Operation Schwarzer Drache - Klaus Mewes - E-Book

Operation Schwarzer Drache E-Book

Klaus Mewes

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Beschreibung

30 Jahre. Ein Menschenalter. Ein Reich erhebt sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Dann ist er da – der perfekte Zeitpunkt, um den alten Tiger abzulösen. Mit einem Wimpernschlag verändert sich die Welt. Warnhinweis Die Handlung dieses Buches ist ebenso wie die handelnden Personen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Geschehnissen oder Personen wäre zufällig und selbstverständlich nicht beabsichtigt.

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Die Verhältnisse zum Tanzen zwingen I

Zwischenfall

Auf dem Goldenen Fluss

Weißer Lotus

Scharade am Duftenden Hafen

Schneckenpost

Purpurroter Tod

Afrikanische Nächte

Die Verhältnisse zum Tanzen zwingen II

Lucy Eisbrecher

Vergeltung

Glücksbringer

Auf der Fährte

Funkenflug am Pulverfass

Das Ei des Schwarzen Drachen

Die Verhältnisse zum Tanzen zwingen III

Jetzt oder nie!

Epilog

Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen.

Konfuzius

Die Verhältnisse zum Tanzen zwingen I

Der schwarze Hongqi L9 fuhr langsam an den beiden salutierenden Posten vorbei. Der Mann im Fond grüßte nicht zurück. Seine ausdruckslosen Augen schienen auf etwas Unbestimmtes in der Ferne gerichtet zu sein.

VA – die ersten beiden Buchstaben des Nummernschilds zeigten an, dass das Fahrzeug zum Fuhrpark der Zentralen Militärkommission ZMK gehörte.

Die dann folgenden Ziffern 02019 standen für die Glänzende Zukunft, die bald anbrechen würde. Sehr bald.

Vor dem Hauptportal des wuchtigen Gebäudes in der Fuxing-Straße, das an einen deutlich überdimensionierten chinesischen Tempel erinnerte, ließ der Fahrer den Wagen ausrollen. Ein Soldat öffnete die Tür des Wagens und stand stramm, als der Fahrgast ausstieg.

Er trug einen eleganten Brioni-Anzug, Navvy Cuts von John Lobb und eine schmale Brille mit feiner Fassung – ein intellektueller Gentleman, vielleicht Mitte bis Ende sechzig.

Während er mit elastischen Schritten in dem grauen Gebäude verschwand, hatte sein Fahrer Mühe, ihm zu folgen. Der große Pilotenkoffer, den er trug, hatte schließlich einiges an Gewicht.

Der Mann und sein Fahrer würdigten die salutierenden Soldaten in den langen Gängen keines Blickes. Während sie das Untergeschoß im Mittelteil erreichten, wagte es niemand, die beiden Männer an den zahlreichen Durchleuchtungsanlagen aufzuhalten. Jeder in diesem Gebäude kannte den Mann. Es war nicht nötig und wahrscheinlich auch nicht sehr karrierefördernd, ihn nach seinen Papieren zu fragen, wie es die strengen Dienstvorschriften eigentlich vorsahen.

Mit einem schwer bewachten Fahrstuhl erreichten die beiden Männer schließlich die hermetische Zone. Ein Irisscanner gab eine Tür in der atombombensicheren Panzerung frei und ließ sie passieren.

Hier war die abhörsichere Kommandozentrale des VBA-Gebäudes, ein unterirdisches Gewirr von Gängen, die Hunderte von Räumen miteinander verbanden.

Der Mann öffnete schließlich die Tür zu einem dieser Räume und trat ein.

Sofort verstummten sämtliche Gespräche, die in diesem Raum versammelten Männer erhoben sich und beugten schweigend die Köpfe.

Eine kleine Weile standen sie so da, bevor er schließlich das Wort an sie richtete: »Genossen. Ihr kennt mich.«

»Natürlich, Wang Zhxí, wir kennen dich«, scholl es ihm wie aus einem Mund entgegen.

Natürlich kannten sie ihn – Wang war der Vizepräsident des Militärgeheimdienstes Zhong Chan Er Bu der Volksbefreiungsarmee. In dieser Funktion hatte er direkten Zugang zum engsten Machtzirkel der Partei, dem Politbüro, dessen Auge und Ohr er war. Er war einer der mächtigsten Strippenzieher im Reich der Mitte.

Die übrigen vielleicht fünfundzwanzig Anwesenden waren die Leiter der Abteilung für verdeckte Operationen. Eine verschworene Gruppe der erfahrensten Männer des Dienstes, deren Fähigkeiten keinesfalls hinter denen ihrer Gegenspieler in der CIA zurückstanden.

Etwas abseits von dieser Gruppe saß ein athletisch gebauter Mann Anfang fünfzig, der ein wenig wie ein Fremdkörper wirkte – er schien ein Zivilist zu sein. Jedenfalls trug er keine Uniform und sein ganzer Habitus entsprach auch nicht der in diesem Gebäude üblichen Norm. Er wirkte auf die anderen eine Spur zu lässig, fast ein wenig undiszipliniert. Wie er da mit halb geschlossenen Lidern, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt an einem Bleistift kaute wirkte er eher wie ein unbeteiligter Zuschauer als wie jemand, der einem der mächtigsten Schattenmänner Chinas gegenübersaß.

Während die anderen darauf warteten, dass Wang den Fremden tadeln möge, fuhr dieser fort: »Ihr fragt euch natürlich, warum ich euch zu diesem Treffen befohlen habe, und ihr habt ein Recht darauf, dies zu erfahren. Es ist allerdings ein wenig kompliziert, sodass ich etwas ausholen muss, um euch den Grund für unsere Zusammenkunft zu erläutern.

Ich nehme an, dass jeder die Legende des Hēilóng, des Schwarzen Drachens, kennt.«

Die Männer im Raum sahen sich fragend an – selbstverständlich kannten sie die Legende vom Schwarzen Drachen. Im Reich der Mitte waren Drachen, anders als zum Beispiel in Europa, im Allgemeinen positiv besetzt. Drachen waren in China seit jeher keine dämonischen Wesen, die es zu töten galt, sondern vielmehr Gottheiten, zu denen auch heute noch in vielen ländlichen Gebieten Chinas gebetet wurde, weil man sich von ihnen eine gute Ernte, Regen, Gesundheit oder einfach Schutz vor allem Übel erhoffte.

Es gab mächtige Long Wang, Drachenkönige, wie Ao Guang, über die man seit Tausenden von Jahren voller Ehrfurcht sprach, um sie nicht zu verärgern.

Drachen und Menschen lebten seit jeher in einem harmonischen Gleichgewicht – die Menschen zollten den Drachen ehrfürchtigen Respekt und diese gewährten ihnen dafür Schutz und Hilfe.

Es gab natürlich auch böse Drachen und der gefürchtetste unter ihnen war Hēilóng, der Schwarze Drache.

»Der Schwarze Drache bringt seit jeher Unheil. Im Alten Reich glaubten die Menschen, dass er vor allem für schwere Überschwemmungen, Stürme und andere Naturkatastrophen verantwortlich war, und daher war kein Drache gefürchteter als er, der Zerstörer all dessen, was Menschen aufgebaut haben. Andererseits sagt die Legende auch, dass sich die Mutter unseres hochverehrten Meisters Konfuzius dem Schwarzen Drachen in Menschengestalt hingegeben hat und danach ihn, einen unserer größten Denker, gebar. Demnach wäre Konfuzius also der Sohn des Schwarzen Drachen, woraus folgen würde, dass der Hēilóng eben nicht nur eine grausame, sondern auch eine sehr weise Seite hat.«

Wang machte eine Pause und blickte in die Runde. Die Männer schauten ihn erwartungsvoll an – worauf wollte der Alte hinaus?

»Kennt ihr die Theorie vom Schwarzen Schwan?«, wollte Wang nun wissen. Sie blickten einander verständnislos an. Was zur Hölle wollte der Zhxí ihnen mit diesen Tiergeschichten sagen?!

»Nein?«, fuhr er ungerührt fort. »Dann will ich euch ein wenig auf die Sprünge helfen: es gab im alten Rom einen Satiriker namens Juvenalis, der sich in einer seiner überlieferten Schriften über die Treue von Ehefrauen wie folgt auslässt: eine treue Ehefrau ist nach Juvenalis ein rara avis, nigroque simillima cygno, also ein seltener Vogel, ähnlich eines schwarzen Schwans.

Nun müsst ihr wissen, dass schwarze Schwäne damals in Europa, anders als bei uns, unbekannt waren, so dass der Inhalt dieses Satzes ein wenig schmeichelhafter für Ehefrauen ist.« Unterdrücktes Gelächter. »Es handelt sich bei einem ›Schwarzen Schwan‹ also um eine Metapher, die etwas beschreibt, das es eigentlich gar nicht geben sollte. Etwas, das zwar äußerst unwahrscheinlich, doch theoretisch möglich ist.

