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Bo Svernström

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Beschreibung

Robert Lindström hütet ein Geheimnis: In einem Wutanfall tötete er seinen besten Freund. Aber war es wirklich so? Als Elfjähriger des Mordes beschuldigt, wurde er angesichts seines Alters nie verurteilt. Als Erwachsener lebt er zurückgezogen. Bis ihn Lexa kontaktiert. Sie ist Journalistin und schreibt ein Buch über den Fall. Ihre Theorie: Robert ist unschuldig. Zur gleichen Zeit wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Im gleichen Stockholmer Vorort, in dem Robert aufwuchs. Und in dem er mit Lexa den Ereignissen von damals nachgeht. Zufall? Hauptkommissar Carl Edson von der Reichsmordkommission leitet die Ermittlungen, und seltsame Zwischenfälle führen ihn immer näher an die Wahrheit über Robert.

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Ähnliche


Bo Svernström

Spiele

Thriller

 

 

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann

 

Über dieses Buch

Die Vergangenheit ruht nie.

 

Robert Lindström hütet ein Geheimnis: In einem Wutanfall tötete er seinen besten Freund. Aber war es wirklich so? Als Elfjähriger des Mordes beschuldigt, wurde er aufgrund seines Alters nie verurteilt. Als Erwachsener lebt er zurückgezogen. Bis ihn Lexa kontaktiert. Sie ist Journalistin und schreibt ein Buch über den Fall. Ihre Theorie: Robert ist unschuldig. Zur gleichen Zeit wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Im gleichen Stockholmer Vorort, in dem Robert aufwuchs. Und in dem er mit Lexa den Ereignissen von damals nachgeht. Zufall? Hauptkommissar Carl Edson von der Reichsmordkommission leitet die Ermittlungen, und seltsame Zwischenfälle führen ihn immer näher an die Wahrheit über Robert.

Vita

Bo Svernström, Jahrgang 1964, promovierte in schwedischer Literatur und arbeitete jahrelang als Journalist für Aftonbladet, eine der größten schwedischen Zeitungen. Seine Reihe um den Stockholmer Kommissar Carl Edson und sein Team erscheint in 11 Ländern. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stockholm.

 

«Bo Svernström zeigt sich in ‹Opfer› auf Augenhöhe mit seinem Landsmann Stefan Ahnhem, sprich: ein Pageturner mit zahlreichen Schockmomenten, der hoffentlich in Serie geht.» BuchMarkt

 

«Man glaubt zu wissen, was als Nächstes passiert – doch dann zieht Svernström einem den Boden unter den Füßen weg.» Aftonbladet

Danke, Mira, Loke und Siri – für die Erinnerungen, die ihr mir schenkt.

Prolog

Viel später, als er Olindas zierlichen Körper in der Felsspalte liegen sah, war Sixten das Auto eingefallen, das er an dem Nachmittag vor der Schule gesehen hatte. Ein weißes Auto, das lange dort gestanden hatte, mehrere Stunden, glaubte er – doch als er sich umgedreht hatte, um nach Hause zu gehen, war es plötzlich nicht mehr da gewesen.

Und seitdem war auch Olinda verschwunden.

So würde er es im Gedächtnis behalten und fest bei dieser Version bleiben, damit sich keine Zweifel in seine Erinnerung einschlichen.

An dem Tag hatte es geregnet. Ein anhaltender, dichter Bindfadenregen. Seine Klassenkameraden waren nach der letzten Stunde schnell nach Hause gerannt. Mit Kapuzen auf den Köpfen, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben. Rote und schwarze Gummistiefel, die durch Pfützen sprangen. Aber er hatte am Rand des Schulhofs gewartet und nach Olinda Ausschau gehalten, nach ihrer roten, viel zu großen Regenjacke, die ihr bis zu den Gummistiefeln reichte. Er hatte gehofft, dass sie kommen würde, dass sie zusammen nach Hause gehen würden. Manchmal trafen sie sich nach der Schule zum Spielen. Aber immer so, dass niemand etwas davon mitbekam. Sie erzählten es keinem. Sie hatten ihre eigenen Spiele, geheime Spiele, nur sie beide.

Der Regen war in seinen Kragen getropft, hatte seinen Pony durchnässt und war über Augen und Nase bis auf die Lippen heruntergelaufen. Er hatte die Tropfen weggeleckt, gemerkt, dass sie anders schmeckten als im Sommer, als hätte der Herbst einen eigenen Geschmack, nach Kälte und etwas anderem, das er nicht benennen konnte.

Er hatte lange gewartet, bis er schließlich ganz allein auf dem Schulhof stand.

Aber Olinda kam nicht. Obwohl sie direkt hinter ihm aus der Klasse gelaufen war …

Ein letztes Mal hatte er seinen Blick über die Schaukelgerüste und den leeren Schulhof schweifen lassen, dann hatte er sich umgedreht und war so schnell davongerannt, dass das Regenwasser über die Gummistiefel bis auf seine Jeans hochgespritzt war.

Teil Eins

1

Montag, 19. Oktober

Ich trage einen dicken Norwegerpullover, der am Hals kratzt. In meiner Wohnung ist es eiskalt. Wahrscheinlich hat das Fernwärmesystem nicht schnell genug auf den gestrigen Wetterumschwung reagiert. Aber vielleicht ist es auch eine bohrende Unruhe, die mich frieren lässt.

Ich starre aus dem Küchenfenster, durch die Regenschlieren auf der Scheibe, und versuche nachzudenken. Dann fällt mir ein, dass mich jemand von der Straße aus am Fenster sehen könnte, und gehe ins Wohnzimmer.

Heute ist mein Geburtstag. Ich werde neununddreißig. Nichts, was ich feiere, aber trotzdem habe ich für meine Verhältnisse aufwendig gekocht: Entrecôte mit Pommes frites (Tiefkühlware, im Backofen zubereitet) und den Tisch mit dem guten weißen Porzellangeschirr gedeckt, das ich von meinen Eltern geerbt habe und das ich nur zweimal im Jahr benutze (an meinem Geburtstag und an Heiligabend). Das Glas, aus dem ich Cola getrunken habe (Wein rühre ich nicht mehr an), hat ein geschliffenes Blumenmuster.

Dann passierte es: In dem Moment, als ich den ersten Bissen nehmen wollte, klingelte mein Handy. Mich ruft nie jemand an, um mir zu gratulieren – eigentlich ruft mich überhaupt nie jemand an –, es war also eine Art Ereignis. Deshalb ging ich ran, obwohl ich die Nummer nicht kannte.

«Spreche ich mit Robert? Robert Lindström?»

Eine Frauenstimme, ziemlich aufdringlich (ganz bestimmt keine Gratulantin).

Während ich überlegte, wer die Frau sein könnte (eine Verkäuferin?) und wie ich mich verhalten sollte (einfach auflegen oder etwas sagen?), fuhr sie fort: «Hallo! Sind Sie da? Robert?»

Irgendwie fühlte ich mich genötigt zu antworten: «Ja.»

«Gut, dass ich Sie erreiche. Mein Name ist Lexa Andersson.»

«Ich kaufe nichts», erwiderte ich, inzwischen überzeugt, dass die Frau mir irgendetwas aufschwatzen wollte.

Sie lachte (wiehernd, wie ein Esel, beim Einatmen). Ich hatte keine Ahnung, was sie daran lustig fand; die einzigen Leute, die mich sonst anrufen, sind Verkäufer.

«Nein, ich will Ihnen nichts verkaufen, ich will mit Ihnen reden!», erklärte sie, nachdem sie ausgewiehert hatte.

Als sie das Wort «reden» betonte, wusste ich Bescheid: eine Journalistin.

«Kein Kommentar», sagte ich rasch.

Ich hielt das Telefon ein Stück von mir weg – wie ein Butterbrot – und ließ sie reden, dass wir uns treffen sollten, und ich weiß nicht, was noch alles. Schließlich beugte ich mich vor, sagte «Auf Wiederhören» und legte auf.

Ich habe einmal mit einem Journalisten gesprochen. Und das ging nicht gut aus.

Den Rest des Abends habe ich über sie nachgegrübelt, ein mulmiges Gefühl im Magen gehabt. Ich bin mir sicher, dass sie wieder anrufen wird, dass sie einer dieser Menschen ist, die nicht lockerlassen.

2

Montag, 2. November

«Hören Sie mir doch zu, bitte!»

Nastasia Sikonova drückte das Handy mit einer Hand ans Ohr und versuchte, das Zittern ihrer anderen Hand zu unterbinden, indem sie sich am Küchentisch festhielt. Sie gab sich Mühe, ihn beim Sprechen zu fixieren: die verschrammte braune Holzplatte, die Ringe, die von einer heißen Pfanne stammten, der Kratzer, den Olinda mit einer Gabel verursacht hatte … Auf einmal waren die Spuren überdeutlich und erschienen ihr vollkommen fremd. Die ganze Küche kam ihr unbekannt vor, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen, die Kühlschranktür mit den vielen Klebezetteln, die Fensterbank, der Ausblick … Alles Dinge, die sie nie wahrgenommen hatte – und die jetzt nicht mehr so waren wie zuvor.

Die Küchenuhr an der Wand zeigte 20:53. Seit Olindas Schulschluss waren fast sechs Stunden vergangen.

Ihr Mann saß auf einem Stuhl vor ihr und ließ sie nicht aus den Augen. Ivan. Sie sah ihn an, in seinem schwarzen Anzug, dem aufgeknöpften weißen Hemd, sein mageres Gesicht mit dem dünnen schwarzen Bart, die leicht zerzausten und erstaunlich hellen Haare – und sie spürte, dass sie nie wieder in seiner Nähe sein wollte.

«Diensthabender Jönsson am Apparat», meldete sich eine Stimme am anderen Ende.

