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Bo Svernström

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Beschreibung

Täter oder Opfer? Nördlich von Stockholm findet ein Bauer einen Mann in seiner Scheune, nackt und brutal gefoltert. Als Kommissar Carl Edson von der Reichsmordkommission mit seinem Team eintrifft, stellen sie schockiert fest, dass der Mann noch lebt. Noch bevor Edson tiefer in die Ermittlungen einsteigen kann, berichtet Reporterin Alexandra Bengtsson über den Fall. Das Opfer, Marco Holst, ist ein Krimineller, er hatte viele Feinde. Persönliche Rache? Ein blutiger Krieg in der Unterwelt? Doch bevor Holst eine Aussage machen kann, stirbt er im Krankenhaus. Als scheinbar wahllos weitere Morde an Kriminellen begangen werden, sucht die Reichsmordkommission fieberhaft nach einem Muster. Bis eine Spur Carl Edson und Alexandra Bengtsson in die Vergangenheit führt, zu äußerst düsteren, gewalttätigen Ereignissen.

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Bo Svernström

Opfer

Thriller

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann

Über dieses Buch

Täter oder Opfer?

In einer Scheune nördlich von Stockholm findet man einen blutverschmierten Körper, nackt und mit Folterspuren. Als Hauptkommissar Carl Edson von der Reichsmordkommission mit seinem Team eintrifft, stellen sie schockiert fest, dass der Mann noch lebt.

Edson hat kaum mit den Ermittlungen begonnen, als die Presse sich bereits auf den Fall stürzt, allen voran Journalistin Alexandra Bengtsson. Das Opfer, Marco Holst, ist ein Krimineller, ein Mann mit vielen Feinden. Persönliche Rache? Ein Krieg in der Unterwelt? Holst stirbt, bevor er befragt werden kann.

Es kommt zu weiteren Morden an Kriminellen, ein Muster ist nicht erkennbar. Bis eine Spur Carl Edson und Alexandra Bengtsson in die Vergangenheit führt – in eine Vergangenheit voller Blut und Gewalt.

 

«Man glaubt zu wissen, was als Nächstes passiert – doch dann zieht Svernström einem den Boden unter den Füßen weg.» Aftonbladet

 

«Ein starkes Debüt, das in der Tradition von Sjöwall und Wahlöö bis hin zu Stieg Larsson steht … ‹Opfer› ist in diesem Jahr vermutlich der beste schwedische Thriller.» De Telegraaf

«Svernströms Debüt hat in Schweden große Aufmerksamkeit erregt, viele sehen ihn als Nachfolger von Lars Kepler.» Forlagsliv

 

«Ein Pageturner, den man in einem Rutsch verschlingt.» Boktanken

 

«Ein starkes Debüt, das in der Tradition von Sjöwall und Wahlöö bis hin zu Stieg Larsson steht … Opfer ist in diesem Jahr vermutlich der beste schwedische Thriller.» De Telegraaf

 

«Clever und interessant. Ein ausgesprochen spannendes Debüt.» Skånska Dagbladet

 

«Ein außergewöhnlicher Erstling mit einem Plot, der eine vollkommen unerwartete Wendung nimmt.» Dagens Nyheter

 

«Ausgezeichnet und überraschend.» Skaraborgs Allehanda

 

«Berührend, brutal, packend.» Bokmysan

Vita

Bo Svernström, Jahrgang 1964, promovierte in schwedischer Literatur und arbeitete jahrelang als Journalist für das «Aftonbladet», eine der größten schwedischen Zeitungen. «Opfer» ist sein Debütroman und der Auftakt der Reihe um Kommissar Carl Edson und sein Team, die in zahlreichen Ländern erscheint. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stockholm.

TEIL EINS

Sonntag, 4. Mai

Es ist dunkel. Kühle Frühlingsluft weht durch den Park. Ich stehe neben einem Baum. Reglos. Es ist kurz vor Mitternacht.

Aus der Stockholmer Innenstadt dringt der übliche Verkehrslärm von Autos, Bussen und U-Bahnen herüber. Eine konstante Geräuschkulisse, die ich schon lange nicht mehr wahrnehme, die mir aber plötzlich bewusst wird.

Der Park liegt verlassen da. Abends wagt sich kaum jemand hierher. Die Leute haben Angst. Vor den schlecht beleuchteten Wegen, den lauernden Gefahren, eingebildeten oder realen. Vor Gefahren wie mir.

Die Anhöhe, auf der ich stehe, befindet sich am Rand des Parks, direkt neben dem Parkplatz der Schrebergartenkolonie. Eine der Laternen ist kaputt, der kleine Hügel ist nahezu komplett in Dunkelheit getaucht. Ich trage Tarnkleidung und habe mein Gesicht unter einer schwarzen Sturmmaske verborgen, ich bin so gut wie unsichtbar.

Bisher ist nur eine Person hier entlanggegangen, knapp zwei Meter von mir entfernt. Der Mann hat mich nicht gesehen, aber ich konnte seinen Atem hören. Kurz, schnell – als hätte er Angst.

Seitdem ist eine Stunde vergangen. Ich bin nicht nervös. Von meinem Versteck bis zum Parkplatz sind es keine dreißig Meter. Dort steht sein Auto. Der Weg unterhalb des Hügels ist der einzige Zugang, ich weiß, dass er hier wieder vorbeikommen wird.

Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen, atme den erdigen Geruch ein und fühle mich beinahe befreit. Erleichtert.

Schließlich höre ich ihn. Knirschende Schritte auf dem Splitt, der nach den Wintermonaten immer noch die Wege bedeckt. Sein Gang ist schnell, aggressiv. Sogar in der Dunkelheit strahlt er Unberechenbarkeit aus. Rücksichtslosigkeit. Gewalt.

Er verschwindet in der Dunkelheit. Den Autoschlüssel hält er bereits in der Hand – vorsorglich oder aus Angst? Doch er geht nach wie vor übertrieben selbstsicher.

Zwei Meter noch. Einer …

1

Montag, 5. Mai

«Was zum Teufel haben wir denn hier?», knurrte der Mann, der die Scheune gerade in einem blauen Ganzkörperoverall betreten hatte.

Kriminalhauptkommissar Carl Edson drehte sich zu ihm um.

«Schon wieder eine Vergewaltigung?», fragte der Mann gereizt.

Lars-Erik Wallquist war Kriminaltechniker.

«Der Bauer hat ihn gefunden», erwiderte Carl und deutete auf eine nackte Männerleiche, die in einem unnatürlichen Winkel an der Scheunenwand hing.

Sanfte Morgensonne fiel durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern der Wand und durch das geöffnete Scheunentor und tauchte den Körper, der beinahe wie ein Kruzifix an der grauschwarzen Wand hing, in ein diffuses Licht. Die Luft stand still. Carl sah die tanzenden Staubpartikel und spürte die Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf seinem schwarzen Anzug.

Er warf einen Blick auf seinen Notizblock.

«Georg Olsson, das ist der Bauer, hat um halb sieben die Notrufzentrale alarmiert. Ich bin seit einer Stunde hier …»

«Heilige Scheiße!», entfuhr es Lars-Erik.

Carl quittierte die ungewöhnlich treffende Zusammenfassung des Anblicks, der sich ihnen bot, mit einem stummen Nicken.

«Einer unserer Neuen hat sich schon übergeben …», sagte er und deutete in eine Ecke der Scheune.

Eine Pfütze, die aussah wie eine halbverdaute Pizza, schimmerte im Dämmerlicht.

«Idiot! Hätte er nicht nach draußen gehen können?»

Lars-Erik Wallquist mochte Menschen im Allgemeinen nicht und besonders nicht an Tatorten. Sein rundes Gesicht war oft gerötet, als ärgerte ihn etwas. Carl befürchtete ständig, sein Kollege würde jeden Moment einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden, was bei Wallquists stattlicher Leibesfülle nicht ganz unbegründet war – unter dem Bauch, den er vor sich hertrug, konnte man den Gürtel seiner Hose nicht mehr sehen.

«Er muss sich erst noch daran gewöhnen …», sagte Carl. «Der Junge wollte einen guten Job machen. Erinnerst du dich nicht, wie wir damals waren? Als wir unsere Vorgesetzten beeindrucken wollten und Ambitionen hatten?»

Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf.

«Ich hatte nie welche.»

Er ging zu dem nackten Körper des Mannes, der ohne sichtbare Befestigung einen halben Meter über dem Scheunenboden hing.

«Und was zur Hölle hat der getan, um das zu verdienen?», fragte er.

«Eine Menge», erwiderte Carl. «Das ist Marco Holst alias Robert Jensen.»

«Scheiße … Bandenrivalität?»

Carl zuckte mit den Schultern.

«Schwer zu sagen, aber er war offenbar im Geschäft. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, wollte ihm jedenfalls eine ordentliche Lektion erteilen.»

Der Kriminaltechniker beugte sich vor und musterte die nackten, blutigen Füße des Mannes.

«Hat man ihn festgenagelt?»

Carl nickte.

«Sieht so aus.»

Lars-Erik richtete sich auf.

«Verdammt, gekreuzigt … Möglicherweise mit einer Nagelpistole. Und sogar mit einer kleinen Platte unter den Füßen. Kein Wunder, dass man euch gerufen hat …»

Carl nickte vage. Er war müde. Dabei hatte der Tag gerade erst begonnen. Am liebsten wäre er auf der Stelle wieder nach Hause gefahren und hätte vergessen, dass so etwas überhaupt geschehen konnte.

«Ja, vermutlich gekreuzigt», erwiderte er, um irgendetwas zu sagen. «Wenn es okay ist, gehe ich raus und rede mit dem Bauern.»

Lars-Erik zuckte mit den Schultern und sah Carl an.

«Mir ist scheißegal, was du machst.»

«Gut, dann ruf mich bitte an, wenn du hier fertig bist», erwiderte Carl auf seine üblich korrekte Art.