Diese Metapher wurde erstmals im Jahr der Schlange 2001 von einem libanesischen Börsenhändler und Finanzmathematiker namens Taleb verwendet, um Ereignisse zu beschreiben, die, kurz gesagt, plötzlich und vor allem unvorhergesehen eintreten und den Gang der Dinge entscheidend verändern.

Fassen wir zusammen: wir haben zwei Fabelwesen, einen Drachen und einen Schwan, beide sind schwarz, beide stehen für mächtige Ereignisse, die den Gang der Dinge verändern. Während der Schwan lediglich die Eigenschaft hat, unvorhersehbar zu sein, ist der Drache grausam und weise zugleich. Und – das ist entscheidend – während der Schwan lediglich für das Ereignis als solches steht, löst der Drache dieses aus. Der Drache führt das Ereignis herbei, der Schwan ist das Ergebnis des Handelns des Drachen. Es hängt also vom Willen und der Macht des Schwarzen Drachen ab, wie mächtig der Schwarze Schwan wird. Könnt ihr mir folgen?«

Er blickte in ratlose Gesichter. Nein, sie konnten ihm nicht folgen. Niemandem war auch nur ansatzweise klar, worauf der Präsident hinauswollte. Niemandem bis auf den Mann im Hintergrund, der sich jetzt behaglich streckte.

Wang lächelte versonnen.

»Ich komme später darauf zurück und bin sicher, dass ihr dann verstehen werdet. Kommen wir zunächst zu einem anderen Thema. Unserer Zukunft.«

Die Männer entspannten sich. Das hatten sie schon hundertmal gehört – die Zukunft, die Große Wiederauferstehung der chinesischen Nation, die einst unter dem Großen Vorsitzenden Mao begonnen hatte und die nun unter Präsident Xi vollendet werden sollte. In vielen Reden hatten führende Politiker des Landes dieses Ziel in den letzten Jahren beschworen und der Überragende Führer Xi selber hatte den Zeitplan dafür festgelegt: die erste Phase bis 2020 war fast abgeschlossen. In dieser sollte das Land seine industriellen Fertigungskapazitäten steigern und insbesondere in der Digitalisierung zu den westlichen Nationen aufschließen. In der zweiten Phase bis 2025 sollten die Gesamtqualität aller Fertigungsbereiche wesentlich ausgebaut werden und Energieverbrauch und Schadstoffemissionen das Niveau der entwickelten Volkswirtschaften erreichen.

Zielvorgabe bis 2035 war es, sich in allen Bereichen der Wirtschaft im Mittelfeld der Industriemächte zu platzieren, und bis 2049 – zum hundertjährigen Bestehen der Volksrepublik – sollte das Reich der Mitte an der Weltspitze aller Industrienationen stehen.

Die führenden Parteikader hatten damit einen ehrgeizigen Zeitplan zur Ablösung der USA als Nummer eins der Industrienationen ausgegeben.

Zur Überraschung seiner Zuhörer fuhr Wang jedoch nicht wie erwartet fort: »Unsere Zukunft, liebe Genossen, beginnt vor fünftausend Jahren. Das Zeitalter nennt man im Westen Bronzezeit. Während die Menschen in den Regionen, die nun schon seit so langer Zeit den Rhythmus der Welt bestimmen, in dieser Epoche erst damit begannen, Zivilisationen aufzubauen, und während dort bestenfalls die Sphinx und die Pyramiden von Gizeh als Zeugnisse einer Hochkultur aus dieser Zeit bekannt sind, begründete der Gelbe Kaiser Huáng Dì unsere Kultur. Bereits unter ihm und den anderen vier Urkaisern, die ihm nachfolgten, entstand eine Hochkultur im Reich. Es gab Kalender, Schulen, eine Schrift, musikalische Kompositionen und Astronomie. Außerdem erfand Kaiser Yáo unser geliebtes Go.« Er lächelte kurz.

»Allgemein gilt diese Epoche bei uns als das Goldene Zeitalter. Doch da stets alles ineinanderfließt, konnte auch damals nichts so bleiben, wie es war. Daher wurde das Reich von mehreren Flutkatastrophen gigantischen Ausmaßes getroffen. Hunderttausende verloren ihr Leben und die wenigen Überlebenden besaßen kaum mehr als die Kleider an ihrem Leib. Dafür sei, so glaubten die Menschen, Hēilóng, der Schwarze Drache, verantwortlich gewesen.

Der Held Yu stellte sich ihm entgegen und schaffte es, durch den Bau von Dämmen, deren Überreste ihr heute noch bewundern könnt, die Fluten zu bändigen. Zum Dank dafür ernannte ihn der letzte Urkaiser Shún zu seinem Nachfolger. Er war der Begründer unserer ersten Dynastie, der Xia-Dynastie. Diese Dynastie gilt heute als die Wiege des Alten China.«

Die Männer im Raum lauschten gebannt – worauf wollte er hinaus?

»Unter Yu dauerte das Goldene Zeitalter an, doch nachdem er gestorben war, traf die Menschen die Rache des Hēilóng; die Nachfahren von Yu fochten grausame Kämpfe um dessen Nachfolge aus und schließlich zerfiel das Reich. Der letzte Xia-Kaiser Jié war so grausam, dass das Volk ihn schließlich stürzte – sein Name steht bei uns heute noch als Synonym für Grausamkeit.«

Er machte eine kleine Pause und tupfte sich mit einem kleinen Seidentüchlein ein paar Schweißperlen von der Stirn.

»Warum ist nun das Erste Reich zerfallen, obwohl es doch in vielen Dingen dem Rest der Welt um Jahrhunderte voraus war?

Weil es schlecht geführt wurde und seine Führer uneins waren.

»Dies, Genossen, ist die 1. Lehre, die der Große Vorsitzende und alle, die ihm nachfolgten, bis hin zu unserem Überragenden Führer Xi aus unserer Geschichte gezogen haben: Absolute Einigkeit ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass China den ihm zustehenden Platz in der Welt nicht nur einnehmen, sondern auch für immer behaupten kann.«

Er sah sich im Raum um. »Ich vermute, ihr habt etwas anderes erwartet als eine Lektion in Geschichte? Nun, ihr werdet nicht enttäuscht werden, aber wie ich schon sagte: ich muss noch ein wenig ausholen …

Auch den drei folgenden Dynastien der frühen Zeit des Reiches war keine dauerhafte Existenz vergönnt. Ursächlich dafür waren neben Kämpfen im Inneren auch ständige Angriffe anderer Völker, die immer wieder große Teile des Reiches verwüsteten.

Einen – vergeblichen – Versuch, Letzteres zu verhindern, könnt ihr heute noch in Form der Großen Mauer bewundern.

Aus den Trümmern der Qin-Dynastie ging vor 2200 Jahren die Han-Dynastie hervor. In den vierhundert Jahren ihrer Herrschaft stieg das Reich der Mitte erstmals zur globalen Handelsmacht auf – Wirtschaft und Kultur blühten wieder auf, über die Seidenstraße trieb es sogar Handel mit der anderen damaligen Weltmacht Rom. Doch auch dieses große Reich zerfiel aufgrund der Uneinigkeit seiner Fürsten und es begann das Interregnum der Drei Reiche. Eine weitere Zeit der inneren Kämpfe brach an. Eine weitere Zeit des Zerfalls und der Schwäche.

Reiche bildeten und bekämpften sich gegenseitig, Herrscherhäuser kamen und gingen – und immer scheiterte China zumeist an sich selbst, an seiner Uneinigkeit.

Schließlich erhob vor eintausendvierhundert Jahren die Tang-Dynastie das Haupt. Mit ihr war unseren Vorfahren eine weitere dreihundertjährige Blütezeit vergönnt. Und wieder zeigte es sich, dass das Reich der Mitte – sobald es geeint und befriedet war – kulturell und wirtschaftlich allen anderen damaligen Reichen auf der Welt überlegen war. Ein Beispiel verdeutlicht das: bereits damals konnte bei uns Stahl hergestellt werden – die Europäer ›erfanden‹ dieses Verfahren erst vor hundertfünfzig Jahren.

Ihr wisst natürlich, dass auch dieses Reich wieder an der Uneinigkeit unserer Vorfahren zugrunde ging. Es folgten mehrere mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, die daraus hervorgegangenen Teilreiche zu vereinen, bis alles unter dem unaufhaltsamen Ansturm der Mongolen zusammenbrach – wäre das Reich geeint und stark gewesen, hätte es diesem vielleicht standgehalten.

Der Versuch der Fremden, auf unserem Gebiet eine dauerhafte Herrschaft in Form der Yuan-Dynastie zu erreichten, misslang nicht zuletzt auch wegen des Widerstands der Roten Turbane.

Nach der weitgehenden Vertreibung der Mongolen errichteten die Ming-Kaiser eine neue chinesische Dynastie, die knapp dreihundert Jahre die Geschicke Chinas bestimmte.