Nastasia unterdrückte einen Weinkrampf, bemühte sich, die Fassung zu bewahren, während sie all das wiederholte, was sie schon dem Mitarbeiter in der Notrufzentrale gesagt hatte, und auf dieselben Fragen antwortete.

«Nein, ich glaube nicht, dass sie nach der Schule ‹mit zu einer Freundin› gegangen ist. Sie sollte nach Hause kommen, wo unsere Babysitterin auf sie … Ja, Tuva, Tuva irgendwas, der Nachname fällt mir gerade nicht ein … ich kann nicht …»

Sie schloss die Augen, versuchte, nicht daran zu denken, was Olinda zugestoßen sein könnte, nicht daran zu denken, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, dass es ihre Schuld war, noch nicht …

«Wir waren im Konzert … Mein Mann und ich … Was wir uns angehört haben … Was spielt das für eine Rolle?»

Sie waren in einem Kammermusik-Konzert im Stockholmer Konzerthaus gewesen, nur sie und Ivan. Es sollte ein Abend werden, an dem sie ihre Ehe wieder reparierten, sie wollten aufeinander eingehen und versuchen, das aufleben zu lassen, was früher zwischen ihnen existiert hatte, vor Olinda, vor der Fehlgeburt, vor den Streitereien und den nächtlichen, im Flüsterton geführten Auseinandersetzungen, bei denen das Wort Scheidung gefallen war …

«Sie vernachlässigen Ihre Partnerschaft zugunsten Ihrer Elternrolle», hatte die Familientherapeutin gesagt, ihr die Hand auf die Schulter gelegt, aufmunternd genickt und gelächelt. Die dumme Kuh!

Sie zerrte am Ärmel ihres Kleids, als wollte sie es ausziehen, ein Designerkleid, das sie liebte und nur zu besonderen Anlässen trug. Sie hatte es sich förmlich vom Mund abgespart, aber sie wusste, dass sie es nie wieder anziehen würde.

Als sie nach dem Schlussapplaus den Saal verließen, hatte Ivan den Arm um sie gelegt, und zum ersten Mal seit Jahren hatte sich die Berührung warm angefühlt, angenehm … Dann hatte sie das Handy aus ihrer Handtasche geholt und den Flugmodus ausgeschaltet – und im nächsten Moment hatte es gepiept. Wieder und wieder, gepiept und vibriert, wie besessen.

Schon bevor sie die erste SMS öffnete, hatte sie es gespürt, gewusst, dass etwas nicht stimmte. Dann hatte sie die Nachricht gelesen:

Olinda ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Rufen Sie mich an. Bitte!

Die Nachricht war von Tuva, der Babysitterin, alle Nachrichten waren von ihr. Elf SMS, fünfzehn entgangene Anrufe, fünf neue Sprachnachrichten.

Wie lange war ihr Handy aus gewesen? Doch sie musste nicht überlegen. Es war nach zwanzig Uhr. Sie hatten das Telefon schon zum Aperitif im Restaurant Gondolen ausgestellt. Hatten ungestört sein wollen. Ivan hatte es gewollt. Darauf bestanden, dass es an diesem Abend nur um sie beide gehen sollte.

Nicht einmal in der Pause hatte sie das Handy angeschaltet. Als sie es aus ihrer Handtasche nehmen wollte, hatte Ivan seine Hand auf ihre gelegt. «Nicht …»

Sie machte die Augen zu, ertrug seinen Anblick nicht.

«Finden Sie sie, bitte …», sagte sie, bevor sie auflegte.

Ivan sah sie fragend an.

«Sie beginnen mit der Suche in der Nähe der Schule … Vermisste Kinder haben immer Priorität. Aber ich glaube … Ich glaube …»

Nastasia schüttelte den Kopf. Ivan griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie rasch weg.

«Wir müssen los. » Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Flur und Haustür. «Die Polizei braucht Fotos. Eine Personenbeschreibung …»

 

Als Nastasia Sikonova auflegte, waren dreizehn Minuten vergangen, seit der Mitarbeiter in der Notrufzentrale ihren Anruf entgegengenommen hatte. Eine knappe Stunde später traf der erste Suchtrupp an der Schule ein. Bei Tageslicht hätten sie auch einen Hubschrauber und eine Drohne eingesetzt, aber nicht jetzt.

Nicht bei Dunkelheit.

3

Montag, 19. Oktober

Es gibt ein paar Dinge, die ihr über mich wissen müsst.

Erstens: Ich bin ein böser Mensch. Als ich elf Jahre alt war, habe ich einen gleichaltrigen Jungen umgebracht. Ich habe seinen Kopf mit einem Betonklotz zertrümmert. Auf dem verlassenen Baustellengrundstück in unserer Siedlung. Er war sofort tot. Meine blonde, unheimlich süße Therapeutin sagt, es müsse nicht zwangsläufig Mord gewesen sein. Es könnte auch Totschlag gewesen sein, etwas, das ich nicht vorsätzlich getan habe. Beinahe unabsichtlich. Aus einem plötzlichen Impuls heraus.

Aber welche Kinder bekommen solche Impulse?

Vielleicht will sie einfach nur nett zu mir sein, mit ihrem aufmunternden Lächeln und dem festen Blick, der meinen unentwegt festzuhalten versucht und mich zu irgendetwas zwingen will, was auch immer das sein sollte.

Ich weiß es nicht. Freundlichkeit erschließt sich mir nicht.

Der Junge hieß Max. Er war mein Spielkamerad.

Wenn ich mich morgens in dem fleckigen Teakspiegel mustere, der im Flur hängt (ein Erbstück meiner Eltern), sehe ich manchmal etwas Dunkles über mein Gesicht huschen. Etwas Wütendes. Ich verändere mich dadurch nicht, es ist wie der flüchtige Schemen von etwas, das man im Augenwinkel erhascht.

Ich habe eine stärkere Glühbirne in die Deckenlampe geschraubt, aber diese dunklen Schemen sind trotzdem noch da. Nach dem Aufstehen, wenn ich müde bin oder mit den Gedanken woanders und einen zerstreuten Blick in den Spiegel werfe. Als würde ich innerlich, ohne mir dessen bewusst zu sein, vor Wut rasen.

Doch wenn ich mich dann näher zum Spiegel beuge und mein Gesicht mustere, ist alles wieder ganz normal: Ich sehe meine schiefe Nase (als Kind bin ich mit dem Fahrrad einmal eine Treppe in unserem Haus heruntergefahren), meine Augen (dunkelbraun), meine aschblonden Haare (Promenadenmischung) … Und wenn ich mir mit der Hand über die Bartstoppeln fahre (mal rot, mal braun), fühlt es sich wie immer an.

Ich bin nicht hässlich. Meine Gesichtszüge sind nicht schön, nicht im klassischen Sinn, aber sie sind relativ ebenmäßig. In euphorischen Momenten – kurzen, realitätsfernen Augenblicken – bilde ich mir ein, dass eine Frau mich attraktiv finden könnte. Doch das tut keine. Ich glaube, Frauen spüren diese Dunkelheit, diese Raserei in mir, und das schreckt sie ab.

Meine Therapeutin hält das für Unsinn. Sie meint, dass ich genau wie jeder andere Mensch wütend werden kann, dass Wut eine ganz natürliche Emotion ist.

«Sie haben extreme Dinge erlebt, Dinge, die Ihre Erinnerung noch unter Verschluss hält. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie das als Dunkelheit empfinden.»

Es ist schwer für mich, etwas dazu zu sagen, denn meine Therapie dreht sich vor allem um die Dinge aus meiner Kindheit, an die ich mich nicht erinnern kann.

Das ist das Zweite, das ihr über mich wissen müsst: Große Teile meiner Kindheit sind komplett weg, ausgelöscht. Jahre meines Lebens, über die ich nicht mehr weiß als das, was meine Eltern mir erzählt haben oder was mir unbehaglich fremde Fotos zeigen.

Wie das auf meiner Küchenfensterbank: ein verblasstes Farbfoto von einer Familie – nicht meiner richtigen, sondern meiner Pflegefamilie –, aufgereiht wie die Orgelpfeifen vor einem weißen Haus. Ich stehe ein Stück abseits, ein kleiner Junge mit hängenden Schultern, krummem Rücken und strähnigen rattenfarbenen Haaren. Die Eltern und ein Mädchen, das ein paar Jahre älter als ich zu sein scheint, lächeln in die Kamera, während ich das Gesicht halb abwende. Als wollte ich nicht gesehen werden. Als hätten sie mich vor die Kamera gezerrt. Du musst auch mit aufs Bild, komm jetzt!

Ich erinnere mich, dass ich ein paar Jahre bei einer Pflegefamilie gewohnt habe, die mich dann aus irgendeinem Grund nicht mehr bei sich haben wollte. Aber an Namen, Ereignisse oder Orte kann ich mich nicht erinnern. Da ist nichts.

Ich weiß nicht einmal mit Sicherheit, ob ich nicht noch mehr Kinder getötet habe. Gut, niemand hat etwas dergleichen behauptet, ich wurde nicht festgenommen, und ich habe keine Zeitungsartikel darüber gelesen, aber das muss nichts heißen.

Manchmal denke ich, dass sich in meinen Gedächtniszellen womöglich weitere Morde verbergen. Kinder, denen ich die Schädel eingeschlagen und die ich in irgendeinem Wald verscharrt habe. Dass ich mich deshalb an nichts erinnere.

Meine Therapeutin lachte, als ich diese Theorie während einer Sitzung einmal ansprach. «Auch wenn Sie sich nicht daran erinnern, was mit Max passiert ist, wirkt sich das Ereignis auf einer unbewussten Ebene auf Sie aus. Aber das bedeutet nicht, dass Sie zig Kinder umgebracht haben.»

Vielleicht hat sie recht. Ich weiß es nicht. Ich habe in ihrem weichen Lammfellsessel gesessen und stumm genickt.

