Asphaltdschungel - Joseph Incardona - E-Book

Asphaltdschungel E-Book

Joseph Incardona

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Beschreibung

Es ist heißer August. Auf den französischen Autobahnen, in den trostlosen Raststätten, auf den Ruheplätzen für Fernfahrer, den Arbeitsplätzen der Prostituierten, ist viel Betrieb: Touristen, Pendler, Liebespaare, die die Anonymität der Motels schätzen - aber auch Menschen mit anderen Zielen, wie Pierre, ehemaliger Gerichtsmediziner, der seinen Job aufgegeben hat und als rastloser Beobachter Spuren seiner vor Monaten entführten Tochter Lucie zu finden hofft, oder Pascal, ein auf den ersten Blick unscheinbarer Angestellter, der in einem Autobahnrestaurant das Essen ausgibt. Sylvie und Marc sind mit ihrer Tochter Marie unterwegs in die Ferien. Beim Halt an einer Raststätte macht sich Marie selbständig und begibt sich auf einen Rundgang. Sie kommt nicht mehr zurück. Die Polizei geht von einer Entführung aus. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Joseph Incardona erschafft ein filmreifes Panoptikum von schicksalhaften Begegnungen und Beziehungsmustern. Ganz in der Tradition des Roman noir, entblättert sich eine Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, Lust und Schmerz, Sex und Crime, Trauer und kurzen Glücksmomenten.

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Seitenzahl: 295

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www.lenos.ch

Joseph Incardona

Asphaltdschungel

Roman

Aus dem Französischenvon Lydia Dimitrow

Der Autor

Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film Milky Way. Er ist Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Genf. www.josephincardona.com.

Die Übersetzerin

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u. a. Stipendiatin in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin) und Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u. a. Isabelle Flükiger, Bruno Pellegrino, Valérie Poirier). www.lydia-dimitrow.de.

Titel der französischen Originalausgabe:

Derrière les panneaux, il y a des hommes

Copyright © 2015 by Editions Finitude

E-Book-Ausgabe 2019

Copyright © der deutschen Übersetzung

2019 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration: Lucia Calfapietra

eISBN 978 3 85787 971 5

www.lenos.ch

Was ein Mensch macht,kann ein anderer zunichtemachen.

Inhalt

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil V

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil VI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil VII

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil VIII

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil IX

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil X

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil XI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil XII

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil XIII

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

I

1

Pierre Castan öffnet die Augen.

Hinter der schmierigen Windschutzscheibe ist die Welt immer noch da: ein Rastplatz, hitzedurchtränkt.

Zertrampeltes gelbes Gras. Überquellende Abfalleimer. Angeschlagene Betonpicknicktische, rostige Stummel an den Ecken. Entlang der Büsche an der Umzäunung: Scheisshaufen, und auf den Scheisshaufen Taschentücher mit Scheisseflecken. Dahinter Stoppelfelder, vom Horizont verschluckt.

Fliegen auf den fleckigen Taschentüchern. Fliegen auf der Windschutzscheibe, Schwirren, Surren. Nicht verweilen. Nicht auf der süsslich aufgeweichten Kacke. Nicht auf der brennend heissen Krümmung der Scheibe.

Lucilia caesar oder auch Schmeissfliege.

Zu Unrecht: lebt von Nektar und Pollen. Nur die Larven ernähren sich von Aas, deswegen legt sie dort ihre Eier ab.

Es lohnt sich, Lucilia caesar unter dem Mikroskop zu betrachten. Grüner Rücken mit goldenem Schimmer. Orangefarbene Augen. Durchscheinende, scharf konturierte Flügel. Gliederfüsser mit sechs Beinen. Symmetrische Härchen als Sensoren am ganzen Körper.

Lucilia caesar ist ein Meisterwerk der Natur. Uns kommt ihre überdurchschnittliche Bestäubungsaktivität zugute. Ihre Lebenserwartung beträgt drei Tage. Auf sie baut das Millennium Ecosystem Assessment (MA) – auf Prozesse innerhalb des Ökosystems, von dem der Mensch profitiert, ohne etwas dafür tun zu müssen. Kostenlose Dienstleistung, kollektive Nutzung des Gemeinguts.

Einer ihrer Vorzüge: dass sie zu den ersten Insekten gehört, die einen verwesenden Körper aufsuchen.

Hinter der schmierigen Windschutzscheibe verharrt Pierre Castan regungslos. Er starrt auf die Fliege, wenn die Fliege sich zeigt. Sein Hemd ist schweissdurchtränkt. Der Schweiss läuft unter dem Gürtel hinab in die Leinenhose, hinab in die Gesässspalte. Er hat alle Fenster geschlossen, seinen Renault Vel Satis in die pralle Sonne gestellt. Motor aus, keine Klimaanlage. Er lässt seinen Körper glauben, dass das sein Martyrium ist, dass er so sterben wird, dehydriert. Lässt ihn glauben, dass er eingeschlossen ist, dass sich die Türen nicht öffnen, die Scheiben nicht einschlagen lassen.

Der Körper ist leichtgläubig. Also fängt der Körper an zu rebellieren, Notsignale auszusenden: Durst, Magenkrämpfe, Kribbeln in den Beinen, übermässige Schweissproduktion. Geschwollene Zunge. Weisser Schaum in den Mundwinkeln.

Seit drei Stunden ist sein Bauchnabel ein Planschbecken. Erst geschlafen. Jetzt aufgewacht. Jetzt immer weiter warten.

