One-Way-Ticket ins Paradies - Joseph Incardona - E-Book

One-Way-Ticket ins Paradies E-Book

Joseph Incardona

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Beschreibung

Iris surft auf den Websites von Ferienresorts, als sie plötzlich eine Mail erhält: "Vergessen Sie alles, was Sie meinen über Ferien zu wissen. Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in ihr Herz geschlossen, Iris." Genau das, was sie braucht: Ehefrau des gestressten Bankiers Paul Jensen und Mutter zweier Kinder, langweilt sie sich am Ufer des Genfersees und sehnt sich nach entspannendem Urlaub. Doch schon bei ihrer Ankunft auf dem Flugplatz bemerkt die Familie Jensen, dass im versprochenen Paradies einiges faul ist ... "One-Way-Ticket ins Paradies" ist Thriller und Sozialsatire zugleich. Incardona spielt geschickt mit Paranoia und Psychose und stellt das Streben nach Glück um jeden Preis in Frage. Nervenkitzel garantiert. Nach dem Erfolg von "Asphaltdschungel" ist "One-Way-Ticket ins Paradies" der zweite Roman noir von Joseph Incardona, der auf Deutsch erscheint.

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Seitenzahl: 259

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Ähnliche


www.lenos.ch

Joseph Incardona

One-Way-Ticket ins Paradies

Roman

Aus dem Französischenvon Lydia Dimitrow

Der Autor

Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film Milky Way. Sein Roman Asphaltdschungel erschien 2019 in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag. Joseph Incardona ist Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Genf.

www.josephincardona.com.

Die Übersetzerin

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u. a. Stipendiatin in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin) und Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u. a. Isabelle Flükiger, Bruno Pellegrino, Valérie Poirier).

www.lydia-dimitrow.de.

Titel der französischen Originalausgabe:

Aller simple pour Nomad Island

Copyright © 2014 by Editions du Seuil, Paris

E-Book-Ausgabe 2020

Copyright © der deutschen Übersetzung

2020 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: paulahelit/Pixabay

eISBN 978 3 85787 981 4

»Und wie sieht für Sie das Glück aus?«

Club Med

Inhalt

Prolog Am Anfang war das Internet

Tag 1

1 Ankommen

2 Warten

3 Erdnuss

4 Nomad Island Resort

5 Bungalow

6 Mike

7 Instinkt

8 Wasser

9 Empfang

10 Nacht

Tag 2

1 Joggen

2 Little Market

3 Schnorcheln

4 Beachvolleyball

5 Zaun

6 Wellnesscenter

7 Auf sich gestellt

8 Rückweg

9 Aufwachen

10 Lachkrampf

11 Der Club

12 Feststellung

13 Ehering

14 Jenny

15 Kid’s Place

16 Benebelt

Tag 3

1 Dusche

2 Inspektion

3 Grübeln

4 Abendessen

5 Spiegel

6 S.C.R.A.B.B.L.E.

7 Spaziergang

8 Salzsäulen

Tag 4

1 Exil

2 Men’s Health

3 Eden

4 Betrachtung

5 Spuren

6 Fresko

7 Rückkehr zur Normalität

8 Traum oder Albtraum?

9 Fieber

10 Zusammenhalten

Tag 5

1 Widerstand

2 Hinter der Tür

3 Wieder vereint

4 Erscheinungen

5 Fährtenlesen

6 Im Namen des Vaters

7 Feststellung

8 Neopren

9 Zögern

10 Auf der Flucht

11 In der Felsspalte

12 Auf der anderen Seite

13 Abstieg

14 Urzeit

15 Lüftung

16 Sonnenbad

17 Vorwärts

18 Offenbarung

19 Hinter dem Berg

Tag 6

1 Bericht

2 Kalender

3 Quelle

4 Konfrontation

5 Ähnlichkeiten

6 Bauchschmerzen

7 Moonlight

Tag 7

1 Lagebesprechung

2 Fluss

3 Lagune

4 Strand

Epilog Resort

Prolog

Am Anfang war das Internet

Der Signalton kündigte ihr den Eingang einer neuen E-Mail an.

Sie schloss die »Club Med«-Seite, die sie sich gerade ansah – »Sie wollen einen Vorgeschmack auf Ihre nächsten Ferien? Kommen Sie mit auf eine virtuelle Entdeckungstour durch unsere Club-Resorts!« –, griff mechanisch nach ihrem Glas auf dem Couchtisch und nahm den letzten Schluck Orangensaft.

Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Mail-Icon ihres iPads, klickte auf die neue Nachricht, und schon öffnete sich die verheissungsvolle Meldung:

Vergessen Sie alles, was Sie meinen über Ferien zu wissen.

Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in ihr Herz

geschlossen, Iris.