Dann hat sie mich mit schiefgelegtem Kopf und ihrem Mona-Lisa-Lächeln mit den zwei tiefen Grübchen in den Wangen angesehen und gesagt: «Glauben Sie nicht, dass Ihre Psyche heilen kann, wenn Sie dem Prozess einfach seinen Lauf lassen? Dass Sie sich erinnern werden, wenn Sie bereit dazu sind?»

Ganz ehrlich: Nein, das glaube ich nicht.

Trotzdem gehe ich weiter jeden Freitag um dreizehn Uhr zu ihr.

4

Dienstag, 3. November

«Alle mal herhören, bitte! Für die, die mich nicht kennen, ich heiße Jens Sköld und bin der Einsatzleiter. Wir helfen heute bei der Suche nach der elfjährigen Olinda Sikonova.»

Sie hatten sich hinter der Schulmensa versammelt, auf dem Lehrerparkplatz, etwa sechzig Personen in gelben Westen, auf deren Rücken «Missing People – Sweden» stand. Angespanntes Stiefelscharren, über dicken Fleecepullovern und Gore-Tex-Jacken verschränkte Arme, ernstes Kopfnicken von allen Seiten.

Es war acht Uhr morgens. Es regnete nicht mehr, doch die Luft war unverändert feucht und rau, das Thermometer zeigte nur wenige Plusgrade. Irgendwer hatte hinter dem Bus mit der Aufschrift «Missing People – Einsatzzentrale» einen wackeligen Campingtisch aufgestellt, auf dem vier große Pumpthermoskannen standen. Warmer Kaffeedampf stieg auf, als jemand in seinen Becher blies und vorsichtig einen Schluck trank. An dem Tisch saß eine Frau, die sich mit unhandlichen Umgebungskarten abmühte, auf denen sie rote Kreise und Quadrate einzeichnete und die sie mit der Überschrift «Suchsektor» versah.

Jens Sköld fielen zwei Jungen auf, die ein Stück oberhalb des Abhangs in der Nähe des Parkplatzes auf ihren Schultaschen saßen. Sie redeten nicht miteinander, beugten sich neugierig vor, die Hände fest um die Riemen geballt. Jemand sollte sie in ihre Klassenzimmer schicken, dachte er. Doch niemand außer ihm schien die beiden zu bemerken.

«Gestern war um 14:30 Uhr Unterrichtsschluss, danach wurde Olinda von niemandem mehr gesehen!», rief Sköld mit lauter Stimme, die vom Gebäude widerhallte. «Sie wohnt nur circa dreihundert Meter von der Schule entfernt und geht normalerweise alleine nach Hause. Inzwischen ist sie seit fast achtzehn Stunden verschwunden.»

Erneutes Kopfnicken, diesmal besorgt. Er kannte mehrere der freiwilligen Helfer von früheren Einsätzen, bei denen sie gemeinsam nach Vermissten gesucht hatten.

Manchmal fragte er sich, warum er das eigentlich tat, warum er aus der Haustür stürzte, sobald sein Handy klingelte oder eine SMS eintraf – hin und wieder mitten in der Nacht –, warum er durch feuchte Sumpfgebiete stapfte und über Wurzeln stolperte – aber er kannte die Antwort. Der Grund war trivial, fast schon klischeehaft. Vielleicht sprach er deshalb nie mit Außenstehenden darüber. Wenn ihn jemand fragte, sagte er immer, dass ihn die Gewissheit beruhige, sein Möglichstes getan zu haben. Und das stimmte. Gewissermaßen. Zu suchen gab ihm Frieden. Allerdings nur vorübergehend. Er war nicht naiv, er wusste, dass er seinen eigenen Sohn nie finden würde. Falls William noch am Leben war, würde er im Herbst siebzehn Jahre alt. Doch er glaubte nicht, dass sein Sohn noch lebte. In seiner Vorstellung war William ertrunken – in der Nähe des Sommerhäuschens, in dem er mit einem Kumpel das Wochenende verbracht hatte, gab es einen sumpfigen Waldsee –, auf den Grund gesunken und vom Schlamm zugedeckt worden. Wie ein Fossil.

Jens Sköld schlug seinen Notizblock auf, rückte die kleine Lesebrille mit den silberfarbenen Bügeln zurecht und räusperte sich.

«Olinda trug zum Zeitpunkt ihres Verschwindens eine blaue Jeans, einen grünen Pullover, eine große rote Regenjacke und Gummistiefel. Die Farbe der Stiefel kennen wir nicht.»

Er blickte auf.

«Ihr bekommt die Beschreibung noch ausgehändigt. Ich möchte es nur kurz vorwegschicken …»

Wieder sah er auf seinen Block.

«Olinda hat lange braune Haare, braune Augen und ist circa einen Meter vierzig groß. Zierlich. Sie wiegt etwa fünfunddreißig Kilo. Schuhgröße fünfunddreißig.»

Er nahm seine Lesebrille ab, ging zu dem wackeligen Campingtisch, auf dem ein laminiertes Foto von Olinda lag, und hielt es in die Höhe.

«Das ist Olinda Sikonova. Das Foto wurde diesen Herbst gemacht, es ist also aktuell. Ihren Eltern zufolge hat sie noch dieselbe Frisur.»

Bei der Aufnahme handelte es sich um die Vergrößerung eines Schulfotos. Olinda trug darauf ein blaues Kleid, hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden – und sie lächelte. Wie es auf einem Schulfoto erwartet wurde.

«Unsere primären Suchgebiete sind der Berghang hinter der Schule und das Waldstück in südöstlicher Richtung, an den Bahngleisen entlang zum Wasser runter.»

Er deutete in die Richtung.

«Das Gleisgelände ist abgesperrt, aber durchkämmt das Gebiet unterhalb des Bahndamms, geht durch die Fußgängerunterführung und setzt die Suche auf der anderen Seite fort. Weiter unten gibt es einen zwanzig Meter hohen Berghang mit großen Felsblöcken. Seid dort vorsichtig. Geht keine unnötigen Risiken ein.»

Sköld machte eine Pause, um zu sehen, ob seine Instruktionen angekommen waren, dann fuhr er fort:

«Denkt daran, keine zu großen Lücken entstehen zu lassen. Meldet eventuelle Funde über eure Funkgeräte und markiert sie mit gelben Fahnen. Niemand fasst etwas an. Wir treffen uns später hier wieder. Konzentriert euch auf …»

Er unterbrach seine Rede, als ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf den Parkplatz fuhr. Eine Frau und ein Mann stiegen aus, warfen sich einen unsicheren Blick zu, wandten sich dann zum Suchtrupp um und steuerten auf Jens Sköld zu.

Es waren Olindas Eltern. Er trug einen Anzug und sie ein elegantes Kleid, darüber einen dünnen Mantel. Sie sahen aus, als wollten sie ausgehen, aber ihre Kleidung wirkte ungepflegt, zerknittert. Ivan Sikonovas Haare standen wirr in alle Richtungen ab, als wäre er gerade erst aufgewacht. Die Hochsteckfrisur seiner Frau Nastasia war halb auseinandergefallen, einzelne Strähnen hingen lose herunter, doch sie schien es nicht zu bemerken. Als Sköld am frühen Morgen mit ihnen gesprochen hatte, hatten sie dieselben Sachen getragen und einen ebenso aufgelösten Eindruck gemacht wie jetzt.

Sie gingen Hand in Hand. Aber Ivan Sikonova folgte seiner Frau, als müsste sie ihn zu dem Campingtisch schleifen, vor dem Sköld stand. Der Suchtrupp teilte sich automatisch, um die beiden durchzulassen.

«Wir wollen mithelfen», rief Nastasia heiser. «Wir müssen sie finden … Sie darf nicht …»

Sie verstummte und drehte sich flehend zu ihrem Mann um.

«Wir können nicht tatenlos zu Hause sitzen und abwarten», fügte Ivan Sikonova hinzu, ohne aufzusehen.

Sköld nickte und wandte sich wieder an den Suchtrupp.

«Okay, dann fangen wir an!», verkündete er. «Olindas Foto, die Karten und die Funkgeräte bekommt ihr von Karin.» Er deutete mit dem Kopf auf die Frau, die hinter den Umgebungskarten und Thermoskannen an dem wackeligen Campingtisch saß. Dann richtete er sich wieder an das Ehepaar Sikonova.

«Kommen Sie, gehen wir ein Stück, wo wir ungestört sind …»

Behutsam legte er eine Hand auf Ivans Arm und führte die beiden zur Seite.

«Was könnte ihr zugestoßen sein?», fragte Nastasia mit schriller Stimme. «Wo ist sie?»

«Vielleicht hat sie sich nur verlaufen», beschwichtigte Sköld. «Ist müde geworden und hat sich verirrt.»

Er wollte nicht allzu optimistisch klingen, hörte aber selbst, dass sein Vorsatz misslang. Nastasia Sikonova nickte eifrig und rang die Hände.

Sköld fiel auf, dass die beiden Grundschüler aufgestanden waren. Er musste sie daran hindern, dem Suchtrupp zu folgen.

«Bitte, finden Sie sie», sagte Nastasia Sikonova.

Er wandte sich von den Jungen ab und begegnete ihrem hoffnungsvollen Blick.

«Wir werden unser Möglichstes tun», versprach er.

5

Dienstag, 20. Oktober

Das ist die dritte Sache, die ihr über mich wissen müsst: Für den Mord an meinem Spielkameraden bin ich nie bestraft worden. Jedenfalls nicht mit Gefängnis oder dergleichen. Du bist davongekommen … Stattdessen hat man mich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Soweit ich weiß, für fast ein ganzes Jahr. Um nicht noch weitere Kinder zu verletzen. Als ich schließlich entlassen wurde, kam ich zunächst in eine Pflegefamilie, ehe ich nach einigen Jahren zu meinen leiblichen Eltern zurückdurfte.

