah sie wie frisch aus dem Ei gepellt aus.

»Ins Hauptschlafzimmer«, antwortete Bella mit einer näselnden Butlerstimme. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Mylady.«

Die Räder von Lexis Koffer hüpften klackernd die Steinstufen hinauf. Bella betrat das Schlafzimmer und stieß die starren Fensterläden auf. Durchsichtige weiße Vorhänge blähten sich im Luftzug und enthüllten einen großzügig geschnittenen Balkon, der auf die Terrasse und das Meer dahinter hinausging.

»Dieses Zimmer kann ich nicht nehmen«, sagte Lexi. »Das gehört Fen und dir!«

»Es ist deins. Vergiss nicht, dass du der Ehrengast bist.«

Lexi vergewisserte sich mit einem kurzen Blick zur Tür, dass sie allein waren. »Ist zwischen euch beiden alles in Ordnung?«

»Ja, total. Wir verstehen uns total gut. Alles ist total toll.« Wie oft will ich denn noch total sagen?

»Am Flughafen habt ihr ein bisschen angespannt gewirkt.«

»Überhaupt nicht! Wir wollten nur sichergehen, dass alle das richtige Gate finden!« Bella merkte selbst, wie schrill ihre Stimme klang.

Lexis Intuition war richtig. Normalerweise machte es Bella nichts aus, Lexi von ihren Problemen zu erzählen, aber über dieses konnte sie nicht sprechen.

Sie erinnerte sich an Fens völlig verdatterten Gesichtsausdruck, als sie in der Abflughalle auf die anderen gewartet hatten. »Weißt du, was ich an dir immer am meisten bewundert habe?«, hatte Fen gefragt.

Bella hatte sie bloß abwartend mit tränenverschleiertem Blick angesehen. Ihr war keine Antwort eingefallen.

»Deine unverblümte Ehrlichkeit. Dass du dich nie dafür entschuldigst, wer du bist.« Fen hatte den Kopf geschüttelt. »Aber jetzt … jetzt bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich dich überhaupt kenne.«

Bella schluckte und schob die Erinnerung beiseite. »Also gut«, sagte sie fröhlich und hievte Lexis Koffer aufs Bett. »Pack deinen Bikini aus und lass uns schwimmen gehen!«

 

Rund um den Pool waren mehrere sonnengebleichte Holzliegen verteilt. Bella, die vor Urlaubsstimmung und Adrenalin nur so strotzte, hätte am liebsten alles auf einmal gemacht – sonnenbaden, schwimmen, trinken, essen, die Umgebung erkunden.

Nach kurzem Zögern ging sie zu einem Liegestuhl im letzten sonnigen Winkel, breitete ihr Handtuch darauf aus und setzte sich hin. Sie trug einen brandneuen Leoprint-Bikini. Das Oberteil mit seinen soliden Stützbügeln verlieh ihren Brüsten eine äußerst ansehnliche Form, und in dem Mid-Waist-Höschen sahen ihre Pobacken wie runde Pfirsiche aus.

Wo steckte bloß Robyn mit den Einkäufen? Für ein eiskaltes Bier hätte sie jemand umbringen können.

Um sich zu beschäftigen, während sie auf Lexi wartete, nahm sie einen Klappspiegel aus ihrer Strandtasche und zog den Lippenstift nach. Stillsitzen war noch nie ihre Stärke gewesen.

Sie blickte über die linke Schulter zu den Bergen und fragte sich, ob Fen aus dieser Entfernung zu sehen sein würde. Die Landschaft sah ausgedörrt aus. Niedriges Gestrüpp und ein paar wenige Baumgruppen weiter landeinwärts. Bella schob die Sonnenbrille auf den Kopf und blinzelte gegen das Licht an. Nirgends eine Spur von Fen. Unter einer kurzen Runde verstand sie einen einstündigen Lauf in unfassbar hohem Tempo. Wahrscheinlich hatte sie bereits den Berg erklommen.

Sie würde an diesem Wochenende etwas Zeit allein mit Fen herausschlagen müssen, um alles wieder ins Lot zu bringen.