Sterben braucht Zeit. Das Ausscheiden der fünfzig Liter Wasser, die ein Körper von fünfundsiebzig Kilo enthält. So Pierre Castans geschätztes Gewicht, seitdem er etwa fünfzehn auf der Autobahn verloren hat. Pierre weiss, was mit seinem Körper passieren wird, wenn er dem Organismus weiter verweigert, den Durst zu stillen, dem Reflex nachzugeben, die Tür zu öffnen: Erst wird er immer häufiger einschlafen. Die Schweissbildung wird allmählich nachlassen, ebenso die Urinproduktion. Dann wird das Wasser aus den Zellen in seinen Blutkreislauf eindringen. Die Zellen werden immer weniger gut arbeiten, je mehr sie sich zusammenziehen. Das Körpergewebe wird beginnen auszutrocknen. Da die Hirnzellen am empfindlichsten auf die Dehydratisierung reagieren, wird der Betroffene in einen Zustand der Verwirrung geraten. Der Blutdruck wird abfallen, bis unter den Grenzwert, was zu Schwindel und akutem Bewusstseinsverlust führen wird und am Ende zum hypovolämischen Schock. Die Folge: schwerwiegende Schädigungen der inneren Organe – Leber, Nieren, Gehirn.

Schliesslich das Koma.

Die Erlösung.

Der Tod.

Keine Tränen. Der Vorteil von Dehydratisierung.

Kein Verwesen, sondern Mumifizierung. Trocken sterben, ohne Aufblähen. Ohne Gase. Ohne Fäulnis. Ein Traum.

Aber.

Hinter der schmierigen Scheibe, da ist der von der Augusthitze durchtränkte Rastplatz.

Das zertretene gelbe Gras auf dem staubig-trockenen Boden.

Da sind die Abfalleimer, die überfliessen von Zucker und Fett wie ein aufgeplatzter Abszess.

Die Picknicktische mit ihren verstümmelten Ecken.

Die parfümierten Taschentücher voller Scheisse.

Die Fliegen.

Hinter der schmierigen Scheibe ignoriert Pierre beharrlich das Treiben der Menschen: zwei Wohnmobile, vier Autos, ein Motorrad. Deren Insassen drängen sich in diesem Augenblick um seinen Wagen, nur die Kinder hält man zurück.

Sie klopfen an die Scheiben des Renault. Hände, klappernde Eheringe auf dem Glas. Stimmfetzen.

Er kann sie verstehen: ein Notfall. Erregung. Angst.

Pierre sieht in ihre verschwitzten, aufgedunsenen Gesichter.

Er sieht das Innere ihrer Münder: die Zungen, die Zähne, die Worte. Sieht die Selbstgefälligkeit dieses Ferienvolks. Er stellt sich ihre Eingeweide vor, all das, was sichtbar wird, wenn man einen Körper aufschneidet, vom Brustbein bis zum Unterleib, stellt sich all die verdaute, eingeweichte Scheisse vor. All die Scheisse, die offenbart, wer wir sind.

Pierre Castan schliesst die Augen. Er findet sie rührend. Mit gewissem Abstand betrachtet, ist die Menschheit rührend. Unwillkürlich regt sich seine Hand. Er wäre gern in seinem Auto geblieben, zum Sterben, aber er hört, wie sich einer der Männer einen Weg durch die kleine Menge bahnt, mit einem Wagenheber in der Hand. Gleich schlägt er eine der Scheiben ein, man solle ihm Platz machen.

Pierre Castan kann nicht sterben.

Noch nicht.

Sein Zeigefinger krallt sich um den Türgriff. Aufklappen der Wagentür. Warmer Wind, babylonisches Stimmengewirr:

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Vite! Appelez une ambulance!«

»Was hat sie gesagt?«

»Jemand soll einen Krankenwagen rufen.«

»Cosa sta succedendo?«

»Wie ist noch mal die Nummer?«

»¿Cómo se siente, señor?«

»Was für ein Idiot.«

»Sir, Sir, do you hear me?«

Ganz Europa auf einer beschissenen Vergnügungsfahrt.

Er versteht ihre Sprachen. Nur den Sinn versteht er nicht mehr.

Ihre Familienferien. Ihre Ferien allein, zu zweit, mit dem Liebhaber, der Geliebten, mit ihren Freunden, ihren Hunden, ihren Hamstern.

Ihre Ferien im August.

Früher war er wie sie. Im Grunde ein Optimist. Der an das Morgen glaubt, an das Versprechen von Erfüllung aus dem Katalog: Versuch von Glück.

Frage: Woher weiss Pierre all das, wieso kennt er die Eigenschaften der Lucilia caesar, die Symptome einer letalen Dehydratisierung, den inneren Aufbau eines vom Brustbein bis zum Unterleib geöffneten Bauchs?

Antwort: Pierre Castan war siebzehn Jahre lang Rechtsmediziner, und Lucilia caesar spielt eine Schlüsselrolle in der forensischen Entomologie.

Pierre dreht den Kopf, sieht sie an. Seine Stimme klingt ruhig, müde. Unter den fünf Sprachen, die er spricht, entscheidet er sich für seine Muttersprache, Französisch: »Foutez le camp.« Verpisst euch.

Schmeissfliegen kennt er zur Genüge.

2

Pascal wendet das Fleisch.

Drei Rinderhackfleischscheiben, für Hamburger, zertifiziert nach den geltenden Normen.

Dass ich nicht lache.

Das Induktionskochfeld erreicht an die vierhundert Grad.

Er trinkt am Tag circa fünf Liter Wasser.

Die Bratschaufel schiebt sich unter das Fleisch, schichtet es um, damit es nicht verkohlt.

Das Fleisch gibt sein Wasser ab. Weisser Dampf. Geruch nach Verbranntem. Rind, das mit Antibiotika und Steroiden vollgepumpt wurde. In den übelsten Fällen wird dem getöteten Tier zunächst Atropin gespritzt, damit sich seine Venen erweitern. Dann mit Antiseptikum versetztes Wasser, direkt ins Herz. So verteilt sich die Flüssigkeit im gesamten Blutkreislauf.

Das Gewicht des Fleischs steigt. Der Preis auch.

Das hat er gelesen. Er liest viel. Fachzeitschriften aller Art, Websites, Blogs. Ihn interessieren Informationen.

Das Fleisch kann ihm egal sein, er ist Vegetarier.

Er brät das Fleisch für andere, für die Kunden, die hier essen. Touristen, Fernfahrer, Autobahnpersonal, Vertreter, Bullen.