Ich finde nicht, dass ich davongekommen bin. Ich habe meine Strafe erhalten.

Jetzt wohne ich allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Stockholmer Stadtteil Hägersten (genau genommen ein trister grauer Vierziger-Jahre-Vorort von Stockholm) und gebe mein Bestes, die Welt auszusperren. Ich habe kein Auto. Kein Sommerhäuschen. Und, wie ich vielleicht schon erwähnt habe, keine Freunde, keine Beziehung, keine Geschwister. Nachdem meine Eltern mich bekommen hatten, wollten sie keine weiteren Kinder mehr.

Aber ich habe einen Job. Ich arbeite als Buchhalter bei einer Zeitung. Keiner großen, renommierten Zeitung, sondern einer kleinen Illustrierten mit zweifelhaftem und absolut unseriösem Inhalt.

Ein richtiger Job ist es auch nicht wirklich. Einen Teil meines Gehalts zahlt das Arbeitsamt – oder die Sozialversicherung, ganz genau weiß ich das nicht – als Arbeitgeberzuschuss. Ich glaube, sie nennen das eine «besondere Stelle». Von mir wird nicht erwartet, eine «volle Arbeitsleistung» zu erbringen.

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich arbeite zwar bei einer Zeitung, ein Journalist bin ich aber nicht. Mit der eigentlichen Zeitung habe ich nichts zu tun. Ich leite Rechnungen an die richtigen Stellen weiter, verbuche Quittungsbelege von Konferenzen oder Redaktionsfeiern und kümmere mich darum, dass die freiberuflichen Fotografen ihr Honorar bekommen, wenn die Zeitung eines ihrer Fotos abdruckt. Solche Dinge.

Ich spreche nie mit irgendwem. Allein der Gedanke, jemanden anzurufen, macht mich nervös. Einmal habe ich mir vor einem Telefonat sogar einen ausführlichen Gesprächsfaden geschrieben, mit meinen Fragen und Formulierungen – und den Antworten, die ich von meinem Gegenüber erwartete.

Aber als ich am Ende des Gesprächs auflegte – ich glaube, es ging um den Kauf eines neuen Handys –, war mein Telefon trotzdem schweißnass. Als hätte ich die ganze Zeit Angst gehabt, der Verkäufer könnte allein an meiner Stimme erkennen, wer ich bin. Oder richtiger: Was ich bin.

Jeden Morgen kontrolliere ich mein Aussehen gründlich in dem fleckigen Flurspiegel, während ich sozusagen die Gestalt wechsele. Heute trage ich ein Hemd (hellblau), eine Hose (beigefarben) und habe ein dezentes Aftershave aufgelegt, irgendeinen französischen Duft, den ich im Kaufhaus in der Innenstadt gekauft habe (nachdem mir ein Kollege diskret zu verstehen gegeben hatte, dass ich schlecht rieche). Hermès heißt die Marke, glaube ich.

Ich habe mir einen «Robert» ausgedacht, den ich verkörpere, wenn ich unter Menschen bin. Einen anderen «Robert», einen mit Anführungszeichen. Dieser Anführungszeichen-Robert ist auf eine unpersönliche Art freundlich und gepflegt, spricht nicht viel und nie über private Dinge. Ein langweiliger und unscheinbarer Kerl.

Aber er ist kein Kindermörder.

Meine Therapeutin meint, das sei eine wichtige soziale Kompetenz. «Jeder von uns passt seine Persönlichkeit an unterschiedliche soziale Kontexte an. Das nicht zu können ist … eine Einschränkung.»

Ich glaube, sie will professionell sein und das Wort «krank» vermeiden. Ich selbst halte mich für «krank», für jemanden, der zwanghaft vorgibt, ein anderer zu sein.

Jedes Mal, bevor ich aus der Wohnung gehe, sehe ich durch den Türspion und vergewissere mich, dass das Treppenhaus leer ist. Gerade ist es das. Trotzdem schiebe ich meine Tür nur einen Spalt weit auf und lausche. Es ist schon vorgekommen, dass ich einen Nachbarn getroffen habe, den ich durch das Guckloch nicht gesehen habe. Wenn das passiert, gebe ich immer vor, in Eile zu sein, und haste, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, um nicht mit ihm (oder ihr) reden zu müssen.

Heute hängt ein leichter Parfümduft im Treppenhaus. Ich werfe einen Blick in den nächsten Stock hinauf – leer –, schließe schnell die Tür hinter mir ab und hetze zur U-Bahn. Wie immer habe ich das Gefühl, dass die Leute mich ansehen. Da ist dieser Verrückte aus dem ersten Stock. Der Kindermörder.

Mir ist klar, dass ich mir das einbilde. Doch als ich heute aus dem Haus komme, bleibt wirklich eine Frau stehen und sieht mir nach, während ich den Bürgersteig hinuntergehe. Gut, ich drehe mich nicht um, aber ich spüre ihren Blick im Rücken wie eine unbehagliche Wärme. Und als ich in der U-Bahn sitze, brennt mein Nacken an der Stelle, wo ihr Blick mich getroffen hat.

Wie gesagt: Ich bilde mir häufig Dinge ein. Setze mir Hirngespinste in den Kopf, hätte mein Vater gesagt, aber was weiß er schon?

 

Bis zur Redaktion auf Östermalm brauche ich fünfunddreißig Minuten, sie ist nur ein paar Schritte von der Östermalmshalle entfernt, wo die steinreichen High-Society-Ladys Lachsfilets und Hirschsteaks zu Wucherpreisen kaufen. Um mich gegen alle U-Bahn-Pendler abzuschotten, habe ich mir ein Paar übertrieben große Kopfhörer mit Außengeräuschunterdrückung zugelegt. Es funktioniert nicht ganz so gut, wie die Werbung vorgaukelt, aber wenn ich die Lautstärke aufdrehe, höre ich nur meine Musik – heute Crystal Castles, eine aggressive Synthpunk-Band.

Nach dem eiskalten Regen gestern scheint heute die Sonne. Während ich den Bürgersteig entlanglaufe, wirbeln meine Schritte das Herbstlaub auf, wie natürliche Klebezettel von den rotgelben Bäumen am Östermalmstorg. Es ist vollkommen windstill. Die Leute haben ihre Mäntel und Jacken aufgeknöpft und atmen die frische, klare Luft ein.

Wie immer gehe ich zielstrebig auf die große Glastür mit dem Zeitungsnamen zu und versuche dabei, den anderen Passanten, so gut es geht, auszuweichen. Ich halte meinen Plastikchip vor das Lesegerät und gehe am Empfang vorbei (ohne die Mitarbeiterin zu grüßen, eine junge, attraktive Frau, die mich verunsichert) und fahre mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock.

Wir sitzen in einer offenen Bürolandschaft. Helle Wände, schallisolierte Decke, die Toilettentüren und die Garderobe in der Mitte des Raums sind mit dunklen Holzpaneelen eingefasst, der Konferenzraum ist durch eine Glaswand abgetrennt. Die Architektur soll Offenheit signalisieren, glaube ich, Transparenz, Ehrlichkeit … Es gibt nicht einmal Trennwände als Sichtschutz zwischen den Schreibtischen.

Ich hasse das.

Man hat mich einer kleinen, dreiköpfigen Gruppe zugeteilt. Jeder von uns hat seinen festen Schreibtisch. Mir direkt gegenüber sitzt Anna L., neben ihr sitzt Lisa. Seit Anna S. – eine jüngere Version von Anna L. – in Elternzeit gegangen ist, ohne dass eine Vertretung für sie eingestellt wurde (ein schlechtes Zeichen, vor dem ich die Augen verschließe), ist der Schreibtisch neben mir leer. Anna L. und Lisa «arbeiten» am Empfang und sind in der Redaktion die sprichwörtlichen Mädchen für alles.

Unsere Arbeitsaufgaben haben nichts miteinander zu tun. Ich bin nur mit ihnen zusammengewürfelt worden, damit ich einen festen Sitzplatz habe. (Warum ich nicht einfach bei den Kollegen aus der Buchhaltung sitze, ist mir ein Rätsel, aber ich traue mich nicht zu fragen. Vermutlich hat es mit meiner «besonderen Stelle» zu tun.)

Ich grüße die beiden flüchtig. Sie nicken kaum merklich und unterhalten sich dann weiter. Sie sind beide Mitte fünfzig und stark geschminkt, die eine von ihnen ist blond (Anna L.), die andere brünett (Lisa). Ungefähr die Hälfte ihrer Arbeitszeit geht fürs Quasseln drauf. Ihren Gesprächen habe ich entnommen, dass sie sich auch in ihrer Freizeit treffen, dass Abnehmen ihr wichtigster Lebensinhalt ist (beide sind übergewichtig und mit einer üppigen Oberweite sowie ausladenden Ärschen ausgestattet), dass sie mit zwei faulen Schweinen verheiratet sind, denen Liebe und Romantik völlig abgehen, die aber gerne vögeln. Und dass sie wissen, was ich bin: ein Kindermörder.

Und nein, das bilde ich mir nicht ein. Ich weiß, dass sie es wissen.

Aus Höflichkeit – einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen – fragen sie mich manchmal, ob ich mit ihnen Mittagessen gehen möchte. Wenn ich dann lächelnd ablehne, wirken sie immer ein bisschen erleichtert. Als würden sie denken: Jetzt haben wir uns anständig verhalten und müssen erst in ein, zwei Wochen wieder fragen …

Mir macht das nichts aus. Wenn sie weg sind, untergehakt und mit zusammengesteckten Köpfen, stehe ich auf und hole mir beim Chinesen an der Ecke etwas zum Mitnehmen und setze mich anschließend in die Personalkantine im Keller – beigefarbene Wände, Holztische mit verchromten Stahlrohrbeinen, ein paar Sofas und ein unpersönlicher Bartresen aus Edelstahl (der mich immer an eine Schlachtbank erinnert). Während ich esse, schaue ich mir auf dem Handy irgendeinen Film auf Netflix an.