Nomad Island Resort

Jemand anderes hätte sich vielleicht über eine solche Spamattacke geärgert, zumal wenn man sich just in diesem Moment über Urlaubsangebote informierte – aber nicht so Iris. Hier lag keine globale Verschwörung gegen sie oder ihre Familie vor. Ihr wurde lediglich ein kleiner, von den Suchmaschinen der verschiedenen Websites auf gut Glück konfigurierter Schubs gegeben. Das Internet war eine grossartige Sache, dank der sie von zu Hause aus ihre Einkäufe erledigen, Veranstaltungstickets reservieren oder mit ihren inzwischen über die ganze Welt verstreuten Freundinnen von früher kommunizieren konnte. Im Netz war alles zu haben, was man wollte, solange man nur über eine Kreditkarte und ein pralles Konto verfügte. Und eben bereit war, im Tausch gegen all diese Annehmlichkeiten ab und zu ein bisschen Spam in Kauf zu nehmen; das hiess ja nicht etwa, dass da ein böser Big Brother an der Wohnzimmertür lauschte.

Iris stand auf und nahm eine Zigarette aus der Packung vom Blumentisch. Mit dem Feuerzeug in der Hand hielt sie kurz inne, ein warmer Sonnenstrahl streifte ihre Finger. Durch das offene Fenster sah sie auf das glitzernde Wasser des Pools. Hinter dem Becken fiel der Garten sanft zum Seeufer hin ab. Seit die Sonne hinter den Wipfeln der Linden hervorgekommen war, kletterte das Thermometer draussen immer weiter in die Höhe. Mit der Hitze stieg der Geruch von frisch gemähtem Rasen auf.

Am besten ging es ihr, wenn sie das Haus ganz für sich hatte. Was sie nie zugegeben hätte, aber so war es eben seit ihrer Rückkehr aus der Klinik. Paul bei der Arbeit. Lou und Stanislas beim Schwimmen. Bye-bye, family! Ein Lachen verzerrte ihre Lippen, die sich stumm wieder schlossen. Die Erinnerung an den Klinikaufenthalt begann zu verblassen. Aber nicht das Unwohlsein.

Iris zündete sich die Zigarette an und setzte sich wieder aufs Sofa. Sie griff nach dem iPad, las noch einmal den Betreff der Nachricht, die mit dem Foto einer paradiesischen Insel unterlegt war.

Noch drei Wochen, bis die Schule wieder anfing, die letzte Chance, sich richtige Ferien zu gönnen, Abstand zu gewinnen von dieser elenden Sache, die sie mehr und mehr von allem entfernte.

Last-Minute-Angebot.

Iris knetete den kleinen Elefanten aus Elfenbein an ihrer Kette. Die Nachricht hatte ihre Firewall durchbrochen. Ein bisschen wie diese schamlosen Menschen, die völlig unverfroren beim Chef anklopfen, obwohl eigentlich genug Stufen zwischen ihnen und dieser Tür liegen, um derartige Attacken abzuwenden.

Und was sagt dann der Chef in neun von zehn Fällen?

Sie haben fünf Minuten, um mich zu überzeugen.

Iris hatte einen guten Tag.

Iris hatte Zeit.

Und sie war das schwache Glied.

Tag 1

1

Ankommen

Von oben besehen, sind die Nomad Islands eine Kette mitten im Indischen Ozean zurückgelassener Felsen. Wie ein Schneckenhaus aus kleinen Punkten rollen sich etwa ein Dutzend sattgrüne Atolle zu einer wunderbar geometrischen 9 und schirmen so eine ausgedehnte Lagune gegen die Nordwestwinde ab. Landzungen aus strahlend weissschimmerndem Sand scheinen in dem türkisfarbenen Wasser zu schweben, unter dessen Oberfläche sich schillernde Korallen wiegen.

Das Paradies, dachte Paul, als er diese Landschaft durch das Fenster der Cessna erblickte. Er drehte sich zu Iris, die keinerlei Regung zeigte. Das Flugzeug flog inzwischen auf weniger als sechstausend Fuss und nahm eine Hundertachtzig-Grad-Kurve, um gegen den Wind die Landebahn anzusteuern. Paul hob die Sonnenbrille seiner Frau an und sah, dass sie fest schlief. Auf der Rückbank waren Stanislas und Lou, angeschnallt in ihren Sitzen, ineinander zusammengesunken. Ein Spuckefaden hing aus dem halbgeöffneten Mund seiner Tochter und wand sich in die blonden Locken seines Jüngsten. Paul lächelte und drehte sich wieder zu seinem Fenster, auch wenn er ein wenig enttäuscht war, dass er diesen Ausblick nicht mit ihnen teilen konnte.

Die Maschine überflog den Kratersee von Nomad First; er stellte die unerschöpfliche Wasserreserve für die Bevölkerung der Hauptinsel dar, der grössten und einzigen bewohnten von den insgesamt dreizehn zu dem Archipel gehörenden Inseln. Der Pilot – ein gewisser Jamar – bremste, hoch konzentriert, auf neunzig Knoten ab, hielt die Maschine stabil, die nun in leichter Schräglage flog. Paul, der hinter ihm sass, richtete sich auf. Er konnte nicht das ganze Cockpit einsehen, der massige braungebrannte Nacken des Piloten versperrte ihm die Sicht. An der Verschlussschnalle seines Helms ragte ein Büschel schwarzer Haare hervor, gefärbt, wie Paul vermutete. Er hatte keine einzige seiner dreihundert Flugstunden in den Robin- und Piper-Maschinen vergessen; das Fliegen war für ihn ein echtes Vergnügen gewesen. Kein Flug glich dem anderen: Dort oben, allein in seinem Cockpit, war er ganz aufs Navigieren fokussiert und gleichzeitig völlig in Gedanken verloren gewesen. So konnte er sich frei fühlen, frei von Sorgen und Pflichten. Aber auf Iris’ Drängen hin hatte er schliesslich diese Leidenschaft aufgegeben, die seine Frau für teuer und gefährlich hielt: Lous Geburt setzte seinem Hobby ein Ende, und die Fluglizenz verschwand in der Kiste mit seinen Erinnerungen. Jetzt beneidete er den Piloten, der in diesem Moment dazu ansetzte, die Maschine vor dieser atemberaubenden Kulisse mitten im Ozean zu landen.