Lexi überquerte die Terrasse in einem schlichten schwarzen Bikini. »Bist du bereit zum Schwimmen?«

Bella räusperte sich, setzte die Brille wieder auf und verzog die Lippen zu einem strahlenden Lächeln. »Na klar.«

»Im Meer?«

Bella drehte sich um und blickte zur menschenleeren Bucht hinunter, wo ein winziger Kiesstrand in das unglaublich klare türkisfarbene Wasser überging, das mit zunehmender Entfernung vom Ufer immer dunkler wurde. Am Horizont zeichnete sich schemenhaft die Nachbarinsel ab. Mehrere Ansammlungen von weißen Gebäuden klebten an ihr, wie verkalkte Seepocken an einem Wal.

Bella war eher der Pooltyp. Sie mochte weder Wellen noch schlaffe Seegrasranken, die wie Finger nach ihr griffen. Und vor allem hasste sie Fische, mit ihren glitschigen muskulösen Körpern und schimmernden Schuppen. Im Pool fühlte sie sich wohl. Man konnte bis zum Grund sehen und wusste, was sich unter einem befand. Das Chlor war ihr Freund.

Aber es war nun mal Lexis Hen Party. »Wenn du willst.«

An der Felswand führte eine steile Felstreppe hinab. Die weiß gestrichenen Stufen gleißten im Sonnenlicht und brannten unter ihren nackten Füßen. Es roch nach Sonnencreme.

»Wie viele Stufen sind das denn noch?«, murmelte Bella, während sie einem misstrauisch dreinblickenden Gecko auswich. Sie drehte sich um und spähte mit zusammengekniffenen Augen zur leeren Villa hinauf. Von hier unten wirkte das hoch über dem Meer aufragende Gebäude wie ein Wachhaus.

Als sie den Strand erreichten, hatte sie Schweißtropfen auf der Stirn. Sie hasteten über die heißen Kieselsteine und tauchten die Fußsohlen in das angenehm kühle und verblüffend durchsichtige Wasser, in dem sich die Konturen des Meeresbodens deutlich abzeichneten.

Lexi lief auf ihre typische Art – ohne zu zögern – hinein, machte einen Hechtsprung und verschwand unter der glitzernden Oberfläche. Einen Moment später tauchte sie mit klitschnassem Gesicht wieder auf.

»Spritz mich bloß nicht voll!«, warnte Bella, während sie mit eingezogenem Bauch langsam weiter watete und nach Seeigeln Ausschau hielt. Im Pool gab es keine Seeigel.

Sie blickte kurz zur Villa zurück und sah eine Staubwolke aufsteigen, als das zweite Taxi ankam. Robyn, Ana und Eleanor stiegen aus dem Wagen und trugen Einkaufstüten ins Gebäude.

Bella hatte kein schlechtes Gewissen, weil sie Robyn die Lebensmitteleinkäufe überlassen hatte. Schließlich war Robyn die zweite Brautjungfer und hatte bislang nur ihre typisch langweiligen Fragen nach WLAN-Zugang und Reiserücktrittsversicherungen beigesteuert.

Sobald Lexi bemerkte, dass die anderen eingetroffen waren, würde sie darauf bestehen, zur Villa zurückzukehren und ihnen beim Auspacken der Einkäufe zu helfen. Doch Bella wollte unbedingt etwas Zeit allein mit ihr verbringen. Sie machte einen Schwimmzug und hob mit steifem Hals das Kinn aus dem Wasser. Bei Lexi angekommen, deutete sie auf einen Felsvorsprung, der in der Sonne lag. »Lass uns dorthin schwimmen.«

Während ihre Arme das klare Wasser zerteilten und die sinkende Sonne ihnen ins Gesicht schien, fühlte Bella, wie tief in ihrem Körper etwas zur Ruhe kam, als wäre etwas aus den Fugen Geratenes an seinen angestammten Platz zurückgekehrt.

Nur du und ich.

5Robyn

Robyn schob die Zutaten für den Salat tiefer in den Kühlschrank, um Platz für den Weißwein zu schaffen.

So. Alles fertig ausgepackt.

Sie schloss die Kühlschranktür und drückte den Rücken durch, um den vertrauten Schmerz in ihrem Becken zu lindern.