***

Es war Montagmorgen, der 5. Mai, 8:31 Uhr. Feiner Nebel hing noch in der Luft, doch über dem Hof schien bereits die warme Frühlingssonne. Ein leichter Wind trug die Geräusche des morgendlichen Berufsverkehrs von der dreihundert Meter entfernten E18 herüber: Tausende Autos mit müden, unausgeschlafenen Berufspendlern auf dem Weg nach Stockholm. Abgesehen von diesem Zeichen menschlicher Zivilisation lag die Scheune einsam und abgeschieden zwischen frisch bestellten Feldern. Lediglich ein schmaler, holpriger Schotterweg schlängelte sich bis zu dem großen Vorplatz des Gebäudes.

Trotzdem hatte jemand diese unscheinbare Zufahrt ausfindig gemacht, um das Opfer herzubringen und es dann – Carl suchte nach dem richtigen Wort – zu Tode zu foltern. Das erforderte Vorbereitung und Planung. So einen Ort entdeckte man nicht zufällig. Was bedeutete, dass der Täter mindestens ein Mal hier gewesen sein musste, was wiederum hieß, dass es möglicherweise Zeugen gab. Zugleich sprach es für ein extrem methodisches Vorgehen des Täters, was ein schlechtes Zeichen war.

Carl hatte das Gefühl, dass ihnen eine langwierige Ermittlung bevorstand. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und hielt sein Gesicht in die Sonne. Als wollte er Energie tanken, wie eine Pflanze.

Er wurde bald einundfünfzig. Sein dunkles Haar dünnte an den Schläfen bereits aus, allerdings ohne graue Strähnen. Zudem ließ ihn sein fein geschnittenes Gesicht jünger wirken. Einen Sommer hatte er sich einen Bart stehen lassen, ihn jedoch sofort wieder abrasiert, als er bemerkt hatte, dass er voller grauer Haare war.

Inzwischen arbeitete er fast sein halbes Leben als Polizist und hatte in dieser Zeit so ziemlich alles gesehen. Seine sechzehnjährige Tochter warf ihm ständig vor, ein gefühlskalter Faschist zu sein. Wenn er versuchte, sie ruhig darauf hinzuweisen, dass sie den falschen Ausdruck verwendete, stürmte sie immer aus dem Zimmer. Dabei wollte er ihr nur erklären, dass sie vermutlich «kühl» meinte. Das war jedenfalls die Art, wie er sich mittlerweile selbst erlebte, kühl. Als hätte ihn das Feuer verlassen: die intensiven Glücksgefühle, die brennende Empörung über Ungerechtigkeit, die Trauer und der Ekel angesichts all der schrecklichen Dinge, die er gesehen und erlebt hatte – nichts davon war mehr da.

Doch an diesem Morgen ging ihm die Szene in der Scheune unter die Haut. Nicht nur die Brutalität der Tat, sondern auch ihre offenkundig systematische Ausführung. Ausnahmsweise ließ ihn das Ganze nicht kalt.

War das gut? Er wusste es nicht. Stattdessen öffnete er die Augen und ging zu seinem Wagen. Der Bauer wohnte fast einen Kilometer entfernt.

Hinter ihm, aus dem halb geöffneten Scheunentor, drang Lars-Eriks Stimme, der sich über Polizisten und die Menschheit im Allgemeinen empörte.

«Idioten!», hörte Carl den korpulenten Kriminaltechniker fluchen, bevor er die Autotür zuzog und davonfuhr.

***

Lars-Erik Wallquist betrachtete die Leiche vor sich. Er ging zu seinem stark beanspruchten Aluminiumkoffer und nahm eine Spezialkamera mit Blitzlicht heraus, die Daten im ultravioletten Spektrum erfasste. Sein Assistent betrat die Scheune, wie sein Chef in einem blauen Plastikoverall, und begann, Scheinwerfer aufzustellen und Kabel an ein Stromaggregat anzuschließen, das bereits draußen auf dem Vorplatz brummte. Ein Scheinwerfer nach dem anderen flammte auf und tauchte das Innere der Scheune in grelles Licht.

«Das Stützbrett wurde erst vor kurzem montiert», sagte Lars-Erik zu seinem Mitarbeiter und betrachtete die Leiste, auf der die Füße des Opfers standen. «Das Holz ist nicht verstaubt und weist keine natürlichen Alterungserscheinungen auf. Das Brett ist wahrscheinlich genau zu diesem Zweck angebracht geworden.»

«Fast kein Blut unter der Leiche», bemerkte der Assistent.

Lars-Erik brummte etwas Unverständliches.

Auf dem dreckigen Boden war eine deutliche Schleifspur zu erkennen, möglicherweise von einer Decke. Jemand war darübergelaufen und hatte Schuhabdrücke hinterlassen. Vermutlich dieser verdammte Neue, dachte Lars-Erik. Jetzt mussten sie auch noch die Sohlenprofile aller Anwesenden nehmen, völlig unnötig.

Er musterte die Schleifspur erneut. Sein Assistent hatte recht: kein Blut. Das definitiv hätte da sein müssen, wenn der Mann hier ermordet worden wäre.

Das Auffälligste an der Leiche – abgesehen davon, dass sie wie ein Kruzifix an der Scheunenwand hing – war, dass die Genitalien fehlten. Dort, wo Penis und Hodensack hätten sein sollen, klaffte eine dunkelrote Wunde, die normalerweise heftig hätte bluten müssen …

Plötzlich erklang ein dumpfes, unmenschliches Stöhnen.

Lars-Erik und sein Assistent sahen auf.

Der Kopf der Leiche bewegte sich, hob sich. Die langen blonden Haare, die das Gesicht verdeckt hatten, fielen zur Seite. Die Leiche schlug die Augen auf. Der Mann, der einen Moment zuvor noch tot gewesen war, starrte sie an. In seinen Augen, die in dem blutverkrusteten Gesicht wie zwei schwarze Schlitze wirkten, lag ein Blick jenseits von Schmerz und Angst. Dann öffnete er den Mund und schrie, erst gurgelnd und zischend, dann immer lauter und klarer. Er schrie, bis ihm die Luft ausging und nur noch ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle drang, dann holte er Luft und schrie erneut. Lauter und lauter.

2

Vor der Scheune standen zwei Rettungswagen mit Blaulicht. Warum zwei?, wunderte sich Carl. Hatte die Brutalität, mit der die Tat begangen worden war, den Mitarbeiter der Notrufzentrale so aufgewühlt, dass er gleich mehrere Krankenwagen geschickt hatte? Auf jeden Fall ein Fehler, dachte er.

Außerdem war es nichts besonders schade um Holst. Es gab bestimmt viele, die der Meinung waren, er hätte bekommen, was er verdiente. Carl bildete da keine Ausnahme.

Nach seinem Gespräch mit dem Bauern war er zur Scheune zurückgefahren. Georg Olsson hatte nicht mehr zu sagen gehabt als das, was er bereits dem jungen Polizeiassistenten von Stockholm-Nord erzählt hatte, dem Unglücksraben, der sich übergeben hatte.

Am Morgen war er mit dem Traktor zur Scheune gefahren, um seine Sämaschine zu holen. Das Vorhängeschloss am Tor war aufgebrochen gewesen. Er hatte einen Einbruch vermutet, aber stattdessen den Mann gefunden, der seinen Worten nach «wie eine Vogelscheuche» an der Scheunenwand hing. Und nein, davor war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Keine Autos, keine Menschen.

«Die letzten Tage war ich meistens auf dem Feld», hatte er entschuldigend gesagt.

«Sie haben niemanden auf dem Zufahrtsweg zur Scheune gesehen? Oder auf den Straßen in der Umgebung? Jemanden, den Sie nicht kennen?»

Olsson hatte ein Snus-Beutelchen unter seiner Lippe hervorgepult, es in den Mülleimer geworfen und sich den Finger sorgfältig mit einem sauberen weißen Taschentuch abgewischt.

«Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber um diese Jahreszeit hab ich ziemlich viel um die Ohren, ich schau nur auf meine Felder. Ich bekomme ja nicht mal mit, wenn meine Frau an mir vorbeifährt.»

Carl hatte Verständnis dafür geäußert und sich verabschiedet. Jetzt lehnte er an seinem Auto und beobachtete den hektischen Betrieb auf dem Scheunenvorplatz, während er zu begreifen versuchte, wie Holst überhaupt noch am Leben sein konnte. Er hatte ihn gesehen – Holst war zweifellos tot gewesen. Und nun lag er dadrinnen, umringt von einem Notarztteam, das alles daransetzte, um ihn zu retten.

Als Carl durch das Scheunentor spähte, kamen zwei Sanitäterinnen heraus und gingen zu ihrem Rettungswagen. Er folgte ihnen.

«Wie geht es ihm?», fragte er.

Eine der beiden drehte sich um.

«Ich habe noch nie etwas Schlimmeres gesehen», sagte sie.

Ihr Gesicht kam Carl merkwürdig ausdruckslos vor, als stünde sie unter Schock.

«Kommt er durch?», fragte er.

«Wenn er Glück hat …»

Die Frau stieg ein und schloss die Wagentür. Als der Rettungswagen langsam vom Hof fuhr, gab er den Blick auf einen dahinter parkenden schwarzen Mercedes-Kombi frei. Carl erkannte das Auto, es gehörte der Rechtsmedizinerin.

Sie hieß Cecilia Abrahamsson und war gerufen worden, um eine erste Leichenschau durchzuführen und den Totenschein auszustellen. Jetzt konnte sie nur danebenstehen und zusehen, wie die Sanitäter ihr Bestes gaben, um Marco Holst zu retten. Erst wenn das gelungen war, würde sie eine Einschätzung seiner Verletzungen aus kriminalistisch-juristischer Sicht vornehmen.

Und diese Einschätzung war es, die Carl interessierte.

Während er wartete, schritt er den Vorplatz der Scheune ab und vermaß ihn: zweiundzwanzig Schritte in der Länge, einunddreißig in der Breite.

Das Messen, Ordnen und Kategorisieren von Dingen und Sachverhalten gehörte zu seinen Gewohnheiten. Carl betrachtete das weit geöffnete Scheunentor. Es war fast vier Meter hoch und breit genug für große Landwirtschaftsmaschinen, dachte er. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen – abgesehen von der Tatsache, dass der Bauer den Mann noch am selben Morgen entdeckt hatte.