Windböen rüttelten am Flugzeugrumpf, Iris schreckte auf und gab ein missmutiges Grummeln von sich.

»Wir landen gleich, Schatz«, beruhigte sie Paul.

Iris gähnte und fuhr sich mit trockener Zunge über die Lippen. Sie seufzte, lehnte ihren Nacken an die Kopfstütze, ohne die Landschaft eines Blickes zu würdigen. Paul drehte sich um und sah den Kontrollturm des Flugplatzes; daneben war ein winziges Fahrzeug abgestellt.

Die Räder berührten den Boden, das Flugzeug setzte mehrmals auf der Sandpiste auf, Staub wirbelte hoch. Jamar drosselte den Motor und fuhr die Luftbremsen aus. Jetzt waren sie alle wach.

»Sind wir schon da, Papa?«, fragte Stan und rieb sich die Augen.

»Fuck, das wurde aber auch Zeit!«, sagte Lou seufzend.

Iris liess die Bemerkung durchgehen, und auch Paul – todmüde, mit pappiger Zunge und beissendem Schweissgeruch unter den Achseln – sagte nichts. Von Genf über Paris nach Saint-Denis de La Réunion plus zwei Stunden Flug in der Cessna Stationair von Jamar, das machte fünfzehn Stunden Reisezeit, die Zwischenstopps nicht einberechnet. Da kann man als eher kleines Zugeständnis in der Erziehung einer Vierzehnjährigen ein »Fuck« schon mal ohne allzu schlechtes Gewissen überhören.

Der Pilot steuerte das Flugzeug in Richtung des Hangars nahe dem Kontrollturm, einem zweigeschossigen Massivbau, auf dem (absurderweise, dachte Paul) zu lesen war: »Nomad First International Airport«. Die Propeller machten eine letzte lautlose Umdrehung, bevor sie endgültig zum Stillstand kamen. Jamar löste seinen Anschnallgurt und setzte seine Kopfhörer ab. Er öffnete die Tür des Cockpits und stützte sich auf die Leiter, die genauso wie die vorschriftsmässigen Absperrkegel unter der Flugzeugnase und den beiden Flügeln gerade von einem Mann in einem ausgeblichenen orangefarbenen Overall aufgestellt worden war. Da die Cessna die einzige Maschine auf dem Rollfeld war, musste Paul über diese aus seiner Sicht unnötigen Sicherheitsvorkehrungen schmunzeln. Aber ein Flugplatz, so klein er auch sein mag, darf sich »international« nennen, solange es nur zutrifft, und dann gelten dort dieselben Vorschriften wie überall sonst.

Der Bodenmitarbeiter mit den Ohrenschützern um den Hals öffnete die Tür zur Kabine und half den Jensens nacheinander beim Aussteigen. Er trug eine Ray-Ban Aviator – oder eine Sonnenbrille, die so aussah – und schien seine Arbeit sehr ernst zu nehmen. Der Pilot sprach mit ihm in einer Sprache, die wie Tamil klang; dann wandte er sich zu Paul, um sich zu verabschieden.

»Fliegen Sie schon wieder los?«, fragte dieser verwundert.

»Sobald ich vollgetankt und die Maschine gecheckt habe, ja«, antwortete Jamar.

»Machen Sie viele solcher Shuttleflüge?«, fragte Paul noch.

Die Frage war absurd: Alle waren müde, niemandem stand der Sinn nach Small Talk. Iris zog ihn entnervt zu sich heran.

»Mein Part endet hier«, sagte Jamar. »Ich wünsche Ihnen, Mister Jensen, und Ihrer Familie einen angenehmen Aufenthalt auf Nomad First.«

Der Pilot zog sich höflich zurück und verschwand mit seinem Flugplan auf dem Klemmbrett in Richtung des Gebäudes.

Paul schloss zu Iris auf, die mit den Kindern schon losgelaufen war. Der Mann im orangefarbenen Overall hatte ihre Koffer auf einen Gepäckwagen geladen und ging vor ihnen über das behelfsmässige Rollfeld, verschwommene Silhouetten in der flirrenden Hitze.

2

Warten

»Scheisse, wie lange dauert das denn?«

Iris’ Arm schnellte zur Seite, ihr Handrücken prallte auf Lous noch geöffneten Mund. Der goldene Ehering traf auf die zahnspangenummantelten Schneidezähne ihrer Tochter.