Dann sah sie auf die Armbanduhr. Zu Hause war gerade Badezeit. Robyn stellte sich den kleinen Jack, glitschig und glänzend, inmitten duftender Seifenblasen vor. An manchen Abenden konnte sie gar nicht genug von ihm bekommen. Seine makellose blasse Haut, sein entzückter Gesichtsausdruck, wenn er mit den kleinen Patschhändchen auf das warme Wasser einschlug, und wie niedlich er sich anfühlte, wenn sie ihn, frisch und sauber, in ein weiches Handtuch wickelte und fürs Bett fertig machte. An anderen Abenden wollte sie das alles nur so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit sie nach unten gehen und … ja, was machen konnte? Mit ihren Eltern Netflix schauen? Den Laptop hochfahren und ihren Arbeitsrückstand aufholen?

Sie zog das Handy aus ihren Shorts. Verdammt, kein Empfang. Nicht überraschend bei diesen dicken Wänden. Sie blickte durch die offene Tür nach Westen und beschloss, es ganz oben auf der Klippe zu versuchen.

Ana und Eleanor packten gerade in ihrem Zweibettzimmer die Koffer aus. Robyn rief ihnen zu, was sie vorhatte, und ging in den warmen Abend hinaus. Während sie keuchend dem festgetretenen Ziegenpfad folgte, der an der Klippenlinie entlangführte, wurde ihr bewusst, wie bleich ihre Knie waren.

Die Bewegung tat ihr gut, da sie den ganzen Tag unterwegs gewesen waren, viel zu lang für vier Übernachtungen. Waren Trips wie dieser – bei dem Leute kreuz und quer über den Kontinent jetteten, weil sie Hen Partys für ihr Geburtsrecht hielten – nicht einer der Gründe für die Klimakrise? Früher hatte man sich mit seinen Freundinnen am Abend vor der Hochzeit zum Essen getroffen. Wie hatten diese Feiern bloß so ausarten können, mit Hen-Party-Packs, Trinkspielen und erbärmlichen Quizrunden? Hatte überhaupt irgendwer Spaß an so etwas?

Ihren eigenen Junggesellinnenabschied hatte Robyn jedenfalls nicht genossen, so viel stand fest. Da sie ihrer Mutter, die immer so nett und liebevoll war, nichts abschlagen konnte, hatte Robyn sie dummerweise dazu mitgenommen. Und so hatte sie auf ihrer Hen Party ständig das Gefühl gehabt, sich zusammenreißen zu müssen.

In ihrem Körper hausten mindestens drei Robyns. Zum einen die, die sie ihren Eltern zeigte: klug, freundlich, ausgeglichen und stark. Dann die berufstätige Robyn: entschlossen, top organisiert und ein bisschen grimmig. Und schließlich die Robyn, die ihre ältesten Freundinnen zu sehen bekamen, sobald sie die ersten Drinks intus hatte: spontan, mutig und ein bisschen vulgär. Dass sie auf ihrer Hen Party all diese Robyns verkörpern musste, strengte sie an. Sie war so sehr damit beschäftigt, von einer Rolle in die nächste zu schlüpfen, dass sie sich völlig verausgabte und nur noch das Ende der Veranstaltung herbeisehnte.

Ein bisschen so wie das Ende ihrer Ehe.

Das Problem war, dass sie nicht mehr wusste, welche Robyn die echte war.

Begleitet vom Zirpen unsichtbarer Zikaden, bahnte sie sich mit brennenden Wadenmuskeln und Schweiß unter den Achseln einen Weg durch das niedrige Gestrüpp. Ein Stück hinter ihr ertönte ein Scharren, wie von einem Schuh, der Staub aufwirbelte. Robyn drehte sich erschrocken um.

Natürlich war niemand da. Vielleicht war es ein Tier gewesen oder etwas Geröll, das sich gelöst hatte. In der beginnenden Dämmerung verschwammen die Konturen der Landschaft, und die auf der Klippe kauernde Villa sah sehr einsam aus. Plötzlich wurde ihr mulmig zumute. Sollte sie vielleicht besser umdrehen?

Sie blickte auf ihr Handy. Immer noch kein Empfang. Wenn sie Jack noch erwischen wollte, musste sie höher hinaufklettern.