Carl fragte sich, ob der Täter Marco Holst absichtlich hatte überleben lassen, ob er die Schwere der Verletzungen genau kalkuliert hatte, damit er nicht starb. Doch dieser Gedanke war so beunruhigend, dass sich alles in ihm dagegen sträubte.

Ein schepperndes Geräusch ließ ihn aufblicken. Holst wurde auf einer Trage aus der Scheune gerollt. Carl machte einen Schritt zur Seite, sah, wie der Tropf über dem verstümmelten Körper hin und her schwankte, betrachtete das verzerrte Gesicht, die blutverkrusteten blonden Haare.

Marco Holst konnte nur durch Zufall überlebt haben. Denn nun gab es einen Zeugen.

Als die Sanitäter die Trage in den Krankenwagen schoben, trat die Rechtsmedizinerin ins Freie.

Carl ging auf sie zu.

«Hallo», sagte er. Wie gewöhnlich fühlte er sich in Cecilia Abrahamssons Anwesenheit unbeholfen.

Sie war groß, fit und sehr … erwachsen. Ihm fiel keine bessere Beschreibung ein. Sie sprach in einem herablassenden, selbstbewussten Ton und auf die typisch überlegene Art, die erfahrene Mediziner häufig an den Tag legten. Sie strahlte eine Autorität aus, die ihm das Gefühl gab, klein zu sein.

Vielleicht lag es aber auch an ihrer High-Society-Ausstrahlung, dieser selbstverständlichen, natürlichen Überheblichkeit, die daher rührte, niemals gezwungen gewesen zu sein, Kompromisse einzugehen oder auf irgendetwas zu verzichten, nicht einmal als Kind.

Außerdem hatte sie sich das Gesicht mehrfach liften lassen, sodass es Carl Schwierigkeiten bereitete, ihre Mimik zu deuten oder ihr Alter zu schätzen. Sie konnte ebenso gut auf die sechzig zugehen wie kürzlich dreißig geworden sein. Beim Reden spannte sich ihre Haut unnatürlich über die Wangen und um ihre blauen Augen herum, ihr Blick erinnerte ihn an eine Eidechse. Wenn sie lächelte, machten ihre Lippen nicht richtig mit, als würden sie sich widersetzen. Vielleicht gehörte es in ihren Kreisen zum guten Ton, das Älterwerden nicht zu akzeptieren, er wusste es nicht.

Carl vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen, aus Angst, beim Starren erwischt zu werden.

«Wann kann ich mit ihm sprechen?», sagte er und richtete seinen Blick auf den weißen Kragen ihrer eleganten schwarzen Bluse.

Die Rechtsmedizinerin schritt an ihm vorbei, als würde sie ihn nicht bemerken.

«Das kannst du nicht», erwiderte sie, ohne sich umzudrehen, während sie auf ihren Wagen zuging. «Man hat ihm die Zunge abgeschnitten, ganz hinten an der Wurzel. Er wird nie wieder sprechen können. Und das ist nicht das Einzige, was er nie wieder tun kann.»

Carl folgte ihr.

«Warte», sagte er.

Ohne zu antworten, öffnete sie die Fahrertür und stieg ein. Carl öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben sie. Der schwarze Lederbezug knarzte, und er fragte sich, wie viel man wohl verdienen musste, um sich eine schwarze Mercedes-Lederausstattung leisten zu können.

«Er wird also nicht mehr sprechen können?», sagte er.

«Nein», bestätigte sie. «Er wird auch seine Hände nicht mehr benutzen können. Man hat ihm die Finger abgeschnitten. Alle. Oberhalb der Gelenke.»

Fast so, als hätten wir doch keinen Zeugen, dachte Carl.

«Was noch?», fragte er.

«Vermutlich hat er eine Kieferfraktur, die beim Abschneiden der Zunge verursacht wurde, aber das wird man beim Röntgen feststellen. Abgesehen von den Fingern hat man ihm die Genitalien abgetrennt, mit einem scharfen, sauberen Schnitt an der Peniswurzel. Auch das Skrotum wurde vollständig entfernt.»

Cecilia lehnte den Kopf an die Nackenstütze und starrte an die Decke. Sie sah erschöpft aus. Ihre Augen waren halb geschlossen.

«Seine Hoden», erklärte sie mit gedämpfter Stimme.

Carl nickte. Er wusste, was Skrotum bedeutete.

«Er hätte innerhalb einer Stunde verbluten müssen», fuhr sie fort. «Aber der Täter hat wahrscheinlich ein erhitztes Messer benutzt, dadurch wurde die Blutung teilweise gehemmt.»

Carl zog die Augenbrauen hoch.

«Der Täter wollte also, dass er lebt?»

Sie zuckte mit den Schultern.

«Über mögliche Motive will ich nicht spekulieren. Ich kann nur Fakten nennen.»

Carl nickte. Er hatte seinen Notizblock hervorgeholt und schrieb.

Die Rechtsmedizinerin warf ihm einen missbilligenden Blick zu, ehe sie fortfuhr:

«Er wurde an der Wand festgenagelt, wie du vielleicht selbst bemerkt hast. Robuste Nägel, direkt durch seine Handgelenke und Füße, bis in die Holzbalken hinein. Es erfordert enorm viel Kraft, Gewebe und Skelettteile zu durchdringen. Dennoch ist der Bereich um die Löcher herum nicht beschädigt.»

«Was bedeutet das deiner Meinung nach?», fragte Carl, ohne von seinem Notizblock aufzusehen.

«Ich schicke dir den Bericht, sobald ich Holst gründlich untersucht habe. Das sind lediglich erste Einschätzungen.»

Carl blickte auf und lächelte entschuldigend.

«Ich mache mir trotzdem gern Notizen. Ich kann mich dann besser an Details erinnern.»

«Der Täter hat möglicherweise eine Nagelpistole benutzt», fuhr Cecilia fort. «Etwas in der Art könnte saubere Verletzungen wie diese verursachen.»

«Lars-Erik hat dieselbe Vermutung geäußert …»

Der Rechtsmedizinerin gelang es nicht, ihren Unmut über die Unterbrechung zu verbergen.

«Trotz der Kauterisation hat der Mann eine große Menge Blut verloren …»

«Kauter…?»

«Das erhitzte Messer», erklärte sie. «Eure Kriminaltechniker werden sicherlich mehr dazu sagen können.»

Carl machte sich Notizen. Sie wartete, bis er fertig war, warf jedoch ungeduldige Blicke auf ihre Armbanduhr, eine Rolex.

«Die Verstümmelungen wurden sehr präzise ausgeführt. Ich nehme an, dass der Täter eine gewisse Übung im Umgang mit Schneidewerkzeugen besitzt und über grundlegende chirurgische Kenntnisse verfügt. Ein Militärangehöriger, jemand mit medizinischem Hintergrund, vielleicht ein Schlachter oder Jäger …»

Carl sah sie an.

«Ein Arzt?»

Die Rechtsmedizinerin nickte, doch ihre Miene drückte Missfallen aus, als hätte sie Kritik an ihrem eigenen Berufsstand herausgehört.

«Ja, das ist möglich … Das Holzbrett, auf dem der Mann stand, spricht für Sachkenntnis sowie die Absicht, das Leben des Opfers zu verlängern.»

«Bitte erklär mir das», sagte Carl.

«Wenn man gekreuzigt wird, erstickt man sehr schnell. Man muss mit jedem Atemzug sein eigenes Körpergewicht hochziehen, das hält niemand besonders lange durch. Daher haben die Römer Bretter unter den Füßen ihrer Opfer angebracht. Um ihr Leiden zu verlängern.»

Carl schrieb schnell mit, aber dieses Detail verstörte ihn. Die akribische Vorbereitung, die entschlossene Ausführung dieses Verbrechens erschreckten ihn.

«Noch etwas?», fragte er.

Cecilia blickte noch immer geradeaus durch die Windschutzscheibe, die Hände auf dem Lenkrad.

«Er hat Brandwunden auf der linken Seite des Brustkorbs», sagte sie.

«Und?»

«Es ist nur eine Vermutung, ich kann mich irren …»

«Ja …?»

«Die Brandwunden ähneln Verletzungen, die von Elektroschockern verursacht werden.»

Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort.

«Also könnte ihn jemand mit einem Taser angegriffen und betäubt und ihm dann all das angetan haben? Das wäre eine denkbare Erklärung.»

«Das musst du mit jemand anderem diskutieren. Ich sage nur, dass die Brandverletzungen auf der linken Brust ähnlich aussehen wie die von einem Elektroschocker. Aber sie könnten auch auf andere Weise verursacht worden sein. Wir werden Tests durchführen und versuchen, das zu verifizieren.»

«Okay, danke.»

Carl schlug seinen Notizblock zu und überlegte kurz, wie solche Tests wohl abliefen, beschloss aber, besser nicht nachzufragen.

«Wird er überleben?», fragte er stattdessen.

Sie wiegte den Kopf.

«Es ist zu früh, um mit Gewissheit etwas sagen zu können. Wie ich bereits erwähnte, hat er eine große Menge Blut verloren. Meine Einschätzung lautet, dass er schwer verletzt ist, sein Zustand aber stabil. Ich werde ihn im Krankenhaus gründlicher untersuchen. Wer ist er überhaupt?»

3

«Marco Holst ist ein alter Bekannter von uns und besitzt ein beeindruckendes Vorstrafenregister», sagte Carl Edson und warf einen Blick in seine Unterlagen. «Geboren 1967. Autodiebstahl, Drogen- und Waffenbesitz, Körperverletzung als Jugendlicher … Danach wurde es nur schlimmer.»

Der Besprechungsraum im Kungsholmer Polizeipräsidium war grau. Grauweiße Wände, grauer Linoleumfußboden. Die niedrige Decke löste bei Carl immer leichte klaustrophobische Schübe aus, obwohl der Raum locker vierzig Personen fasste. Und jetzt war dort gerade mal eine Handvoll versammelt.