»Au! Fuck!«

Lou schlug die Hände vors Gesicht und sank wimmernd zusammen.

Paul war gerade darauf konzentriert, mit dem Blick dem Verlauf des Kabelkanals zu folgen, der den Deckenventilator mit einem Solarmodul ausserhalb des Gebäudes verband – er drehte sich um. Als er dem düsteren Blick seiner Frau begegnete, beschloss er, das Ganze nicht zu kommentieren.

Stan bekam nichts mit, er war mit seinem iPad beschäftigt und damit, diverse Vögel auf wacklige Konstruktionen zu katapultieren.

»In diesem Scheissland gibt es nicht mal Empfang!«, sagte Lou und pfefferte ihr Smartphone auf den Sitz neben sich.

»Ich habe Durst, Mama«, sagte Stan, ohne den Blick von seinem Bildschirm zu lösen.

Iris sprang auf und durchquerte mit ein paar langen Schritten die Halle. »Was ist hier los, Paul? Warum bitte holt uns niemand ab?«

Paul sah sich um: ihre hinter der dreckigen Scheibe aufgetürmten Koffer, der von Zigarettenstummeln überquellende Standascher, die Staubschicht auf den Fliesen. Das alte Hygrometer neben der Tür zeigte eine unfassbar hohe Luftfeuchtigkeit an, die Wartehalle war eine einzige Sauna.

»Ich weiss es nicht, Schatz, es muss irgendein organisatorisches Problem geben, ich …«

»Schon klar, dass es ein Problem gibt, ich frage mich nur, was du unternehmen willst, um es zu lösen! Ob du es glaubst oder nicht, ich habe genau jetzt meine Tage bekommen, und ich hab weder Tampons noch Binden dabei!«

»Schatz, du hast deine …?«

»Yes, Mister. Ob du es glaubst oder nicht, nach all den Monaten ist es so weit! Hier und jetzt! Und dein ›Schatz‹ kannst du dir sparen, ich bin fertig, ich kann nicht mehr! Ich brauche eine Dusche!«

Iris machte auf dem Absatz kehrt, schnappte sich das Samsung ihrer Tochter und steckte es sich in die Gesässtasche ihrer Jeans.

»Das war das letzte Mal, dass ich dich das Ding durch die Gegend werfen sehe«, sagte sie zu der schmollenden Lou, die demonstrativ in die andere Richtung guckte.

Paul ging zum zigsten Mal durch die Glastür und trat unter das Vordach des Kontrollturms. Diese Reise war Iris’ Idee gewesen, aber jetzt war auf einmal er verantwortlich. Er war zwar einen Meter neunzig gross – bei den Wutausbrüchen seiner Frau fühlte er sich trotzdem immer klein.

Er klopfte noch einmal an die Tür, auf der »Privat« stand, versuchte, sie zu öffnen, aber sie blieb verschlossen. Er ging über das Rollfeld und winkte in Richtung der verspiegelten Scheiben: Nichts rührte sich. Dabei hatte er den Piloten in dieses Gebäude gehen sehen, das hatte er doch verdammt noch mal nicht geträumt! Bestimmt gab es einen anderen Ausgang, und Jamar war mit einem Mitarbeiter der Flugsicherung wieder rausgegangen … Paul lief die Landebahn entlang: Der staubige Ford Pick-up stand noch an derselben Stelle.

Er ging ein paar Schritte weiter, beschirmte mit der Hand seine Stirn gegen die Sonne, blickte in Richtung Hangar. Auch der Mann in dem orangefarbenen Overall war verschwunden, nachdem er ihr Gepäck in der Wartehalle abgestellt hatte. Paul zog sein Blackberry aus der Tasche seiner Tarnhose, wobei es ihm fast aus den feuchten Fingern glitt. Lou hatte recht, ein Blick auf das Display bestätigte: kein Empfang.

Als er plötzlich das Knattern der Cessna hörte, hob er den Kopf. Er sah, wie das Flugzeug den Hangar verliess und über das Rollfeld rumpelte. Von dem Geräusch angezogen, kamen auch Iris und die Kinder nach draussen und stellten sich zu ihm.

Paul legte seinen Arm um die Schultern seiner Frau und seiner Tochter. Stanislas rückte an seine Mutter heran, Iris drückte ihn an sich.

Das Flugzeug wendete. Der Motor lief auf Hochtouren, die Maschine beschleunigte, stiess sich mehrmals mit den Rädern vom Rollfeld ab und löste sich schliesslich vom Boden.

3

Erdnuss

»Koffer im Auto, wir können los jetzt.«

Die Jensens drehten sich alle mit einer einzigen Bewegung um, perfekte Choreographie einer verdutzten Familie.

Ihnen gegenüber stand eine Person mit dunkler Haut; ihre kurzen Haare, die bemerkenswert feinen Züge und das deutliche Übergewicht machten es schwierig, sie dem einen oder dem anderen Geschlecht zuzuordnen. Die dünne Stimme und die unvermeidliche Pilotenbrille trugen ein Übriges zur Geschlechterverwirrung bei.