Schnaufend schleppte sie sich weiter den Pfad hinauf. Dabei war sie früher so fit gewesen. In der Schule war sie in allen Sportteams gewesen. Als Teenager hatte sie ständig aufgeschürfte Knie und bandagierte Finger gehabt. An den Wochenenden war sie mit ihrem Bruder Drew auf Bäume geklettert, hatte Höhlen gebaut und im Wald Fangen gespielt. Sie vermisste diese unbeschwerte Zeit.

Und sie vermisste Drew.

Robyn erreichte die Spitze des Hügels. Sie war völlig außer Puste, aber dafür flackerte nun ein Balken in der Ecke ihres Handydisplays. Sie drückte auf das Anrufsymbol und malte sich bereits Jack in seinem Dinosaurierschlafanzug aus, mit noch feuchtem Nacken und nach Babyshampoo duftenden Haaren.

»Robyn!«, erklang die freundliche Stimme ihrer Mutter. »Bist du angekommen?«

»Ja, wir sind gerade in der Villa eingetroffen. Wie geht’s Jack?«

»Ganz wunderbar! Wir hatten einen herrlichen Tag. Am Nachmittag sind wir mit dem Zug nach Brockenhurst gefahren. Du hättest mal sein Gesicht sehen sollen, als wir die New-Forest-Ponys entdeckt haben.«

»Kann ich mit ihm sprechen?«

»Oh, das tut mir leid, mein Schatz. Er ist vor ein paar Minuten eingeschlafen.«

 

Robyn blieb noch einen Moment auf dem Hügel stehen und versuchte, ihre Enttäuschung zu überwinden.

Irgendwo hinter ihr meckerte eine Ziege. Sie drehte sich um und hielt nach ihr Ausschau. Dabei sah sie, wie jemand flink und mit sicheren Schritten den Pfad entlanglief. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte die breiten Schultern und kurzen wasserstoffblonden Haare von Bellas Freundin. Sie hatten sich am Gate kennengelernt, aber bisher nur ein paar Worte miteinander gewechselt. Robyn versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Schließlich fiel er ihr wieder ein.

Fen.

Ihr Laufstil wirkte unangestrengt, fast gleitend. Die untergehende Sonne tauchte ihre braungebrannten Schultern in ein goldenes Licht. Fens Blick wirkte entspannt und zugleich konzentriert. Vor Kurzem hatte Robyn einen Podcast gehört, in dem es um den Zustand des Flow ging. Man erreichte ihn, wenn man sich ganz und gar auf einen Moment einließ, alles aus sich herausholte und dabei die Umgebung vergaß. Nicht nur Spitzensportler, auch Künstler und Schriftsteller kannten diesen Zustand. Jeder konnte ihn erreichen, aber es war nicht einfach. Etwas, das man lernen musste. Fen beherrschte es offensichtlich.

Während sie Fen beobachtete, dachte sie immer wehmütiger an ihr durchtrainiertes altes Ich zurück. Im Laufe der Schwangerschaft hatte sie hilflos dabei zusehen müssen, wie ihr schlanker, muskulöser Körper eine komplette Umwandlung durchmachte. Als ihre Wehen einsetzten, hielt sie sich für gut vorbereitet. Sie hatte ein Buch über Schwangerschaften gelesen, in dem dazu geraten wurde, hemmungslos zu schreien und sich den Schmerzen hinzugeben, anstatt gegen sie anzukämpfen. Doch ihr Körper machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Nach zwölf Stunden Wehen fing sie an, Blut zu erbrechen. Da eine Infektion drohte, musste sie im Krankenhaus an einen Monitor angeschlossen werden. Danach konnte sie sich zwar nicht mehr auf dem Boden winden, aber schreien ging noch.

»Nicht so laut, Schatz«, ermahnte Bill sie.

Nicht so laut?

Sie war gerade dabei, einen anderen Menschen auf die Welt zu bringen. »Ich werde hier alles zusammenbrüllen!«, erklärte sie ihm. Was definitiv das Coolste war, das sie jemals irgendwem gesagt hatte.

Und sie brüllte tatsächlich. Immer wieder brüllte sie laut, und dennoch tat ihr Körper trotz all seiner animalischen Kraft nicht das, wozu er bestimmt war. Sechsunddreißig Stunden und eine heisere Stimme später stimmte sie einem Notfallkaiserschnitt zu.

Es hätte ihr eigentlich egal sein müssen, da Jack schließlich sicher und gesund zur Welt kam, mit dichten dunklen Haaren und einem rosigen Gesicht, das sie immerzu küssen musste. Doch später war es ihr alles andere als gleichgültig, als sie begriff, dass bei der OP fünf Schichten aus Gewebe und Muskeln durchtrennt worden waren. Wegen einer Infektion hatte sie länger als gedacht im Krankenhaus bleiben müssen, und so war ihr zuvor stählerner Körper weich und schwach geworden. Da sie keine Kraft mehr im Rumpf hatte, musste der Rücken das ganze Gewicht tragen. Und das gefiel ihm gar nicht.

Wo sie früher ein Sixpack gehabt hatte, klaffte nun ein Spalt zwischen ihren Muskeln, und ihr Bauch wölbte sich heraus, wenn sie ihn anzuspannen versuchte. Sie machte Physiotherapie, läppische kleine Übungen, bei denen sie das Becken anwinkelte. »Aber was ist mit meinen Klimmzügen?«, hatte sie die Therapeutin gefragt. »Bisher konnte ich die an jedem Ast machen, an dem ich vorbeikam. Ich musste nur hochspringen und mich festhalten.«

Die Frau hatte nachsichtig genickt. »Einen Schritt nach dem anderen. Sie haben gerade ein Baby bekommen.«

Das stimmte, doch andere Frauen bekamen auch Babys – drei oder vier Stück – und waren noch immer kräftig. Ihr Körper hatte sie verraten. Sie traute ihm nicht mehr.

Als sie jetzt Fen sah, musste sie daran denken, dass sie früher ebenfalls stark und ausdauernd gewesen war. Sie bewunderte Fens Körper, das Spiel ihrer Muskeln.

Plötzlich sah Fen auf, bemerkte Robyn und lächelte.

Robyn fühlte, wie ihre Wangen glühten. Sie war schon immer furchtbar schnell rot geworden.

Fen wurde langsamer und joggte gemächlich auf sie zu. Ihre athletischen Waden sahen ganz glatt aus. Schließlich blieb Fen stehen und stützte die Hände in die Hüften. Sie trug ein altes T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln und war nur leicht außer Atem.

»Wie ist die Laufstrecke?«, fragte Robyn.

Fen schloss kurz die Augen. »Wunderbar. Überall duftet es nach wildem Rosmarin, und man ist ganz allein. Schöner geht’s nicht.«

Robyn merkte, dass sie ebenfalls lächelte. Während des Flugs hatte Bella Fen komplett in Beschlag genommen. Und um ehrlich zu sein, hatte Robyn ohnehin nicht erwartet, Bellas Freundin zu mögen. Was für ein unglaublich bornierter Gedanke. Offenbar wohnte sie schon zu lange mit ihren Eltern zusammen.

Nun betrachtete sie Fen eingehender. Sie hatte ein Piercing in der Nase, einen schlichten Silberstecker im rechten Nasenflügel. Ihre gebleichten Haare waren an einer Seite kurzgeschoren. Robyn wusste nicht einmal, wie man so einen Schnitt nannte. Es war eine Frisur, die ihre Eltern als alternativ bezeichnet hätten. Wie auch alles andere an Fen – ihre Tätowierung, das Piercing, die gefärbten Haare, die gleichgeschlechtliche Beziehung.

Robyn sah diese Frau an – die so lebendig, selbstbewusst und begeisterungsfähig wirkte – und dachte: Genauso möchte ich auch sein.

Fen bemerkte Robyns Handy. »Gibt es hier Empfang?«

»Ein wenig. Ich habe versucht, mit meinem kleinen Sohn zu telefonieren, aber er schläft schon.« Robyn merkte, dass ihre Stimme schwankte. Was war heute bloß los mit ihr?