Carls Blick schweifte über die beiden in Zivil gekleideten Polizisten in der ersten Reihe, Jodie Söderberg und Simon Jern, Kriminalkommissare. Beide jung – jedenfalls jünger als er –, und sie gehörten zu seinem Team. Hinter ihnen saßen eine weitere Kommissarin sowie der junge Polizeianwärter, der sich in der Scheune übergeben hatte, beide von der Abteilung Stockholm-Nord. Carl konsultierte wieder seine Unterlagen:

«1993 wurde Holst wegen des Mordes an seiner Freundin zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hat mehrfach mit einem Messer auf sie eingestochen und sie anschließend auf dem Küchenfußboden verbluten lassen. Die lebenslange Haft wurde später ausgesetzt und in sechsundzwanzig Jahre umgewandelt. Im Gefängnis änderte er seinen Namen von Robert Jensen zu Marco Holst. 2010 wurde er nach nur siebzehn Jahren auf Bewährung entlassen. Ein halbes Jahr später vergewaltigte er im Vasapark mitten in der Stockholmer Innenstadt ein vierzehnjähriges Mädchen. Selbst wenn man vom Alter des Opfers absieht, war die Vergewaltigung außergewöhnlich brutal. Sowohl vaginal als anal. Dafür bekam er vier Jahre plus vier Jahre von seiner früheren Strafe. Vor drei Wochen hatte er zwei Drittel der Zeit verbüßt und wurde aus der Haft entlassen.»

Carl blickte von seinen Aufzeichnungen auf.

«Während des Vergewaltigungsprozesses wurde er auch für ein paar minderschwere Delikte für schuldig befunden. Drogen- und illegaler Waffenbesitz, ein Einbruch … Nichts davon hat sich nennenswert auf das endgültige Strafmaß ausgewirkt, da er bereits zu acht Jahren verurteilt worden war.»

Carl musterte seine Kollegen.

«Scheiß Bewährung», sagte Simon und rutschte auf seinem Stuhl herum. «Bandenrivalität?»

Carl machte eine unbestimmte Geste.

«Angesichts seiner kriminellen Laufbahn durchaus möglich … Auf jeden Fall scheint er jemandem ziemlich auf die Füße getreten zu sein.»

«Die Untertreibung des Tages», sagte Simon.

«Abgesehen von den Verstümmelungen wurde Holst anal mit einem Baseballschläger malträtiert – gespickt mit irgendwelchen Widerhaken und ausgeführt mit erheblichem Kraftaufwand. Die Ärzte sind noch dabei, den Schläger operativ zu entfernen.»

«Rache?», fragte Jodie. «Wenn ich an das vergewaltigte Mädchen denke, meine ich … Die Eltern – oder das Mädchen selbst – hätten doch ein ziemlich starkes Motiv.»

«Könnte sein», erwiderte Carl. «Aber eine derart … systematische Brutalität spricht eher für einen professionellen Gewalttäter mit entsprechender Vorgeschichte. Aber natürlich überprüfen wir die Familie. Übernimmst du das, Jodie?»

Jodie nickte und machte sich Notizen.

«Gibt es irgendwelche Spuren?», fragte sie. «Am Tatort …»

Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, wie eine Athletin, die hellen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie erinnerte Carl an die Mädchen in seiner Gymnasialklasse, an die, die immer vorne in der ersten Reihe gesessen und die Hand gehoben hatten und immer mit den besten Noten nach Hause gegangen waren. Erst hinterher hatte er begriffen, dass mindestens eine von ihnen unter Magersucht litt, dass sie alle unglücklich gewesen waren, angetrieben von Leistungsdruck und Erfolgszwang.

«Lars-Erik ist mit dem Tatort noch nicht fertig», sagte er. «Aber bisher … haben wir nichts.»

«Wie haben sie Holst an die Wand bekommen?», fragte Simon und kippelte mit seinem Stuhl. «Der muss doch tierisch schwer gewesen sein.»

«Lars-Erik hat oberhalb des Körpers Absplitterungen an den Holzbalken gefunden, die darauf hindeuten, dass der oder die Täter irgendeine Hebevorrichtung benutzt haben. Vermutlich einen Flaschenzug, der mit einem Spanngurt am Balken befestigt war.»

«Wissen wir das mit Sicherheit?», hakte Simon nach.

Sein Tonfall, seine gesamte Körpersprache hatte etwas Provozierendes an sich, selbst dann, wenn er eine normale Frage stellte.

Einem Mann mit Simon Jerns Aussehen ging man lieber aus dem Weg, wenn man ihm abends in der Kneipe begegnete: Er hatte harte Gesichtszüge, kurze dunkle, fast schwarze Haare und braune, ungewöhnlich stechende Augen. Carl mochte ihn nicht besonders. Als Simon seinem Ermittlerteam zugeteilt wurde, hatte er zunächst protestiert. Doch sein Chef war hart geblieben: «Keine Chance, Carl, er kommt zu dir!»

«Nein», antwortete er, «das ist eine vorläufige Hypothese von Lars-Erik. Er – und ich – glauben, dass die Täter Holst an einem Gurt hochgezogen und ihn anschließend an die Wand genagelt haben.»

«Was ist ein Flaschenzug?», fragte der Polizeianwärter unvermittelt.

Selbst angesichts des jungen Alters schien sein Allgemeinwissen beträchtliche Lücken aufzuweisen, aber das war vielleicht ein typisches Merkmal der heutigen Generation, die ihre Zeit lieber mit Computerspielen verbrachte, anstatt hin und wieder ein Buch zu lesen, dachte Carl und fühlte sich plötzlich alt.

«Eine Art Rollenkonstruktion mit einem Riemen oder Drahtseil», erklärte er. «Wie auf Segelbooten. Man lässt ein Seil über mehrere Rollen laufen. Wenn man an dem Seil zieht, ändert sich die Zugrichtung, und schwere Lasten können ohne großen Kraftaufwand angehoben werden … Eine uralte Technik.»

Der Polizeianwärter nickte und blätterte desinteressiert in seinen Notizen. Carl begriff, dass er schon nach den ersten Worten nicht mehr zugehört hatte. Vermutlich betrachtete er den Rest als überflüssige Zusatzinformation. So wie es Carls Tochter getan hätte.

Schweigen breitete sich aus. Carl blätterte in seinen Unterlagen.

«Nach Einschätzung der Rechtsmedizinerin hat Marco Holst sechs bis acht Stunden an der Wand gehangen.»

Simon und Jodie sahen ihn an. Beide schienen dasselbe zu denken.

«Das bedeutet», fuhr Carl fort, «dass er vermutlich irgendwann zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens dort festgenagelt wurde.»

«Wie zur Hölle konnte er acht Stunden überleben?», platzte es aus Simon heraus.

«Der Rechtsmedizin zufolge purer Zufall …»

«Könnten die Täter es darauf angelegt haben, dass er am Leben bleibt?», fragte Jodie. «Ich meine, absichtlich?»

«Es spricht einiges dafür, dass jemand seine Qualen verlängern wollte. Mal abgesehen von der Verwendung eines erhitzten Messers und dem Brett unter seinen Füßen hatte Holst außerdem Spuren von …», Carl las das Wort ab: «Tranexamsäure im Blut, eine blutungshemmende Substanz.»

«Was für ein Scheißpsychopath!», entfuhr es Simon.

«Laut Cecilia ist Tranexamsäure ein gängiger Wirkstoff in Medikamenten gegen starke Menstruationsblutungen. Cyklo-F ist das bekannteste Präparat. Offenbar rezeptfrei erhältlich.»

Erneut breitete sich Schweigen aus. Carl konnte beinahe spüren, wie es in den Köpfen seiner Kollegen arbeitete. Deshalb sagte er: «Das muss aber nicht bedeuten, dass wir es mit einem menstruierenden Täter zu tun haben.»

Der Polizeianwärter und Simon lachten.

«Stattdessen», fuhr Carl fort, «spricht einiges dafür, dass die Tat sorgfältig geplant wurde. Wir haben es mit einer oder mehreren Personen zu tun, die weder im Affekt handeln noch in Panik geraten. Gewaltbereite Personen mit Erfahrung, die keine Skrupel haben, derart methodisch zu foltern.»

«Kriminelle?», fragte Simon.

«Angesichts der Brutalität halte ich das für wahrscheinlich … Ein Einzeltäter … oder mehrere.»

«Aber warum diese Grausamkeit, warum diese spektakuläre Inszenierung?», warf Jodie ein. «Die Hälfte hätte doch schon genügt.»

Genau diese Frage hatte sich Carl ebenfalls gestellt.

«Wenn es sich um einen Racheakt handelt, musste es die richtige Botschaft sein, um die entsprechenden Leute zu erreichen. Um eine Art Zeichen zu setzen, um den Status des Täters zu etablieren oder – falls es eine Gang ist – den Status der Gang», erwiderte er.

Niemand sagte etwas.

«Gut, dann haben wir eine erste Spur», fuhr Carl fort. «Bandenrivalität innerhalb der organisierten Kriminalität, vielleicht ist irgendein Deal schiefgegangen. Wir müssen eine Liste der Personen erstellen, die bei Holsts letztem Gerichtsprozess eine Rolle gespielt haben. Angesichts der …», Carl zögerte, unschlüssig, wie er das sagen sollte, «extremen Gewaltausübung steckt vermutlich eine größere Sache dahinter. Drogengeschäfte wären ein Anhaltspunkt. Kümmerst du dich darum, Simon?»

Simon nickte.

«Willst du, dass ich mit denen rede?»

«Ja.»

«Und was ist mit Holst selbst?», fragte Jodie.

«Richtig», sagte Carl. «Mit ihm haben wir einen Zeugen. Mit ein bisschen Glück kann er uns mitteilen, wer versucht hat, ihn zu töten.»

Carl konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

«Was das Ganze vereinfachen würde …»

«Soll ich trotzdem die alten Ermittlungsakten durchgehen?», fragte Simon.

«Ja, falls Holst keine Informationen liefert, können wir nicht ohne alles dastehen.»

Simon schwieg.

«Wann können wir Holst vernehmen?», fragte Jodie.

«Der Arzt meinte, möglicherweise schon heute Nachmittag.»