Stan und Lou unterdrückten ihr Lachen, als sich das androgyne Wesen auf sie zubewegte – das bestimmt mindestens einen Meter achtzig mass, aber für seine Fülle erstaunlich agil und leichtfüssig wirkte. Ein Sumoringer, dachte Paul. An dem Einstecktuch seiner Uniform – dunkelgrünes Hemd, weisse Hose, weisses Foulard – war ein Namensschildchen befestigt: »Ulita«. Paul schloss von dem a am Ende auf einen weiblichen Vornamen, aber der kräftige Händedruck – ein richtiger Schraubstock! – ordnete für ihn Ulita in die Kategorie »queer« ein.

Iris war die Erste, die sich dem seltsamen Aussehen des Fahrers zum Trotz wieder fasste. »Wir warten hier verdammt noch mal schon über eine Stunde! Wie kann das sein?«

Ulita neigte den Kopf zur Seite, als würde er auf einem Ohr schlecht hören. »Please? Was Sie haben gesagt?«

»Ich haben gesagt, dass es wohl das mindeste wäre, dass Sie sich für die Verspätung entschuldigen«, zischte Iris. »Wir haben hier wie die letzten Idioten auf Ihrem sogenannten internationalen Flughafen gewartet, ohne jede Erklärung, ohne jeden Service!«

Ulita verzog keine Miene und tat, wie ihm geheissen: »Im Namen von Nomad Island Resort bitte ich Sie, die Verspätung wegen dem Verkehr zu entschuldigen.«

»Verkehr?«, wiederholte Paul.

»Na bitte!«, schloss Iris. »Dann ist ja alles bestens! Gehen wir!«

Ohne den Sarkasmus herausgehört zu haben, bat Ulita die Familie, ihm zu dem Ford Pick-up neben dem Kontrollturm zu folgen.

»Warten Sie mal«, sagte Paul, »wo waren Sie vorhin?«

»Wo ich sein?«

»Als wir gewartet haben, Grundgütiger! Wo waren Sie da?«

Ulita zeigte auf irgendeinen nicht näher bestimmbaren Punkt der Insel. Paul liess den Sumoringer vorgehen und rieb sich kopfschüttelnd die geröteten Augen.

Iris und die Kinder kletterten auf die Rückbank, Paul setzte sich neben den Fahrer. Die glühend heissen Kunstledersitze verströmten einen leichten Benzingeruch. Das Armaturenbrett war von Rissen überzogen.

»Hier drinnen sind bestimmt fünfzig Grad! Haben Sie keinen Parkplatz im Schatten gefunden? Das ist doch abartig!«, fluchte Paul, während er sich anschnallte.

Der Fahrer ging darauf nicht weiter ein und drehte den Zündschlüssel um. Er betätigte den Hebel der Automatikschaltung und steuerte den Geländewagen in einer grossen Staubwolke auf die unbefestigte Strasse. Paul dachte an ihre Koffer auf der Ladefläche, sagte aber nichts, um nicht den nächsten Konflikt vom Zaun zu brechen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn, sein Hemd klebte ihm an der Brust. Er wollte das Fenster herunterlassen, aber der Knopf funktionierte nicht.

»Elektronik kaputt«, sagte Ulita.

»Na wunderbar! Ich glaube, ich werde wohl ein Wörtchen mit Ihrem Chef zu reden haben …«

»Ja, Mike Sie begrüssen. Mike very cool.«

Je weiter sie sich vom Flugplatz entfernten, desto dichter wurde die Vegetation am Strassenrand – hauptsächlich Kokospalmen und Schraubenbäume. Anders, als man es sich vielleicht vorstellen würde, dominierte die Farbe Grün, Blumen waren eher selten. Das Paradies war weniger bunt, als das Panorama aus der Vogelperspektive hatte vermuten lassen. Paul fragte sich, was für Flora und Fauna es auf der Insel gab. Bis zum letzten Moment hatte er jede Menge Arbeit gehabt und keine Zeit gefunden, sich zu informieren. Er hatte das im Flieger nachholen wollen, sich dann aber doch nicht aufraffen können, in den von der Reiseagentur zur Verfügung gestellten Prospekten zu blättern – und ausserdem: Was war mit den Geräuschen, den Gerüchen? Er hatte ein gutes Viertel des Globus überquert, aber abgesehen von dem Rollfeldintermezzo eben nur geschlossene Räume gesehen – Wartesäle, Lounges, Druckkabinen. Nun in diesem überhitzten Wagen wieder eingesperrt, dachte Paul, dass seine Befreiung bis zu ihrer Ankunft im Resort nur eine Hypothese blieb.

Stanislas verputzte auf seinem Sitz die Reste einer Maxipackung M & M’s. Er warf die schokolierten Nüsse in die Luft und versuchte, sie mit dem geöffneten Mund zu fangen. Lou erwischte eine von ihnen und steckte sie sich unter Protest ihres Bruders in den Mund.

»Lou, lass das!«

»Igitt, die Schokolade ist ja ganz weich!«

»Schluss jetzt!«, brüllte Iris.

Paul zuckte zusammen, denn auch wenn er nicht selbst fuhr, hatte er sich doch ganz auf die Strasse konzentriert. Die schraubte sich immer weiter in die Höhe. Ulita reizte unbekümmert die Manövrierfähigkeit des Ford Ranger aus.