Ich habe keine Erwartungen an mein Leben. Allein dass ich diesen Job habe, erstaunt mich, also führe ich mich exemplarisch auf. Mein Vater (der als Statistiker bei einer Versicherung gearbeitet hat) hätte gesagt: Beißt sich an seinem Schreibtisch fest. Genau das tue ich – mit Kiefersperre.

Deshalb bekomme ich auch ein mulmiges Gefühl, als ich heute nach der Mittagspause aus der Kantine ins Büro zurückkomme und Anna L. und Lisa sich flüsternd über unsere Vorgesetzte Jessica unterhalten. «Glaubst du, sie hat damit gemeint, dass die Redaktion umzieht?», höre ich Lisa sagen, obwohl sie die Köpfe zusammenstecken und misstrauisch in meine Richtung schielen.

Ich habe meinen überdimensionalen Kopfhörer abgesetzt, sehe aber wie üblich auf meinen Bildschirm.

«Ich hab’s von einer Freundin aus der Gewerkschaft gehört», antwortet Anna L.

Ich starre weiter mit leerem Blick auf meinen Monitor, schweige und warte auf die Fortsetzung. Aber sie sagen nichts mehr, sondern fangen hektisch an zu arbeiten. Als ich kurz hochblicke, sehe ich, dass Jessica bei unserer Arbeitsgruppe steht.

«Hallo», sagt Anna L. überrascht, als hätte sie die ganze Zeit gearbeitet. Büro spielen kann sie gut.

Ich sage nichts. Starre weiter auf meinen Bildschirm, doch jetzt lese ich tatsächlich.

«Robert», wendet sich Jessica mit aufgesetzt sanfter Stimme an mich. «Hast du fünf Minuten?»

«Klar», erwidert «Robert» unbekümmert und folgt ihrem quadratischen Rücken, während ich versuche, sie mir beim Sex vorzustellen.

Das mache ich immer, wenn ich mich langweile oder unter Stress stehe: x-beliebige Leute, in der U-Bahn, im Büro, im Supermarkt. Bei einigen ist es leicht, sich ihren Gesichtsausdruck vorzustellen, bei anderen hingegen vollkommen unmöglich. Ich glaube, es hängt davon ab, wie sehr die Leute mit sich im Einklang sind und wie viel sie von sich selbst preisgeben. Dieser Gedanke ist mir während der Therapie gekommen. Meine Seelenklempnerin hat gelacht, gemeint, dass das eine gute Übung sei, und dann gefragt: «Wie stellen Sie sich selbst dabei vor?»

Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich habe seit Jahren mit niemandem mehr geschlafen. Als ich ihr das sagte, schaute sie bestürzt drein und fragte: «Warum?» (Immer diese Warums.) Was soll ich darauf antworten? Ich gehe doch zu ihr, um Antworten zu bekommen, keine Fragen.

Meine Chefin Jessica ist ein paar Jahre jünger als ich und eine Person, die ihre Hinterhältigkeit hinter übertriebener Freundlichkeit und einem aufgesetzt sanften Tonfall verbirgt. Sie ist immer elegant gekleidet, was aber nicht über ihr Allerweltsaussehen und ihre vorzeitig gealterten Gesichtszüge hinwegtäuscht. Alkohol, Zigaretten, Stress oder Bewegungsmangel, wer weiß. Vermutlich eine Kombination aus allem.

Ich stelle mir vor, wie ihr aufgedunsenes Gesicht sich vor Erregung rötet, wenn sie mit ihrem Mann schläft (oder irgendjemand anderem – ich bin ein Kindermörder, wer bin ich, mich zum Moralapostel aufzuschwingen?). Sehe vor mir, wie ihr die verschwitzten blonden Haare in die Augen fallen, in ihre ausdruckslosen blauen Fischaugen – ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zu den Menschen gehört, die die Augen beim Sex offen lassen. Die Augen zu schließen, lässt ihr ausgeprägtes Kontrollbedürfnis gar nicht zu. Ich stelle mir vor, wie sich ihre breite Kartoffelnase weitet und noch breiter wird, wenn sie lustvoll einatmet. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir auch vor, dass ihr massiger, unförmiger Körper (unproportional kleine Brüste und kaum erkennbare Hüften) oben ist. Bei ihrem Kontrollzwang kann ich mir kaum denken, dass sie unten liegt.

«Wie du sicher schon gehört hast …», beginnt sie und schiebt einen Papierstapel auf dem Tisch hin und her.

Wir sind in den einzigen Raum der Redaktion gegangen, der nicht aus Glas besteht: ein enges Kabuff mit Blümchentapete, zwei Stühlen und einem niedrigen, runden Tisch, an dem ich mich vorbeigezwängt habe. Jetzt sitze ich eingeklemmt (in der Falle) zwischen Tischkante und Wand, während mir ihr aufdringliches Parfüm in die Nase steigt. Es ist extrem unangenehm.

«Nein, ich habe nichts gehört», sage ich mit meiner hellen, ängstlichen Stimme (nicht mit «Roberts» unpersönlicher).

Jessica zieht erstaunt die Augenbrauen hoch (sie sind dunkel, viel zu dunkel, um natürlich zu sein): «Nicht? Okay, dann fange ich von vorne an.»

Während sie redet, stelle ich mir vor, wie sie kommt: nur ein leises Stöhnen. Nein, ich ändere meine Meinung: Sie stöhnt nicht, sie hält nur für einen kurzen Augenblick die Luft an und atmet dann erleichtert aus. Wie beim Kacken.

6

Dienstag, 3. November

Obwohl der Regen schon vor einiger Zeit aufgehört hatte, waren der Boden und die Felsen nach wie vor nass, von gelbbraunem Laub bedeckt und trügerisch glatt. Der Suchtrupp arbeitete sich methodisch den Abhang entlang, durchkämmte die flachen Büsche, das Gestrüpp, die Hohlräume zwischen den riesigen Felsblöcken, die groß genug waren, um einen zierlichen Mädchenkörper zu verbergen. Langsam bewegten sie sich voran, Meter für Meter.

Es war ein schwieriges Terrain. In der Felswand entdeckte Jens Sköld mehrere Karabiner, offenbar trainierten dort Kletterer. Plötzlich rutschte er aus und fluchte über seine Unachtsamkeit. Er hatte schon als Kind gelernt, in unwegsamem Gelände festen Halt zu finden, und wusste, wo man besser nicht hintrat. Aber nachdem er Olindas Eltern überredet hatte, auf dem Parkplatz zurückzubleiben, hatte er schnell zu den anderen aufschließen wollen.

Die Suchkette befand sich ungefähr ein Dutzend Meter vor ihm, er hörte ihre gedämpften Stimmen, sah, wie sie Äste und Zweige zur Seite bogen, über Baumstümpfe stiegen und sich vorsichtig bewegten, um nicht auszurutschen.

Ihre Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet, auf die nächste Senke im Gelände, den nächsten Strauch, die nächste Eiche, die ihr goldrotes Laub noch nicht verloren hatte. An einem dichten Gebüsch blieben sie stehen, bogen Äste zur Seite und blickten hinein. Angespannte Atemzüge, gefolgt von enttäuschten Seufzern.

Ein Stück weiter unten durchkämmte eine zweite Suchkette die linke Seite des Waldstücks und schritt die vergilbte Wiese ab. Oberhalb des Berghangs waren die aufgeregten Rufe einer dritten Gruppe zu hören, und Sköld fragte sich, ob sie etwas gefunden hatten. Doch dann übertönte ein vorbeifahrender Zug alle Geräusche, und als der Lärm verklungen war, waren die Stimmen verstummt.

Kurz darauf hatte er die vor ihm gehende Suchkette eingeholt und reihte sich ein. Er wollte sich gerade zwischen ein paar niedrigen Tannen hindurchzwängen, die sich an einen großen Felsblock klammerten, als links von ihm jemand rief.

«Hier!»

Die Kette blieb stehen. Eine etwa fünfunddreißigjährige Frau bückte sich und betrachtete etwas, das auf dem Boden lag.

«Ein Pullover», rief sie. «Dunkelgrün. Sieht neu aus.»

«Markieren Sie die Stelle!», rief Jens zurück.

Die Frau versah den Fund mit einer gelben Fahne und zeichnete die Stelle auf ihrer Karte ein.

«Okay», fuhr Jens fort. «Vielleicht finden wir hier noch mehr …»

Ein schriller Schrei ließ ihn verstummen. Die dichten Äste der Tanne vor ihm wurden zur Seite gebogen, und ein Junge kam zum Vorschein. Er war blass, seine Augen vor Schreck geweitet. Jens erkannte ihn wieder. Es war einer der beiden Jungen, die vorhin in der Nähe des Schulparkplatzes gesessen und ihre Vorbereitungen beobachtet hatten. Der Junge stolperte panisch vorwärts – als wollte er weg, dachte Jens, als liefe er vor etwas davon –, dann drehte er den Kopf zur Seite und übergab sich. Im nächsten Moment tauchte der zweite Junge hinter ihm auf.

«Was zum Teufel macht ihr hier?», fragte Sköld. «Was habt ihr hier zu suchen?»

Die Jungen gaben keine Antwort, einer von ihnen deutete in Richtung der Büsche hinter sich. Jens bat die beiden Helfer neben ihm, bei den Jungen zu bleiben, während er auf die Tannen zuging. Er blickte auf den Boden, achtete sorgfältig darauf, wo er hintrat, um keine Beweise zu zerstören, und zwängte sich durch die Äste.