Die Hacksteaks sind meistens für die Kinder. Der grosse Klassiker mit Pommes. Fettigen Pommes in Öl, das alle zwei Tage gewechselt wird. Die Kollegen lassen ihn das machen, und er folgt den Anweisungen des Chefs. Kleinvieh macht auch Mist. Fett. Salz. Ketchup. Zucker. Cholesterin.

Das Cholesterin kann ihm egal sein, er ist mager.

Nicht dürr, das nicht. Muskeln, Sehnen. Er verbringt seine Freizeit mit Sport: Laufen, Wandern, Klettern, Velo. Alles, was auf die Dauer die Sauerstoffaufnahme anregt. Regeneration der roten Blutkörperchen, im Freien, in der Natur, im Grünen. Schluss mit Beton, mit Asphalt, mit Stossverkehr, Klimaanlagen, Küchengerüchen. Mit Benzin. Mit Kohlenmonoxid.

Sauerstoff. Nike Air.

Der Autobahn entkommen.

Seiner Arbeit entkommen.

Weg mit der lächerlichen Papiermütze, die er in der Küche tragen muss. Der Schürze, dem weissen Hemd, den weissen Schlappen.

Von wegen Koch.

Er erschafft nichts.

Kreiert nichts.

Spiegelt nur eine Projektion, stellt die Kunden zufrieden.

Steht mit drei anderen Kollegen hinter der Selbstbedienungstheke und serviert den Kunden die gewünschten Gerichte.

Jedes Jahr sieht er Hunderte, Tausende, Zehntausende Gesichter. Nur ihn sieht niemand. Sie sehen bloss das Essen hinter dem Spuckschutz der Theke, die »Beispielteller« in der Vitrine, die riesengrossen Speisekarten hinter ihm, die Reklame, die Tagesangebote.

Sie haben Hunger. Sie sind müde. Gestresst. Gereizt. Ihnen ist warm, sie sind angespannt oder aufgedreht. Zufallsbegegnungen, eine Meute, verbunden durch all die Pipistopps, das Volltanken, die knurrenden Mägen.

In der kleinen Welt der Raststätte.

Aber er sieht sie.

Beobachtet sie. Studiert. Analysiert sie. Hinter dem immer gleichen, aufgesetzten Lächeln. Effizienten, reduzierten Gesten.

Auf der anderen Seite: nichts. Sie starren auf seine Hände, die das Essen auftun. Wenn sie ihn anschauten, wenn sie ihn aufmerksam betrachteten, würden sie die zu eng beieinanderstehenden Augen sehen und in ihnen die völlige Abwesenheit von Helligkeit. Pupillen, die das Licht schlucken. Es einsaugen, ohne es zu reflektieren. Sie würden auch seine fast schon übermässig mächtigen Unterarme sehen.

Aber niemand sieht.

Niemand sieht hin.

Nicht mal seine Kollegen. Die kommen und gehen. Kurzzeitverträge, Frust, Beschwerden, Rausschmiss, fristlos. Studenten in den Semesterferien, Migranten mit unsicherem Aufenthaltsstatus.

Aber er bleibt.

Er weiss, wie man sich wegduckt. Die mächtigen Schultern hängen lassen, die Füsse einziehen. Weniger stark wirken, als er in Wirklichkeit ist, die ungeheure Kraft seines Körpers drosseln. Unmerklich den Rücken wölben, um kleiner als seine eins zweiundachtzig zu erscheinen. Diese Kraft, die von Geburt an in ihm steckt und die er durch obsessives Sporttreiben erhält.

Nein, er bleibt.

Und wenn sie wüssten, wie man hinsieht, wie man sieht, wenn sie ihm seine Papierkochmütze abnehmen würden, dann würden sie unter seinen braunen Haaren, unter den dichten Stoppeln seines Bürstenschnitts eine lange Narbe entdecken, die mitten auf seinem Schädel quer von einem Ohr zum anderen verläuft.

Es ist vor langer Zeit passiert. Motorradunfall, zehn Stunden lang mussten sich zwei Chirurgen abwechseln, um ihm das Leben zu retten.

Intensivstation. Langwierige Reha in einer Spezialeinrichtung. Mit einem Ergebnis, das selbst die optimistischsten Prognosen übertroffen hat.

Einzige Beeinträchtigung: Taubheit.

Spätfolgen: wiederkehrende Migräneanfälle. Schlafstörungen. Verlust des Durstgefühls, des Geschmacks- und des Geruchssinns.

Ansonsten ein normales Leben.

Er musste lernen, von den Lippen abzulesen und daran zu denken, regelmässig zu trinken.

Seine Kraft hat ihn gerettet.

Nur dass niemand sah, was sich da im Schatten entspann.

Man hatte ihn aufgeschnitten, um ihm das Böse einzupflanzen.

Er hat darüber mit einem Psychologen gesprochen, der seinen Fall an einen Psychiater übergeben hat. Zwei Sitzungen die Woche, montags und freitags. Der Psychologe hatte nichts verstanden. Der Psychiater hat ihn missverstanden. Dabei war es so einfach: Man hatte ihn aufgeschnitten, um ihm das Böse in seinen Kopf zu pflanzen. Ein ausgewachsenes Böses. Bis zu dem Unfall hatte er sein kindliches, später jugendliches Böses kontrollieren können. Während der Operation hat sich einer der Ärzte seines eigenen Bösen entledigt und es ihm in den Kopf eingesetzt.

Er hatte genug Sitzungen, um immer wieder dieselbe Sache zu erklären, ohne Erfolg.

Schliesslich hat er kooperiert. Er hat seine Medikamente genommen. Er hat gewartet.

Er hat die Klinik verlassen.

Er ist in den Süden gegangen.

Ein Heimkind hat niemanden, dem es Lebewohl sagen müsste.

Entlassungsschein unterschreiben, fertig.

Die Lösung für das Böse in seinem Schädel, damit es nicht herauskommt: ein tätowierter Reissverschluss entlang der wulstigen Narbe.

Die Haare sind nach der Tonsur wieder gewachsen.

Und jetzt, jetzt ist er hier. Mit einer Papiermütze auf dem Kopf.