Simon grinste.

«Wie sollen wir mit ihm reden? Er hat doch keine Zunge …»

«Er kann die Antworten aufschreiben», erwiderte Jodie.

Carl schüttelte den Kopf.

«Er hat auch keine Finger mehr. Ich dachte an Ja-und-Nein-Fragen. Aber wenn ihr bessere Ideen habt, bin ich für Vorschläge offen.»

Niemand meldete sich zu Wort. Carl wandte sich wieder an Jodie und Simon.

«Wie ich bereits sagte, ist die Vorgehensweise außergewöhnlich brutal. Simon, schau, ob du ähnliche Fälle findest. Und du, Jodie, versuch herauszufinden, wann genau Holst verschwunden ist. Hör dich in seinem Umfeld um, wann er zuletzt gesehen wurde.»

Jodie machte sich Notizen, sah auf und wartete auf weitere Anweisungen. Jung, motiviert, unbefangen, dachte Carl. Sie war ihm sympathisch. Erinnerte ihn an sich selbst vor zwanzig Jahren.

«Falls Holst nicht unter irgendeinem Vorwand zu der Scheune gelockt wurde, hat man ihn möglicherweise entführt. Such nach möglichen Zeugen. Erkundige dich, ob irgendwelche Anzeigen wegen Freiheitsberaubung eingegangen sind.»

Jodie nickte.

«Ich dachte, ich überprüfe auch die Familie seiner Freundin», sagte sie.

«Okay», erwiderte Carl. «Aber der Mord liegt schon ziemlich lange zurück. Außerdem hätten sie sich bereits rächen können, als Holst das erste Mal aus dem Gefängnis entlassen wurde. Warum sollten sie so lange gewartet haben?»

«Vielleicht gibt es andere Gründe, sich erst jetzt zu rächen», sagte Jodie. «Vielleicht ist die Mutter inzwischen gestorben, und der Vater muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen …»

«Du hast zu viele Filme gesehen», meinte Simon und kippelte wieder mit seinem Stuhl.

«Und du solltest dir vielleicht mal einen angucken», entgegnete sie. «Vielleicht lernst du was dabei. Von null auf hundert, sozusagen …»

Simon beendete sein Stuhlgekippel. Doch bevor er etwas erwidern konnte, sagte Carl: «Gut, geh der Sache nach, Jodie – aber das hat untergeordnete Priorität.»

Sie nickte.

«Na dann …», schloss Carl. «Es ist schon fast zehn Uhr. Der Täter ist uns einen halben Tag voraus, mindestens. Es wird Zeit, dass wir seinen Vorsprung ein bisschen verringern.»

Im selben Moment klingelte sein Handy.

4

Alexandra Bengtsson hastete die Kungsgatan im Zentrum der Stockholmer Innenstand entlang. Ein kalter Wind fegte über das Eisenbahngelände unterhalb der Kungsbron und wehte ihr die Haare ins Gesicht, Alexandra strich sie irritiert zurück. Sie verabscheute diese Böen, die zwischen den hohen Häusern entlangpfiffen.

Mit schnellen Schritten lief sie auf den Eingang eines neu errichteten Bürogebäudes zu, das man zwischen das Gleisgelände des Stockholmer Hauptbahnhofs und die Bleckholmsterrasse geklemmt hatte. Sie kramte ihre Schlüsselkarte aus der Handtasche und hielt sie vor das Lesegerät. Ein leises Klicken erklang.

Wie üblich hatte sich vor den Aufzügen bereits eine Schlange gebildet. Wie konnte man ein modernes Gebäude nur mit zu wenigen Fahrstühlen ausstatten? Ungeduldig nahm sie die Treppe.

Alexandra arbeitete als Journalistin beim Aftonbladet. Die Zeitungsredaktion war in einem länglichen Schlauch untergebracht, der Ähnlichkeit mit der Architektur einer Finnland-Fähre hatte. Sogar der braune Teppichboden, mit dem das gesamte Großraumbüro ausgelegt war, erinnerte an lange Schiffskorridore. Das Büro des Chefredakteurs lag vorne im Bug, während sich die stetig kleiner werdende Schar derer, die nach wie vor der guten alten Papierzeitung die Treue hielten, hinten im Heck sammelte.

Alexandra hatte im Beilagen-Ressort begonnen, war inzwischen aber zur Nachrichtenreporterin aufgestiegen und hatte ihren Arbeitsplatz in der Mitte der offenen Bürolandschaft, in der Nähe des Newsdesk.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich mehrere hellgrüne Computerbildschirme aneinanderreihten, die ihren Schreibtisch von den übrigen Reihen identischer Arbeitsplätze abgrenzten. Zu Beginn ihrer Laufbahn hatte sie auf dem Weg in die Redaktion immer ein erwartungsvolles Kribbeln gespürt, jetzt fühlte sie sich meist nur müde und unausgeschlafen.

«Ah, endlich, jemand, der weiß, was er tut …», hörte sie eine Stimme hinter sich.

Sie drehte sich um. Es war Marvin, ihr Nachrichtenchef, der eigentlich Martin Vinter hieß, aber seit vielen Jahren wie sein Zeitungskürzel gerufen wurde: MarVin.

«Und, womit vertreibst du dir die Zeit?», fragte er.

Marvin war nur eins fünfundsiebzig, kaum größer als sie selbst, aber da er in seiner Freizeit am liebsten den Kochlöffel schwang, war er in gewisser Weise trotzdem ein großer Mann.

«Ich habe meinen Computer hochgefahren, das ist doch schon was. Und du?»

«Ich tue das, was ich am liebsten mache, ich arbeite …»

Er lächelte. Auffordernd, dachte Alexandra. Sie fühlte sich unbehaglich. So ging es ihr in Marvins Gegenwart häufiger, sie wusste nie, wie sie ihn einschätzen sollte, ob er einen Witz machte oder es ernst meinte. Jetzt sah er sie streng an, als hätte sie durch irgendetwas sein Missfallen erregt.

«Du bist also startklar», sagte er. «Gut. Ich hab nämlich was für dich. Einen Mord in Rimbo, den wir uns anschauen sollten. Die Polizei hält sich bedeckt, aber wir haben einen Tipp bekommen, dass es sich um einen extrem brutalen Fall von Körperverletzung handelt …»

«Was jetzt?», hakte Alexandra nach. «Mord oder Körperverletzung?»

«Das ist noch unklar, Staffan hat angerufen, und zu dem Zeitpunkt hieß es, die Polizei hätte eine Leiche gefunden … Frag noch mal nach. Das könnte eine ziemlich große Sache sein. Und dann los.»

«Okay», sagte Alexandra und gab ihr Bestes, nicht zu negativ zu klingen.

Sie hatte auf einen sanften Start in den Tag gehofft.

«Zur Hölle, Alexandra», sagte Marvin, «ein bisschen mehr Enthusiasmus. Ich maile dir das gleich …»

Marvin verschwand in Richtung Newsdesk, wo die Onlineredakteure und zwei Journalisten saßen. Alexandra stand auf und ging in die kleine Teeküche. Sie brauchte dringend einen Kaffee. Filip und Lisbeth vom Web-TV standen vor der Spüle und unterhielten sich.

«Es gibt keine Milch», sagte Filip mürrisch und deutete Richtung Kühlschrank. «Wir haben schon nachgesehen.»

«Okay, dann halt schwarz», erwiderte Alexandra. «Alles, was einen nicht umbringt …»

«Dann solltest du den besser nicht trinken», sagte Filip.

Alexandra schenkte sich einen Becher ein, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.

«Wie war dein Wochenende?», erkundigte sich Filip.

Sie zuckte mit den Schultern.

«Gut. Ich war auf Gålö …»

«Cool», kommentierte Filip und wandte sich wieder seiner Kollegin zu.

«… und habe aufs Meer geschaut», sagte Alexandra leise zu sich selbst, bevor sie an ihren Platz zurückging.

Als sie an Marvin vorbeikam, rief er ihr zu: «Die Polizei schreibt auf ihrer Webseite, es war kein Mord!» Er lehnte sich so weit nach hinten, dass sein Bürostuhl bedenklich knarrte. «Aber das Opfer scheint brutal gefoltert worden zu sein … Könnte ein Aufmacher werden.»

Seine Stimme klang hoffnungsvoll.

«Okay», erwiderte Alexandra. «Ich klemm mich dahinter …»

«Und ob du das tust!»

Mit dem Kaffeebecher in der Hand setzte sie sich an ihren Computer, öffnete das Mailprogramm und las den Tipp, den Marvin ihr geschickt hatte. Der Text war kurz.

Folter. Außerhalb von Norrtälje. Mann an Scheunenwand genagelt. Verstümmelt. Die Reichsmordkommission wurde hinzugezogen. Leitender Ermittler: Carl Edson.

Der Informant nannte sich Bror Dupont. Alexandra googelte den Namen, erhielt jedoch keinen Treffer. Sie nahm an, dass es sich um einen Polizisten handelte, der anonym bleiben wollte. Es gab auch keine Telefonnummer.

Sie rief die Webseite der Polizei auf und scrollte die Meldungen der letzten Tage durch. In der zweiten Zeile fand sie, wonach sie suchte: «Mord/Totschlag, Rimbo. Mutmaßliches Gewaltverbrechen in Außengebäude.» Sie klickte den Text an. «Um 6:25 Uhr wurde in einer Scheune in Rimbo eine männliche Leiche gefunden. Dem Opfer wurde extreme Gewalt zugefügt. Ermittlungsverfahren eingeleitet.» Der Eintrag war um 7:24 Uhr veröffentlicht worden. Darunter stand: «Aktualisierung: Es liegt kein Tötungsdelikt vor. Der Mann wurde schwer verletzt in ein Krankenhaus überführt.» Die Aktualisierung stammte von 9:24 Uhr. Alexandra kehrte zu der Liste der Polizeimeldungen zurück, konnte jedoch keine weiteren Vorfälle in der Nähe von Rimbo finden.

Nach kurzem Zögern rief sie die Polizeizentrale an und bat darum, mit Carl Edson verbunden zu werden. Nach viermaligem Klingeln meldete sich eine Männerstimme.