Betrachtet man nun die Periode, die von der Drei-Reiche-Zeit bis zum Ende der Ming reicht – etwa eintausend Jahre – so wird deutlich, dass unsere Vorfahren trotz ihrer inneren Zerrissenheit allen anderen Völkern haushoch überlegen waren: in dieser Zeit erfanden wir das Papier, das Porzellan, das Schwarzpulver und den Buchdruck. Auf den Feldern der Mathematik, der Astronomie, der Physik und der Chemie sowie der Meteorologie waren wir allen anderen weit überlegen, und schließlich konnte uns auch niemand auf dem damals so wichtigen Gebiet der Landwirtschaft das Wasser reichen.

In die Ming-Epoche fällt auch die Geburt Chinas als Seefahrernation ersten Rangs. Ihr alle kennt die Leistungen des Großen Admirals Zheng He, den wir nicht zu Unrecht als Vater unserer Kriegsmarine verehren – der NOCH zweitgrößten Kriegsmarine der Welt.

Was, so fragt man sich, hätten wir erst erreichen können, wenn wir uns einig gewesen wären?!

Aber die Zeit war noch nicht reif und so mussten wir weiter auf den uns zustehenden Platz in der Welt warten.

Die Ming-Kaiser vergaßen, berauscht von ihrer Macht und der Welt immer mehr entrückt, sich um ihr Volk zu kümmern. Die Bauern hungerten und so kam es schließlich zur Revolte, die den letzten Ming-Kaiser Chongzhen hinwegfegte. Diese Revolte war auch deshalb von Erfolg gekrönt, weil der Verräter Wu Sangui die Große Mauer für die fremden Heere der Mandschu öffnete und ihnen somit die Möglichkeit gab, das zerrissene Reich zu überrennen.

Das ist die 2. Lehre, die der Große Vorsitzende und alle, die ihm nachfolgten, bis hin zu unserem Überragenden Führer Xi aus unserer Geschichte gezogen haben: Die Macht des Volkes kontrollieren. Das Volk, Genossen, kann jeden Herrscher jederzeit hinwegfegen. Deshalb muss man seine Macht einhegen – kanalisieren, kontrollieren, manipulieren und gegebenenfalls rechtzeitig amputieren.«

Wang legte wieder eine kleine Pause ein und trank einen Schluck Tee. Sein Auditorium war inzwischen vom Zustand der Ratlosigkeit in den der beginnenden Verzweiflung gewechselt.

Jeder der Männer kannte die Geschichte der Großen Nation, die ihnen in Hunderten von Unterrichtsstunden in Schule, Partei- und Militärakademie eingebläut worden war. Was also bezweckte Wang damit, ihnen etwas zu erzählen, was sie sowieso schon wussten?

Immerhin hatte der Befehl zu diesem Treffen die höchste Geheimhaltungsstufe gehabt – das passte nicht zu dem, was sie da hörten.

Andererseits – sie alle kannten auch den legendären Ruf Wangs als Meister der Schatten. Er stand in dem Ruf, messerscharfe Intelligenz, blitzschnelle Auffassungsgabe und ein brillantes Analysevermögen zu besitzen. Er war entscheidungsstark und hatte keine Skrupel, jedes Mittel anzuwenden, das seinen Zielen diente. Und er war der Parteiführung gegenüber so loyal, dass man sich dort blind auf ihn verließ.

Anders ausgedrückt: Wang Zhxí war eine Idealbesetzung als Geheimdienstchef und es war sicherlich absolut nicht ratsam, sich etwas von der allgemein aufkommenden Müdigkeit anmerken zu lassen.

»Genossen«, hob er erneut an. »Habt noch ein wenig Geduld mit mir – ich sehe euch zunehmend erschlaffen.« Der drohende Unterton ließ die Zuhörer erstarren und sofort strafften sie sich. Wang lächelte grimmig. »Also, wo war ich? Ja – die Mandschu. Wie ihr wisst, gründeten sie die letzte Kaiserdynastie der Qing. Diese gilt allgemein als eine der erfolgreichsten, weil auch sie teils atemberaubende kulturelle und wirtschaftliche Leistungen hervorbrachte. Unser Land erreichte unter ihnen seine flächenmäßig größte Ausdehnung überhaupt und die Völker in seinen Grenzen vermehrten sich aufgrund der guten Bedingungen so stark, dass das Reich vor etwa 200 Jahren ungefähr 36% aller Menschen auf dem Planeten stellte. Zu diesem Zeitpunkt erwirtschaftete das Reich etwa 33% der Weltwirtschaftsleistung – etwa so viel wie damals in ganz Europa.

Ihr könnt euch vorstellen, Genossen, dass ein so reiches Land Begehrlichkeiten weckt.

Während sich China, bedingt durch seine traditionelle Jahrtausende währende Fixierung auf sich selbst, abgesehen vom friedlichen Handel, nicht um den Rest der Welt kümmerte, begannen andere Staaten, vor allem jene in Europa, die Welt mit Feuer und Schwert zu erobern.

Sie begnügten sich nicht mehr mit friedlichem Handel, sondern begannen, die neue und die alte Welt unter sich aufzuteilen und in Besitz zu nehmen.

Und natürlich war China, einerseits aufgrund seines Reichtums und andererseits wegen seiner Schwäche, eine ideale Beute.

Es klingt paradox, aber es war Chinas wirtschaftliche Stärke, die seinen erneuten Untergang herbeiführte: da die Europäer, vor allem deren mächtigstes Land Großbritannien, immer mehr chinesische Waren haben wollten, stiegen die Importe chinesischer Produkte wie Tee, Porzellan und Seide stark an. Im Gegenzug wurde aber von China kaum etwas aus Europa importiert. Das führte zu einem immer größer werdenden Handelsdefizit auf Seiten der Engländer, was diese nicht länger hinnehmen wollten. Nachdem der Kaiser sich nicht für die minderwertigen Stoffe aus England interessierte verfielen sie darauf, den Chinesen vermehrt das in Bengalen angebaute Opium zu verkaufen. Dies war in China seit Jahrhunderten beliebt, wenn auch verboten, was die Engländer natürlich wussten. Da sie nicht offen gegen das Verbot auftreten wollten, um den legalen Handel mit China nicht zu gefährden, ließen sie chinesische Schmuggler die Drecksarbeit erledigen – diese schmuggelten in kurzer Zeit so viel britisches Opium ins Land, dass dieses förmlich überschwemmt wurde. Das hatte drei schwerwiegende Folgen: nahezu die Hälfte aller Chinesen wurde drogenabhängig und apathisch. Die öffentliche Moral sank in kürzester Zeit dramatisch und große Teile des Volkes verarmten. Und schließlich brach das chinesische Währungssystem zusammen, das den Abfluss großer Menger Silber zur Bezahlung des Rauschgiftes nicht verkraftete. Dadurch wiederum nahm die Verarmung des Volkes weiter rapide zu.

Als nun der Kaiser reagierte und mit Machtmitteln versuchte, das wilde Treiben der Briten in seinem Land zu unterbinden, kam es, wie ihr wisst, zu den sogenannten Opiumkriegen, deren schmachvollen Verlauf ich hier jetzt nicht wiedergeben möchte.

Es sollte sich allerdings in die Hirne aller Chinesen einbrennen, dass das, was darauf folgte, die Konsequenz aus der Schwäche Chinas gegenüber dem frechen Auftreten ausländischer Mächte war.

Denn das ist die 3. Lehre, die der Große Vorsitzende und alle, die ihm nachfolgten, bis hin zu unserem Überragenden Führer Xi aus unserer Geschichte gezogen haben: Unter keinen Umständen dürfen fremde Mächte jemals wieder Einfluss in China bekommen. Niemals!

Die Folgen der sogenannten Opiumkriege waren verheerend und treiben jedem Chinesen auch heute noch die Zornesröte ins Gesicht: das Reich wurde mit militärischer Gewalt gezwungen, weiterhin riesige Mengen Opium zu importieren, was zu einer immer nachhaltigeren Verelendung unseres Volkes führte. Die chinesischen Kriegsverlier mussten mit den Siegern entsprechende ›Verträge‹ abschließen. Verträge, in denen sich diese dauerhafte Vorrechte in strategisch wichtigen Stützpunkten auf dem Staatsgebiet Chinas sicherten, von denen aus sie immer wieder versuchten, sich zu ihrem Nutzen und zum Schaden Chinas in dessen Politik einzumischen. Ich nenne hier nur Xiānggng, von den britischen Erpressern Hong Kong genannt, und dann wisst ihr sofort, wie mühe- und schmachvoll es für uns war, diese sogenannten Verträge Schritt für Schritt rückgängig zu machen.

Durch die Verarmung des Volkes und die zunehmend desolate Situation der staatlichen Verwaltung – hier vor allem die ausufernde Korruption – kam es schließlich zu dem opferreichsten Bürgerkrieg der gesamten Menschheitsgeschichte, dem Taiping-Aufstand, der zwanzig bis dreißig Millionen Tote forderte. Dieser Bürgerkrieg, der die dauerhafte Agonie Chinas bis 1949 einleitete, wurde nicht zuletzt auch wieder von ausländischen Mächten genutzt, um China weiter zu schwächen und das Land wirtschaftlich unter sich aufzuteilen.