Die Kunden kommen und gehen, sie nehmen ihn wahr, aber sie sehen ihn nicht.

Er zählt sie.

Er bleibt.

Unbefristeter Vertrag. Vorzeigeangestellter. Pünktlich. Sauber. Effizient. Nicht sehr gesprächig. Flexibel. Nicht in der Gewerkschaft.

Er sieht sie.

Er wählt aus.

Auf dem Schildchen steht sein Vorname: »Pascal«.

Aber in Wahrheit ist er jemand anderes.

So kann das Böse lange in seinem Inneren bleiben.

Bis es herauswill, unruhig wird, ihn drängt. Bis seine Narbe anfängt, anzuschwellen und zu jucken. Die Migränen ihn immer tiefer in die Stille treiben, die zu seinem Leben geworden ist.

Also stellt Pascal den Eltern, die Steak-Salat-Pommes bestellen, die immer gleiche Frage. Sie sind ein wenig überrascht von seiner merkwürdigen Art zu sprechen. Oft muss er seine Frage wiederholen. Seine Augen bleiben matt, auch wenn er sich bemüht zu lächeln. Aber das Lächeln reicht ihnen.

Wie heisst denn die Kleine?

Meistens antworten die Eltern für ihr Kind.

Ihre Münder öffnen sich, verziehen sich, schliessen sich wieder.

Pascal nickt.

Die Antwort, die ihn befriedigt, kommt recht schnell: Er bevorzugt die Namen von Heiligen – Sainte Lucie zum Beispiel.

Wir leben in einer christlichen Welt. Aber nicht unbedingt in einer Welt der Güte.

Und so fährt Pascal mit der Hand über seinen Schädel. Man könnte glauben, dass er nur seine Mütze zurechtrückt.

Das könnte man glauben.

In Wahrheit öffnet Pascal den Reissverschluss.

Und tut dann das Fleisch auf.

3

Das Telefon klingelt.

Zwischen den paar Dutzend Melodien, die zur Auswahl stehen, hat sich Ingrid für ein Crescendo aus fünf Tönen entschieden. Die Lautstärke ist auf drei eingestellt.

Das Geräusch des Telefons schiebt sich sanft in ihr Wohnzimmer und in ihr Leben. Wenn es klingelt, liegt sie meist in ihrem Bademantel ausgestreckt auf dem Sofa und masturbiert. Sich zu berühren ist ein Reflex geworden, eine notwendige Empfindung, die ihr immer tiefere Ringe unter die Augen gräbt.

Um sie herum: Verwüstung.

Jemand hat das Zimmer auseinandergenommen.

Chaos der Einsamkeit, der Abschottung, der Lethargie.

Der Depression: Unterwäsche, überquellende Aschenbecher, schmutziges Geschirr, Essensreste, leere Flaschen, Post (Briefe, Rechnungen, Zeitschriften, Gratisbeilagen, Werbung: Professor Dialo – sofortige und garantierte Rückkehr des geliebten Menschen).

In der Küche, im Schlafzimmer, im Bad. Wo sie geht und steht: Sie berührt, nimmt, benutzt, wirft weg. Sie sät die Verwüstung, die sie in sich trägt.

Jemand hat das Zimmer auseinandergenommen.

Alle Zimmer.

Ihren Körper, den sie mit der zur Qual gewordenen Lust geisselt.

Ihren Kopf, wo der fortschreitende Verlust des Verstands langsam alles vernichtet.

Zwanghafte Lust, ihr Mittelfinger reibt und reibt über die Klitoris, um das pechklebrige Dunkel zu verdrängen, das sie umgibt.

Denn wo sie ist, bleiben die Vorhänge zu.

Die Fenster auch.

Und das riecht.

Essen, Nikotin, abgestandene Luft.

Ihre fettigen roten Haare fallen auf den speckigen Kragen ihres Bademantels. Ihre Beine sind wunderschön. Wenn sie den Bademantel ablegen würde, käme darunter ein Körper von achtunddreissig Jahren zum Vorschein, der inzwischen zwar aufgeschwemmt von schlechtem Essen und Alkohol, aber früher einmal stark gewesen ist und immer noch grundsätzlich schön, wohlproportioniert. Der Körper einer Athletin. Dreifache deutsche Meisterin im Fechten, Damenflorett.

Inzwischen kämpft sie nur noch mit ihrem Geschlecht.

Auf dem Fernseher ziehen stumme Bilder vorüber. Der Flachbildschirm wird einem Langlebigkeitstest unterzogen, bis zur geplanten Obsoleszenz. Sie besorgt es sich selbst vor Kriegsreportagen, Serien, Werbespots, Spielshows, allen möglichen Unterhaltungsprogrammen, Reality-TV.

Was auch immer. Ihre Klitoris ist ein Geschwür. Frei von jeglicher Erotik, frei von Phantasien. Reine Mechanik. Sie wird immer weniger feucht. Ihr Orgasmus ist eine immer später platzende Blase.

Jemand hat das Zimmer auseinandergenommen.

Alle Zimmer.

Bis auf das von Lucie.

Unangetastet. Aufgeräumt. Sauber.

Die Bücher, das Spielzeug, alles an seinem Platz. Auf dem kleinen Schreibtisch, an dem sie ihre Hausaufgaben gemacht hat, ist alles geordnet: Bleistifte angespitzt, Filzstifte in der Schachtel dem Farbverlauf folgend sortiert. Der Bettbezug wirft nicht eine Falte, die Kissen sind auf der mit riesigen Gänseblümchen bedruckten Tagesdecke drapiert. Ein Globus, Ozeanien und der Pazifik zeigen nach vorn. Ein Holz-Pinocchio an einer Feder an der Decke. Bilder an den Wänden: Kängurus, Koalas, Strand, Papa, Mama, Boote, Meeresgrund, Korallen, Fische. Fotos rund um den Spiegel: Papa, Mama, Freundinnen, Oma, Opa und Floppy, der Cockerspaniel ihrer Patentante. Lucie allein, leichtes Make-up, zum ersten Mal mit Lippenstift – ihr letztes Silvester. Der Schrank mit ihren Sachen: Kleider, Hosen, Unterwäsche, Socken, Pyjamas, Shorts, Jacken, Pullover, Blusen. Vier Regale voller Bücher: hauptsächlich Spannung und Mystery. Angstkriegen, zum Spass. Der Kinderschreck. Im Spiel heraufbeschworen.