«Hallo, mein Name ist Alexandra Bengtsson. Ich bin vom Aftonbladet. Mit wem spreche ich?»

In der Leitung blieb es einen Moment still, dann sagte der Mann resigniert:

«Das ging schnell …»

«Carl Edson?»

«Ja, am Apparat.»

Alexandra angelte sich ihren Notizblock.

«Was können Sie über den Mann sagen, der heute Morgen in einer Scheune in Rimbo außerhalb von Norrtälje gefunden wurde?»

«Wir haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.»

«Können Sie mir noch mehr sagen?»

«Nein.»

«Aber Sie leiten die Ermittlungen?»

«Ja.»

«Zu welchem Tatbestand wurden Ermittlungen eingeleitet?»

«Körperverletzung.»

«In der ersten polizeilichen Verlautbarung hieß es, das Opfer sei tot. Was können Sie mir dazu sagen?»

«Das war ein Fehler.»

Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich.

«Also ist das Opfer am Leben?», hakte Alexandra nach.

«Ja.»

«Was können Sie über die Art der Körperverletzung sagen?»

«Es handelt sich um schwere körperliche Misshandlung, die mit … außerordentlicher Grausamkeit ausgeführt wurde.»

«Uns liegen Informationen vor, denen zufolge der Mann an eine Scheunenwand genagelt wurde. Ist das korrekt?»

Schweigen.

«Können Sie bestätigen …», fuhr Alexandra fort, doch Carl Edson fiel ihr ins Wort:

«Ja, das ist korrekt.»

«Wann haben Sie den Mann gefunden?»

«Am frühen Morgen.»

«Wie lange hing der Mann schon dort?»

«Dazu kann ich mich nicht äußern.»

«Okay. Wer hat ihn gefunden?», fragte Alexandra und blätterte in ihren Notizen.

«Ein Landwirt aus der Umgebung.»

«Aber zu dem Zeitpunkt glaubten Sie, der Mann sei tot?»

«Ja.»

«Und wann haben Sie bemerkt, dass er noch lebt?»

«Während der Untersuchung des Fundorts …»

«Warum nicht früher?»

Carl Edson schwieg einen Moment.

«Die Umstände waren so, dass wir davon ausgehen mussten, er sei tot.»

Alexandra stellte noch ein paar weitere Fragen über das Opfer und die Lage der Scheune, glich die Schreibweise von Carl Edsons Namen ab und beendete das Gespräch.

Sie ließ ihren Blick durch die Redaktion schweifen. Ihr gegenüber saß Nicklas Dahl mit seinem Headset und tippte einen Artikel. Filip und Lisbeth waren aus der Teeküche an ihre Schreibtische zurückgekehrt.

Alexandra konnte den toten Mann förmlich vor sich sehen, der an einer Scheunenwand festgenagelt hing und plötzlich wieder zum Leben erwachte. Es war ein schockierendes Bild, von einer unbehaglichen Detailschärfe, und sie musste sich schütteln, um in die Realität zurückzukehren.

Dann öffnete sie ein leeres Word-Dokument und begann zu schreiben.

Zwanzig Minuten später las sie den Text durch. Er war okay, könnte schlechter sein, dachte sie, dann fügte sie noch eine Umgebungskarte von Rimbo und der in der Nähe verlaufenden E18 hinzu und schrieb in die Bildunterschrift: «Hier wurde das Folteropfer gefunden.»

«Ich schicke das jetzt raus!», rief sie Marvin zu.

«Gut!»

***

Alexandra Bengtsson arbeitete seit dreizehn Jahren als Journalistin beim Aftonbladet, aber mit ihrer Karriere ging es bergab. Kurzzeitig war sie als Kandidatin für den Posten des Nachrichtenchefs im Gespräch gewesen. Sie hatte das Nachwuchsprogramm und verschiedene Fortbildungen absolviert. Doch dann hatte man sie wieder in ihrer ursprünglichen Funktion als Nachrichtenreporterin eingesetzt. Auf ihre Frage nach dem Grund dafür hatte sie nie eine plausible Antwort erhalten.

Als Jugendliche hatte sie Schriftstellerin werden wollen. Doch ihre Eltern waren der Ansicht gewesen, dass sie eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen sollte. Also traf ihr Vater einen Kompromiss nach seinen Vorstellungen und ließ sie Medizin studieren. Das war seine Bedingung für eine großzügige finanzielle Unterstützung, von der sie als Studentin gut leben konnte.

Aber sie hatte es nicht ertragen können. An einem Mittwoch im April vor neunzehn Jahren hatte sie ihr Medizinstudium nach sechs Semestern abgebrochen und stattdessen begonnen, Geisteswissenschaften zu studieren. Schwedisch, Englisch, Philosophie, Literaturwissenschaft. Noch am selben Tag hatte ihr Vater ihr den Unterhalt gestrichen.

«Ich werfe mein Geld nicht für irgendwelchen humanistischen Firlefanz aus dem Fenster!», hatte er gesagt wie das ewige Relikt einer vergangenen, großbürgerlichen Ära.

Als ihr das Geld ausging, hatte Alexandra die Universität ohne Abschluss verlassen und mit nichts in der Tasche als ein paar Semester zielloser geisteswissenschaftlicher Disziplinen.

Zwei Monate später hatte sie ihren ersten Artikel für dreitausend Kronen an eine Wochenzeitschrift verkauft und zwei Jahre später eine Sommervertretung beim Aftonbladet ergattert, wo sie geblieben war. Irgendwann hatte sie Erik geheiratet, den sie vom Studium her kannte, sie hatten zwei Kinder bekommen, David und Johanna – und sich vor fünf Jahren scheiden lassen.

«Wie läuft’s?», hörte sie eine Stimme hinter sich.

Alexandra fuhr auf ihrem Bürostuhl herum und blickte direkt auf Marvins massigen Körper.

«Ich versuche, den Tatort zu finden, ich glaube, es muss hier gewesen sein …»

Sie zeigte auf ihren Bildschirm, auf dem sie Google Maps aufgerufen hatte. Marvin setzte seine Brille auf und beugte sich vor.

«Hast du schon Kontakt zur Polizei?»

Alexandra schüttelte den Kopf.

«Bisher habe ich nur mit dem Leiter der Ermittlungen, Carl Edson von der Reichsmordkommission, telefoniert. Mit Stockholm-Nord habe ich noch nicht gesprochen …»

«Und was berichten die anderen Zeitungen über die Sache?»

«Sie bringen nur das, was Edson gesagt hat. Eigentlich sogar weniger.»

«Okay, wir müssen Zeugen finden. Leute, die in der Nähe wohnen. Der Bauer, der ihn gefunden hat, versuch herauszufinden, wer er ist. Da kann es nicht so viele geben … Rede mit Olle, welchen Fotografen du mitnehmen kannst, und dann fahrt ihr nach …»

Marvin beugte sich wieder über den Bildschirm.

«Wo war das noch? Rimbo?»

«Ja.»

Ihr Chef machte Anstalten, zum Newsdesk zurückzugehen.

«Wissen wir eigentlich, wer uns den Tipp gegeben hat?», fragte Alexandra.

Marvin blieb stehen und sah sie an.

«Das stand doch in der Mail.»

«Ein Deckname …»

Marvin zuckte mit den Schultern.

«Irgendein Polizist …», sagte er.

«Bist du sicher?»

«Nein, aber wer sollte sonst Leitender Ermittler schreiben? Ich bitte dich!»

«Okay, war nur eine Frage.»

Marvin hatte sich bereits wieder umgedreht. Alexandra nahm ihren Notizblock und einen Stift und ging zur Bildredaktion.

Rastlosigkeit durchdringt meinen Körper, meine Beine, ich kann nicht stillliegen. Jede Nacht wache ich um dieselbe Zeit auf und versuche, mich zu erinnern, doch es gelingt mir nicht. In meinem Gedächtnis klaffen große Lücken, in denen ich nicht weiß, wo ich gewesen bin oder was ich getan habe.

Beim ersten Mal war es am schlimmsten. Da ist mir all die Gewalt mit schockierender Kraft entgegengeschlagen. Die Schreie, das Blut, die bleichen Knochen, die Geräusche …

Die Geräusche sind am schlimmsten. Sie überwältigen einen, man kann sich nicht gegen sie schützen. Es sind die Geräusche, die ich danach mitnehme und die in meinem Kopf nachhallen, wenn ich versuche zu schlafen. Gliedmaßen, die durchtrennt, Knochen, die zertrümmert werden.

Ich erinnere mich an das Sommerhaus. Das welke Vorjahresgras, das über die Vordertreppe wucherte. Die Birken- und Himbeertriebe, die auf dem Schotterweg Wurzeln geschlagen hatten. Es war schon lange niemand mehr dort gewesen.

Ich bin auf den Hof gefahren, mit seinem Auto. Als ich den Motor ausschaltete, senkte sich Stille über die frühe Frühlingsnacht. Einzig sein ersticktes Stöhnen drang vom Rücksitz. Irgendwo in der Nähe rief ein Käuzchen. Ich musste daran denken, wie mein Vater in meiner Kindheit immer die Hände vor dem Mund zu einem Hohlraum formte und den Ruf nachahmte. Eine flüchtige Erinnerung, dann senkte sich wieder die Stille herab.

Ich zerrte ihn an dem Seil, mit dem ich ihn gefesselt hatte, ins Haus. Dort fixierte ich seine Hände und Arme mit der Nagelpistole auf den breiten, stabilen Bodendielen.

In der Ferne hörte ich einen Lastwagen vorbeifahren. Das dumpf vibrierende Geräusch wurde in der stillen Nacht unnatürlich weit getragen. Aber das Geräusch hatte etwas Tröstliches. Wie eine Erinnerung daran, dass die wahre Welt dort draußen noch immer existierte. Dass ich mich nur in einer Zeitblase befand und ich jederzeit dorthin zurückkehren konnte.

Dann, als er schrie, im Augenblick des Todes zuckte, war es umgekehrt. Als wäre der muffige, enge Raum Wirklichkeit und die Realität jenseits des Raums nur ein ferner Traum.