Zu den traurigsten Kapiteln dieses Buches gehört nicht nur, dass viele unserer Vorfahren in ihrem Vaterland keine Zukunft mehr sahen und es verließen, sondern dass diese oft als Kulis verkauft und erniedrigt wurden.

Allerdings hat dieses erschütternde Kapitel auch sein Gutes: heute leben etwa fünfzig bis sechzig Millionen Chinesen in fast allen Ländern der Welt; oftmals sind das die Nachfahren der Kulis von einst. Über unsere diplomatischen Vertretungen, das Büro für auslandschinesische Angelegenheiten und die gesamte Einheitsfrontarbeit stehen wir mit diesen in engem Kontakt und nutzen diese Kontakte, um der Welt unsere Botschaft nachhaltig zu vermitteln.

Aber Geduld, Genossen, noch sind wir nicht ganz bei dem Thema angelangt, wegen dem ihr heute hier versammelt seid.

Im Rahmen der sogenannten Opiumkriege verlor die Regierung immer mehr Kompetenzen an die fremden Mächte. So wurde sie dazu gezwungen, die Zollkontrolle und die Kontrolle über den Handelsverkehr abzugeben. Weil dem Staat dadurch die Einnahmen wegbrachen, musste er Kredite bei ausländischen Banken aufnehmen, was die Abhängigkeit weiter verstärkte.

Damit sank das einst stolze Reich der Mitte nahezu auf den Status einer Kolonie der Europäer und Japaner herab, die sich zwischenzeitlich ebenso wie Russland auch ein Stück vom Kuchen sichern wollten. Im ersten chinesisch-japanischen Krieg vor gut hundertzwanzig Jahren wurde schließlich unsere Flotte zerstört und Japan begann damit, Gebiete des Reiches zu annektieren.

Schließlich teilten die Aggressoren das Reich unter sich in verschiedene Einflusssphären auf, in denen sie dann sogar Truppen stationierten.

Der Niedergang hatte somit ein solches Ausmaß erreicht, dass sich im Volk schließlich Gegenkräfte regten. Ein erster Aufstand gegen die Invasoren erfolgte durch die Bewegung der Verbände für Harmonie und Gerechtigkeit, im Westen auch Boxeraufstand genannt.

Zwar wurde er von den Langnasen blutig niedergeschlagen, doch war dadurch die Flamme der Revolution im Volk entfacht worden. Der Zorn richtete sich zunehmend auch gegen die degenerierten Herrscher der Qing, die das Treiben der Ausländer zugelassen hatten.

Von unserem Großen Vorsitzenden ist überliefert, dass er sich als äußeres Zeichen seiner Ablehnung des Kaiserhauses als junger Mann den traditionellen Haarzopf abschneiden ließ. Das war die Zeit, in der die Qing-Dynastie ihr unrühmliches Ende fand und in der die Großen Wirren begannen, in denen verschiedene chinesische Kriegsherren zunächst vor allem mit Japan, dann aber auch gegeneinander um die Herrschaft im Reich der Mitte kämpften.

Auch der Ausgang des Ersten Weltkrieges beendete diesen unrühmlichen Zustand nicht, sondern stärkte die Stellung der Japaner, die immer brutaler versuchten, China zu ihrer Kolonie zu machen. Schließlich riefen sie den Marionettenstaat Mandschukuo aus und setzten tatsächlich den letzten Qing-Kaiser Puyi als Statthalter ein.

Zwar hatte China versucht, durch die Kriegserklärung an die Mittelmächte das Wohlwollen der Entente zu gewinnen, um sich dadurch deren Schutz gegen Japan zu sichern. Doch die hundertvierzigtausend Chinesen waren umsonst an den europäischen Kriegsschauplatz entsandt worden – nach dem Krieg ließen die undankbaren Sieger den Japanern freie Hand.

China befand sich also wieder einmal im Zustand der inneren Zerrissenheit und bedrängt von äußeren Mächten, die diesen Zustand ausnutzten.

Aber wie sagte einmal ein deutscher Philosoph: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Vor fast hundert Jahren, drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und mitten im scheinbar unaufhaltsamen Taumel des Niedergangs, wurde in Shànghi die Kommunistische Partei Chinas gegründet. Es dauerte dann noch einmal achtundzwanzig Jahre, bis unsere Partei fast ganz Festlandschina unter ihrer Kontrolle befrieden konnte. Achtundzwanzig Jahre voller Chaos und Krieg, die aus dem einst reichsten und mächtigsten Land der Welt endgültig ein Armenhaus gemacht hatten.

1949 begann der erneute Aufstieg Chinas zum Reich der Mitte. Zu einem Reich, das über allen anderen stehen soll, weil das sein rechtmäßiger Platz ist.«

Erneut legte er eine kleine Pause ein, doch nur, um entschlossen in die Gesichter seiner Zuhörer zu blicken. Während er weitersprach, bemerkten diese, wie sich Tonfall und Mimik des Redners veränderten.

Auf die Gesichtszüge des nüchternen Gentleman legte sich etwas Fanatisches, Beschwörendes. Hier sprach jemand, der zutiefst davon durchdrungen war, dass er sich auf einer Mission befand. Einer, dem jedes Mittel recht war, um sein Ziel zu erreichen.

»Und nun, siebzig Jahre später, tragen wir die Stiefel unserer Vorfahren. Wir sind in diesen siebzig Jahren auf unserem Weg zurück an die Spitze weit gekommen, doch gibt es nach wie vor Hindernisse und es ist nun an uns, sie aus dem Weg zu räumen. Wir haben ein jahrtausendealtes Erbe angetreten, eine Verheißung, eine Mission. Und wir sind von der Geschichte dazu bestimmt worden, die entscheidende Generation zu sein, die diese Mission erfüllt.

Und wir hier in diesem Raum werden die Speerspitze dieser Mission sein.«

Mit diesen Worten verließ er seinen Platz am Pult und setzte sich zu den anderen.

Es herrschte Totenstille.

Zwischenfall

Dicht an dicht standen die Massen an der Straße. Das Gedränge, der Smog und die Hitze hatten den ganzen Tag über ihren Tribut in Form von Ohnmächtigen gefordert. Dennoch war die Stimmung gut, ja ausgelassen.

Seit Wochen hatten die Menschenmassen auf den Straßen diesem Tag entgegen gefiebert. Die Stadt glich mehr als sonst einem Ameisenhaufen und wurde zusätzlich bevölkert von westlichen Kamerateams, die ihre Bilder in Echtzeit um den Globus sendeten.

Heute war es also soweit – der Staatsgast sollte kommen.

Sie stand nun schon seit über fünf Stunden an der Chang’an Straße in der Nähe der Großen Halle des Volkes. Sie wusste, dass der Konvoi mit ihm hier vorbeifahren würde. Mehrmals hatte sie schon das Gefühl gehabt, nicht mehr weit von einem Kreislaufkollaps entfernt zu sein, aber sie war gekommen, um ihn zusehen, um einen flüchtigen Blick auf den Mann zu werfen, der für sie und all die anderen Menschen, die heute unterwegs waren, wie kein anderer für die Hoffnung auf Veränderung stand.

Vor zwei Jahren hatte sie an der renommierten Universität von Whàn ihr Medizinstudium mit der Bestnote abgeschlossen und arbeitete nun im dortigen Universitätskrankenhaus. Natürlich hatte sie nur studieren dürfen, weil die unverbrüchliche Treue ihrer Familie zur Partei bekannt war. Aber sie war in ihren Studienjahren auch mit anderen Gedanken in Berührung gekommen. Gedanken westlicher Philosophen aus Antike und Neuzeit. Nächtelang hatte sie mit Freunden über Freiheit und Demokratie diskutiert und sich gefragt, wie man das gesellschaftspolitische System in ihrer Heimat so verändern könne, dass es weniger Dirigismus, weniger Unfreiheit und vor allem weniger Vetternwirtschaft und Korruption geben würde.

Und dann hatte sich ausgerechnet im Mutterland der Herrschaft des Proletariats etwas Entscheidendes verändert – ein Mann hatte dort die Macht übernommen, der erkannt hatte, dass es so nicht weitergehen konnte. Einer, der es offenbar ernst meinte mit Veränderungen. Zunächst hatte sie den Regierungswechsel achselzuckend zur Kenntnis genommen, dann aber mit immer mehr Interesse verfolgt, wie der vergleichsweise junge Staatschef versuchte, die verkrusteten Strukturen in seinem Land aufzubrechen, und hatte registriert, dass auch in anderen Staaten des Machtbereichs seines Imperiums Tauwetter angebrochen war.