Und schliesslich erschienen.

Ingrid will sterben, wie Pierre, aber sie kann nicht.

Noch nicht.

Das Telefon klingelt.

Es ist exakt zwanzig Uhr.

Sie hört auf, sich zu berühren. Auf dem Couchtisch steht das Bloody-Mary-Glas. Zigaretten hat sie noch stangenweise im Küchenschrank. Und Konserven, Saucissons, Chips, Süssigkeiten, die ganze Scheisse, die sie sich immer geweigert hat ihrer Tochter zu kaufen.

Jetzt ist es, was sie will. Lieferanten bringen ihr, was sie will.

Meistens bläst sie ihnen einen oder lässt sich ficken. Anhäufung von Verpackungen. Die zeigen, wie leer für sie alles wird mit der Zeit.

Pierre ist nicht wiedergekommen.

Seit es passiert ist, will sie ihn nicht mehr sehen.

Seine Augen: Lucies Augen.

Blau. Etwas schwere Lider.

Seine Nase: Lucies Nase.

Gerade. Leicht fleischige Nasenflügel.

Seine Ohren: Lucies Ohren.

Gerade, eng am Schädel anliegend, das deutlich von der Ohrmuschel abgesetzte Ohrläppchen.

Der Rest, der grosse Mund, die vollen Lippen, die hohe Stirn, die roten Haare, die vorstehenden Wangenknochen, das ist sie, ihre Mutter: Ingrid.

Sie hat die Spiegel im Haus abgenommen.

Das Telefon klingelt.

Zwanzig Uhr.

Anderswo sieht man gerade die Nachrichten. Zur Hölle mit der Welt. Sie hatte daran geglaubt: an Respekt, Würde, Geradlinigkeit, eine gewisse Grosszügigkeit. Die Welt hat sie betrogen.

Sie drückt auf den grünen Knopf des schnurlosen Hörers, den sie immer griffbereit hat, stellt auf Freisprechen.

Motorengeräusch im Hintergrund.

Er ist nicht wiedergekommen.

Seit sechs Monaten.

Er ist auf der Jagd.

Sie wartet.

Sie ist am Telefon.

Er belässt es erst einmal beim Schweigen.

Sie hört dem Motorengeräusch zu.

Er hat nie aufgehört, sie zu lieben. Er ist der Mann einer einzigen Frau. Sie hatte mehrere vor ihm, sieben, um genau zu sein. Aber er hat sie am meisten geliebt.

Grenzenlose, bedingungslose Liebe schlägt man nicht aus.

Er war nicht der Hübscheste, nicht der Geistreichste, nicht der Interessanteste, nicht der beste Liebhaber, nicht der Wohlhabendste.

Aber er war der Verlässlichste. Der Integerste. Der Geduldigste. Der Ehrlichste. Der Treuste.

Der, mit dem man ein Kind bekommt.

Der, mit dem man ein Kind verliert.

Sie nimmt das Glas Bloody Mary, rührt noch einmal mit dem Löffel um und trinkt einen Schluck.

Er sagt seinen Namen, wie immer. Das ist das Allererste. Sein Name.

Ingrid hat ihn noch nie so sehr geliebt wie in diesem Moment. Das »noch nie so sehr« ist nicht viel, aber es ist alles, was sie diesem Mann noch geben kann.

Frontbericht.

Der Jäger gibt Meldung.

Pierre fängt an zu reden.

II

1

Der Wetterbericht kündigt für diesen Samstag, den 15. August, einen neuen Temperaturrekord an. Die Gluthitze wird zu einer zweiten Haut.

Sogar im Norden, wo Ingrid lebt, wobei das Wort »leben« eigentlich zu optimistisch klingt.

Wo sich Ingrid dahinschleppt. Wo sie zerfliesst. Sie weiss es nicht, aber die Wettervorhersage spricht von einem Jahrhundertrekord. Wenn der Ton angeschaltet wäre, würde man nicht genau verstehen, ob dabei das vergangene oder das aktuelle Jahrhundert gemeint ist. So am Übergang von einem ins andere hat man, angesichts der Umstände, nicht unbedingt den Eindruck, eine Vergangenheit gehabt zu haben.

Nur Zukunft.

Sinnentleert.

Die Tage, die da kommen. Hundstage. Und dann der Frost.

Ingrid schnarcht leise, ihr Mund steht halboffen, sie liegt mit der linken Seite ihres Gesichts auf dem Rand des Ledersofas, aus dem Mundwinkel läuft ein dünnes Rinnsal Spucke. Es läuft ihr über die Wange, in den Gehörgang, wo sich immer mehr Speichel sammelt. Sie könnte es nachverfolgen bis in ihr Gehirn hinein, sie würde dort ein Loch finden, das jeden Tag ein bisschen weiter ausgehöhlt wird von der Abstumpfung durch die Antidepressiva.

Ingrid schreckt hoch.

Öffnet die Augen und sieht lauter kleine Sonnen.

Sie meint den Umriss, die politischen Grenzen eines Landes zu erkennen, das ihr fremd geworden ist.

Der Wetterbericht.

Eine junge Frau lächelt, holt zu ausladenden Gesten aus, die sich vor einer physischen Karte der Region entfalten. Stumm. Sie hat nicht viel an, wirkt dabei aber nicht aufreizend. Alles an ihr ist perfekt: Make-up, Frisur, Haltung. Selbst wenn sie die Apokalypse ankündigen würde, wäre noch immer alles perfekt an ihr. Lebendig, farbenfroh, adrett. Das hochauflösende Versprechen einer strahlenden Zukunft: Phosphor zwischen zwei Glasplatten, angeregt von den elektrischen Impulsen des Plasmas.