Das Erste, was er sah, war der Fuß, der aus einer kleinen Höhle unter einem großen Felsblock hervorragte. Er war unbekleidet und sah klein aus. Nicht wie Schuhgröße fünfunddreißig. Unbewusst spannte er sich an, ging in die Hocke und blickte in die Höhle hinein. Der zierliche Mädchenkörper lag zusammengekrümmt auf der roten Regenjacke. Das T-Shirt war nach oben gerutscht und entblößte ihren Bauch und die Brust, die Hose war halb heruntergezogen. Ihre Arme waren ausgestreckt, als hätte sie versucht, sich zu wehren. Aber es hatte nichts genützt. Die obere Hälfte ihres Kopfes war zertrümmert, das dunkle Haar blutverklebt und verfilzt. Sie sah winzig aus. Unfertig, dachte er. Wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen war.

Er zwängte sich rückwärts durch die Tannen, drehte sich um und hielt abwehrend die Arme in die Höhe, damit sich niemand vom Suchtrupp dem Fundort näherte.

«Wir haben sie gefunden», sagte er gepresst. «Personenbeschreibung und Aussehen stimmen mit Olinda Sikonova überein.»

Er griff nach seinem Funkgerät:

«Wir haben sie gefunden!»

Dann ging er zu den beiden Jungen, die mit hängenden Armen dastanden, die Schultaschen schief über den Schultern baumelnd, auf den Boden starrten und mit den Schuhen im Moos scharrten.

«Was hattet ihr hier zu suchen? Wie heißt ihr?», fragte er.

Die beiden schwiegen.

«Nicklas», sagte schließlich der molligere von beiden.

«Und du?»

«Sixten», sagte der andere, der sich übergeben hatte.

«Habt ihr in der Höhle irgendwas angefasst?»

Sixten blickte auf und sah ihn verständnislos an.

«Habt ihr in der Höhle irgendwas angefasst?», wiederholte Jens mit Nachdruck.

«Ich bin gestolpert … Ich wollte nur nachsehen … ob sie tot ist.»

«Was? Was meinst du?»

Sixten deutete mit dem Kopf auf seine Schuhe.

«Ich wusste nicht …»

«Bist du etwa auf sie draufgefallen?!»

«Ja …»

Sköld wandte sich an den anderen Jungen, Nicklas.

«Und du? Bist du auch gestolpert?»

Nicklas schüttelte den Kopf.

Jens zog einen Block aus der Tasche, um die Namen der Jungen zu notieren – die Polizei würde mit ihnen sprechen wollen, ihre Fingerabdrücke und ihre DNA nehmen –, als ihn jemand unterbrach.

«Ey, yo Alter! Du da!»

Er drehte sich um.

Zwei Jugendliche kamen den Abhang oberhalb der Tannen hinunter und steuerten auf ihn zu. Wo kamen die denn so plötzlich her?

«Bekommen die was?», rief einer der beiden, ein ungefähr fünfzehnjähriger Teenager mit dunklen, fettigen Haaren und verpickeltem Gesicht.

Er trug eine übergroße Jacke, die im Vergleich zu seiner übrigen Kleidung viel zu teuer und neu aussah.

«Wie bitte?», fragte Jens.

«Bekommen die was? Geld oder so? Als Finderlohn?»

«Nein», erwiderte Sköld schroff. «Sie bekommen nichts.»

«Gut, denn sonst hätten wir die Kohle bekommen müssen. Wir waren nämlich zuerst hier.»

7

Freitag, 23. Oktober

Seit dem Gespräch mit meiner Chefin, der asexuellen Jessica, bin ich krankgeschrieben. Ich habe einfach meine Sachen gepackt und bin gegangen.

Zu Hause habe ich überwiegend auf dem Sofa gelegen (in Fötusstellung) und Musik gehört. The XX, Leonard Cohen (Famous Blue Raincoat), Nick Cave, Bon Iver und Gil-Scott Heron.

Heute setze ich zum ersten Mal wieder einen Fuß vor die Tür.

Freitags gehe ich immer zur Therapie. Die Praxis meiner Therapeutin befindet sich in ihrer Wohnung auf Östermalm, die von der Zeitungsredaktion aus gesehen am anderen Ende des Viertels liegt, also westlich, in Richtung Vasastan. Die wuchtige Eichentür mit den geschnitzten Spiegeln gibt mir immer das Gefühl, nicht dorthin zu gehören, ein Eindringling zu sein. Wenn ich über den Marmorboden laufe und meine Schritte von der hohen Decke widerhallen, warte ich immer darauf, dass sich jemand hinter meinem Rücken räuspert und fragt, was ich hier zu suchen habe. Deshalb haste ich schnell den Treppenabsatz nach oben, zu der Tür mit dem Messingschild, auf dem «E. Ulvsson» steht. Meine Therapeutin heißt Elise mit Vornamen, also nehme ich an, dass es ihre Wohnung ist. Dass sie dort lebt.

Als sie die Tür öffnet, lächelt sie mich an, aber nicht weil sie sich freut, mich zu sehen, sondern, wie üblich, um mich zu motivieren. Als wollte sie sagen: Kommen Sie schon, es geht los! Sie schaffen das!

Heute dränge ich mich an ihr vorbei, stürze fast in den Flur, um meine schwarze Lederjacke an ihre viel zu klein geratene Designergarderobe zu hängen.

«Was ist los?», fragt sie freundlich, als sie sich auf ihren Stuhl gegenüber von meinem grauen Lammfellsessel setzt (mir wird klar, dass ihre anderen Analysanden ebenfalls in diesem Sessel sitzen).

«Ist etwas passiert?»

Erst jetzt merke ich, dass ich hyperventiliere, als ob ich den ganzen Weg gerannt wäre (was ich vielleicht auch bin, ich habe seit Tagen auf diese Sitzung gewartet).

«Sie wirken völlig aufgelöst», fährt sie fort und mustert mich interessiert.

«Ich …», beginne ich, verliere aber augenblicklich den Faden.

Wo soll ich anfangen? Mir ist schlecht, und ich könnte auf der Stelle in Tränen ausbrechen. Damit ihr versteht, wie ungewöhnlich das für mich ist: Ich weine nie. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich nicht einmal als Kind geweint. (Aber andererseits erinnere ich mich kaum an etwas aus meiner Kindheit.)

Elise sieht mich geduldig an, wartet darauf, dass ich weiterrede.

Ich hole tief Luft, verschränke die Hände ineinander, damit ich nicht mit meinen Haaren spiele, und stoße hervor:

«Ich bin gefeuert worden.»

«Einfach so?» Elise wirkt aufrichtig erstaunt.

«Ja!», sage ich.

Oder habe ich geschrien? Denn sie sieht mich merkwürdig an und erwidert:

«Beruhigen Sie sich, Robert. Hier sind Sie sicher. Niemand will Ihnen etwas Böses. Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?»

Ich erzähle ihr, was meine Chefin bei unserem Gespräch vor drei Tagen gesagt hat: Der Zeitungsbranche geht es immer schlechter. Die Abonnentenzahlen sind rückläufig. Das Internet gewinnt an Bedeutung, doch das Onlineangebot der Zeitung kann den finanziellen Verlust durch die sinkenden Printauflagen nicht ausgleichen … Bla, bla, bla.

«Die Redaktion wird nach Malmö verlegt», erkläre ich. «Da haben die anderen Zeitschriften der Verlagsgruppe ihren Sitz, und der Verlag will Einsparungen vornehmen, Funktionsbereiche zusammenlegen oder abbauen. Meine Aufgaben soll in Zukunft die Buchhaltung erledigen, nebenher …»

Elise nickt ernst, mitfühlend.

«Sie können mich nicht mehr beschäftigen», sage ich. «So gerne sie es würden.»

Beim letzten Satz ahme ich Jessicas Stimme nach.

«Außerdem finden sie, dass ich langsam bin.»

Wir sitzen eine Weile schweigend da. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Elise spielt an ihrem Rocksaum, fährt mit einem Fingernagel immer wieder die Naht entlang. Ihre übliche Geste, wenn sie darauf wartet, dass ich weiterrede. Ich habe sie getestet: Sie kann die ganze Therapiestunde (die nicht wie eine Zeitstunde sechzig Minuten dauert, sondern fünfzig) so dasitzen.

Schließlich beende ich das Schweigen.

«Ich bin der Einzige, den sie feuern», fahre ich fort. «Die anderen können entweder mit nach Malmö gehen oder andere Tätigkeiten im Haus übernehmen …»

«Das muss sehr belastend für Sie sein», erwidert Elise mit ihrer sanften Therapeutenstimme.

Belastend? Es ist mehr als das. Ich kann mit Veränderungen nicht besonders gut umgehen. Genauso wenig wie mit Stress. Ich brauche Sicherheit, eine sichere Existenz ohne Anforderungen.

«Ich werde mir die Therapiesitzungen nicht mehr leisten können», murmele ich nach einer Weile.

Meine Stimme ist kurz davor zu versagen, und es fehlt nicht viel, dass ich wirklich in Tränen ausbreche. Wieder sieht Elise mich interessiert an, als sei dies gegenüber unseren sonst eher routinemäßig verlaufenden Sitzungen ein großer Fortschritt.

«Wir können die Therapie unterbrechen», sagt sie, beugt sich vor und legt eine Hand auf mein Knie (das hat sie noch nie gemacht). «Und sobald Sie eine neue Arbeit gefunden haben, nehmen wir die Sitzungen wieder auf – wenn Sie möchten. Sie sind intelligent und talentiert. Es gibt keinen Grund, weshalb Sie diese Situation nicht meistern sollten.»

Manchmal frage ich mich, ob wir während der Sitzungen über dieselbe Person sprechen – über mich.