»Das tut mir leid«, sagte Fen. »Du vermisst ihn sicher.«

Robyn nickte. »Ich bin zum ersten Mal ohne ihn unterwegs. Er ist erst achtzehn Monate alt.«

»Das muss dich einige Überwindung gekostet haben. Lieb von dir, dass du trotzdem zu Lexis Partywochenende mitgekommen bist.«

Robyn lächelte. »Das hätte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.«

»Ihr seid alte Schulfreundinnen, richtig?«

»Ja, wir haben uns mit elf kennengelernt.« Lexi war schon damals wunderschön gewesen. Auch wenn sie noch gar nicht verstand, was Schönheit bedeutete und welche Macht sie ihr verlieh. Doch sie sah müde aus und hatte Schatten unter ihren Augen. Dieses Mädchen muss früher ins Bett gehen, hatte Robyns Mutter häufig gesagt.

Robyn begriff schnell, dass Lexis Eltern Leute waren, über die man nur mit gesenkter Stimme sprach. Ihre Mutter war eine ehemalige professionelle Balletttänzerin, die jede Nacht trank, und ihr Vater Rennfahrer. Es war, als hätte man ein Mädchen und einen Jungen gebeten, Bilder von ihren Traumberufen zu malen, und sie hätten eine blonde Ballerina und einen dunkelhaarigen Mann mit einem Pokal gezeichnet. Robyn war von Lexis Familie fasziniert gewesen. Sie konnte schlafen gehen, wann immer sie wollte, niemand fragte sie, wohin sie ging und mit wem, und immer wieder wurden in ihrem Haus ohne jeden Anlass Champagnerflaschen geleert.

»Bella ist ein paar Jahre später an unsere Schule gekommen«, sagte sie jetzt zu Fen.

»Nachdem sie von London zu euch nach Bournemouth gezogen war?«

»Ja. Im ersten Jahr hat Bella jedem erzählt, dass sie so schnell wie möglich wieder in die Stadt zurückgehen wird.«

Fen grinste. »Sie war schon damals ein echter Sonnenschein.«

Robyn erinnerte sich an die jugendliche Bella, mit ihrem verklumpten Mascara und dem kurzen dunklen Pony. Ihr Gesicht war von zwei blondierten Strähnen eingerahmt gewesen. »Bella kannte jedes italienische Schimpfwort. In ihrer ersten Woche hat sie unserem Erdkundelehrer beigebracht, wie man auf Italienisch ›Was für ein wunderschöner Sonnenuntergang‹ sagt. Das hat er zumindest geglaubt. In Wahrheit hat er ihr ›Friss Scheiße und stirb‹ nachgeplappert.«

Fen lachte.

Im selben Jahr hatte Bella verkündet, dass sie lesbisch sei. »Ich bevorzuge Frauen«, hatte sie so beiläufig und selbstbewusst erklärt, dass niemand es anzweifelte oder gar lachte. »Ich habe drei ältere Brüder, und bei uns zu Hause gibt es nur ein Bad. Wenn ihr gesehen hättet, was ich gesehen habe, wäre euch auch für immer die Lust vergangen. Wir Frauen riechen besser. Wir sehen hübscher aus. Unsere Haut ist weich. Wir haben Kurven. Wir sind einfach … besser.« Sie hatte mit den Achseln gezuckt, als hätte sie damit das Thema ein für alle Mal abgehandelt. Ja, Frauen. Besser.

Lexi und Robyn waren wie berauscht von ihr gewesen. Sie wollten sie behalten. Bella musste sich in das Städtchen Bournemouth verlieben. Sie durfte nicht wieder nach London zurückkehren und ihren Humor und ihre Dreistigkeit mitnehmen. Also wurde aus ihrem Duo ein Trio – und es funktionierte. Jede von ihnen hatte ihre eigene Rolle zu spielen. Lexi war das Gesicht der Gruppe, wild und ungezähmt. Bella war die Stimme, laut, wunderbar wortgewaltig und mit einem ansteckenden Lachen. Robyn war ihr gemeinsames Gewissen, loyal, umsichtig und jederzeit bereit, die anderen auf den rechten Pfad zurückzuführen.

»Sind das nicht die beiden?«, fragte Fen und sah zum Meer hinunter.