Die Diskussionen mit den anderen waren leidenschaftlicher, mutiger geworden und sie waren auch nicht abgerissen, als sie das Studium abgeschlossen hatte. Eine nie gekannte Aufbruchstimmung hatte, zunächst zögerlich und dann immer überwältigender, die Jugend des Landes erfasst und war schließlich von den Universitäten auf andere Bereiche übergesprungen. Sollte es möglich sein? Läge es vielleicht sogar zum Greifen nahe? Freiheit! Freiheit auch in unserem Land?!

Es war bereits im vergangenen Jahr zu vereinzelten größeren Demonstrationen in Héféi, Shànghi und anderen Universitätsstädten gekommen. Auch in Whàn hatte es einzelne Kundgebungen gegeben, die sie zunächst nur beobachtet und an denen sie schließlich aber voller Überzeugung teilgenommen hatte. Die Staatsmacht hatte sich fast immer zurückgehalten, was sie und die anderen ermutigte, sich stärker zu engagieren. Insbesondere Generalsekretär Hú Yàobāng brachte ihnen viel Verständnis entgegen. Zuviel. Er war deshalb vom Patriarchen Dèng Anfang des Jahres zum Rücktritt gezwungen worden und nun, nur drei Monate später, verstorben.

Aber es war zu spät gewesen. Der Durst nach Freiheit konnte von der Partei nicht mehr gestillt werden und so hatten sich junge Menschen aus dem ganzen Land vor einem Monat auf dem Tiān‘ānmén Gungchng versammelt, um den Tod von Hú zu betrauern und lautstark nach Freiheit zu rufen.

Und jetzt stand sie hier an der staubigen Straße mit all den anderen, um ihn zu sehen. Um wenigstens für einen kurzen Augenblick den Mann zu sehen, der das alles ausgelöst hatte.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Der Konvoi mit dem Staatsgast näherte sich. Ein großer Mann neben ihr schob sie rücksichtslos zur Seite, besann sich dann aber eines Besseren und hob sie auf seine breiten Schultern. Logenplatz. Schon brausten die Motorräder an ihr vorbei. Und dann sah sie ihn: er saß im Fond einer schwarzen Limousine und winkte. Ja, er winkte ihr zu und lächelte. Es war ihr, als wolle er anhalten, vielleicht um ihre Hand zu schütteln, doch der Fahrer des Wagens blickte stur nach vorne und der Konvoi mit dem Staatsgast verschwand in einer Staubwolke. Hatte er sie wirklich angelächelt? Was für eine seltsame Begegnung! Im Auto der mächtige Mann mit dem markanten Muttermal und auf den Schultern dieses Unbekannten sie, die kleine zierliche Frau aus der Menge. Hier hatte das Schicksal für einen Wimpernschlag zwei Menschen zusammengeführt, die die Welt verändern sollten. Jeder auf seine Weise. Doch während er dies bereits tat, war ihre Zeit noch nicht gekommen.

Später, als sie wieder im Gästebett ihrer Tante lag und an die Decke starrte, wusste sie, dass sie am nächsten Morgen erneut zum Tiān‘ānmén Gungchng gehen würde. Sie würde so lange dort hingehen, bis der Wind der Veränderung auch in China wehte.

Am nächsten Morgen sah die Tante sie prüfend an. »Und? Hast du ihn gesehen?«, fragte sie gespannt. »Ja, er hat mir sogar zugewunken und mich angelächelt! Tante, ich wünschte, wir hätten einen wie Gorbatschow Zhxí in unserer Staatsführung. Stattdessen haben wir die Kleine Flasche Dèng, der versucht, unseren Drang nach Freiheit mit Geld zu bändigen! Sonderwirtschaftszonen! Wirtschaftliche Öffnung! Geld! Konsum! Pah! Was ist mit wirklichen Freiheiten für uns? Demokratie, Mitbestimmung?! Und wann endet diese unsägliche Korruption, die am Ende das ganze Land zerfrisst?« Sie ballte zornig ihre Hände zu Fäusten. Ihre Tante sah sie mitleidig an. »Ach Kindchen, Demokratie ist was für Leute in Amerika. Für ein Land wie China mit so vielen Menschen ist das doch nichts – das führt nur ins Chaos, und davon hatten wir in unserer langen Geschichte nun wahrlich genug. Ich verstehe ja, dass dir und deiner Generation hier vieles zu rigide und zu streng erscheint. Aber ihr habt auch nicht die Wirren vor der Gründung unserer Volksrepublik miterlebt. Die Not und die vielen Toten. Auch danach war es noch sehr schwierig für den Großen Vorsitzenden, unsere Nation gegen äußere und innere Feinde zu verteidigen und die große Not, die überall herrschte, zu lindern. Ich habe so viele Menschen sterben sehen in meinem Leben. Aber das ist nun vorbei und das haben wir der Partei und unseren Führern zu verdanken.«

»Ja«, erwiderte Shenmi trotzig. »Aber das ist Vergangenheit. Wir leben jetzt und in der Zukunft. Nicht in der Vergangenheit. Und wir können doch nicht da stehen bleiben, wo wir jetzt sind. Nein, Tante, jetzt ist der Moment gekommen, um ein neues Kapitel aufzuschlagen und wir, die Menschen, die sich täglich auf dem Tiān‘ānmén Gungchng versammeln, werden diejenigen sein, die den Mut haben, den ersten Schritt zu gehen!« Mit diesen Worten sprang sie auf, drückte dem zerfurchten Gesicht der Schwester ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf und verschwand durch die Tür. Durch das kleine verstaubte Fenster sah ihre Tante ihr lange nach. Zu den Furchen gesellten sich tiefe Sorgenfalten. Sie hatte ihrer Schwester versprechen müssen, gut auf Shenmi aufzupassen und war sich nun von Tag zu Tag weniger sicher, dass sie dieses Versprechen würde einhalten können. Was waren das wieder für verrückte Zeiten?! Und in verrückten Zeiten, soviel hatte sie in ihrem langen Leben gelernt, trat in China irgendwann immer der Tod auf den Plan.

Als Shenmi den riesigen Platz erreichte hatte sie das Gefühl, das sich heute noch mehr Menschen dort befanden als in den vergangenen Tagen. Der Platz war schwarz vor Menschen. Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg zu den Hungerstreikenden um Chái Líng. Chái Líng war eigentlich Studentin der Psychologie. Hier jedoch war sie das Sprachrohr des friedlichen Protests und hatte zum Hungerstreik aufgerufen, um die Parteiführer endlich dazu zu bewegen, in einen Dialog einzutreten. Chái Líng lächelte matt, als sie Shenmi sah. Hitze und Hunger hatten ihr offenbar bereits ziemlich zugesetzt. Besorgt kontrollierte Shenmi zunächst Puls und Blutdruck und sagte dann streng: »Das geht langsam zu weit. Du musst auch mal daran denken, dass du hier noch eine andere Funktion hast als zu hungern! Was machen wir, wenn du ausfällst und womöglich die anderen beiden auch noch?!« Damit waren Wáng Dān und Wu’er Kaixi gemeint, die von den protestierenden Studenten in den vergangenen Tagen zusammen mit Chái Líng zu ihren Anführern gewählt worden waren. Wáng Dān lag in Hörweite auf einer Pritsche und grinste: »Na, dann gehst du eben zu Dèng und legst ein gutes Wort für uns ein!« »Das ist nicht witzig«, erwiderte sie. »Du weißt genau, dass wir jetzt, wo Gorbatschow endlich da ist, die entscheidende Gelegenheit haben. Es sind so viele Journalisten aus aller Welt hier – die Welt schaut auf uns und unsere Parteiführer trauen sich nicht, gegen uns vorzugehen. Wir brauchen jetzt einen klaren Kopf, damit das weiter in den richtigen Bahnen läuft.« Wáng Dāns Grinsen wurde noch breiter, als er triumphierend sagte: »Was denkst du denn, Shenmi, glaubst Du, wir sind blöd? Heute waren ein paar Offizielle hier, die uns eingeladen haben, übermorgen mit Lĭ Péng im Fernsehen zu diskutieren! Die knicken ein, wir sind dabei, zu gewinnen! Der Hungerstreik dient lediglich noch dazu, sie daran zu hindern, es sich nochmal anders zu überlegen. Und jetzt verpass uns bitte unser Frühstück!«

Shenmi war sprachlos – sie hatten es tatsächlich geschafft: die Partei war gesprächsbereit! Sie hatte in den letzten Tagen zunehmend befürchtet, dass die Fronten sich durch den Gesichtsverlust, den die Studenten der Staatsführung durch die Besetzung des Tiān‘ānmén Gungchng ausgerechnet während dieses wichtigen Staatsbesuches zugefügt hatten, massiv verhärten könnten. Und nun schien das Gegenteil der Fall zu sein. Erleichtert legte sie den beiden die Glukoseinfusionen an.