Ich ließ ihn so zurück, wie er war, fuhr einfach davon.

Als ich sein Auto auf dem Park-&-Ride-Parkplatz in Vinsta, in der Nähe von Vällingby, abstellte, war es bereits fünf Uhr morgens. Aber es spielte keine Rolle, es gab dort keine Videoüberwachung, und Berufspendler waren auch noch nicht unterwegs. Mit letzter Kraft räumte ich meine Werkzeuge aus seinem Auto in mein eigenes, das dort über Nacht gestanden hatte, schlug die Kofferraumklappe zu und fuhr los.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, unter der Dusche zu stehen. Rote Rinnsale, die in den Abfluss laufen. Sein Blut, nicht meins.

Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich nach Hause gekommen bin, wo ich das Auto geparkt habe, wie ich in meine Wohnung gelangt bin, ob mich jemand gesehen hat, aber ich habe das vage Gefühl, dass ich auf dem Weg meiner Schwester begegnet bin.

Wir haben uns seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Doch jetzt taucht sie auf, in traumähnlichen Erinnerungsfragmenten. Sie sieht mich vorwurfsvoll an. Dann gleitet sie wieder fort.

Ich hasse sie.

5

«Nicken Sie, wenn Sie verstehen, was ich sage!»

Carl Edson saß ein Stück von Marco Holst entfernt, der in seinem Krankenhausbett lag und nach wie vor unter Medikamenteneinfluss stand. Sie waren allein im Zimmer: weiße Wände, blauer Linoleumfußboden. Kalt, steril. Die Tür zur Station war geschlossen. Carls Schuhsohlen quietschten, als er sich unbehaglich auf seinem Stuhl zurechtsetzte.

Er hasste es, dort zu sein. Es war der Geruch, dieser typische Krankenhausgeruch. Er erinnerte ihn daran, wie er als Kind wegen einer Blinddarmoperation im Krankenhaus gelegen hatte. Seine Eltern hatten ihn nur einmal am Tag besuchen dürfen. Die restliche Zeit hatte er auf dem Rücken gelegen, geweint und Heimweh gehabt. Und die ganze Zeit hatte es genauso gerochen wie jetzt.

Damals war er neun gewesen und hatte fast eine ganze Woche im Krankenhaus bleiben müssen. Am Ende der Zeit hatte er nicht mehr geweint, es war, als hätte er sich in einen Raum in seinem Inneren eingeschlossen, in dem er nichts mehr fühlen konnte. Als er wieder zu Hause war, kam ihm alles verändert vor. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder … Als hätte man sie ausgetauscht, während er im Krankenhaus lag.

Ein heiseres Räuspern von Holst holte Carl in die Gegenwart zurück.

Die Stationsärztin hatte der Befragung nur widerwillig zugestimmt. «Höchstens eine Viertelstunde», hatte sie gesagt. «Die Narkose wirkt noch nach, und er hat starke Schmerzmittel bekommen. Ich bezweifle, dass Sie überhaupt etwas aus ihm herauskriegen …»

Carl sah auf die Uhr. Fast Viertel vor zwei. Er hatte bereits fünf Minuten mit der Erklärung vergeudet, wie die Befragung ablaufen sollte. Jetzt rückte er mit seinem Stuhl näher an Holsts Bett heran.

«Okay, dann beginnen wir», sagte er und schaltete die Videokamera ein, die er aufgestellt hatte. «Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir das, was Ihnen zugestoßen ist, sehr ernst nehmen und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet haben.»

Marco Holst blickte ihn ausdruckslos an.

«Wissen Sie, wer Ihnen das angetan hat?»

Holst bewegte langsam die Schultern.

«Bedeutet das vielleicht?», fragte Carl.

Nicken.

«Haben Sie die Personen gesehen? Ich meine, haben Sie irgendein Gesicht gesehen, jemanden erkannt?»

Kopfschütteln.

«Trugen sie Masken?»

Nicken.

«Okay. Waren es mehrere oder …?»

Er erinnerte sich daran, dass er Ja-oder-Nein-Fragen stellen musste.

«War es eine Person?», verdeutlichte er.

Ein brummender Laut und ein Nicken.

«Haben Sie eine Vermutung, warum diese Person Ihnen das angetan hat?»

Kopfschütteln.

«Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, ich hoffe, das ist Ihnen klar. Aber Sie müssen mir ebenfalls helfen.»

Holst machte eine träge Geste, die alles Mögliche bedeuten konnte.

«Sie wurden vor ein paar Jahren wegen Vergewaltigung verurteilt», fuhr Carl fort. «Im Zusammenhang damit wurden auch andere Straftatbestände gegen Sie verhandelt. Waffenbesitz, Rauschgiftdelikte, Körperverletzung … Könnte irgendetwas in einem Zusammenhang mit dem Angriff auf Sie stehen?»

Holst machte erneut eine unbestimmte Bewegung. Dann lag er still da. Carl gab sich alle Mühe, seine Irritation über die Gleichgültigkeit des Mannes zu verbergen.

«Ihre Drogengeschäfte zum Beispiel?»

Holst machte eine Bewegung mit den Schultern, die Carl als «vielleicht» interpretierte.

«Oder die Vergewaltigung des Mädchens?», fragte er. «Könnte sich jemand wegen der Vergewaltigung an Ihnen gerächt haben?»

Holst drehte ihm langsam den Kopf zu. Nach einer Weile registrierte Carl, dass er lächelte, ein schmales, kaum wahrnehmbares Lächeln. Als würde er sich die Vergewaltigung ins Gedächtnis rufen, sie noch einmal in seiner Erinnerung durchspielen.

Carl bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, als er fortfuhr: «Okay, um das Ganze zusammenzufassen: Sie sind nicht sicher, glauben aber, möglicherweise eine Vermutung zu haben …» Er hielt inne und setzte neu an: «… möglicherweise zu wissen, wer Ihnen das angetan hat. Gut. Es könnte ein Racheakt für die Vergewaltigung oder für eines Ihrer ‹Geschäfte› sein. Wir erstellen zurzeit eine Liste mit den Namen aller Personen, die im Laufe der letzten Ermittlungen gegen Sie eine Rolle gespielt haben …»

Carl warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

«Wenn ich morgen wiederkomme, können wir die Liste dann durchgehen?»

Holst lachte auf. Es klang wie ein heiseres Husten.

«Was amüsiert Sie?», fragte Carl.

Holst richtete den Blick an die Decke, das Grinsen lag nach wie vor auf seinem Gesicht, er war abgedriftet in seine eigene Welt.

«Gut», sagte Carl und stand auf. «Dann komme ich morgen wieder …»

Holst hatte die Augen geschlossen, er schien eingeschlafen zu sein.

Carl stellte leise den Stuhl an seinen Platz zurück. Und ging hinaus.

6

«Hier müsste es sein», sagte Alexandra Bengtsson, während ihr Kollege, der Fotograf Fredrik Ström, bremste und anhielt.

Alexandra schaute von ihrem Handy und der Google-Maps-Karte auf. Sie befanden sich auf einem schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Schotterweg. Rechts von ihnen erstreckte sich ein weiter Acker mit jungen Pflanzentrieben, während die linke Seite von einem schmalen Waldstück gesäumt wurde.

«Warum halten wir …», begann sie, ließ ihre Frage aber unvollendet in der Luft hängen.

Vor ihrer Kühlerhaube stand ein Polizist und hob die Hand. Hinter ihm konnte Alexandra ein blau-weißes Absperrband erkennen, das quer über den Weg gespannt war.

Fredrik stieg aus, ließ den Motor aber weiterlaufen.

«Hallo, wir sind vom Aftonbladet und würden gerne ein paar Fotos machen», sagte er.

«Der Bereich ist abgesperrt», erwiderte der Polizist. «Ich muss Sie bitten, außerhalb der Absperrung zu bleiben.»

«Wie geht es dem Mann?»

«Dazu kann ich nichts sagen. Das hier ist ein Tatort», erwiderte der Polizeibeamte abweisend.

«Ist der Krankenwagen schon weg?», fragte Fredrik.

Der Polizist nickte mit ausdrucksloser Miene.

«Schon lange.»

«Sind noch Einsatzbeamte da?»

«Polizei und Spurensicherung.»

«Können Sie etwas über die Tat sagen?», warf Alexandra ein, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war.

Der Polizist wandte wortlos den Blick ab.

«Was für Verletzungen hat der Mann?», fuhr Alexandra fort.

«Das können Sie in der Zeitung lesen. Gehen Sie jetzt bitte von der Absperrung weg!»

Fredrik hob seine Kamera und machte ein paar Aufnahmen von dem Polizisten und einem Einsatzfahrzeug. Nur wenn man genau hinsah, konnte man im Hintergrund das Dach der Scheune zwischen den Baumkronen erkennen. Nach den ersten Fotos drehte sich der Polizeibeamte außerdem weg. Fredrik stieg fluchend ins Auto.

«Warum zum Teufel müssen die halb Rimbo absperren? Unmöglich, vernünftige Fotos zu bekommen …»

Was hatte er denn erwartet, dachte Alexandra, als sie sich neben ihn auf den Beifahrersitz setzte.

«Also, was machen wir jetzt?», fragte Fredrik.

«Wir müssen versuchen, den Landwirt zu finden, der den Mann entdeckt hat. Ich habe eine Adresse, mit der wir anfangen können …»

Fredrik setzte bis zu einer Parkbucht zurück und wendete den Wagen.

«Auf dem Hinweg habe ich ein Sommerhaus gesehen», sagte Alexandra. «Es schien auf einer Anhöhe zu liegen. Vielleicht kriegen wir von da aus bessere Bilder vom Tatort. Wir kommen sowieso daran vorbei.»

«Nein.»

«War nur ein Vorschlag …»

«Wir haben schon Hintergrundbilder.»

Fredrik fuhr mit Volldampf los. So zeigt er also Gefühle, dachte Alexandra, mit seinem Volvo, mit seinem Fahrstil. Und gerade ging ihm etwas gegen den Strich, vermutlich war er der Meinung, sie mische sich in seine Arbeit ein.