»Das Hotel liegt auf der anderen Seite des Vulkans?«, fragte Paul.

»Das Resort«, berichtigte Ulita.

»Denken Sie nicht, wir sollten etwas langsamer fahren?«, setzte Paul hinzu. »Auf eine halbe Stunde kommt es doch jetzt nicht mehr an …«

Wie zur Antwort beschleunigte Ulita nach der Kurve.

»Mein Mann hat Sie gebeten, langsamer zu fahren!«, schaltete sich Iris ein. »Wir sind hier Gäste, Sie arbeiten für uns, also machen Sie, was wir sagen, ist das klar?«

Ulita legte wieder den Kopf schief, als würde er einen Moment überlegen, bevor er die Geschwindigkeit verringerte.

»Was für ein Schwachkopf!«, blaffte Iris.

»Oder eine Bitch«, ergänzte Lou.

»Okay, ihr zwei, kommt wieder runter. Das ist kein Grund, gleich …«

Paul kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden: Das Ungetüm tauchte plötzlich mitten auf der Strasse auf.

Es handelt sich wie beim Krokodil um eins der oviparen Tiere, die Hunderttausenden Jahren an Evolution standgehalten haben; es gehört zu den letzten Überlebenden einer weit zurückliegenden Ära, als der Mensch noch nicht in Erscheinung getreten war. Der Mensch, der, an der Entwicklung der Erde gemessen, innerhalb eines Wimpernschlags die gesamte Hierarchie von Fressen und Gefressenwerden auf den Kopf gestellt und den Pick-up Ford Ranger erschaffen hat: Dieser ist durchaus in der Lage, es bei einem Aufprall von mehr als sechzig Stundenkilometern mit einem Nashorn aufzunehmen – und es umzuwerfen.

Aber nicht mit einer zweihundert Kilo schweren Landschildkröte, die mehr als ein ganzes Jahrhundert Leben hinter sich hat.

Über Zeitalter hinweg konnte sie überdauern dank einer einzigartigen atomaren Zusammensetzung und ihrem Schutzinstinkt: zelebrierte Langsamkeit, die sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr in einen dicken Panzer aus Knochen, Horn und Schuppen zurückzieht.

Der bull bar des Geländewagens, der dafür gedacht ist, Büffel oder sonstige Vierbeiner von einer gewissen Robustheit aus dem Weg zu räumen, erwies sich in diesem Fall als völlig nutzlos: Der konvexe Panzer blieb unbeweglich und fest mit dem Boden verbunden, er liess den Ford abheben und auf zwei Rädern balancierend weiterfahren, bis dieser nach etwa zehn Metern zurückplumpste. Ulita bremste und lenkte gegen, konnte gerade noch verhindern, dass sie über den Strassenrand direkt den Abhang hinuntergeschleudert wurden. Während die Jensens noch starr vor Schreck waren, setzte der Wagen seine Fahrt fort. Ulita drehte sich zu Paul, lächelte ihn an und legte dabei eine Zahnreihe frei, die so weiss war, als wäre sie aus Porzellan.

Wenn einen der nervöse Gasfuss des Fahrers einen Abgrund entlangschlittern lässt – und für einen Moment die Zeit stillsteht –, kommt es manchmal dazu, dass die ungewöhnlichsten Umstände zusammentreffen. So erscheint es doch abwegig, dass ausgerechnet die letzte Erdnuss einer Packung M & M’s Ihrem Sohn in den falschen Hals gerät, und dann auch noch als Folge einer statistisch gesehen nicht sehr wahrscheinlichen Begegnung zwischen einem in Detroit gebauten Ford Pick-up und einer Riesenschildkröte auf den Nomad Islands.

Iris und Lou standen noch unter Schock, aber als Paul einen Blick nach hinten warf, erkannte er den kritischen Zustand seines Sohns. Das gerötete Gesicht und die glasigen Augen waren die ersten Anzeichen des drohenden Erstickens.

»Anhalten! Stopp! Anhalten habe ich gesagt!«, brüllte Paul.

Ulita reagierte nicht. Unter den schreckgeweiteten Blicken seiner Frau und seiner Tochter zog Paul die Handbremse. Der Wagen schlingerte, prallte gegen eine Felswand und schabte mit der rechten Seite noch ein Stück daran entlang.

»Papa?!«, schrie Lou.

»Bist du übergeschnappt?«, brüllte Iris.

Der rechte Frontscheinwerfer blieb an dem Stamm eines Schraubenbaums hängen, der Wagen kam quer auf der Fahrbahn zum Stehen, der Kühlergrill hing schon über dem Abgrund. Paul löste seinen Anschnallgurt und sprang zwischen die Vordersitze, dabei stützte er sich mit dem Fuss am Armaturenbrett ab. Er rammte seinem Sohn die Faust in den Bauch. Dann versetzte er ihm einen kräftigen Schlag oberhalb des Zwerchfells. Stan hustete, spuckte. Die Erdnuss flog gegen Ulitas Kopfstütze und rollte über den staubigen Teppich im Fussraum. Iris starrte verdattert auf die ihrer Schokoladenummantelung beraubte Nuss, während Stan wieder zu sich kam und hektisch die heisse Luft einzog.