Robyn sah Bella und Lexi in ihren Bikinis zum Ufer waten. Es enttäuschte sie, dass sie nicht mit dem Schwimmen auf sie gewartet hatten. »Ja«, entgegnete sie und sah, wie Bella sich vor Lachen bog. In solchen Momenten hatte sie schon als Jugendliche immer ausgesehen, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen, weil alles um sie herum so unerträglich lustig war. Sie wickelten sich Handtücher um die Hüften und stiegen die Steintreppe zur Villa hinauf, wo Bella demnächst die ersten Drinks verteilen und so den Abend einläuten würde.

Robyn wandte sich wieder zu Fen um. »Bist du durch die Berge gejoggt?«

»Ich bin an der Küste geblieben, aber es gibt einen Pfad, der zu den Bergen hinaufführt. Morgen will ich da oben wandern.«

»Ehrlich?«

»Ich hänge nicht gern am Pool rum. Ich werde früh aufbrechen, wenn es noch nicht so warm ist.«

»Das klingt toll.«

»Komm doch mit.«

Drei schlichte Wörter. Eine Einladung.

»Oh, ich bin nicht sehr fit. Ich würde dich nur aufhalten.«

Fen sah sie an. »Ich habe es nicht eilig, Robyn.«

»Also gut«, erwiderte sie nach kurzem Zögern und spürte – dort oben auf dem Hügel –, dass noch immer etwas von ihrem alten Feuer in ihr brannte.

Wir reisten mit Gepäck an.

Wir hatten griechische Sandalen und riesige Sonnenbrillen dabei, fließende Sommerkleider und Shorts mit zu engem Hosenbund. In unseren Koffern lagen flauschige türkische Handtücher und ausgebeulte Necessaires voll mit glänzendem Lidschatten, Selbstbräuner und Lipgloss. Neue Taschenbücher, die nur darauf warteten, durchgeblättert zu werden, und Sonnencreme, die sommerlichen Kokosduft verströmte.

Unter dem üblichen Urlaubsgepäck steckten noch andere, privatere Dinge, die wir nur für uns selbst mitgenommen hatten. Eine unbeschriftete Tablettenpackung tief in der Seitentasche; eine schlanke Ginflasche, versteckt in einem Handtuch; das verblasste Foto eines liebevoll blickenden Mannes im Briefumschlag.

Ach ja, einer der Koffer enthielt außerdem eine Skulptur der Braut. Später würden wir zusehen, wie die Bruchstücke fortgeschafft wurden – in einem durchsichtigen Beutel für Beweisstücke.

6Ana

Ana warf einen Blick auf ihr Handy. Kein Empfang. Sie ging näher an das Fenster heran, das tief in die Steinmauer eingelassen war. Noch immer nichts. Angesichts der fehlenden Balken auf dem Display fühlte sie sich eigenartig orientierungslos. Sie kam aus London: Wenn sie sich nicht gerade in der U-Bahn befand, hatte sie immer Empfang.

Sie legte die Hand an die Wand. Wahrscheinlich lag es an den dicken Steinen. Als die anderen Frauen über die Villa ins Schwärmen gekommen waren, hatte sie geschwiegen. Ana fand die höhlenartige Architektur kahl, kalt und farblos. Ganz anders als ihre Dreizimmerwohnung, die mit Kunstwerken, bunten Kissen und Bücherstapeln gefüllt war.

Das Doppelzimmer, das sie sich mit Eleanor teilte, befand sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Sie sah in die zunehmende Dämmerung hinaus und ließ den Blick über den zerklüfteten Bergrücken gleiten. So weit das Auge reichte, gab es weder Dörfer noch andere freistehende Häuser. Und auch keinen Verkehr. Nur eine einzelne unbefestigte Straße, die sich zu ihrer Villa hinabschlängelte. Ana bekam eine Gänsehaut.

»Klopf, klopf!«, rief Lexi durch die offene Tür.

Ana fuhr erschrocken zu ihr herum.

»Ich wollte dir nur sagen, dass es auf der Terrasse Drinks gibt.«

Ana rieb sich die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. »Toll, ich bin fast mit Auspacken fertig«, erwiderte sie und holte ein jadegrünes Kleid aus dem Koffer.

»Das ist schön. Hast du das neu?« Lexi trat ein und zog die Tür hinter sich zu.

Ana spürte eine vertraute Panik in sich aufsteigen. Die Tür ist nicht abgeschlossen, sagte sie sich. Du kannst jederzeit gehen. Du bist in Sicherheit. Diesen Gedanken ließ sie sacken und atmete tief durch. »Ja, ich habe mir etwas gegönnt.« Das Vintagekleid stammte aus einem Secondhandladen, den Ana mochte. Es war zwar gebraucht, aber trotzdem ein teurer Spaß gewesen. So wie die gesamte Hen Party. Sie mussten zwar nichts für die Villa zahlen, aber die Flüge waren teuer gewesen. Ana hatte lange mit sich gerungen, ob sie mitkommen sollte. In den Jahren nach Lucas Geburt hatte sie jeden Penny umdrehen müssen und penibel über ihre Ausgaben Buch geführt. Diese Sparsamkeit konnte sie sich noch immer nicht ganz abgewöhnen, obwohl sie inzwischen ein geregeltes Einkommen hatte.

Mach zur Abwechslung mal was für dich selbst, hatte ihre Schwester ihr mit Gebärdensprache gesagt, nachdem Ana ihr vom Junggesellinnenabschied erzählt hatte. Seit Luca auf der Welt ist, bist du nicht mehr im Urlaub gewesen. Lass ihn übers Wochenende bei mir. Wir machen uns schöne Filmabende mit Pizza und Keksen. Ein bisschen Zeit mit Tante Leonora tut ihm auch mal ganz gut.

Ana hatte über das Angebot ihrer Schwester nachgedacht und schließlich mit einer einzigen entschlossenen Gebärde geantwortet: Ja.

Doch je näher das Wochenende rückte, desto nervöser war sie geworden. Und zwar nicht nur wegen der Kosten.

Sie hängte das Kleid in den Schrank und kehrte zum Koffer zurück. Lexi hatte sich daneben aufs Bett gesetzt. Ana stutzte. Ihr Reisepass lag aufgeschlagen im Koffer. Wieder verspürte sie einen Anflug von Panik. Am Flughafen hatte sie den Pass bewusst nicht aus der Hand gegeben, damit keine der anderen Frauen ihn genauer unter die Lupe nehmen konnte.

»Ich kann gar nicht glauben, dass die Hochzeit schon in vier Wochen ist«, sagte Lexi.

Ana streckte die Hand nach dem Koffer aus und tat so, als wollte sie ein Strandhandtuch herausholen. Tatsächlich nahm sie jedoch schnell den Pass an sich und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden.

Zum Glück schien Lexi es nicht zu bemerken. Ana rief sich in Erinnerung, was sie gerade gesagt hatte. »Nur noch vier Wochen, hm? Und wie fühlst du dich?«

»Ganz ehrlich? Ich freue mich auf die Hochzeitsparty, aber was die eigentliche Trauung anbelangt … Bei der Vorstellung, dass ich vor all den Leuten ›Ich will‹ sagen soll, wird mir ganz anders.«

»Aber du bist doch schon oft vor großem Publikum aufgetreten. Ich hätte gedacht, dass du dich vor vielen Zuschauern wohlfühlst.«

»Ja, aber das war nur Show. An meinem Hochzeitstag geht es dagegen tatsächlich um mich.«

»Das verstehe ich«, sagte Ana. Sie hatte nie das Rampenlicht gesucht. Was aber nicht bedeutete, dass sie ein Mauerblümchen war. Überhaupt nicht. Wenn man ernst genommen werden wollte, musste man hart arbeiten und stärker und klüger sein als andere. Man musste mehr sein. So war sie erzogen worden.

»Ich freue mich schon auf dein Gesicht, wenn du die Mühle siehst, in der die Zeremonie stattfindet. Sie liegt direkt am Fluss und hat eine wunderbare Terrasse. Hoffentlich wird das Wetter gut.«

Ana wusste, dass die Mühle schön sein würde und das Wetter tadellos. Und auch die schlichten Blumen und Lichterketten, die Lexi ihr beschrieben hatte, würden perfekt sein – weil alles, was Lexi anpackte, gut wurde.

Dieser Gedanke brachte Ana ins Zweifeln: Bin ich vielleicht diejenige, die falschliegt?