Ingrid schliesst wieder die Augen, zu grell sind die in das Satellitenfoto eingestanzten Sonnen. Ihr pechverklebtes Hirn denkt an ein Frühstück »à la dépression«: grosses Glas Wodka-Tomatensaft-Tabasco-Sellerie, Xanax und Zigarette.

Es ist sechs Uhr dreissig.

Licht fällt durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge. Anderswo schlüpfen Frauen in ihre Sportschuhe, schwingen sich auf ihr Mountainbike. Andere hoffen, dass ihr Kind noch ein bisschen schläft, und schmiegen sich an ihren Ehemann.

Um wie viel Uhr ist wohl das Mädchen vom Wetterbericht aufgestanden, so alles miteingerechnet, Weckerklingeln, Frühstück, Styling, Fahrt zum Studio, Maske und das morgendliche Briefing?

Das macht sie nicht ihr Leben lang. Hinter diesem Aufstehen im Morgengrauen steht die Ambition auf ein grösseres Projekt.

Eine Zukunft.

Noch eine.

Ingrid setzt sich auf, schlägt den Bademantel über ihre nackten Schenkel, über ihr wild spriessendes Schamhaar. Geruch von Schweiss und Urin steigt ihr in die Nase.

Wenn eine schöne Frau tief fällt, ist es nur umso entwürdigender. Schönheit hat nicht das Recht, sich Gewalt anzutun.

Sie steht auf, schleppt ihre nackten Füsse bis zum Bad im Erdgeschoss. Setzt sich rittlings auf das Bidet. Das Wasser aus dem aufgedrehten Hahn läuft zwischen ihre offenen Schenkel. Sie lehnt die Stirn an die kalten Fliesen, wartet, bis das Bidet vollgelaufen ist. Greift nach der Seife – ein bisschen Würde ist ihr noch geblieben.

Sie hat beim Aufwachen Sonnen gesehen. Was sieht Pierre in diesem Moment, was ist das erste Bild seines Tages?

Ein Schauder.

Ingrid.

Die kalte Emaille unter ihrem Hintern?

Nein. Eine Intuition.

Etwas rührt sich auf dem Asphalt.

Der Zyklus eines anderen, wie eine eigene Zeitrechnung, die sich nun wiederholen muss.

Das Wasser ist kurz vorm Überschwappen, fliesst ab durch den Überlauf des Bidets. Kleine Wellen streichen über die Innenseiten ihrer Schenkel.

Ingrid schickt ihm eine Nachricht.

Mach die Augen auf, Pierre.

Heute ist es so weit.

Die dritte.

Weiblich. Zwischen acht und zwölf Jahren.

Ein kleines, junges Mädchen.

An der Autobahn.

Von Zufall wird keine Rede mehr sein können.

Bist du da, Pierre?

2

Vogelgezwitscher mischt sich in das Verkehrsrauschen: vereinzelte Fahrzeuge, im Fluss.

Pierre lässt seinen Traum nicht los. Er fliegt über einen Dschungel, der Wind braust in seinen Ohren. Er neigt seine ausgestreckten Handflächen, und sein Körper streift über die Wipfel. Ein Streicheln. Wo die Bäume noch weiterwachsen. Wo die jahrhundertealten Stämme am zartesten sind, weit oben. Wie die Kindheit, die sie immer weiter in sich tragen, die sich unter ihrer Rinde entfaltet.

Pierre streckt den Arm unter seinem Kopf aus. Das Blut beginnt zu zirkulieren, ein Kribbeln schiesst in seine Fingerspitzen. Das Traumlächeln verschwindet. Er dreht sich um und sieht zur Decke des Autos, in dem er inzwischen schläft.

Er hat genug Platz, um die Beine auszustrecken.

Die Rückbank hat er ausgebaut, seitdem er an der Autobahn lebt. Hat sie in einem Wäldchen am Rastplatz zurückgelassen. Dafür hat er eine Luftmatratze aufgepustet, die er in einem Tankstellenshop gekauft hat.

Er setzt sich auf. Sein Hintern drückt sich tief in die aufgeblähten Furchen der Matratze. Er schiebt sich zwischen den Vordersitzen nach vorn, öffnet die Beifahrertür und steigt aus dem Wagen.

Die Sonne ergiesst sich über die Felder hinter dem Gitterzaun, fliesst zwischen den Stämmen der Pinien hindurch. Er blinzelt in dem sanften Licht. Mit nackten Füssen läuft er über Asphalt, dann über Gras und Erde. Piniennadeln bohren sich in seine Sohlen. Er macht einen Bogen um ein benutztes Kondom, Scherben, eine Aluminiumdose.

Pierre holt seinen Penis raus und fängt an zu pissen. Erst stossweise, dann bewässert der Strahl ganz gleichmässig den Baumstumpf vor ihm. Ein schmaler, S-förmiger Weg führt zu den Toiletten unterhalb der kleinen Anhöhe. Rotes Backsteinhäuschen.

Und die Erziehung?

Und der Anstand?

Wohin kämen wir denn, wenn das alle so machen würden wie er?

Halt die Klappe, Schleimscheisser. Ich bin ein freier Mann. So was von frei.

Ein Ingenieur hatte ihm erklärt:

Als die Autobahn gebaut wurde, hat man ganze Mammuts ausgegraben, dutzendweise, Gebeine, Spuren früherer Zivilisationen. Man hat alles vermessen, gezählt, dokumentiert, katalogisiert, bevor eingeebnet, aufgeschichtet, asphaltiert wurde. Rettungsgrabung nennt man das. Manchmal wird die Autobahn drum herumgeführt: Dann wird zuzementiert, und man legt registrierte Hügel an, um später dort zu graben. Manchmal führt die Autobahn auch drüber hinweg, dann wird das Ganze luftdicht verschlossen, und man behält nur die eingezeichnete Spur als Erinnerung, Pläne der Archäologen, für spätere Generationen, wie ein Tresor, der niemals geöffnet wird.

Da unten.

Pierre pisst, wie der Mann schon immer gepisst hat. Der Mann von heute auf den Mann von gestern. In Wahrheit ist Pierre sehr nah,

sehr, sehr nah

an dem Mann von gestern,

von vorgestern,

dem Mann im Urzustand.