 

Als ich nach Hause gehe, ist das bisschen Wärme vom Vormittag verflogen, von irgendwoher sind graue Wolken aufgezogen. Ich fühle mich krank. Achtlos dränge ich mich auf dem Bürgersteig an den Passanten vorbei und renne förmlich zur U-Bahn-Station in der Birger Jarlsgatan. Ich habe das Gefühl, die Luft anzuhalten, als befände ich mich unter Wasser. Hoch über mir schimmert meine Wohnung wie eine glitzernde Wasseroberfläche. Erst als ich meine Wohnungstür hinter mir abgeschlossen habe, kann ich ausatmen.

Ich schalte die Stereoanlage ein und kauere mich in Fötusstellung aufs Sofa.

Damit ihr mich versteht: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, einen neuen Job zu bekommen. Leute wie mich stellt man nicht ein. Nicht in diesen Zeiten. Niemals. Ich besitze nicht die nötige … Ausstrahlung. Ich bin weder positiv noch dynamisch und erst recht nicht auf diese Art motiviert, wie man es offenbar sein muss, um überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.

Wenn ich mir ausmale, wie es weitergeht, sehe ich mich auf einer Parkbank schlafen, in Zeitungen und eine schmutzige hellblaue Decke gehüllt.

Dieses Bild ist nicht einmal völlig aus der Luft gegriffen.

Als ich fünfzehn war – das letzte Jahr bei meiner Pflegefamilie –, bin ich abgehauen. Ich hatte kein Geld und keine Ahnung, wo ich eigentlich hinwollte. Ich erinnere mich, dass ich vor dem Haus meiner Eltern stand – meinem richtigen Elternhaus, in dem ich aufgewachsen bin – und durch die Fenster dabei zusah, wie andere Menschen sich im gelben Schein der Lampen darin bewegten, fremde Menschen.

Zwei Tage später wurde ich von der Polizei aufgegriffen, als ich schlafend auf einer Parkbank lag, eingehüllt in Zeitungen und eine hellblaue Decke, die ich in einem Container gefunden hatte. Nach unendlich vielen Gesprächen mit Sozialarbeitern («Ich verspreche, nie wieder wegzulaufen») durfte ich zurück zu meiner Pflegefamilie.

8

Dienstag, 3. November

«Nein, nein, nein …»

Nastasia Sikonova näherte sich der Trage seitwärts, wie ein Tier, das sich einem Feind stellt. Ihr Mann griff nach ihr, wollte sie am Weitergehen hindern, aber sie schüttelte seine Hand irritiert ab.

Ihr Blick war starr auf die beiden Männer gerichtet, die vorsichtig den lehmigen Pfad herunterkamen. Sie trugen eine Trage mit einem festgeschnallten Leichensack zwischen sich. Obwohl er verschlossen war, konnte sie sehen, dass der Körper, der darin lag, viel zu klein für den Sack war, so klein, dass er kaum eine Wölbung verursachte.

Ein uniformierter Polizeibeamter stellte sich ihr in den Weg und streckte die Arme aus, um sie am Weitergehen zu hindern, doch sie stieß ihn grob zur Seite.

Als sie die Trage erreichte, zog sie den Reißverschluss des Leichensacks auf, zerrte daran, bis der kleine Mädchenkörper zum Vorschein kam.

Sie beugte sich über die Leiche, strich ihr mit zitternden Fingern über das Gesicht, die Haare, den halb entblößten Bauch, wo das T-Shirt hochgerutscht war, die heruntergezogene Hose, das kleine Muttermal direkt unter dem Nabel, mit dem sie immer spielte, wenn Olinda und sie badeten oder sich bettfertig machten.

«Nein, nein, nein … Olinda, was hast du gemacht? Mein kleines Mädchen! Keine Angst … Alles wird wieder gut. Mama ist jetzt da. Alles wird wieder gut. Wir bleiben jetzt zusammen … Hörst du mich, Olinda? … Mama ist da. Du musst keine Angst mehr haben … Wir gehen nicht mehr weg … Nie wieder! Versprochen …»

Sie beugte sich vor und küsste die Stirn ihrer Tochter, immer wieder, ohne zu merken, dass geronnenes Blut an ihren Lippen kleben blieb.

Auf der Wiese neben dem Pfad standen noch einige Helfer des Suchtrupps und beobachteten die Szene, verlegen, unsicher abwartend. Aber Nastasia sah sie nicht, nahm kaum wahr, dass der Polizeibeamte behutsam den Arm um sie legte.

«Es tut mir so leid», sagte er.

Nastasia drehte sich zu ihm um. Der Mann war jung, höchstens dreißig.

«Wird sie wieder gesund?», fragte sie mit einem offenen, schutzlosen Gesicht, dem der Schock jeden Ausdruck genommen hatte.

Der Mann wich ihrem Blick aus.

«Nein. Sie ist … tot.»

Ihr Schrei ließ ihn zusammenzucken.

«Sie irren sich! Sie muss nur nach Hause. Ich kümmere mich um sie. Sie wird wieder gesund …»

Nastasia fuhr sich hektisch übers Gesicht, riss die Haut mit ihren Nägeln auf.

Niemand sagte etwas. Als Ivan sie vorsichtig am Arm packte, um sie am Kratzen zu hindern, schnellte sie herum und schlug ihm ins Gesicht. Die umstehenden Bäumen sogen das Klatschen der Ohrfeige auf, es verlor sich wie ein Geräusch in einem Vakuum. Ivans Kopf flog zur Seite, aber er tat nichts, reagierte kaum, ließ seine Frau einfach nur los und stellte sich stumm neben sie, als sie sich erneut über ihre Tochter beugte.

Ein Lachen weckte Nastasia aus ihrer Apathie, sie zuckte zusammen und sah auf. Zwei Jugendliche kamen mit drei uniformierten Polizeibeamten den Pfad herunter. Einer der beiden grinste breit, stieß seinen Kumpel an und zeigte auf sie, als würde er etwas lustig finden.

Nastasia Sikonova ging zu ihnen hin und stellte sich vor den Grinser.

«Wart ihr das?»

Ihre Stimme klang schrill und heiser zugleich.

«Was?», fragte der Junge.

Er grinste wieder, warf seinem Kumpel einen Blick zu. Plötzlich, noch bevor der Junge schützend die Hand heben konnte, schlug sie ihm genau wie ihrem Mann ins Gesicht.

«Hast du sie noch alle, du verdammte Bitch?! Wir haben nichts gemacht!»

«Ihr habt meine Tochter umgebracht! Ihr habt Olinda umgebracht!», zischte sie.

«Was laberst du, Alte? Red keinen Scheiß …»

Der junge Polizeibeamte nahm Nastasia sanft am Arm und führte sie den Pfad hinunter, weg von den beiden Jugendlichen.

In der Zwischenzeit waren zwei Rettungswagen eingetroffen und hatten auf der Wiese neben dem Pfad geparkt. Eine blonde Frau mit einer gelben Reflektorjacke trat auf Nastasia zu und legte behutsam den Arm um sie. Die Männer mit der Trage zogen den Reißverschluss des Leichensacks zu und brachten ihn zu dem Leichenwagen, der ein Stück entfernt von ihnen wartete. Nastasia folgte den beiden mit dem Blick.

«Nein, nein, nein …»

Doch jetzt klang ihre Stimme hoffnungslos.

«Nastasia, so heißen Sie doch?», fragte die Frau mit der gelben Reflektorjacke. «Mein Name ist Åsa, ich bin Krankenschwester. Ich werde Ihnen etwas geben, damit Sie sich ein bisschen besser fühlen.»

Nastasia wandte sich zu ihr um und legte wie ein kleines Mädchen den Kopf ein wenig schief. Sie weinte nicht, wehrte sich nicht, ihre Arme hingen schlaff an den Seiten herunter.

«Bitte lassen Sie mich sterben», flüsterte sie.

9

Sonntag, 25. Oktober

Ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand aufdrängt. Etwas von mir will. Einen Haufen Fragen stellt.

Ich hasse es.

Wie heute. Schon als es an der Tür klingelt, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. (Es klingelt nie jemand an meiner Tür. So gut wie nie.)

Als ich in den Flur gehe und durch den Türspion gucke, sehe ich eine dunkelhaarige, etwa fünfunddreißigjährige Frau im Treppenhaus. Ich erkenne sie wieder. Es ist die Frau, die am Dienstag, als ich entlassen wurde, draußen vor dem Haus stand und mir nachgesehen hat.

Ich weiß, warum sie hier ist. Ich habe solche Besuche schon häufiger bekommen.

Es fing vor acht Jahren an, nachdem ich den Fehler gemacht hatte, im Fernsehen aufzutreten (in einer seriösen Talkshow auf SVT). Die Vereinbarung war, dass ich die Gelegenheit bekommen sollte, etwas über mich selbst zu sagen, eine Stellungnahme abzugeben, mein Leben zu schildern (oder besser gesagt: den Mangel an Leben). Der Moderator (den Namen habe ich vergessen) hatte mir im Vorfeld lauter großartige Worte um die Ohren geschleudert: einmalige Gelegenheit, Rede und Antwort stehen, zu Wort kommen, von öffentlichem Interesse, bla, bla, bla …

Aber als die Sendung dann ausgestrahlt wurde, stellten sie mich als Psychopathen und Mörder dar.

«Bereuen Sie, was Sie getan haben?», fragte der Moderator.

Zoom auf mein Gesicht, meinen unsicher flackernden Blick: «Nein.»

Nach diesem Nein habe ich noch viel mehr gesagt. Dass ich mich nicht an den Mord erinnern und deshalb keine wirkliche Reue empfinden könnte. Doch all das hatten sie weggeschnitten.

«Hat man Sie bestraft?»

Neue Großaufnahme. Mein schiefes, unsicheres Lächeln, das auf dem Fernsehbildschirm einfach nur böse wirkte. «Nein.»

Und ein neuer Schnitt.