Während die Stossdämpfer den Ausblick auf den Abgrund genossen, liess sich Paul zurück auf seinen Sitz fallen. Er musste sich beherrschen, um nicht als Nächstes seine Faust in Ulitas Visage zu versenken, und sagte: »Wollen Sie den Rückwärtsgang einlegen, oder sollen wir hier endgültig in der Schlucht landen?«

Ulita lächelte und stellte den Schalthebel des Automatikgetriebes auf R. Der Pick-up setzte zurück. Iris, stumm vor Schreck und leichenblass, hielt den immer noch zitternden Stan in den Armen.

»Scheissferien«, sagte Lou.

Aber da war kein Hauch von Aufmüpfigkeit, nur pure Angst in einer tonlosen Stimme.

Hinter ihnen war die Schildkröte im Gebüsch verschwunden; sie setzte ihren langen Weg fort, durch die Zeiten und über alle Katastrophen hinweg.

4

Nomad Island Resort

Der Geländewagen hielt vor einem hohen Automatiktor, das sich zu beiden Seiten im Dickicht verlor. Ein Häuschen mit getönten Scheiben wachte vor dem Haupteingang der Ferienanlage. Ulita zog ein Handy aus seiner Tasche und tippte auf eine Kurzwahltaste. Er stiess eine unverständliche Formel hervor, woraufhin die gummierten Räder des Tors ins Rollen kamen.

»Ist das hier Fort Apache?«, fragte Paul. Er hatte nichts gegen Sicherheitsvorkehrungen (ihre eigene Villa war mit einer Alarmanlage ausgestattet, die direkt mit einer Einsatzzentrale verbunden war), nur in dieser Abgeschiedenheit fand er das alles etwas befremdlich.

»Ich verstehe nicht«, sagte Ulita und fuhr den Wagen durch das sich lautlos öffnende Tor.

»Wovor haben Sie denn Angst, dass Sie hier solche Zäune haben?«

Sie passierten die Einfahrt, und sofort schloss sich das Portal wieder hinter ihnen.

»Dem Wild«, antwortete Ulita.

»Dem … Wild?«

Paul drehte sich zu seiner Familie um und schnitt eine entnervte Grimasse. Niemand fand das witzig.

Der Pick-up fuhr von Palmen und makellos gepflegtem Rasen gesäumte Alleen hinauf. Überall blühten Bougainvilleen und Frangipani, Orangenblüten, Ylang-Ylang und Vanille. Auf dem ganzen Gelände leuchteten die Blüten verschiedenster Büsche in den schillerndsten Farben. Das komplexe Netz aus sich in regelmässigen Intervallen aktivierenden Sprinklern klang wie der zirpende Chor aquatischer Grillen.

»Na, das ist doch schon besser«, sagte Paul.

Ulita hielt vor einem zaunlosen Häuschen. Auf einem Schild im Rasen stand die Nummer 27. Zu beiden Seiten konnte man in einiger Entfernung ähnliche Bungalows erahnen, immer von kleinen Garteninseln umgeben. Ulita entriegelte die Türen, und die Jensens sprangen aus dem Wagen, alle erleichtert, endlich angekommen zu sein. Betörende Düfte schlugen ihnen entgegen, Blumen, Gewürze, aber auch ein durchdringender Jodgeruch. Mit dem Tschilpen der unbekannten Vögel, das lieblich und unheimlich zugleich klang, machte sich eine gewisse Enttäuschung breit, denn der Ozean lag verborgen in der Ferne, aber er rief, rief, wie er nach allen Menschen ruft, auf dass sie sich dem Wasser nähern mögen und sich in seinem Anblick verlieren.

Der Fahrer lud die Koffer und Taschen aus. Perfekt aufeinander abgestimmt, erschienen drei Bedienstete in weissen Sarongs, um sich des Gepäcks anzunehmen. Sie waren so schmal und zierlich, wie Ulita gross und massig war; Paul fiel zwar auf, dass auch sie Pilotenbrillen trugen, aber das war dann auch ihre einzige Gemeinsamkeit mit dem Fahrer und seiner karamellfarbenen Haut.

»Mein Part endet hier. Ich wünsche Ihnen, Mister Jensen, und Ihrer Familie einen angenehmen Aufenthalt auf Nomad First.«

Ulita ging um den Pick-up herum und stieg ein. Mit einem schmatzenden Geräusch schloss sich die Wagentür. Der Ford wendete und rollte über den Asphalt davon, der so glatt dalag wie ein Billardtisch. Alles war perfekt, bis auf den schrottreifen Wagen, der durch ihren Stunt jetzt noch mehr Blessuren davongetragen hatte.

Die Bediensteten waren mitsamt ihren Habseligkeiten im Haus verschwunden. Iris, Stanislas und Lou warteten in der Tür auf Paul. Aber der fühlte sich plötzlich wie entfernt von ihnen, als würde er dabei zusehen, wie sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und seiner Familie aufbaute.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab.

5

Bungalow

Wie getupft fiel der Schatten der vom Licht durchschienenen Frangipani auf die lange Pergola, die sie hinaufstiegen. Zu beiden Seiten hin erstreckte sich ein grosszügiger Garten, den man so angelegt hatte, dass in ihm die schönste Seite der Natur erblühte, ohne dass sie allzu wild wuchern konnte. Die Nachbarhäuser fügten sich in ausreichendem Abstand nahtlos in die Landschaft ein, nirgendwo störte ein Zaun das Bild. Der Palmenhain spendete wohltuenden, von der Meeresbrise zusätzlich erfrischten Schatten. Die Blätter der Kokospalmen, die sich unter ihren Früchten bogen, rauschten leise, wie eine flüchtige, aber immer neue Liebkosung im Reich der Ruhe und Erholung. Der Mensch ging hier im Schatten zu Werke: unsichtbare Gärtner und Bedienstete, Silhouetten, die nur in Erscheinung traten, wenn es unbedingt nötig war.

Die Jensens stiegen etwa ein Dutzend Stufen hinauf und folgten den einheimischen Angestellten in den Bungalow; diese huschten barfuss über das Parkett, um das Gepäck auf die verschiedenen Zimmer zu verteilen. Sie senkten jedes Mal ehrerbietig den Kopf, wenn sie mit stummer Geste präsentierten: Wohnzimmer, Essecke, Schlafzimmer, Bäder … Alles zweckmässig und komfortabel eingerichtet. Was nach einer eingehenderen Betrachtung auffiel, waren die eingesetzten Materialien: Von den Rohrleitungen abgesehen, schien alles aus Rohstoffen von der Insel gefertigt zu sein. Das Mobiliar war aus Holz, Rattan und Bambus. Für die Badewannen und Waschbecken hatte man einen marmorähnlichen, polierten schwarzen Stein verwendet. Die Kissen waren mit bunten, von Hand gewebten Patchworkstoffen bezogen. Die Moskitonetze glichen übergrossen Spinnweben. Die Kochnische schien von weitem auf das Wesentliche reduziert: eine einfache Theke mit Arbeitsplatte und einem doppelten, aus Stein gehauenen Spülbecken.

Iris war entzückt: »Kein Abwasch, kein Kochen, phantastisch!«

Paul erwiderte ihr Lächeln und sah sich um. Er wollte die Angestellten um eine Flasche Wasser bitten, aber da waren sie schon verschwunden.

»Papa, Mama! Kommt schnell, das ist ja der Wahnsinn!«, rief Lou.

Sie gingen zu ihrer Tochter nach draussen. Stan folgte ihnen. Auf hohen Pfählen überragte die Veranda die Lagune.

Zu dieser Uhrzeit, wenn die Sonne über dem Meer untergeht – die Nomad Islands liegen nahe am Äquator, die Sonne geht früh auf und früh unter –, bot die Bucht ein Bild von überwältigender Schönheit: das Schimmern der Korallen unter der Wasseroberfläche, die Blautöne des Meeres und des Himmels, der Kontrast zum strahlend weissen Sand, der sich am Fusse der wattig braunen Palmenstämme erstreckte. Und als wäre das noch nicht genug, als brauchte die Verzückung noch eine Steigerung, erhob sich ein Schwarm Flamingos in die Höhe und verlieh der elliptischen Perspektive der Lagune so ihren Fluchtpunkt, flirrende Tupfen, um das Gemälde zu vollenden, trunkener Blick, bis zur vollständigen Verwirrung der Sinne.

Paul. Iris. Lou. Stanislas.

Vierzig, siebenunddreissig, vierzehn und neun Jahre alt.

Zusammengenommen hundert Jahre. Ein Jahrhundert, in sprachlos-stummer Betrachtung versunken, ein waschechtes Klischee, leibhaftiges Standbild von wahrhafter Vollkommenheit. Zwanzig Stunden in Fliegern, in Wartehallen, mit künstlicher Beleuchtung, gedämpften Geräuschen, abgestandener Luft – zwanzig Stunden wie weggeblasen, ausradiert, die Müdigkeit, Ängste und Vorbehalte nur noch eine blasse Erinnerung.

Zusammengenommen hundert Jahre. Ein Jahrhundert, und zwar das vergangene, das sich so gut darauf verstanden hatte, den Ruin dessen voranzutreiben, was nun vor ihren Augen lag, wie eine Ausnahme, ein Wunder für Privilegierte. Was sie ungläubig bestaunten, worüber sie den eigenen Körper, das eigene Dasein vergassen. Denn jedes Wesen, jedes Ding trägt den eigenen Ursprung in sich. Jedes Wesen, jedes Ding behält eine Spur von seinem ersten Evolutionsstadium.

Sie drangen in diesem Augenblick in ein uraltes Territorium vor, das nur sehr wenige das Privileg haben jemals zu erblicken. Nur wenige noch erblicken werden. Denn all dies, der Himmel, das Meer, die Luft und das Licht, war schon im Begriff zu vergehen, längst vergiftet, nur noch schöner Schein.

Und dieses uralte Territorium begann, sich ihrer zu bemächtigen, gänzlich, unmerklich und unheilvoll.

6

Mike