Er kann Auto fahren, er hat studiert, er spricht mehrere Sprachen, er ist sozialisiert.

Aber er wurde bis ins Mark verletzt. Sein protoreptilisches Gehirn hat die Oberhand gewonnen. Was begraben liegt, steigt durch den überhitzten Asphalt an die Oberfläche. Die Wurzeln werden sichtbar, der Bart spriesst auf dem müden Gesicht, ein Schatten auf der von all den Rastplätzen verbrannten Haut.

Pierre schüttelt seinen Schwanz, den Schwanz eines modernen Mannes, steckt ihn zurück in den Slip, macht seine Hose zu.

Geht zurück zum Auto.

Auf dem Parkplatz: zwei Sattelschlepper, direkt hintereinander. Zugelassen in Spanien. Málaga. Die Fahrer sind noch weit weg von zu Hause, von ihrer sich wie eine Gussform perfekt ihrem Körper anpassenden Matratze.

Wie ein Sarkophag.

Pierre nimmt ein ausgeblichenes Handtuch, die kleine »Hello Kitty«-Waschtasche aus seinem Rucksack. Zwei kleine Augen ohne Mund. Zwei kleine, autistische Augen. Was ein Vater eben tun kann aus Verbitterung, aus Kummer. Den Schmerz im Verborgenen mit sich tragen, kein Raum mehr für das kleinste bisschen Hoffnung.

Unter dem Gaspedal zieht Pierre seine Mokassins hervor. Öffentliche Toiletten sind schmutzig, Herde für Dreck, der von den Füssen bis ins Herz hinaufkriecht, und dann kommen die Krankheiten. Er kann sich keine Schwäche erlauben.

Das Wasser ist lauwarm, ein kräftiger Strahl. Hohl klingt das Waschbecken aus Metall, von seinen Wänden prallt der Widerhall der Leere. Der falsche Spiegel aus Aluminium zeigt ein Gesicht im Nebel, doch er sieht nicht hin: Aknenarben, seine schwarzen, innerhalb von drei Monaten ergrauten Haare. Er putzt sich die Zähne, bis sein Zahnfleisch blutet. Die Zahnpasta mit Minzgeschmack lindert, erfrischt. Vertreibt den Geschmack vom Raststättenessen, die Metall- und Rostpartikel, die sich ins Innere seiner Wangen gegraben haben. Er spült den Mund, spuckt aus. Er zieht sein von getrocknetem Schweiss starres Hemd aus, wäscht sich das Gesicht und die Achseln mit einem Stück Seife. Trocknet sich mit dem kleinen blauen Handtuch ab, dessen raue Baumwolle etwas weicher wird, als sie über die Wassertropfen in seinen Brusthaaren reibt.

Pierre geht zurück zum Auto, eine laue Brise streift seinen nackten Oberkörper. Der Wagen ist das Floss. Ölstand prüfen, Kühlmittel, Reifendruck.

Als er gerade mit dem dreckigen Lappen in der Hand die Motorhaube wieder zuklappen will, hält er inne und schliesst die Augen. Eine Atempause, nur für einen Moment vergessen, was ihn hier, in diesem undurchdringlichen Netz hält. Was ihn antreibt, was ihn durchhalten lässt. Solange er in Bewegung bleibt, gibt es keinen Stillstand. Wenn er zum Stillstand kommt, ist er verloren. Wie ein Hai. Immer in Bewegung. Und so wird auch er zum Jäger.

Er öffnet die Augen und sieht die beiden roten Laster, Ivecos mit spanischem Kennzeichen. Nichts hat sich verändert auf dem still daliegenden Parkplatz, nur dass da jetzt dieses Wohnmobil steht, leicht zurückgesetzt hinter den Brummis, Klickern des noch warmen Motors. Pierre liegt auf der Lauer, registriert die kleinsten Veränderungen. Für ihn wäre die Anwesenheit von Menschen wie ein sich bewegender roter Fleck auf einem Wärmebildgerät.

Er öffnet die Wagentür, wirft sein Hemd auf den Sitz und nimmt die kleine neunschüssige Taurus aus dem Handschuhfach. Er klemmt den kurzen Lauf des Revolvers unter seinen Gürtel und zieht ein knittriges T-Shirt darüber.

Lässt die Wagentür zufallen, ohne sie abzuschliessen, geht um den Vel Satis herum und bewegt sich lautlos Richtung Büsche.

Der plötzliche Adrenalinstoss hat ihm den Mund ausgetrocknet. Seine Ohren summen, es kribbelt in jedem einzelnen Finger. Er bewegt sich weiter lautlos vorwärts, sieht schon, wie ein Männerkörper sich über ein kleines Mädchen beugt. Wie der sein Geschlecht zwischen den zarten, gebräunten Beinen reibt. Das Summen wird lauter, die Waffe presst sich kalt gegen seinen Bauch. Er zögert noch, zieht sie noch nicht, er weiss, dass es schnell gehen würde: zugreifen, entsichern, schiessen. Er hat diese Szene bis zum Erbrechen geprobt, haufenweise leere Flaschen weggeknallt. Wartet genau darauf, um sich endlich zu befreien.

Mit aufgerissenem Mund taucht Pierre hinter den Büschen auf, ein Schrei klebt ihm im Hals. Was er da sieht auf der kleinen grasbewachsenen Fläche, die ein Gitterzaun von den Feldern trennt, ist kein Abziehbild der Hölle.

Ein Mann.

Eine Frau.

Schabadabada.

Er: sucht den Boden mit einem Metalldetektor ab. Akribisch. Vor und zurück, vor und zurück, langsam, hypnotisch.

Sie: sitzt knapp über dem Boden auf einem winzigen Klappcampingstuhl und zieht an einer Zigarettenspitze.

Der Mann trägt ein elfenbeinfarbenes Hemd zu Hosen in Wäscheklammerbeige und zweifarbigen Schuhen: braun und Vanille.