Der Tiān‘ānmén Gungchng ist der viertgrößte Platz der Welt. Er misst 880 mal 500 Meter und ist damit größer als 55 Fußballfelder. Der Platz kann etwa eine Million Menschen aufnehmen und in diesen Tagen war sein Fassungsvermögen erschöpft. Immer mehr Menschen strömten auf den Platz und es waren beileibe nicht nur Studenten. Es gab Bereiche, wo berühmte Rockstars wie Cuī Jiàn oder He Jong auftraten, und es gab den Ort, an dem Pekinger Kunststudenten eine chinesische Freiheitsstatue aufstellten. Daneben existierten Bereiche, an denen sich Arbeiter trafen, um freie und unabhängige Gewerkschaften zu gründen. Immer mehr ganz normale Bürger aus Běijīng und dem ganzen Land solidarisierten sich mit den Demonstranten und es herrschte eine fast ausgelassene Stimmung auf dem Platz, die eher an ein Open Air Konzert erinnerte, als an eine Machtprobe zwischen Volk und Regierung.

Shenmi sah sich die Fernsehdiskussion im Pink House an. Das Pink House war eine rosa angestrichene Baracke, in der es Tsingtao Bier gab und die daher bei Rucksacktouristen aus aller Welt beliebt war. Dort gab es auch einen Fernseher, vor dem sich nun die Menschen gespannt versammelt hatten. Shenmi hatte Wáng Dān und Wu’er Kaixi seit zwei Tagen nicht mehr gesehen und war entsetzt über deren durch den Hungerstreik geschwächten Zustand. Noch entsetzter war sie jedoch über den Verlauf der Diskussion. Offenbar ignorierten die beiden Studentenführer ganz bewusst die in China üblichen Höflichkeitsformen gegenüber älteren oder höhergestellten Personen. So begann das Gespräch mit einer Provokation. Forderungen wurden gestellt, denen die Vertreter des Staates geschickt auszuweichen versuchten. Diese Ausweichmanöver wurden von den Studenten mit neuerlichen Provokationen beantwortet. Am Ende verlief die Diskussion ergebnislos.

Trübsinnig trat Shenmi den Heimweg zum Haus ihrer Tante an. Etwas stimmte nicht. Sie hatte nun ganz und gar nicht mehr das Gefühl, dass die Studenten sich durchsetzen würden. Im Gegenteil. Während die Studentenführer, geschwächt durch den Hungerstreik und ein wenig zu siegesgewiss zugleich, lediglich pubertäre Provokationen auf die Politiker losgelassen hatten, waren ihr diese so erschienen, als hätten sie hinter den Kulissen längst Entscheidungen getroffen. Einschneidende Entscheidungen. Lĭ Péng und die anderen hatten sich so wie Boxer verhalten, die den Gegner in Sicherheit wiegen, um ihm dann wie aus dem Nichts den entscheidenden Überraschungsschlag zu versetzen. Das Verhalten der beiden Hungerstreikenden hatte sie abgestoßen. So sehr, dass sie beschloss, den Platz in den nächsten Tagen zu meiden.

Es zeigte sich schnell, dass sie mit ihren Befürchtungen richtig lag: kaum war der geschickt von den Protestierenden abgeschirmte Staatsgast abgereist, ohne dass das ersehnte Treffen mit den Studenten stattgefunden hatte, verhängte Dèng das Kriegsrecht über die Stadt. Überall wimmelte es nun von Polizisten und zunehmend auch Soldaten, während der größte Teil der internationalen Presse ebenfalls abzog. Den wenigen verbliebenen internationalen Journalisten wurde kurzerhand die Akkreditierung entzogen. Dèngs Gefolgsleute zogen einfach den Stecker und China wurde für die Welt wieder zu dem schwarzen Bildschirm, der es vor Beginn der Proteste gewesen war.

Als Shenmi schließlich wieder auf den Tiān‘ānmén Gungchng zurückkehrte, hatte sich etwas verändert: die friedliche, ja ausgelassene Stimmung war einer ängstlichen Anspannung gewichen. Die Führer der Proteste versuchten, sich und den anderen durch aufpeitschende und immer radikalere Reden Mut zu machen. Wiederholt war es zu Rangeleien zwischen Polizisten und Zivilisten gekommen, als Erstere versucht hatten, auf den Platz zu gelangen. Es gab Zufahrtsstraßen, in denen bereits Barrikaden gebaut wurden, in anderen verschanzten sich, zunächst noch unbewaffnet, Armeetrupps.

Auf dem Platz herrschte inzwischen ein unsäglicher Gestank, da die seit Wochen campierenden Massen über keinerlei Toiletten verfügten. Die Vermüllung hatte ebenfalls ein kritisches Ausmaß erreicht. Unter den Protestierenden gab es immer lautere Stimmen, die angesichts der drohenden Eskalation für einen Abzug plädierten. Diese wurden jedoch von den radikalen Gruppen lautstark niedergebrüllt.

»Geh nicht, Shenmi«, hatte ihre Tante sie angefleht. »Es liegt etwas Böses in der Luft. Ich habe deiner Mutter versprochen, dass ich auf dich aufpasse. Willst du, dass ich wortbrüchig werde? Geh nicht, ich bitte dich!«

»Aber ich darf die anderen doch nicht im Stich lassen, Tantchen! Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde!«

Als sie auf die Straße trat, blieb sie kurz stehen und sog die warme Frühsommerluft ein. Die Geräusche der Millionenstadt erschienen ihr für einen kurzen Moment so fremd. War es das, was sie wollte? Sie hatte Medizin studiert, um Menschen zu helfen. Kranken Menschen. Und nun fand sie sich inmitten von Menschen wieder, die tatsächlich glaubten, dem Rad in die Speichen greifen zu können, obwohl es das Rad eines Giganten war. Wer waren sie, dass sie glaubten, aus tiefster Überzeugung glaubten, diesem drohenden Koloss ihren Willen aufzwingen zu können? Es war nur ein Augenblick, der sie zweifeln, ja verzagen ließ. Nur ein Augenblick, und doch brannte sich ein Gefühl unendlichen Verlorenseins tief in ihr Herz.

Sie schüttelte sich unwirsch und beschloss, ihrer Tante zuliebe mit der U-Bahn zu fahren. Auf den Straßen wimmelte es in diesen Tagen zunehmend von finsteren Typen, denen man als junge Frau, die allein unterwegs war, nicht begegnen wollte.

Wie sie allerdings feststellen musste, fanden sich solche Gestalten auch in der U-Bahn. Ein ungepflegter Typ mit fettigen Haaren kam ihr im Gedränge eine Spur zu nahe. Sie konnte seinen nach Knoblauch stinkenden Atem in ihrem Nacken spüren. Wie zufällig streifte seine Hand ihren kleinen Po, was sie mit einem bösen Blick quittierte. Das schien den Fremden leider noch zu ermutigen, näher aufzurücken. Shenmi musste ein plötzliches Gefühl der Übelkeit unterdrücken und stieß ihn von sich weg. »Schlampe!«, zischte er sie an und machte Anstalten, ihr zeigen zu wollen, dass sich ein chinesischer Mann so etwas von einer Frau nicht gefallen lässt.

Kurz vor der Gōngzhfén Zhàn hatte sie genug und beschloss, auszusteigen. Noch auf der Treppe hörte sie, dass es oben auf der Straße offenbar einen Tumult gab. Menschen schrien wild durcheinander und man hörte ein dumpfes Grollen. Als sie den U-Bahneingang verließ, stockte ihr der Atem. Hunderte Menschen waren dort, sie hatten sich hinter quergestellten Bussen und brennenden Müllcontainern verschanzt. Überall waren Steine zu kleinen Haufen aufgestapelt worden. In einigen Gesichtern sah sie Angst, in manchen Wut und auch Ungläubigkeit. Sie alle aber blickten immer wieder ängstlich in die Richtung, aus der wie eine namenlose Drohung das dumpfe Grollen kam. Dieses Grollen war zunächst kaum hörbar gewesen, jetzt aber war es zu einem ohrenbetäubenden Crescendo angeschwollen und übertönte alle anderen Geräusche, auch die Schreie der Angst, die nun aus der Menge ertönten, als die Panzer schließlich die Barrikade erreicht hatten. Shenmi stockte der Atem. Das waren Panzer der Armee, die sie und ihr Land beschützen sollte! Und nun standen sie hier. Drohend und in voller Kampfausrüstung hatten sie ihre Waffensysteme auf eben diese Menschen gerichtet, die es doch eigentlich zu schützen galt! Soldaten, die auf ihre Väter, Mütter und Geschwister zielten! Da flog ein Stein aus der Menge und prallte an der stählernen Einstiegsluke des Führungspanzers ab. Klonk! Noch einer und ein dritter. Schließlich prasselte ein ganzer Hagel aus Steinen auf die Panzer nieder, die diesen hilflosen Angriff an sich abprallen ließen, als sei es ein harmloser Platzregen.

Dann geschah das Unvorstellbare: die 20mm-Maschinengewehre der vordersten Panzer schwenkten hoch und eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. TakTakTakTakTak! TakTak-TakTakTak! Das Stakkato des Teufels. Neben Shenmi sackte ein junger Mann zusammen, einem anderen, der gerade einen Stein werfen wollte, wurde der Unterarm zerfetzt. Auf den Barrikaden lagen plötzlich blutüberströmte Leichen, zu denen sich im Takt der Maschinengewehre immer mehr gesellten. Panik brach aus als der Führungspanzer die Fahrt wieder aufnahm und, dabei ein riesiges Loch hinterlassend, einfach durch einen der quergestellten Busse pflügte. Wie in einem Albtraum sah Shenmi, wie Leichenteile zwischen den Panzerketten hervorquollen. Der Panzer hielt, die Luke öffnete sich und zwei Soldaten kletterten heraus. Offenbar glaubten sie, die Menschen seien von diesem brutalen Vorgehen eingeschüchtert. Schwerer Fehler. Ein wütender Mob stürmte auf sie zu, umzingelte sie und stampfte sie schließlich zu Brei, bevor ihnen ihre Kameraden zu Hilfe eilen konnten. Jetzt sprangen immer mehr Soldaten aus ihren Panzern, eröffneten das Feuer und mähten alles nieder, was sich noch bewegte, während sie langsam vorrückten und die Menge in alle Richtungen floh.

Starr vor Schreck und Angst drückte sich Shenmi in einen Hauseingang, während die Soldaten immer näher kamen. Verzweifelt versuchte sie, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen, und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Sie konnte unmöglich fliehen, die Soldaten waren schon zu weit herangekommen. Wenn sie aber blieb, würde sie unweigerlich entdeckt werden und es sah nicht danach aus, als würden Gefangene gemacht.

Plötzlich öffnete sich ein schmaler Spalt in der Tür hinter ihr und ein Arm zog sie in einen schummrigen Hauseingang. Im Halbdunkel konnte sie eine Frau erkennen. Eine Frau und ein paar Kinder. Die Frau legte den Zeigefinger auf die Lippen und sah sie beschwörend an. Draußen kamen schwere Stiefel näher, hielten inne, rüttelten an der Tür. Ein Hund knurrte blutrünstig, Soldaten bellten Befehle. Nach einer kleinen Ewigkeit verhallten die Schritte in der Nacht und das Dröhnen der Panzer wurde leiser. Lange wagten sie es nicht, sich zu bewegen, und lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Schüsse peitschten durch die Stadt. Viele Schüsse. Hin und wieder waren auch das tiefe Wummern von schweren Waffen und das Dröhnen von Explosionen zu hören. Dazu einschüchterndes Lautsprechergebrüll und zwischendrin das Stöhnen der Verletzten jenseits der schützenden Tür.

Schließlich hielt Shenmi es nicht mehr aus und öffnete die Tür, um durch einen schmalen Spalt einen Blick auf die Straße zu riskieren. Die Barrikade brannte noch, das riesige Loch in dem ausgebrannten Bus starrte sie an. Zerquetschte Menschen säumten die Straße, Menschen, auf deren Leibern die Panzerketten eine unmissverständliche Botschaft eingraviert hatten: ›Das ist es, was jene erwartet, die sich gegen uns stellen‹.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die Straße und schaute sich nach allen Seiten um. Die Soldaten waren weiter in Richtung des Tiān‘ānmén Gungchng vorgerückt. Sie schlüpfte vollends aus der Tür, warf der Frau noch einen dankbaren Blick zu und schlich vorsichtig an den Häuserwänden entlang. Plötzlich hörte sie ein leises Wimmern. Unter dem abgerissenen Kotflügel eines Autos schaute ein kleiner Fuß heraus, der sich leicht bewegte. »Hallo? Hörst du mich, lebst du noch, wie geht es dir?«, flüsterte sie. Die Antwort war ein erneutes Wimmern. Shenmi versuchte, den Kotflügel anzuheben, doch der hatte sich in den Resten der zerfetzten Barrikade verkeilt. Wieder und wieder versuchte sie, mit aller Kraft den kleinen Menschen unter dem Metallteil zu befreien, aber sie war zu schwach. Da stand plötzlich die Frau neben ihr, die sie gerettet hatte. Gemeinsam gelang es ihnen, den Kotflügel anzuheben und das Kind darunter hervorzuziehen. Es war ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Shenmi sah die große Wunde in seinem Bauch, das Blut und die Eingeweide, die aus der Wunde quollen, auf die er verzweifelt seine kleinen Hände presste.

Sie wusste, dass er verloren war, und nahm ihn stumm in ihre Arme. Einem mütterlichen Impuls folgend legte sie seinen kleinen Körper schützend in ihren Schoß, während er sie aus großen angsterfüllten Augen verzweifelt ansah. Und während sie da so saß und versuchte, dem zarten sterbenden Körper auf seinem schweren Weg ein wenig Trost zu spenden, wurde ihr bewusst, dass sie niemals wieder die Frau sein würde, die sie gestern noch gewesen war.

Die Frau mit den Kindern war längst weg, als Shenmis Verstand wieder begann, zu arbeiten. Sie musste hier weg. Jetzt. Wer konnte schon wissen, was noch alles geschehen würde in dieser Nacht der langen Messer, in der sich das Regime an den Studenten für den erlittenen Gesichtsverlust rächte.

Wie eine Puppe legte sie den kleinen Buben behutsam auf die Motorhaube eines zerfetzten Autos. Sie hoffte, dass seine Eltern noch lebten. Dann würden sie ihn morgen finden und könnten ihn wenigstens nach chinesischem Brauch bestatten.

Sie musste sich irgendwie unentdeckt zum Haus ihrer Tante durchschlagen und konnte nur hoffen, dass sie nicht an den Straßensperren abgefangen wurde, die die Armee jetzt überall errichtet hatte.

Aus dem Zentrum der Stadt waren weiterhin die Geräusche der Kämpfe zu hören, doch die Intensität nahm in dem Maße ab, in welchem der Widerstand gebrochen wurde.

Vorsichtig pirschte sie sich in westlicher Richtung vor. Die Straßen waren gespenstisch leer und dunkel. Ab und zu huschte der schwarze Schatten einer Katze vorüber. Nur die Straßensperren waren hell erleuchtet und Shenmi konnte sehen, wie dort nervöse Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag auf Kundschaft warteten. Aber diesen Gefallen tat sie ihnen nicht. Sie kannte sich ganz gut aus in Běijīng und wusste, wie sie abseits der großen Verbindungsachsen auf kleinen Gassen in die Peripherie der Stadt gelangen konnte.

Leider hatte sie nicht damit gerechnet, dass das Einsatzkommando neben den regulären Armee-Einheiten auch ein dichtes Netz von Agenten über die Stadt gelegt hatte, deren Aufgabe es war, genau diese Gassen zu überwachen und flüchtige Aufwiegler zu neutralisieren.

Als sie gerade begonnen hatte, sich ein wenig in Sicherheit zu wiegen, wurde sie plötzlich brutal gegen eine Hauswand gedrückt und spürte etwas Stählernes an ihrer Schläfe.

»Ausweis«, die barsche Stimme duldete keinen Widerspruch. Shenmi stöhnte vor Schmerz, so brutal war der Polizeigriff des Mannes hinter ihr. »In meiner rechten Hosentasche«, presste sie hervor. Der Armeerevolver ließ von ihrer Schläfe ab und verschwand in der Jackentasche des Mannes. Dafür glitt seine Hand in ihre Hose und zog den Ausweis hervor. »Li Shenmi«, las er vor. »Ärztin aus Whàn. Was machst du hier heute und zu dieser Stunde?« Shenmi versuchte, cool zu bleiben: »Ist es verboten, sich ein wenig die Beine zu vertreten?« Falsche Antwort, der Polizeigriff wurde so brutal, dass sie Angst hatte, er würde ihren Arm brechen. »Was du hier machst, habe ich gefragt. Und versuch nicht, mich zu verladen. Ich bin dir gefolgt, ich weiß, dass du aus dem Stadtzentrum kommst, dass du zu denen gehörst, die die Barrikaden gebaut haben!« Angst ergriff Besitz von ihr. Eine tiefe, namenlose Angst. Sie hatte gesehen, wozu diese Menschen fähig waren. Und sie war hier ganz allein mit diesem Mann, der ihr bereits jetzt einen nie zuvor gekannten Schmerz zufügte. »Nein«, wimmerte sie. »Ich war nur zufällig dort, ich habe doch nur den Verletzten helfen wollen!« Der Mann ließ ihren Arm los, packte ihre langen Haare und riss ihren Kopf daran zurück. Jetzt konnte sie seine Augen sehen, die sich drohend in die ihren bohrten. »Du glaubst wohl, du kannst mich verarschen, weil du hübsch bist, wie?« Er musterte sie. Plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen. »Komm mit!« Er schleifte sie an ihren Haaren in einen Hauseingang. »Ausziehen!« Sie traute ihren Ohren nicht. »Ausziehen!« Die Stimme duldete keinen Widerspruch, zumal der Befehl nun auch Verstärkung durch den Armeerevolver bekam. Sie sah in flehend an. »Bitte, tun Sie das nicht. Ich habe doch nichts …« »Ich sagte: AUSZIEHEN!« Er schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Mechanisch begann sie, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Was dauert das so lange, schneller!« Sie fühlte sich taub, als sie schließlich nackt vor ihm stand. Es war so demütigend. »Umdrehen!« Sie hörte, wie er seine Hose öffnete, und hoffte noch, dass das alles nur ein furchtbarer Albtraum sei. Dann packte er sie und drang schmerzhaft in sie ein. Es tat so weh! Sein Keuchen war das Letzte, was sie wahrnahm, bevor alles um sie herum in einem schwarzen Nebel versank.

Als sie erwachte, fand sie sich nackt in einer Lache Urin liegend in dem Hauseingang wieder, wo sie vergewaltigt worden war. Der Agent war verschwunden. Sie blutete, doch sie spürte keinen Schmerz. Sie tastete nach ihrer Kleidung, zog sich mechanisch an und schleppte sich weiter. Inzwischen waren die Geräusche aus dem Zentrum verstummt.

Unbehelligt gelangte sie zum Haus ihrer Tante und klopfte. Als die Alte ihr öffnete, brach sie zusammen.

Später am Tag setzte sich die alte Frau mit kummervollem Gesicht auf ihr Bett. Shenmi starrte an die Decke. ›Bitte‹, dachte sie. ›Bitte jetzt keine Vorwürfe, keine Fragen! Ich will jetzt nicht sprechen!‹ Die Tante schien ihre Gedanken zu erraten. Sie hatte in ihrem langen Leben schon so viel erlebt. Die faltige Hand mit den rheumatischen Fingern strich ihr sanft über die Stirn. »Wie damals, als die Roten Garden kamen«, sagte sie leise. »Kindchen, Hauptsache, du lebst. Alles andere heilt die Zeit.« Shenmi wollte sie dankbar anschauen, aber sie brachte nicht die nötige Kraft dazu auf. Stattdessen drehte sie sich weg und verfiel in ein unkontrollierbares Schluchzen. Die schützende Haut fiel ab und der zutiefst gedemütigte und verstörte Mensch offenbarte sich. Auch sie, das wurde ihr jetzt klar, war in der letzten Nacht gestorben.

Später versuchte sie stundenlang, sich die Erinnerung an die letzte Nacht und die brutale Vergewaltigung abzuwaschen. Man hatte ihr schon oft attestiert, hübsch zu sein, aber nun empfand sie dieses Attribut als Fluch. ›Ich will nicht mehr hübsch sein in einer Welt, deren Fratze so hässlich ist. Ich will nicht mehr weiblich sein in einer Welt, in der Weiblichkeit geschändet wird!‹ Sie nahm eine große Schere und schnitt sich ihre langen Haare ab.

Im Schrank fand sie unter der Kleidung ihres verstorbenen Onkels eine alte schwarze Hose und ein viel zu weites Baumwollhemd.

Die Tante bekam einen Schreck, als sie Shenmi in diesem Aufzug sah: »Du siehst aus wie ein Mann! Warum hast du dir Deine schönen Haare abgeschnitten?« »Was hat mir mein hübsches Gesicht eingebracht, Tante? Jetzt sehe ich aus wie ein Mann und man wird mich draußen nicht mehr belästigen oder angreifen!« Sie drehte sich um ihre Achse und betrachtete ihr Spiegelbild. »Sieht doch gar nicht so übel aus, der junge Mann«, so langsam erwachten ihre Lebensgeister wieder. »Morgen gehe ich als Mann zum Tiān‘ānmén Gungchng und werde nachschauen, wo meine Freunde geblieben sind«, sagte sie trotzig.

Die Tante erbleichte, aber sie wusste, dass es sinnlos wäre, zu protestieren. Shenmi war schon als Kind in der ganzen Familie für ihre Sturheit berüchtigt gewesen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, setzte sie es auch durch. Ausdauer, Härte, Zähigkeit und ein unbändiger Wille waren schon immer die bestimmenden Tugenden in ihrem Leben gewesen, und jeder in der Familie wusste inzwischen, dass es aussichtslos war, zu versuchen, ihr etwas auszureden. Die Alte erinnerte sich daran, wie Shenmi einst als Fünfjährige ausgerissen war, um sie in Běijīng zu besuchen. Sie hatte sich einfach im Gepäckfach eines Busses versteckt und war so als blinder Passagier in die Hauptstadt gereist, während ihre Eltern in Whàn das ganze Viertel auf der Suche nach ihr auf den Kopf gestellt hatten.

Resignierend sah sie ihre Nichte an. »Kind, mach deiner Mutter das Herz nicht schwer. Und mir auch nicht.«

Aber Shenmi war bereits damit beschäftigt, einen Plan für diesen Ausflug zu entwickeln. Sie würde sich als Mann, der harmlose Einkäufe macht, tarnen. Sie legte sich zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln zurecht und fuhr am Morgen des folgenden Tages mit dem Fahrrad los.

Auf den größeren Verkehrsachsen waren fast keine Autos, dafür aber viele Fahrradfahrer unterwegs. Ihr ›Flying Dove‹ spottete im Hinblick auf Gewicht und Übersetzung zwar etwas seines Namens, erfüllte aber seinen Zweck und brachte sie immer näher heran ans Zentrum. Hier sah sie die Verwüstungen der vorletzten Nacht. Zerstörte Autos, notdürftig an die Seite geschleift, standen am Straßenrand, in vielen Fassaden Einschusslöcher, auf den Straßen bräunlich-trockene Blutlachen. Ihr schauderte. Die Posten an den Straßensperren beobachteten die vorbeiradelnden Zivilisten argwöhnisch. Schließlich wurden die Straßen durch die Spuren der Panzerketten so unwegsam, dass sie das Fahrrad zurückließ und zu Fuß weiterging.

An einer Straßensperre winkte sie ein Posten zu sich heran. »Du da! Komm her! Was hast du in deinen Tüten?«, wollte er wissen. Er warf einen forschenden Blick hinein. »Gut. Passieren. Aber da vorne ist Schluss. Der Bereich um den Tiān‘ānmén Gungchng ist weiträumig abgesperrt.« Sie nickte eilfertig und entfernte sich dann schnell.

Tatsächlich. Kurze Zeit später ging es nicht weiter. Sie überlegte und bog dann in eine breitere Straße ein, die sie schließlich zur Cháng‘ān Jiē führte, von wo aus sie hoffte, wenigstens einen Blick auf den großen Platz werfen zu können. Da vorne war ein Zebrastreifen, doch plötzlich hörte sie ein so vertrautes wie furchteinflößendes Grollen – etwa fünfzehn Panzer näherten sich vom Tiān‘ānmén Gungchng her in langsamer Fahrt. Sie fuhren in einer Reihe wie bei einer Militärparade. Die breite Straße war ansonsten leer, keine Autos, keine Fahrräder, ja nicht einmal andere Menschen waren zu sehen. Shenmi stand mutterseelenallein am Straßenrand und sah die Panzer auf sich zurollen.

Sie dachte an den kleinen Jungen und seine sterbenden Augen und in diesem Moment verlor sie alle Furcht. ›Jemand muss ihnen Einhalt gebieten, jemand muss diesen Wahnsinn stoppen‹, schoss es ihr durch den Kopf. Ohne zu zögern trat sie auf die Cháng‘ān Jiē. Entschlossen schritt sie geradewegs bis zur Mitte der riesigen Prachtstraße und blieb wie angewurzelt dort stehen. Der Führungspanzer rollte geradewegs auf sie zu. Noch 20 Meter. 15 Meter. Der Panzer machte keine Anstalten, die Fahrt zu drosseln. 10 Meter. Sie schloss die Augen. Sie würde hier nicht weggehen, sie würde diesen Panzer nicht freiwillig passieren lassen. ›Ich habe keine Steinschleuder, aber ich bin bereit, zu sterben. Ich gehe hier nicht weg. Ich werde sie demütigen, wie sie mich gedemütigt haben. Ich gehe hier nicht weg.‹ 5 Meter. Ihre Hände umklammerten die Plastiktüten, als wäre in ihnen eine unsichtbare Armee versteckt, die ihr zu Hilfe eilen würde. Jetzt. Alles in ihr krampfte sich zusammen, als sie den Aufprall erwartete. 2 Meter. Plötzlich ging ein Ruck durch den Panzer, als er abrupt anhielt. Sie öffnete die Augen. Auch die anderen Panzer hatten haltgemacht. Der Koloss war verunsichert. Was erlaubte sich dieses kleine Menschlein? Für den Bruchteil von Sekunden geschah nichts. Hier der Panzer, dort Shenmi mit ihren Plastiktüten. Kerzengerade dem Monstrum die Stirn bietend. Dann schrie sie ihre Wut heraus: » Geht weg! Lasst uns in Ruhe, ihr Mörder! Geht weg!« Dabei schleuderte sie drohend ihre Plastiktüten durch die Luft.