«Hier ist es jedenfalls», bemerkte sie gleichgültig, als sie sich der schmalen Zufahrt zu dem Sommerhaus näherten. «Auf Google Maps sieht es so aus, als wären es von da nur hundert Meter bis zur Scheune …»

Sie wusste, dass Fredrik abbiegen, dass er keine schlechte Arbeit abliefern würde. Nicht bewusst. Aber er sagte kein Wort, während der Wagen die Auffahrt entlangholperte. Schweigend parkte er auf dem Hof vor dem Haus und stieg aus. Alexandra lächelte still in sich hinein, als sie die Beifahrertür öffnete und ihm folgte.

Seit dem Winter schien niemand mehr hier gewesen zu sein. Auf dem Rasen türmte sich welkes Laub. Mitten auf dem Hof stand eine altmodische grüne Wasserpumpe, marode und verrostet. Abgestorbenes Vorjahresgras wucherte über die Vordertreppe zur Eingangstür. Fredrik ging hinauf und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen.

Alexandra beugte sich vor und spähte durch ein Fenster in einen Raum, der die große Stube sein musste. Vor einem offenen Kamin standen zusammengeschobene Möbel, die mit weißen Laken abgedeckt waren.

«Niemand zu Hause», stellte sie fest und richtete sich auf.

Fredrik zwängte sich auf der schmalen Veranda an ihr vorbei.

«Ach was», sagte er ironisch.

Alexandra folgte ihm zur Rückseite des Hauses, auf der sich eine Terrasse befand. Von hier aus waren die Scheune und die Polizeiabsperrung in gut hundert Meter Entfernung hinter den Baumwipfeln deutlich zu erkennen.

«Okay, gar nicht so schlecht», sagte Fredrik und hob seine Kamera.

Alexandra wusste, dass das ein Lob war. Schon allein die Tatsache, dass er fotografierte, war ein Eingeständnis.

Auf dem Rückweg zum Auto entdeckte sie in dem gelben Gras einen schwarz glänzenden Gegenstand, genau auf Höhe von Fredriks Stiefelspitze. Sie bückte sich und hob ihn auf: ein Autoschlüssel.

«Hast du den verloren?», fragte sie.

«Was?»

Fredrik blieb stehen und drehte sich um. Alexandra wedelte mit dem Autoschlüssel vor seiner Nase.

«Deiner?»

Fredrik betrachtete den Schlüssel, wühlte in seiner Hosentasche und zog einen ähnlichen Schlüssel hervor.

«Das hier ist meiner. Der, den du da hast, gehört zu einem BMW.»

Er nahm ihr den Autoschlüssel aus der Hand und drehte ihn hin und her.

«Scheint völlig in Ordnung zu sein. Der kann nicht den Winter hier draußen gelegen haben … Aber er ist ganz verklebt. Siehst du?»

Er zeigte auf die blau-weiße BMW-Plakette, die halb unter einem dunkelbraunen Fleck verschwand.

«Und?», fragte sie.

«Verstehst du nicht?»

«Nein.»

«Das sieht aus wie Blut. Kapierst du jetzt, wessen Schlüssel das sein könnte?»

7

Der Raum war klein und fensterlos. Er lag im dritten Stock des Kungsholmer Polizeipräsidiums. Bis vor kurzem hatte er als Abstellkammer gedient, aber da ihre üblichen Büros zurzeit renoviert wurden, sollten Carl Edson, Simon Jern und Jodie Söderberg dieses Kabuff vorübergehend als Einsatzraum nutzen.

In der stickigen Luft packten sie an ihren Schreibtischen, die schon bessere Tage gesehen hatten, ihre Sachen aus.

Als sie fertig waren, setzten sie sich auf ausrangierte Bürostühle, aus deren Polsterung an etlichen Stellen die gelbe Schaumstofffüllung hervorquoll und die bedenklich ächzten.

«Also dann», sagte Carl und heftete ein Foto von Marco Holst an die Wand. «Lasst uns anfangen.»

Jodie und Simon sahen von ihren Computern auf. Im selben Moment erklang die Anfangsmelodie von Europes «Final Countdown». Mit einem verlegenen Lächeln griff Carl nach seinem Handy – seine Tochter hatte den Klingelton eingerichtet – und schaute auf das Display.

«Wallquist», erklärte er und drückte auf den grünen Hörerbutton.

Kriminaltechniker Lars-Erik Wallquist war bekannt dafür, nur ein einziges Mal anzurufen. Danach verwies er auf seinen Bericht und weigerte sich, weiter über einen Fall zu reden. Was zur Folge hatte, dass jeder sofort ans Telefon ging, wenn er anrief.

«Hallo, wie geht’s dir?», erkundigte sich Carl höflich.

«Wir haben einen Autoschlüssel», bellte Lars-Erik, «den zwei unterbelichtete Zeitungsfritzen hundert Meter vom Tatort entfernt gefunden haben. Er gehört zu einem BMW.»

Lars-Erik machte eine Pause, als würde er in seinen Unterlagen blättern. Aber Carl wusste, dass er nur eine Kunstpause einlegte. Wallquist musste nie in irgendwelchen Unterlagen nachsehen. Er hatte alles im Kopf.

«Da war Blut drauf», fuhr Lars-Erik fort. «Wir haben es analysiert. Ich nehme an, du willst wissen, ob es mit dem des Opfers übereinstimmt?»

«Ja, bitte.»

«Das tut es. Es stammt eindeutig von Marco Holst. Irrtum ausgeschlossen.»

«Ist es auch sein Wagen?»

«Der Schlüssel gehört zu einem BMW X3», sagte Lars-Erik. «Ein kleineres Stadtjeep-Modell. Letztes Jahr aus Deutschland importiert. Drei Jahre alt. Der Fahrzeughalter lebt in Schweden. Fadi Sora.»

«Fadi Sora?», fragte Carl.

«Sora wurde vor gut drei Jahren beim Dealen mit Marihuana erwischt. Wegen seines Alters kam er mit einer Bewährungsstrafe davon und ist seitdem nicht mehr aktenkundig geworden. Aber wir haben noch seine Fingerabdrücke im System. Und sie stimmen mit denen auf dem Schlüssel überein. Willst du seine Adresse?»

«Ja, bitte», sagte Carl.

Er zog einen Block zu sich heran und notierte rasch eine Anschrift im Stockholmer Stadtteil Fruängen.

«Danke. Ausgezeichnete Arbeit.»

«Eine Sache noch», sagte der Kriminaltechniker.

«Ja?»

«Wir haben ein Kaugummi in der Scheune gefunden, direkt neben dem Tor. Jemand hat es dort hingespuckt. Nikotinkaugummi.»

«Vom Täter?»

Lars-Erik seufzte.

«Woher zum Teufel soll ich das wissen? Wir haben DNA-Spuren gesichert, aber bisher noch keinen Treffer in der Datenbank gelandet. Wenn du und deine Leute Fadi Sora auftreiben, können wir seine DNA mit dem Kaugummi abgleichen.»

«Haben wir seine DNA denn nicht in der Datenbank?»

«Nein, offensichtlich nicht.»

«Warum …», fing Carl an, brach aber abrupt ab.

«Was weiß ich, er war vielleicht zu jung!», blaffte Lars-Erik. «Liegt wohl kaum in meiner Verantwortung, eine DNA-Probe von jedem Kleinkriminellen zu nehmen, der von der Polizei aufgegriffen wird.»

«Nein, natürlich nicht», beschwichtigte Carl.

«Aber …»

Lars-Erik machte eine Pause. Carl konnte hören, wie er ins Telefon atmete.

«Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, dass dieser Täter einen Autoschlüssel wegwirft und ein Kaugummi auf den Boden spuckt …»

«Okay?»

«Wir haben am Tatort weder einen Fingerabdruck noch ein einzelnes Haar gefunden. So unsichtbar zu bleiben ist nicht gerade einfach, das kann ich dir versichern.»

«Also?»

«Das Kaugummi könnte von dem Bauern stammen. Wir haben eine DNA-Probe von ihm genommen, sind aber noch nicht dazu gekommen, einen Abgleich zu machen …»

«Okay», sagte Carl.

«Es könnte aber auch von jemand anderem stammen.»

«Und der Schlüssel?»

«Was soll mit dem sein?», fragte Lars-Erik.

«Kannst du noch mehr darüber sagen?»

«Wenn dem so wäre, hätte ich es getan.»

«Ja, natürlich. Entschuldige …»

«Aber wo du es erwähnst … Ich wollte dazu nichts sagen, das ist schließlich deine Baustelle …»

«Aber …?», fragte Carl.

«Wie zum Teufel konnte der Kerl ohne Autoschlüssel wegfahren? Der Wagen müsste eigentlich auch dort sein. Aber soweit wir wissen, steht da draußen in der Pampa nirgendwo ein BMW-Jeep.»

«Nein …», sagte Carl nachdenklich. «Du hast recht. Es sei denn, es gibt einen Zweitschlüssel.»

«Unwahrscheinlich», erwiderte Lars-Erik. «Ich schick dir meinen Bericht.»

Carl hörte ein Klicken in der Leitung, dann war es still.

«Was hat er gesagt?», fragte Simon.

«Dass wir einen Verdächtigen haben», erwiderte Carl. «Fadi Sora, er wohnt in Fruängen.»

Er fasste kurz das Gespräch mit Wallquist zusammen.

«Glaubst du wirklich, dass Fadi Sora Holst so etwas angetan hat?», fragte Jodie, als er fertig war. «Die Sache mit dem Kaugummi und dem Autoschlüssel scheint mir ein bisschen zu …»

Sie machte eine unbestimmte Geste, es war nur so ein Gefühl.

«O Mann!», platzte Simon heraus. «Das wäre doch schon ein irrer Zufall, wenn wir den Autoschlüssel eines stadtbekannten Kriminellen hundert Meter von dem Ort entfernt finden, an dem ein Mann fast zu Tode gefoltert wurde – mitten im fucking Nirgendwo –, und sich dann herausstellt, dass der Kerl gar nichts damit zu tun hat? So was gibt es einfach nicht.»

Carl sah ihn an.