Ihre langen Beine stecken in einem kurzen pinkfarbenen Rock, darüber trägt sie eine violette, schwarz gepunktete Bluse, die über dem Bauchnabel hochgeknotet ist. Flacher Bauch. Rosa Pumps. Dicker roter Lippenstift.

Als Pierre näher tritt, stellt er fest, dass die beiden um die sechzig sein müssen. Die Frau hat ihn nicht gesehen. Sie konsultiert ein aufgeschlagenes Notizbuch in ihrem Schoss und erläutert dem Mann: »So leicht, wie sie sind, können sie jedenfalls nicht bis hinter den Zaun geflogen sein.«

»Wer weiss, wo die gelandet sind«, gibt der Mann zurück.

»Kannst du mir die Bewegung noch mal vormachen, Schatz? Wärst du so lieb?«

»Von da hinten?«

»Das wäre am besten. Anders wird es wohl nicht gehen.«

Der Mann legt sein Gerät auf dem Boden ab und geht etwa zwanzig Meter zurück bis zum Rand des Wäldchens. Er ist überrascht, als er Pierre bemerkt, nickt ihm zu und stellt sich an die von der Frau ausgewiesene Stelle.

»Hier?«

»Genau. Und die Bewegung war ungefähr so« – die Frau mimt einen Wurf –, »in diese Richtung da.«

Der Mann nimmt einen kleinen Stein aus seiner Tasche und wirft ihn vor sich.

»Ich habe eine Dummheit begangen«, sagt er zu Pierre. »Vor etwas über einem Jahr war das. Jetzt versuche ich, die Sache wieder geradezubiegen. Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?«

Pierre spürt den Revolver unter seinem Hemd. Er kommt sich dumm vor, neben der Spur. Das Leben um ihn herum geht weiter. Andere Menschen, andere Probleme. Das Unglück ist egoistisch.

»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragt ihn die Frau. »Ich hab welchen in der Thermoskanne.«

»Kommen Sie«, sagt der Mann. »Der Kaffee meiner Frau ist der beste, den man an der Autobahn kriegen kann. Sie macht ihn im Wohnmobil.«

»Der Kaffee deiner Zukünftigen«, korrigiert sie ihn.

»Meiner Ex und Zukünftigen«, sagt der Mann. »Wir waren zwanzig Jahre verheiratet, Sabine und ich. Dann haben wir uns scheiden lassen.«

»Es lief nicht mehr in unserer Beziehung«, erzählt Sabine weiter. »Wir waren auf dem Weg in den Süden … Wann war das noch gleich, Hugo? Anfang oder Mitte Juni?«

»Anfang«, bestätigt Hugo. »Anfang Juni vergangenen Jahres.«

»Wir waren auf dem Weg in den Süden«, wiederholt Sabine. »Und da war es dann ganz aus. Wir sind umgedreht. Schlimm war das, wirklich schlimm. Wie heissen Sie denn?«

»Pierre.«

»Also, Pierre, wollen Sie einen Kaffee?«, fragt Hugo.

»Kommen Sie, nehmen Sie«, sagt Sabine und wischt den Becher der Thermoskanne mit einem Taschentuch aus. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser. Ich bin zweiundsechzig und habe in meinem ganzen Leben noch keine Antibiotika genommen.«

»Das kann ich bestätigen. Eine echte Naturgewalt.«

»Danke«, sagt Pierre.

»Setzen Sie sich!« Hugo faltet neben Sabine den zweiten Campinghocker auseinander.

»Ich hab zu Hugo gesagt: Lass mich nur, ich komme schon allein zurecht. Aber er wollte das nicht, und das hat mich nur noch mehr auf die Palme gebracht.«

»In der Hitze des Gefechts greift sie nach meinem Ehering und zieht ihren eigenen ab.«

»Das war ein Hin und Her, erst hatte ich sie, dann hatte er sie … Und am Ende hat er sie weggeworfen.«

Pierre nimmt einen Schluck vom Kaffee. Schwarz, stark, mit Zucker. Er hat vergessen, was Freundlichkeit bedeutet. Vergessen, was Menschlichkeit bedeutet. Es ist notwendig. Hart sein. Aber nicht jetzt. Nicht zu ihnen. »Zeigen Sie es mir«, sagt Pierre. »Zeigen Sie mir, wie es passiert ist.«

Sabine lächelt und steht mühelos aus ihrem Stuhl auf. Unter ihrer Haut zeichnen sich deutlich die drahtigen Muskeln ab, kein Gramm Fett, kaum eine Falte am Knie. Pierre denkt an Ingrid, ihre Gelenkigkeit, ihre Kraft, ihre Schönheit. Einmal, am Anfang, hat sie ihre Fechtmaske getragen, als sie mit ihm geschlafen hat. Ihr nackter Körper, die Maske über ihrem Gesicht. Keine Küsse, nur erregende Worte, die durch das Gitter drangen wie eine Beichte. Er erinnert sich genau an diesen Körper, wird sich immer an ihn erinnern, selbst wenn Ingrid fett würde, selbst wenn ihr Körper nur noch ein Stück verbrannte Kohle wäre.

Das Paar nimmt neben den Büschen Aufstellung. Sie tut so, als würde sie ihm den Ehering abziehen, und er, als würde er nach etwas greifen, sie stehen ganz dicht beieinander, lächeln jetzt verlegen, es funkelt in ihren Augen. Er macht eine Armbewegung, holt etwas theatralisch aus. Sabine verfolgt mit den Augen seine Bewegung und die unsichtbare Flugbahn der Ringe.

Pierre durchbricht die Stille: »Von da haben Sie also die Ringe geworfen, in Richtung der Baumgruppe?«

Hugo nickt. Er ist ergriffen, trocknet die Tränen unter seinen Augen. Sabine nimmt seinen Kopf, legt ihn auf ihre Brust und streicht ihm durch die Haare.

Was treibst du da, Pierre?

Das ist ihr Leben, und sie können nichts für dich tun.

Nichts.

Pierre will aufstehen und gehen, aber der Kaffee ist heiss, und er will die Frau nicht kränken, indem er ihn einfach wegschüttet.