«Was für eine Art Beziehung hatten Sie zu Max?» Diese Frage stellte mir der Moderator während der Sendungsaufzeichnung immer wieder, und am Ende habe ich mit mechanischer Stimme geantwortet: «Er war mein Spielkamerad, mein Freund …»

«Trotzdem haben Sie ihn erschlagen?»

«Ja.»

Schnitt.

Nach jeder Frage.

Ich wurde Der böse Junge. Das Monster.

Seit dieser Ausstrahlung ist mein Fall (der in der Presse den Namen «Betonmord» erhielt) in diversen Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln aufgetaucht. Meistens in Infokästchen mit wichtigen Eckdaten zu anderen Kindermorden. Und jedes Mal hat irgendein Oberschlauer anschließend meinen Namen gegoogelt und beschlossen, etwas zu unternehmen.

Meistens bekomme ich Briefe. «Für solche wie dich sollte man die Todesstrafe wieder einführen!» Krakelige Buchstaben, billiges Papier. Manche schneiden auch Buchstaben aus Zeitungen aus wie in anonymen Erpressungsschreiben.

Es hat mir auch schon mal jemand Fäkalien in den Briefkasten gesteckt (einmal) oder «Kindermörder» an meine Wohnungstür geschmiert (auch mit Fäkalien, zweimal). Als ich nach dem zweiten Mal gerade dabei war, die Schmiererei von meiner Tür zu entfernen, kam der Vorsitzende der Wohnungsgenossenschaft – ein etwa fünfunddreißig Jahre alter Schlipsträger mit weißem Hemd – und ermahnte mich, auf Sauberkeit zu achten und meinen Dreck zu beseitigen, sonst sähen sie sich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Während er das sagte, hielt er sich demonstrativ die Nase zu und sah mich verächtlich an.

Deshalb stelle ich mich jetzt in die Mitte des Flurs und warte darauf, dass die Frau wieder verschwindet, damit ich ihren «Dreck» schnell beseitigen kann. Aber stattdessen öffnet sie die Briefklappe in der Tür und ruft durch den Schlitz:

«Ich höre die Musik. Ich weiß, dass Sie da sind. Machen Sie auf!»

Ich habe tatsächlich vergessen, die Stereoanlage auszustellen.

«Ich möchte nur mit Ihnen reden!»

Ich erkenne die Stimme wieder. Es ist diese Journalistin, die mich vor ein paar Tagen angerufen hat.

«Machen Sie auf! Oder ich schreie durch den Briefschlitz.»

Ich mache auf. Aus Angst, glaube ich. Davor, dass die Nachbarn etwas mitbekommen oder der Lackaffe von Vorstandsvorsitzendem zufällig vorbeiläuft.

«Was soll das?», fragt die Frau jetzt. «Warum haben Sie nicht aufgemacht?»

Sie sieht mich wütend an, als hätte ich ihr etwas getan. Im nächsten Moment schlüpft sie geschickt an mir vorbei in den Flur. Während ich noch phlegmatisch im Türrahmen stehe, dreht sie sich schon wieder zu mir um. Ihre dunkle Pagenfrisur (seit wann ist dieser Schnitt wieder modern?) schwingt dabei wie ein Kettenkarussell um ihr Gesicht.

«Ich heiße Lexa, Lexa Andersson. Die meisten nennen mich Lex. Ich bin Journalistin», feuert sie mir entgegen.

Als ich keine Antwort gebe, fährt sie fort:

«Sie sind doch Robert Lindström, oder?»

Sie spricht so schnell, dass ich kaum verstehe, was sie sagt. Sie rattert die Silben herunter wie ein Fernschreiber in einem alten Film. Trotzdem nicke ich, murmele ein «Ja».

Sie lächelt. Triumphierend. Ich sehe sie unfreundlich an.

«Was wollen Sie? Ich will nicht, dass Sie …»

«Ich möchte mit Ihnen reden.» Sie marschiert ins Wohnzimmer, bleibt mit einer Hand in die Hüfte gestemmt stehen und inspiziert den Raum.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass – obwohl ich seit fast zehn Jahren in dieser Wohnung lebe – die einzigen Möbelstücke, die ein wenig Wohnlichkeit verbreiten, drei zusammengewürfelte, randvolle Bücherregale an der Stirnseite des Wohnzimmers sind. Taschenbücher, Folianten, Unterhaltungsromane, Fachbücher – in einer chaotischen Unordnung über- und nebeneinandergestapelt.

Der Rest der Wohnung vermittelt einen kalten oder besser: spartanischen Eindruck. Als hätte jemand nur eine Handvoll ausgedienter Möbel in den Zimmern verteilt. Willkürlich. Ohne nachzudenken. Ein durchgesessenes grünes Vierziger-Jahre-Sofa (vom Flohmarkt), ein zerkratzter Glastisch, der vorne etwas schief ist (auch vom Flohmarkt) und eine weiße Blumensäule in der Ecke (ein Erbstück meiner Eltern, meiner leiblichen).

Das ist alles. Der Rest ist leere Fläche.

Ich weiß auch nicht, warum. Ich habe mir Mühe gegeben.

Ehe ich sie davon abhalten kann (eine linkische Hand auf ihrem Arm, die sie nicht zu bemerken scheint), geht sie zum Sofa. Zwei der drei Sitzplätze sind unter Bergen von Papieren verschwunden. Überwiegend «wichtige Papiere»: Ungeöffnete Schreiben von der Bank, Jahresabrechnungen, Broschüren vom Finanzamt … Sachen, die ich hasse, die ich mich aber nicht wegzuwerfen traue. Doch dazwischen stecken auch ausgerissene Zeitungsseiten, deren malträtierte Ränder aus dem Wust hervorragen.

Sie zieht eine der Zeitungsseiten heraus und beginnt zu lesen. Dann sieht sie mich verblüfft an.

«Heben Sie die auf? Artikel über Kindermörder?»

Ich nicke verlegen, als hätte sie mich bei etwas Unanständigem ertappt.

Ich bin nicht die Nummer eins der «Kinder, die getötet haben»-Liste – es gibt einen Jungen, der erst fünf war, als er gemeinsam mit seinem Bruder einen Spielkameraden erwürgt hat. Meistens liege ich auf dem dritten oder vierten Platz, je nachdem, welche Fälle noch berücksichtigt werden.

Falls ihr euch fragt: Ich bin kein Messie. In meiner Wohnung gibt es keine Zeitungsstapel, die bis zur Decke reichen, keine schmalen, von Müll gesäumten Durchgänge, nichts in der Art.

Lexa geht weiter ins Schlafzimmer (ungemachtes Bett, Schmutzwäsche auf dem Boden). Ihre Schritte wirbeln eine Wollmaus auf, die im Luftzug über den Boden gleitet, als würde sie ihr neugierig folgen.

Als sie am Ende ihrer Wohnungsinspektion die Küche erreicht, dreht sie sich zu mir um.

«Sie sind verrückter, als ich dachte», sagt sie.

Einfach so. Kein ironischer Tonfall, kein freundliches Lächeln. Sie mustert mich. Irgendetwas in ihr spannt sich an, ihr Kiefer verkrampft sich. Ich sehe deutlich, wie sie zum Zeichen ihrer unumstößlichen Entschlossenheit die Halsmuskeln anspannt, als wolle sie ein störrisches, beschwerliches Hindernis in Angriff nehmen (mich).

Sie: Elegante schwarze Kleidung, die auf diese frisch gewaschene, saubere Art raschelt, eine Silberkette mit Anhänger, der leise klirrt, als sie zerstreut meine Küchenschränke öffnet und die Regale in Augenschein nimmt.

Ich: Ein schlabbriges T-Shirt mit einem Ketchupfleck auf der Brust (sehe ich jetzt erst), eine verwaschene, schmuddelige Jeans. Mehr nicht. Nicht mal Socken. Wahrscheinlich rieche ich nach Schweiß.

«Wo haben Sie den Kaffee?», fragt sie.

Ich deute mit dem Kopf auf den Schrank über der Dunstabzugshaube. Sie geht zur Kaffeemaschine und füllt Wasser ein.

Sie: Kurvige Figur mit auffallend großen Brüsten (Implantate?), die sie mit einem schwarzen, sehr engen Pullover betont.

Ich: Bauchansatz (nicht groß, aber vorhanden), der sich über meiner verwaschenen Jeans abzeichnet.

«Was wollen Sie?», frage ich.

Ich mag sie wirklich nicht.

«Wie gesagt, ich bin Journalistin, schreibe aber überwiegend Reportagebücher. Ungefähr wie Dokumentationen im Fernsehen. Nur eben in Buchform.»

Als ich nichts darauf erwidere, fährt sie fort:

«Ich habe mir Ihren Fall angesehen. Es wurde viel darüber geschrieben, damals, als es passiert ist, und an den Jahrestagen. Aber bisher hat niemand das Ganze aus Ihrer Sicht geschildert.»

Sie sieht mich prüfend an, als wollte sie sich vergewissern, dass ich ihr folgen kann.

«Das möchte ich tun. Ein Buch aus Ihrer Perspektive schreiben. Die Geschichte eines Kindermörders. So in etwa.»

«Ich werde in diesen Artikeln nie thematisiert …», sage ich, ohne sie anzusehen.

«Das habe ich gemerkt. In sämtlichen Artikeln geht es um das Opfer, um Max Sander. Deshalb möchte ich Sie mit einbeziehen. Dieses Buch soll von Ihnen handeln. Das ist mein USP.»

Ich muss wohl ein ziemlich verständnisloses Gesicht gemacht haben, denn sie erklärt schnell:

«USP. Unique Selling Point. So habe ich meinem Verlag die Story verkauft. Das Buch soll zum dreißigsten Jahrestag erscheinen.»

«Ich möchte das nicht. Ich habe schon mal bei so einer Reportage mitgewirkt. Das …»

«Welche Reportage war das?», unterbricht sie mich.

Als ich es ihr sage, schnaubt sie verächtlich: