Ostbesuch - Klaus Rülke - E-Book

Ostbesuch E-Book

Klaus Rülke

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Beschreibung

Berlin, Juli 1990: Mauerabriss, Währungswechsel und Einheitstaumel prägen den Alltag der Menschen. Regina Renger, Jahre zuvor der Bigotterie des Ostens entflohen, durchlebt in dieser Zeit turbulenten Wandels ein Wechselbad der Gefühle. Als Sylvia Weber, ihre einstige Geliebte aus Ostberlin, die sie nichtsahnend sitzen ließ, überraschend vor ihrer Tür steht, gerät ihr Leben vollends aus den Fugen. Sylvias verblüffende Offerte, sich im Chaos dieser Tage an illegalen Devisentransfers zu bereichern, weist Regina brüsk zurück. Sie, erfolgreiche Designerin, die zugleich auf politischer Bühne glänzt, findet wenig Gefallen daran, ihren Ruf leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sofort droht Sylvia ihrer Ex, sie als Denunziantin bloß zu stellen, die vor der Flucht Regimekritiker an die Stasi verriet. Geschockt von der Dreistigkeit, setzt Regina Himmel und Hölle in Bewegung, um der boshaften Unterstellung die Stirn zu bieten. Unbedarft gerät sie in ein Labyrinth aus Hass, Rachsucht und Machtstreben, erkennt, auf welch riskantes Abenteuer sie sich einlässt. Allein erfolglos, ihren Ruf zu retten, empfiehlt ihr Herbert Sander, Freund und Geschäftspartner, fachkundigen Beistand. Sein Schwager Roland Schulz, wegen scharfer Kritik an den gewalttätigen Übergriffen des eigenen Apparats im Herbst '89 ausgemusterter Ost-Kriminalist, erklärt sich trotz Vorbehalt bereit, ihr zu helfen.

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Klaus Rülke

&

Marion B. Lange

Ostbesuch

Ein Wende – Roman

Autoren

Klaus Rülke, Jahrgang ‘48, studierte von 1966 bis 1971 Geschichte und Germanistik an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald, arbeitete anschließend als Journalist und ab 1981 im Bereich Öffentlichkeitsarbeit der Akademie der Künste, wechselte nach der Wiedervereinigung 1991 in die private Wirtschaft, lebt in Berlin und ist seit 2012 im Ruhestand.

Marion B. Lange, Jahrgang ‘56, studierte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Literaturwissenschaft am Institut „Johannes R. Becher“ der Karl-Marx-Universität Leipzig, arbeitete anschließend als Fachreferent am Leipziger Bezirkskabinett für Kultur.

1983 lernte sie Klaus Rülke kennen, übersiedelte nach Berlin, ist seit 1991 in der privaten Wirtschaft tätig – zuständig für Marketing und PR.

Copyright © 2019

Berlin Crime Edition

Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung

der Autoren veröffentlicht werden.

Umschlaggestaltung: Marion B. Lange

Typografie: Klaus Rülke

Printed in Germany

Buch

Regina Renger, die Ich-Erzählerin, erlebt eine Woche im Sommer 1990, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Aus heiterem Himmel in einen Sumpf aus Lüge, Hass und Rache gestoßen, ist sie genötigt, ohne Wenn und Aber über einen Teil ihres Lebens nachzudenken, den sie längst begraben glaubte.

Aufgewachsen im Berliner Osten, Anfang der Achtziger von einer Dienstreise in die BRD nicht zurückgekehrt, hat sie sich über die Jahre als Karriere-Frau in Westberlin etabliert.

Im Jahr der Währungsunion 1990, mitten im Trubel der Zeiten nach Mauerabriss und einem Alltag, der die Menschen noch immer im Einigungstaumel hält, wird die westdeutsche Regina Renger von ihrer ostdeutschen Vergangenheit eingeholt, als ihre einstige Geliebte Sylvia Weber, die sie damals nichtsahnend sitzen ließ, vor ihrer Tür steht und ihr vorschlägt, sich an illegalen Devisentransfers zu beteiligen. Sie lehnt die Offerte ab, will als erfolgreiche Designerin, die zugleich auf politischer Bühne glänzt, ihren Ruf nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Von Rachsucht und Existenzangst getrieben, reagiert Sylvia Weber auf die Ablehnung mit Erpressung, droht sie als Denunziantin zu entlarven, die vor ihrer Flucht Regimekritiker an die Stasi verriet. Damit zwingt sie Regina Renger, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um der intriganten Unterstellung die Stirn zu bieten.

Sie macht sich auf die Suche nach den Zusammenhängen, rollt ihr Leben und das anderer von vorne auf, tastet sich durch die verschiedenen Leben in Ost und West.

Als ihr bewusst wird, wie wenig sie von den Vorgängen in der zweiten Hälfte der Achtziger in der DDR wirklich weiß, vermittelt ihr Herbert Sander, Geschäftspartner und Freund, einen Kontakt zu seinem Cousin: Roland Schulz, wegen scharfer Kritik an den gewalttätigen Übergriffen des eigenen Apparats im Herbst ‘89 auf dem Abstellgleis stehender Ost-Kriminalist.

Gemeinsam gelingt es ihnen, den gordischen Knoten zu lösen.

Danke an alle, die uns halfen, aus einer launischen Idee heraus dieses Buch zu schreiben, die uns langmütig beistanden und stets ermutigten, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Und Dank an ‚Wikipedia‘ für das einfache Nachschlagen, wenn uns wirklich ein konkretes Datum mit seinen Geschehnissen entfallen war.

Akteure der Zeitgeschichte ausgenommen, sind alle Namen der Personen dieser fiktiven Geschichte frei erfunden. Für etwaige zufällige Ähnlichkeiten bitten wir um Nachsicht.

K.R. & M.B.L.

Prolog

‚Dreiunddreißig, echte Schnapszahl, man Alter…‘

Entzückt von seinem banalen Geistesblitz, starrte Patrick auf den Grabstein, als glaubte er tatsächlich, den Freund auf diese Weise wieder lebendig machen zu können. In Sekunden scheiterte sein alberner Versuch am schwindelerregenden Flimmern vor Augen.

Müsste mal rundum gereinigt werden, überlegte er ernüchtert und wischte mit der Hand über die schmutziggraue Patina, die mit jedem Regen wuchs.

Ein winziger Fleck Erde, in dem Tatendrang, Zuversicht und Träume vermoderten…

Patrick dankte Pfarrer Singer im Stillen, weil Marc, von dem es hieß, er habe sich selbst aus dem Rennen genommen, ohne dessen Engagement gewiss nicht einmal dieses Quäntchen Boden zugestanden worden wäre, mitten zwischen zwei alten Damen, die von seiner oft manischen Hilfsbereitschaft sicher verzückt gewesen wären.

Patrick hasste im Grunde den Ort, wo die Toten wohnten. Aber die ungesühnte Schuld an Marcs Tod, der, wie er felsenfest überzeugt war, nie freiwillig das Handtuch geworfen hätte, und seine chronische Traurigkeit, vom letzten Geleit für den besten Kumpel ausgeschlossen gewesen zu sein, trieben ihn ein ums andere Mal hierher.

Eilig zog er die verdorrten Nelken aus der Blechdose, deren verwittertes Etikett dem peniblen Betrachter sagte, dass sie einst als Behältnis für polnische Gewürzgurken diente, holte Wasser, stellte hellrote Rosen hinein und schob sie zurück vor den Sockel.

Gallebitter, als wäre es gestern gewesen, durchlebte er, wie fast jedes Mal, wenn er hier verweilte, in Gedanken den Morgen des milden Herbsttages Einundachtzig, an dem es früh kurz nach Sieben an der elterlichen Wohnungstür Sturm klingelte.

Zwei Männer, die eine Aura arroganter Seelenlosigkeit versprühten, stampften den Korridor entlang, schoben Mutter brutal beiseite, brüllten ihn rüde an, er sei vorläufig festgenommen. Noch bevor er fast seinen Kaffee verschüttete, klickten Handschellen.

Später, auf dem frisch gebohnerten Korridor der Stasi-Kreisdienststelle, fiel wie zufällig Marcs Name und er wusste auf der Stelle, dass die Freunde sein Los teilten.

‚Vorläufig!‘ Patrick verzog zornig das Gesicht, stopfte trotzig die Fäuste in die Taschen der bleichen, ausgewaschenen Jeans, die kurz über den Knien endete, ausgefranst, wo er sie abgeschnitten hatte.

Antisozialistische Hetze, Störung der geltenden Ordnung und Widerstand gegen die Staatsgewalt warf man ihnen vor! Nur weil sie die Nase davon voll hatten, sich auf Dauer mit folgenlosen Diskussionen abzufinden. Anders als Marc, einfältig wie er bisweilen sein konnte, lebte er ständig in Angst, dass Zweifeln, erstrecht evidenter Widerstand, die Stasi alarmierte. Aber obwohl er ahnte, was kommen würde, konnte er sich die Eile, mit der es letztlich passierte, nur durch Verrat erklären.

Amüsiert beäugte er den Spatz, der tschilpend auf dem Stein landete, um sein Geschäft zu verrichten.

Damals fühlten sie sich zum Proklamieren ihres Protestes berufen. Heute kreisten seine Gedanken allein darum, den Zuträger aufzuspüren, dem sie Jahre in der Hölle verdankten und der nach seiner Überzeugung die wahre Schuld an Marcs Tod trug.

Patrick lächelte böse.

Auch ohne siebten Sinn erkannte er während der endlosen Verhöre, dass der Stab längst über sie gebrochen war. Marcs Skizzen, Nicos Gedichte, seine Flyer-Texte, alle akribisch gesicherten Indizien, dienten ausnahmslos dem Zweck, Sympathisanten und Zweifler abzuschrecken. Ausgefuchst kappten die Schergen jeglichen Kontakt, um sie einzeln zu zermürben und als ihm einer der Verhörspezialisten im kahlen Raum mit dem kargen Holztisch hämisch grinsend an den Kopf warf, Marc hätte sich in seiner Zelle erhängt, flüsterte ihm seine leidvolle Erfahrung zu, dass es sich bei der neuerlichen, nächtlichen Attacke nur um einen weiteren fiesen Trick handelte, ihm seine Unterschrift unter das vorgefertigte Geständnis abzuluchsen.

Wütend riss Patrick verblühten Löwenzahn ab, der den Wegrand säumte.

Depressive Schuldgefühle und letale Reue unterstellte der Arsch. Lächerlich! Der kalte, verächtliche Klang der Stimme des Vernehmers, die unauslöschlich in seine grauen Zellen geätzt war, jagte ihm ein Frösteln über den Rücken.

Marc depressiv? Blödsinn! Impulsiv vielleicht!

Pedantisch maß er die Sonntagsreden der Parteioberen an seiner Wahrnehmung. Wo viele gleichgültig, manche zynisch wurden, packte ihn der beständige Zorn, der ihn trieb, sich unablässig gegen Barrieren zwischen Hirn und Zunge zu stemmen wie einst Don Quijote gegen Windmühlenflügel. ‚Es sei an der Zeit‘, forderte er oft ironisch, ‚dass endlich jemand eine Ästhetik der Heuchelei schreibe.‘

Das Warten auf den Prozess, die Gewissheit, für viele Jahre weggesperrt zu werden, hatten ihn zerfressen, seine Tage und Nächte verzehrt.

Er blies die Pusteblumen in der Hand an, als wollte er die Lichter auf Marcs Geburtstagstorte mit einem Atemstoß löschen. Von Wind und Thermik angetrieben, stoben die Sämlinge in sämtliche Richtungen. Nur drei schafften es gerade bis auf die glitzernde Wasseroberfläche der Regentonne neben dem Komposthaufen, für ihre natürliche Aufgabe verloren.

Sein schwarzes Shirt schien die Sonnenwärme regelrecht aufzusaugen. Er trat in den Schatten der hohen Pappeln, deren Blätter, von schwachem Luftzug bewegt, leise raschelten.

Tage vor der ersten Verhandlung durften Mutter und Pfarrer Singer ihn erstmals besuchen, mit ihm sprechen. Während jener Minuten erfuhr er, dass Marc tatsächlich erhängt in seiner Zelle aufgefunden worden war. Das ganze Gewicht seines Amtes hätte er in die Waagschale werfen müssen, meinte Singer, um ihn wenigstens halbwegs angemessen unter die Erde zu bringen. Patrick entsann sich, wie er auf dem Stuhl zusammengesunken war, nach Antwort flehend, weshalb sich eine Wahrheit zwischen tausenden Lügen verstecken durfte.

‚Ein Mensch ist erst tot, wenn niemand mehr an ihn denkt‘, zitierte Patrick stumm einen Satz von Klaus Mann und las am Zustand des Grabes, dass sich nur wenige an Marc erinnerten, selbst von den Weggefährten im Friedenskreis, in dem sie sich trafen, um Grundrechte einzufordern.

Nachdem er und Nico, von drei Haftjahren gezeichnet, entlassen worden waren, nie völlig unbeobachtet, fühlten sich Hinz und Kunz bemüßigt, ihn mit Tipps zu füttern, wer das Schwein gewesen wäre, dem sie Haft, Albträume und Tod verdankten. Handfeste Beweise blieben ihm all die Schwätzer schuldig.

Er dachte an die Akte im Auto und Werner Wilke, der im Januar dabei gewesen war, als Mielkes Festung fiel und der jetzt zu denen gehörte, die dessen Erbe verwalteten.

Im Hefter, den er tags zuvor von ihm in die Hand gedrückt bekommen hatte, fanden sich erste ernstzunehmende Hinweise auf den Teich, in dem der Hecht schwamm, den er sich seit dem Herbst ´89 sehnlichst am Haken wünschte.

Trotz Repression, trotz Haft, trotz Hass, war Patrick der Mauerfall nicht mehr als eine Pikkoloflasche Sekt wert gewesen. Er sah keinen Grund, die Vereinnahmung zu bejubeln. Ihm verlieh die jähe Wendung den Mut, abzurechnen, für geraubte Jahre, geraubte Chancen, geraubte Liebe.

Marc konnte im Grunde froh sein, dass er den intellektuellen wie materiellen Bankrott jenes Teils der Erde, der sich irreführend als sozialistisch bezeichnet hatte, nicht mehr zu erleben brauchte. Der Mund wäre ihm offen stehen geblieben angesichts der Inflation niedrigster Instinkte. Die blauäugige Menge, die jetzt getragen von populistischen Parolen mit fliegenden Fahnen vom Regen in die Traufe stürmte, hätte seinen Glauben an die Kraft der Vernunft seiner Gattung vollends zerstört, wäre die Stasi dem nicht Jahre zuvorgekommen.

‚Für uns unvergessen‘. Patrick musterte die goldglänzenden Ziffern auf dem Stein. *17.06.1957 – +31.10. 1981, teilten sie sachlich mit.

Gewiss, dass Marc, der mit seinen begnadeten Händen Steine in Kunstobjekte verwandeln konnte, für sich ein schöneres Stück geschaffen hätte, stellte er sich einmal mehr die bohrenden Fragen: ‚Warum hatte sich Marc fallen lassen wie der im Regenwasser ersoffene Sämling? Hatte er tatsächlich kapituliert oder half die Stasi mit Raffinesse nach? Hatten sie Angst, ihre schöne Show könnte im letzten Moment platzen wie eine Seifenblase, weil Marc durch die Ausstellung einiger seiner Arbeiten in der Kunstakademie unverhofft Aufmerksamkeit zuteilgeworden war?‘

Patrick schuldete es Marc, diese Sache zu Ende zu bringen. Er ging zurück zum Parkplatz, wo ihn ein frisierter Opel-Kadett erwartete, kleines Zugeständnis an die Zeitenwende.

‚Eine Sünde, die keinen Spaß macht, ist es nicht wert, begangen zu werden‘, erinnerte er sich vage und dachte, dass es sich mit der gelegentlichen Missachtung eigener Prinzipien wirklich leichter leben ließ.

Donnerstag 12. Juli 1990

1

Endlich Schluss! Die beinahe greifbare Stille auf dem Gang tat mir gut. Momente universeller Lautlosigkeit waren im Alltag so rar wie das Glück, ein Fünfmarkstück auf dem Trottoir zu finden.

Voskamp tickte nicht richtig. Idiot! Zwei Stunden sinnleeres Geschwafel. Kein Wunder, dass einem der Schädel brummte. Lobbyarbeit war angesagt, vor allem Resultate, wann und wie die Preziosen der insolventen Ostzone vermarktet würden, doch er quälte die Zuhörer mit seinem Potpourri aus flotten Sprüchen.

Der Hochmut, hinter dem er seine Hilflosigkeit verbarg, ging mir echt auf die Nerven. Fast wie etwas Osten im Westen. Wer konnte es da eloquenten Managern, Windhunden und Hasardeuren verdenken, dass sie auf eigene Faust loszogen.

Voskamp verspielte seine Autorität in Hundertern und merkte es nicht einmal. Er war weiß Gott nicht der einzige, den der Einheitseifer überforderte, aber von ihm erwartete die Berliner Wirtschaftselite halt mehr.

Die Wut auf Voskamp und der Fahrstuhl reichten, um meinen winzigen Glücksmoment zu beerdigen.

Beunruhigt lauschte ich.

Die Stahlseile, an denen die Kabine im Schacht hinaufkroch, knarrten bizarr.

Die Angst verursachte garstiges Kribbeln im Bauch. Ich verabscheute das Ludwig-Erhard-Haus, Sitz der Berliner IHK. Säle unterm Dachgarten! Jede Veranstaltung ein Horrortrip.

Ich mochte nicht hoch hinaus, zumindest nicht in Metern und so entlockte mir der geniale Einfall, den akustischen Smog fader Reden durch entzückenden Panoramablick zum Erlebnis zu machen, bestenfalls ironische Distanz.

In respektvollem Abstand zum Fenster am Ende des Flurs, wanderte ich mit den Augen über die triste Fassade des Nachbarhauses und wünschte mir insgeheim ein Rückgaberecht für versaute Tage.

Den lieben langen Tag hatten mich Termine über einen Flickenteppich aus teils lästigen, teils erfolglosen Gesprächen gejagt und die schwüle Luft, die seit dem Morgen in jeden Winkel sickerte, terrorisierte meinen Kreislauf. Und so fand ich, dass ein entspannendes Bad, ein kühler Drink und ein unbeschwerter Abend mit Corinna als Entschädigung für die Strapazen nicht zu viel verlangt wären.

Unruhig sah ich zur Uhr über der Fahrstuhltür, die den Chronometern auf Bahnhöfen entsetzlich ähnelte. Kurz vor Sechs.

Das Rucken ihrer Zeiger klackte in der Stille, als zöge man einen Korken aus dem Flaschenhals.

Ich musterte den moosgrünen Teppichboden, der neu verlegt worden war und perfekt zur Mahagoni-Farbe der Wandverkleidung passte, um dann wieder den roten Pfeil ins Visier zu nehmen, der bewies, dass sich die Kiste im Schacht wirklich bewegte.

Die Glocken der nahen Gedächtniskirche klangen in meinen Ohren, als wollten sie Voskamps Abdankung einläuten… Seine peinliche Pirouette auf sehr dünnem Eis schrie förmlich nach Disqualifikation. Konsequent zu Ende gedacht, beförderte die Feststellung aber eher meinen Wankelmut, als meinen Ehrgeiz, Flagge zu zeigen.

Im kleinen Kreis damit zu kokettieren, ihn bei der im Herbst anstehenden Wahl vom Thron zu kicken, war eins, bei Lichte besehen, die Finger davon zu lassen, das andere. Immerhin wusste ich als einer von drei „Vizes“ nur zu gut, wie viel wertvolle Zeit bei kaum messbarer Anerkennung das Ehrenamt kostete.

Als ich die Kabine betrat, perlte kalter Schweiß auf meiner Stirn. Ich kämpfte gegen die Panikattacke. Doch gegen die triefende Luft im Innern, die man in Becher hätte abfüllen können, war ich machtlos.

Klaustrophobie? Das fehlte mir noch…. Ich war gerade Zweiundvierzig!

Fatalistisch interpretierte ich den verblüffenden Anfall als lästiges Omen des Klimakteriums. In letzter Sekunde zwängte sich Steinkirch durch die Tür. Mir blieb keine andere Wahl, als ihm in dem widerwärtigen Käfigetwas Platz zu lassen.

„Frau Renger?“ schnaufte er atemlos. „Ich nahm an, sie wären längst über alle Berge. Ganz schwache Kür eben, ha?“

Irritiert rätselte ich, woher er kam, während er ähnlich einem Fisch auf dem Trockenen nach dem raren Sauerstoff schnappte. Sein hektisches Getue erreichte mich gedämpft, als stünde eine Wand aus Watte zwischen uns. Trotz leichter Erholung verharrte ungesunde Röte auf seinem Gesicht, weil ihn die Krawatte unter dem Kragen des pflaumefarbenen Oberhemds sichtlich im Schwitzkasten hielt. Das Gefühl, er könnte jeden Moment einen Infarkt erleiden, flößte mir Furcht ein.

„Höchste Zeit, dass die Karten neu gemischt werden“, stellte er fest.

Die spiegelnden Gläser seiner randlosen Brille verhinderten Sichtkontakt. Ich konnte nicht ausstehen, wenn man mir vorenthielt, wie oder wo man mich ansah.

Die Platzangst schien mich zu erdrücken, deshalb nestelte ich mit der rechten Hand am zweiten Blusenknopf und öffnete ihn. Wunschgemäß bewegte er seinen Kopf, um einen Blick auf die gebräunte Haut knapp über meinem Busen zu erhaschen. Steinkirchs Haaransatz war beiderseits einer dünnen Mittelsträhne tief ausgeschnitten und in seinem bräunlichen Haar entdeckte ich kein Grau, was ich bei einem Mittfünfziger seltsam fand, falls er nicht heimlich färbte.

„Voskamps Lethargie treibt die Mitglieder langsam aber sicher in den Wahnsinn“, jammerte er. „Wäre besser, er nähme endlich seinen Hut.“

Was redete der nur unaufhörlich? Verstimmt überlegte ich, was er sich von seinem Geschwafel erhoffte. Von der Hand, mit der er seinen Aktenkoffer hielt, reflektierte etwas störend das Kunstlicht der Leuchtstoffröhren.

„Reden Sie mit ihm. Überzeugen Sie ihn, im Herbst zu verzichten. Sie können nur gewinnen.“

Sein schmieriger Rat, artikuliert mit dem Charme eines Pinschers, drehte mir den Magen um. Hoffte er, aufzusteigen? Weder sein grauer Maßanzug, Versace-Plagiat, noch der witzigste Abzählreim konnten mich bewegen, diese Null zu protegieren. Der Unmut über seine Attitüde löste meine Beklemmung.

„Wieso sollte ich? Ich bin nicht scharf auf Voskamps Sessel“, erwiderte ich verächtlich. „Und bis Herbst fließt noch viel Wasser die Spree runter.“

„Aber Frau Renger! Wir wissen doch alle…“

„Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken“, fiel ich ihm ins Wort. „Statt zur Unzeit Postenschach zu spielen, wären wir gut beraten, die Dinge drüben in unserm Sinn voranzutreiben.“ Um mich nicht in Rage zu reden, hielt ich kurz inne und fügte dann bissig hinzu: „Seit der Wahl im März ist der Untergang des Ostens besiegelt und was tun wir? Uns in unnützem Palaver ersäufen!“

„Ich meine ja nur ...“, brach er entmutigt ab.

„Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie es einfach.“

Aalglatter Opportunismus, der sich mit der Pragmatik schlichten Geistes paarte, andere Vorzüge hatte ich an ihm bisher nicht entdeckt. Ein klebriger Typ mit dem berühmten magischen Sinn fürs rechte Rudel. Zum Glück hielt der Aufzug endlich am Ausgang zur Tiefgarage.

„Schönen Abend noch.“ Ich ließ Steinkirch stehen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen und eilte zu meinem nachtblauen Jaguar.

Die Mappe, die ich unter dem linken Arm trug, verfrachtete ich in den Fond, Handtasche und Aktenkoffer auf den Beifahrersitz. Ich zog die Kostümjacke aus, stieg ein und schloss satt klappend die Tür.

Aufatmend streifte ich die Pumps ab. Meine Zehen sehnten sich nach Massage.

Dieser Widerling konnte mich mal… Ich brauchte keinen Animateur.

Glaubte der wirklich, mir eine Fehde mit Voskamp aufschwatzen zu können? Woher verdammt wusste der armselige Wicht überhaupt, dass ich zu kandidieren erwog? Streute man Gerüchte, um mich in Zugzwang zu bringen?

Einheit und Mittelstand. Strategie war, wie die desaströse Veranstaltung eben bewies, für Voskamp ein Fremdwort, Dickfelligkeit seine zweite Natur.

Der dachte nicht im Traum daran, seinen Platz zu räumen. Wenn meine Absichten inzwischen bis zu Steinkirch vorgedrungen waren, feilte der bestimmt längst fleißig an einer Art Dolchstoßlegende. Ich vergaß durchaus nicht, was ich mir bei ihm alles abgeguckt hatte im Taktieren und Mehrheitsarithmetik. Wenn er aber im Gegenzug glühende Verehrung erwartete, war er auf dem Holzweg. Während er in Altersstarrsinn und blinder Routine gefangen war und zwischen überzogenem Anspruch und kleinkariertem Handeln schwankte, verschoben sich vor unserer Haustür sämtliche Koordinaten.

Bliebe ich jetzt, wo Anpacken gefragt war, ohne Mucks hinter ihm, würde mir das Hämatome eintragen, die sehr schlecht aussahen, falls ich mich entschied, gegen ihn anzutreten.

Ich schlüpfte in flache Sportschuhe, warf die Pumps achtlos auf den anthrazitfarbenen Bodenbelag vor dem Beifahrersitz.

Entgegen aller Gewohnheit trat ich beim Anfahren unkontrolliert aufs Gas. Der Motor wieherte wie ein scheuender Hengst in der Startbox zum deutschen Derby. Der Hall in der Tiefgarage verstärkte das ungesunde Quietschen der Vorderreifen, was mich auf der Stelle zur Vernunft brachte.

Bleib ruhig!

Ich grinste, als ich an Steinkirch vorbeisauste und beobachtete, wie er mit verdatterter Miene neben seinem Mercedes zur Salzsäule erstarrte.

Angeekelt streifte mein Blick die Kippen im Aschenbecher und eine verbeulte Reval-Schachtel, die sich in der Ablage hinter dem Automatikhebel aalte. Herbert, der mich gestern zum Kaffee mit einer Brigitte-Redakteurin begleitet hatte, konnte nirgendwo anwesend sein, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ich spürte, dass mir der unappetitliche Wortwechsel mit Steinkirch einen Kick versetzte.

Den Wirtschaftssenator zu bezirzen, war sicher nicht einfach, doch ich musste es versuchen. Glucksend entschlüpfte mir ein verächtlicher Lacher.

Vor seinem fesselnden Auftritt hatte mir Voskamp zugeflüstert, Winter wäre auserkoren, nach der Abgeordnetenhauswahl im Dezember in die Treuhand zu wechseln, in dieses unvergleichliche, im Aufbau befindliche Amt, das künftig als Bundesbehörde östliches Staatseigentum verscherbeln sollte. Spontan fiel mir BEDAMO ein: Das Studio Berliner Damenmoden, das drüben vorwiegend für den gehobenen Bedarf werkelte.

Falls Voskamps Gerücht stimmte, sollte ich bei ihm Interesse für den Laden anmelden. Die Räume in einem alten Fabrikhof an der Prenzlauer Allee, ließen sich vielseitig nutzen und Investitionen sollten demnächst spendabel gefördert werden.

Das fremde Wesen im Kalkül der Wahlkampfmanager aller Parteien war das östliche Wahlvolk und wie es nach fünfundvierzig Jahren Abstinenz von freien Wahlen tickte. Wie viel irreparablen Schaden würde der seit einem Monat von Momper und Swierczina geführte Magistrat/Senat, von den Berlinern nur ‚Maggi-Senat‘ genannt, bis Dezember noch anrichten? Welchen Anteil würde die alte SED-Garde einfahren? Mein Nahziel blieb jedenfalls klar: Unsere zuletzt vor der fünf Prozent Hürde gestürzte FDP musste sich um jeden Preis wieder aufrappeln, damit klare bürgerlich-liberale Mehrheiten in dieser wilden Stadt den Ton setzten.

Ich kannte die Allüren der Männerfront inzwischen hinlänglich. Einer heimlichen Bruderschaft gleich, würfelten sie Posten in Hinterzimmern aus, in denen ich nicht saß, weil mir schales Bier nicht schmeckte und sie es gern allein tranken. Fähige Bewerberinnen hatten es schwer. Sie mussten scharf kalkulieren, wann sie wofür die Trommel rührten.

Ich kurvte um den Theodor-Heuss-Platz in Richtung Spandau. Der Fahrzeugstrom war inzwischen auf eine Frequenz abgeklungen, die keine ungeteilte Aufmerksamkeit mehr erforderte. Über den Schaufenstern der Boutique an der Einmündung zur Reichsstraße leuchtete mein pinkfarbenes ‚RR‘. Ein Anblick, der meine Stimmung kurzzeitig aufhellte.

Die rote Ampel am verrotteten S-Bahnhof Heerstraße zwang mich zum Halten. Ich klappte die Sonnenblende herunter. Kritisch sah ich im Spiegel mein Gesicht an. Meine Laune sank zurück auf den Nullpunkt. So alt, wie ich aussah, konnte ich gar nicht werden.

Meine Augen zeigten deutliche Spuren der Ermüdung, weil ich die Brille eitel in der Handtasche versteckte. Die Kopfschmerzen übertrafen sich an Hartnäckigkeit und das Anlehnen an die Kopfstütze hatte mir die Nackenlocken plattgedrückt. Ich wischte mir mit der Rechten einige Fusselhaare aus der Stirn, ich brauchte dringend meine Friseuse und zwar eher, als den Termin mit dem Senator!

Ich nahm den Fuß von der Bremse und gab Gas.

Der Rockbund drückte. Ich verstand die Welt nicht. Das kittfarbene Leinenkostüm, das ich trug, hatte ich selbst entworfen und nach Maß anfertigen lassen. Mir kräuselte sich leichter Schweißgeruch in die Nase, der meiner Bluse anhaftete. Die Leistung meines Deos schien seinen Preis ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Mein sehnlicher Wunsch, rasch in legere Kleidung zu kommen, verleitete mich fast, in eine Radarfalle zu tappen. Vor der Frey-Brücke stauten sich die Autos auf der Heerstraße.

Mist! Während der Schleichfahrt, im stinkigen Zweitakternebel, beobachtete ich abwesend Segelboote, die trotz Nieselregens lautlos über das wellige Wasser glitten. Die erbärmliche Luft, die man auswringen konnte, machte mich fertig. Ich zupfte mir die Clips von den Ohrläppchen und warf sie achtlos auf den Beifahrersitz. Weshalb kollidierten Schönsein und Wohlgefühl bloß ständig?

Wenige hundert Meter vorm Ziel, stockte der Verkehr erneut.

Viel war nicht übrig geblieben von der Idylle am Havelufer namens Kladow, die mich nach der Rückkehr aus Hamburg gereizt hatte, dort mein Quartier aufzuschlagen. Quasi über Nacht lebte ich in einem Vorort Potsdams. Winds of Change, der in Musik geronnene Zeitgeist, erscholl aus dem Radio.

Besonders glücklich machte mich der rasante Weltenwandel in den letzten Monaten nicht. Die Nachrichten überschlugen sich, Loopingschaukeln gleich, und meine Puste reichte bei Weitem nicht, alles Wichtige mitzubekommen. Am meisten grämte mich jedoch, dass der Einheitsrummel meinem Schicksal die Spezifik raubte. Ich hatte dem Osten vor fast neun Jahren mit nichts weiter als den Händen in den Taschen Ade gesagt.

Als ich mich vom unter Eigenlob dahinfaulenden Sozialismus abwandte, wirbelte das, anders als bei Manne Krug, Nina Hagen und anderen, kein Staubkorn auf. Ich kam als Nobody, verantwortlich für Kultur und Lifestyle beim Magazin. Wer kannte diesseits der Mauer schon Klemkes Kater und die Aktfotos, die unser Heft drüben an jedem Kiosk zur Bückware machten? Selbstbewusst, zugleich naiv beseelt von Gutgläubigkeit, hatte ich mich schnell unbekannten, subtilen Spielarten individueller Konkurrenz gegenübergesehen.

Keine Flucht, keine Opfer, kein Risiko? Alles, wofür ich weiß Gott nicht zu knapp Lehrgeld bezahlt hatte, sollte demnächst denjenigen, denen ich entkommen zu sein hoffte, in den Schoß fallen? Wenn einem da nicht das Lachen verging! Zornig dachte ich ans Tauschgerangel im Frühjahr. Zwei zu Eins. Das musste man sich auf der Zunge zergehen lassen... Selbst alberne ‚Forumchecks‘ waren vier oder gar fünf zu eins in West gewechselt worden.

Nach Weihnachten hatte ich beinahe schadenfroh verfolgt, wie die freudige Verbrüderung ziemlich abrupt abebbte. Millionen Wirtschaftsflüchtlinge blieben für kein Land folgenlos. Im Gegensatz zu Voskamp und anderen schienen die ehemaligen Parteikader erheblich fitter zu erkennen, dass es kaum eine bessere Chance gab, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen als die Insolvenz eines Staatswesens.

Der Jaguar wippte heftig, zum Glück ohne aufzusetzen, während ich mürrisch durchs Tor auf das Grundstück fuhr. Vorsichtig bugsierte ich den Wagen in die Garage. Im Gang zwischen Garage und Haus fiel muffige Kühle über mich her. Obwohl ich die Jacke wieder übergezogen hatte, weil mir sonst eine Hand zum Tragen gefehlt hätte, bekam ich Gänsehaut auf den Unterarmen.

Wieso standen hier unten Wischeimer samt nasser Lappen? Angeekelt vom stockigen Geruch nahm ich mir vor, Johanna höflich zu bitten, den Krempel an einem luftigeren Platz abzustellen.

2

Umständlich öffnete ich die schmale Tür oberhalb der Treppe und trat in die Diele.

„Johanna? Corinna?“ blökte ich schlecht gelaunt.

Beladen wie ein Maulesel wartete ich regungslos auf Antwort. Vergebens. Kein Ton.

Blöd! Johanna wartete doch sonst, bis ich kam.

Mich drückte die Blase. Ich warf den Ballast ab, ohne drauf zu achten, wohin was fiel, stützte mich auf die kleine Kommode und streifte die Sportschuhe mit den Zehen über die Hacken. Derweil die Schuhe wie aufgezogen übers Parkett purzelten, legte ich Uhr und Clips akkurat in die Teakholzschale unterm Spiegel.

Unter dem angekippten Küchenfenster, beschwert mit Salatschüssel, flatterte Johannas Entschuldigungszettel in der Zugluft.

Ihre Schwester wäre zu Besuch gekommen, schrieb sie, um anschließend lang und breit aufzuzählen, was sich wo vorbereitet im Kühlschrank befand. Johannas zügellose Fürsorge brachte mich gelegentlich auf die Palme und verlangte mir lästige Disziplin ab, die ich liebend gern vermieden hätte. Doch ihre Generation sah im allgegenwärtigen Diätgesäusel nichts anderes als einen üblen Verkaufstick.

Während ich ihre Zeilen überflog, presste ich verspannt die Schenkel zusammen und wippte von einem Bein aufs andere.

Endlich sauste ich die Treppe hinauf, warf die Jacke übers Geländer und rannte zur Toilette.

Aufatmend betrat ich das Schlafzimmer. Nun aber raus aus der Kledage...! Selbst entworfene Fetzen, maßgefertigt und der Bund drückte! Hatte ich mich wohl ein bisschen vertan! Oder zugenommen???

Ich griff einen Joggingdress aus dem Schrank und führte einen Strip auf, für den niemand eine müde Mark lockergemacht hätte. Kümmerte mich nicht. Die Welt endlich aus einer bequemeren Perspektive betrachten zu dürfen, wog alles Gut der Welt auf.

Die Initialen von Calvin Klein auf dem Oberteil vor Augen, befiel mich der ulkige Einfall, von ihm Werbekosten zu verlangen, wenn ich schon seine Klamotten trug. Ich träumte von einer Duftserie, die ich gern auf den Markt gebracht hätte. Eine Idee, die mit seinen Dollars ordentlich Rendite abgeworfen hätte. Zurück in der Realität, fand ich mich damit ab, dass nie alles und obendrein gleichzeitig machbar war. Mir blieb derzeit kein Taler, um im Branchentrend mitzuschwimmen.

Verkrampft brach ich mir fast die Finger, um meine Kette loszuwerden. Ihren Verschluss endlich geöffnet, zog ich die Ringe von den Fingern, tat alles in die Schatulle, warf den Rock aufs Bett und die Dessous im Badezimmer zur Schmutzwäsche.

Spieglein, Spieglein… Ich befeuchtete mit der Zunge die trockenen Lippen. Je länger ich die Krähenfüßchen in den Augenwinkeln beäugte, umso infamer drängten sie sich auf. Zuweilen übermotiviert reinigte ich mein Gesicht und nahm das Ergebnis stoisch zur Kenntnis.

Ehrgeiz, Trubel, Jagd nach Erfolg? War das nicht viel zu teuer bezahlte Selbstverwirklichung?

Ich verachtete Sinnfragen, die wie ungebetener Besuch hereinplatzten und sich penetrant vor der Verabschiedung drückten. Säuerlich stieß mir die dünne Höflichkeit auf, die sich zunehmend in enthusiastische Komplimente mischte. Und das, obwohl ich mich inzwischen an fast jede im Beauty-Dschungel wuchernde Liane klammerte.

Was hatte es gebracht? Nichts!

Am liebsten hätte ich wütend losgeheult, weil mir die Vernunft des Augenblicks nicht einmal den winzigsten Selbstbetrug gönnte.

Ich fuhr mit der flachen Hand unters Shirt und betastete die Bauchdecke. Die blöden Pölsterchen, die sich boshaft ansetzten, wo man sie am wenigsten mochte, gaben mir den Rest.

Fünf Kilo die Woche abnehmen... Vielleicht erfanden sie ja demnächst eine Diät, die nach zwei Tagen unsichtbar machte. Verärgert sah ich den Schund vor mir, der täglich den Schreibtisch blockierte.

Der Jugendwahn trieb kuriose Blüten. Einerseits unkten selbstgerechte Ratgeber beharrlich, dass über vierzig die Strahlkraft erlosch und andererseits predigten sie verlogene Tipps, wie man älter würde, ohne alt auszusehen.

Wieder unten, hob ich die Jacke vom Boden auf und hängte sie an die Garderobe in der Diele.

Ich schaute, ob meine Lieblingskassette im Rekorder steckte, dann lümmelte ich mich, einen Bourbon neben mir, auf die hellbraune Ledercouch mitten im Raum, vor der ein Glastisch auf verchromten Füßen stand.

Abrupt brandete Melissa Etheridge’s Stimme durch den Raum, die Like The Way I Do sang. Von ihrem Timbre verzaubert, hoffte ich, endlich abschalten zu können.

Pustekuchen.

Während sich der erste Schluck seidig seinen Weg bahnte, jagte ein Tsunami auf mich zu.

Ich hasste es wie die Pest, diesem Lampenfieber ausgeliefert zu sein, das mich mit steigender Intensität heimsuchte, bis sich der erste Vorhang für die neue Kollektion hob.

Ich drehte mich auf den Bauch und kämpfte gegen den gefühlten Verdacht, Zeit und Taler könnten nicht reichen, um dem Ersaufen zu entrinnen. Ich gehörte zu den ersten, die demnächst ihre Kreationen für den kommenden Sommer den Kritikern zum Fraß vorwarfen. Der ungeahnte Einsturz aller Barrieren hatte mich wie viele Kreative auf der einstigen Insel beflügelt.

Ich wollte die in den Achtzigern ruinierte Szene mit Glamour befeuern und dem Ziel näherkommen, einen Platz in der Galerie zu ergattern.

Ich bremste meinen durch Whisky beflügelten Übermut. Wo zum Teufel trieb sich eigentlich Corinna rum?

Das Lämpchen am Telefon, das Anrufe in Abwesenheit signalisierte, blinkte.

Ich stoppte die Musik und drückte die Abhörtaste.

„Ja, hm, hallo Frau Renger. Ludwig. Ich wollte nur erinnern, die letzte Vorstandssitzung vor der Sommerpause, nächsten Dienstag…“

Sein Kauderwelsch im Ohr, fiel mir siedend heiß ein, dass Ludwig die Herren Jäger und Zapf sowie meine Wenigkeit dringlich gebeten hatte, die Ostberliner Liberalen zu kontaktieren, weil der Bundesvorstand meinte, wir sollten uns mit den maskierten Kommunisten vereinen, damit eine heillose Zersplitterung der Parteienlandschaft vermieden würde.

Dass nach der Fusion, die nächsten Monat auf einem Sonderparteitag in Hannover beschlossen werden sollte, Mitgliederzuwachs, wichtiger noch Vermögenszuwachs erwartet wurde, hörte man nur hinter vorgehaltener Hand. In meinem Ortsverband war mir viel Verärgerung über die zweifelhaften Pläne zu Gehör gebracht worden. Argwöhnisch verfolgte ich daher die gereizten Diskussionen, wer sich drüben, abseitig des alltäglichen Einheitsrausches, welche Posten zuschob.

Namenlose stürmten in den siebten Polithimmel wie Popstars und Grüppchen, von denen keiner wusste, was sie wirklich wollten, und schossen wie Pilze aus dem Boden. Schwierig, in dieser Grauzone die Übersicht zu behalten.

„Hi, Regina. Ich bin zu Hause, bin mies drauf. Ruf an, wenn ich noch kommen soll. Tschüss.“

Dummes Ei! Wieso zu Hause?

Natürlich sollte sie hier sein sollte! Ein freudloser Abend nach einem verschwendeten Tag fehlte mir gerade noch. Ich entschloss mich, ein Bad zu nehmen und sie anschließend anzurufen.

Es war schon seltsam, welch skurrile Streiche sich das Leben ausdachte. Corinna hatte mein allzu lang dem Ehrgeiz geopfertes Verlangen wiedererweckt und der seelischen Balance gutgetan.

Verträumt legte ich Oberteil und Hose auf den Hocker neben der Duschkabine und stieg in die marmorverkleidete, im Fußboden eingelassene Wanne.

Im handwarmen Wasser empfand ich erstmals an diesem Tag leises Wohlbehagen.

Als wäre es wenige Tage zuvor geschehen, entsann ich mich, wie Corinna Renz an einem trüben Tag im Januar vor meinem Schreibtisch saß. Weg wollte sie, raus aus ihrem Job bei Exquisit, wo sie Damenoberbekleidung verkaufte, und zwar bevor nur noch das ‚Ex‘ an die Läden erinnerte. Ich fand sie patent und sah ihr an, dass sie mit ihren dreiundzwanzig Lenzen den nötigen Mumm mitbrachte, etwas aus sich zu machen. Keine halbe Stunde hatte es gedauert, bis wir uns einig gewesen waren. Die größeren Sorgen bereitete mir, ihre Anstellung rechtskonform zu besiegeln, weil das Wort Lohnsteuerkarte in ihren Ohren noch ein Fremdwort war.

Mit einer linkischen Geste strich ich mir die Haare hinters Ohr. Besorgt befühlte ich die feuchten Nackenlocken. Wieso hatte ich die Badekappe vergessen? Die Strafe folgte spätestens morgen früh.

Corinnas verborgene Neigung erkannte ich erst Wochen später, wie so oft, wenn Beziehungskram ins Spiel kam.

Die alte Amberg, Frau von Amberg bitte, machte Barbara die Hölle heiß, wegen winziger Korrekturen am Abendkleid, in dem sie Ende März einen Wohltätigkeitsball eröffnen wollte.

Just im Moment, als ich mich ihren Wehwehchen zuwenden wollte, blieb ich mit den Augen an Corinna hängen, die ihren Arm um Liane legte.

In der Zeit eines Wimpernschlags, meinte ich zu erkennen, dass sie die Verkäuferin zärtlich, eben mehr als befreundet, streichelte. Seit dem Moment bedrängte mich obzessiv der Wunsch, auch so von ihr gestreichelt zu werden.

Klatsch wäre Weibersache, hieß es immer. Irrtum!

Herbert Sander, einer der wenigen Männer in unserer Weiberbude, hörte mehr Flöhe husten als der Rest der Weiberschar. Zu erfahren, ob mein Traum Chancen besaß und Corinnas Vorlieben meinen ähnelten, fiel mir daher nicht schwer.

In einer ruhigen Minute hatte ich mir Herbert beiseite genommen, um ihn auszuquetschen.

Leider kannte er mich viel zu gut und erahnte auf Anhieb das Motiv meiner Neugier. Tief im Ego verletzt, erzählte er mir von einer zufälligen Kaffeehausbegegnung. Seiner Darstellung zufolge hatte ihn die Knutscherei der beiden auf die fatale Idee einer Ménage á trois gebracht.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie er sich gefühlt haben musste, als ihn die zwei samt seiner obszönen Fantasie zum Teufel jagten.

Gleichwohl ich nun ziemlich genau wusste, woran ich war, hatte Herberts Eingeständnis meine Laune nicht wirklich gehoben.

Ich stieg aus der Wanne, zog das Badetuch von der Stange und trocknete mich ab. Wie oft ich hier stand, verschüttet unter Fragen, auf die ich keine Antwort fand, wusste ich längst nicht mehr.

Alles, was ich mir ausdachte, verwarf ich ebenso rasch. In lichten Momenten war mir klar gewesen, dass ich auf diesem Parcours nur stürzen konnte. Selbst die nichtswürdige Idee, sie mit Präsenten zum Springen zu bewegen, war mir nicht zu blöd vorgekommen. Wer wollte, konnte sich jede x-beliebige Nummer kaufen, keine Frage. Ich jedoch wollte etwas von ihr, wofür ich in ihren Augen womöglich das Verfallsdatum längst überschritten hatte.

Als der Kurierdienst Ende April erste fertige Muster anlieferte, war ich aufgekratzt herumgerannt und hatte mir gedacht, dass dies auch ein guter Tag wäre, um endlich meine Seelenqual loszuwerden.

Gespannt auf den tatsächlichen Effekt meiner Geistesblitze, hatte ich Corinna zu mir gebeten, weil vier Augen mehr sahen als zwei.

Anschließend hatte ich mir ein Herz gefasst und sie zu einem Glas Wein eingeladen. Der Abend war lau wie selten im April. Er gestattete uns, bei Paolo am Kreuzberg im Freien zu sitzen.

Wenn ich mich an diesen Abend erinnerte, fiel mir unweigerlich ein, was Karl Krauss mal aufgeschrieben hatte: ‚Die Menschheit zerfällt in zwei Hälften, in eine, die sich falsch ausdrückt und die andere, die es missversteht.‘

Nach dem dritten Roten und entsprechend ein wenig fatalistisch gestimmt, offenbarte ich mich ihr unverblümt, während sie damit herausrückte, dass sie insgeheim befürchtete, wegen der Verkäuferin gefeuert zu werden. Als wäre es lange so verabredet gewesen, fuhren wir zu mir. Zärtlich wie das erste milde Lüftchen, das von der Havel herüber wehte und mit den jungen Birkenblättchen spielte, war sie mit mir umgegangen. Ihre Aura hatte mich verzaubert und ich bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der sie mir alle Unsicherheit wie die Kleidung abstreifte.

Ich bürstete meine Locken, gab mir Mühe, die gestresste Haut mit Vitamincreme zu tarnen und lackierte die Nägel passend zur Tönung der Haare, die Kupfer mit leichter Beimischung von dunklem Gold schimmerten. Dann schlüpfte ich in das sandfarbene Hauskleid.

Nach zu langer Abstinenz und Eigenbrötelei hatte ich mich schnell an den Zaubertrank gewöhnt, der himmlische Nächte verhieß.

Vorsichtig stieg ich in den rutschigen Pantoffeln die Stufen zum Wohnzimmer hinunter, als würde ich eine Showtreppe hinab schreiten.

Nachdem ich die Neige Bourbon ausgetrunken hatte, griff ich zum Telefon, um Corinna anzurufen. Während ich wählte, ertönte der Tür-Gong. Ich war mir sicher, dass sie Telepathie nicht beherrschte. Das sanfte Geläut nervte. Ärgerlich legte ich wieder auf.

3

„Ruhe!“ keifte ich in den Hörer und bedauerte, dem Vertreter der Sicherheitsfirma mehrfach einen Korb gegeben zu haben, der mir nur zu gern Kameras für die Straßenfront des Grundstücks aufgeschwatzt hätte. Fuchsig über meinen unnötigen Geiz, rannte ich in die Diele.

„Ja bitte?“ erkundigte ich mich feindselig.

„Sylvia…“, meldete sich eine zuckersüße, etwas zittrige Frauenstimme.

„Ich kaufe nichts“, blaffte ich im Ton, in dem man für gewöhnlich lästige Klinkenputzer abwimmelte.

‚Sylvia‘? Verstört beäugte ich den weißen Plastikkasten, in dem der Lautsprecher verborgen war.

„Mach bitte auf, Regina“, bettelte die Stimme fahrig.

Völlig durch den Wind drückte ich den roten Knopf dermaßen hart, dass mir um ein Haar der kostbare Fingernagel abgebrochen wäre.

Ich trat ins Freie und atmete die feuchte, nach brackigem Havelwasser riechende Luft ein. Auf den Wegeplatten hörte ich Absätze klacken. Die Frau, die auf mich zukam, trug ein taubenblaues Kostüm, war in meinem Alter, wenig größer als ich, schlank. Mit jedem Schritt, den sie sich näherte, zertrat sie einen winzigen Hoffnungsfunken, von der eigenen Fantasie genarrt zu werden. Ich sah die hellblonden Haare, das schmale Gesicht, die markanten Wangenknochen, erkannte den Gang. Es war wirklich Sylvia.

In meinem Bauch rumorte es, weil mir nicht einfiel, wie ich es fertigbrächte, mich in Luft aufzulösen.

Sprachlos starrte ich sie an. Spukte es vor Sonnenuntergang? Gab es sie doch, die paranormalen Phänomene? Ich fühlte mich wie eine Urenkelin des Zauberlehrlings.

„Hi, Reggie.“

Die Natürlichkeit, mit der sie ungeniert meinen uralten Kosenamen benutzte, versetzte mir einen Florettstich, und die Intimität ihrer Stimme verwirrte mich.

Augenblicklich glaubte ich durch die Zeit zu fliegen, zurück in jene Nacht, als der Wall zwischen den Welten quer durch die Stadt unter dem Ansturm der meuternden Gefangenen von Osten her zerbarst. Ich teilte den überschäumenden Freudentaumel überall um mich herum nicht. Im Gegenteil. Ich fühlte mich elend im unaufhörlichem Gejohle und sah mich schutzlos dem Zugriff des alten Spuks ausgeliefert.

Jeder Monat danach ohne dunkle Wölkchen, ohne bedrohliche Wellen, nährte meine Einbildung, das ungute Gefühl dieser Nacht wäre eine reine Kopfgeburt gewesen. Denkste! Chaotisch wirbelten Bilder durch meinen Kopf, die aus Abgründen aufstiegen, denen ich seit Jahren auswich, wie erfahrene Kapitäne dem Bermudadreieck.

Wieso kam sie jetzt? Die Illusionen, die wie Papierschiffchen auf den Freudentränen des vorjährigen Herbstes schwammen, waren längst im Sturm der Wirklichkeit gekentert und bei vielen erwachte inzwischen eine Ahnung, wohin die Reise ging.

Selbst Jahre nach den der Trennung war ich mir sicher, sie noch gut genug zu kennen, um zu wissen, dass sie nicht einer rührseligen Laune folgend antanzte.

Was wollte sie? Geld? Job? Rache?

Ihr Klingeln warf mich mehr aus der Bahn, als ich bereit war, mir einzugestehen.

„Was willst Du?“ empfing ich sie gereizt.

„Bitte nicht böse sein“, flötete sie gekünstelt. „Ich habe lang überlegt, ob ich nicht besser erst anrufe.“

„Und wieso hast Du nicht?“

„Weil ich Dein dummes Gesicht sehen wollte.“ Sie hielt mir einen Strauß gefiederter Gerbera unter die Nase und lächelte.

„Vielen Dank“, erwiderte ich gehässig. „Hier nennt man das Nötigung.“

In den unteren Lidern ihrer blassen, blauen Augen nisteten dunkle Schatten, die ihr gewohnt gekonntes Make-up nicht zu verbergen vermochte. Sie wirkte aufgekratzt, wie ich es in kniffligen Momenten von ihr kannte.

„Na, komm schon“, bat ich sie ins Haus.

Argwohn und Neugier begleiteten mich auf Schritt und Tritt. Ich bot ihr Corinnas Stammplatz an, fühlte mich gekidnappt und verabschiedete mich wehmütig von der Sehnsucht nach einem geruhsamen Abend.

Es passte zu diesem jämmerlichen Tag, dass er mir ein Nostalgiequiz als Bonus aufbürdete. Es gab nichts Schöneres… Möglichst gedehnt wie ein ausgeleierter Rockbund…

„Was darf ich Dir anbieten?“

Ich musterte sie, während ich nach einer gefälligen Vase für ihre reizenden Blumen suchte. Sie sah gut aus, trotz Anspannung fast zu gut. Ihre mittellangen Haare in der Farbe heller Teerosenblüten, frisch frisiert, saßen toll. Ein fransiger, den Stirnansatz verdeckender Pony zauberte jugendliche Frische auf ihr Gesicht.

„Kaffee wäre perfekt.“

Sylvias Kostüm besaß jene Eleganz, die ich mochte, klassisch geschnitten, schmale Revers, knielanger, gerader Rock, Kaschmir, nicht billig, kein Ostfummel, bestimmt einer ihrer ersten Westeinkäufe.

Sie warf Jacke und schwarze Handtasche achtlos Richtung Seitenlehne, streifte die Ärmel ihrer türkisfarbenen Bluse ein Stück den Unterarm hinauf. Von ihrem Auftritt geschockt, fühlte ich mich in meinem Büßergewand deplatziert wie ein Steinguttopf im Porzellanladen.

Eilig verschwand ich in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen, schöpfte lustlos braunes Pulver in den Kaffeefilter.

Verzweifelt wich ich wild umherfliegenden Erinnerungssplittern aus, doch das Gefühlschaos in meinem Innersten machte Treffer unvermeidlich.

Sarkastisch entsann ich mich des Elans, mit dem wir Einundsiebzig als Absolventen Ostberlin eroberten. Sylvia als Volontär beim Forum, ich bei der Jungen Welt, befasst mit Literatur und Bildender Kunst. Die Aufbruchsstimmung, die Honeckers Machtübernahme begleitete, fesselte uns auf eigenartige Weise.

„Gibst Du mir bitte mal einen Ascher?“

Sylvias Frage tröpfelte zwischen meine hässlichen Reminiszenzen wie das heiße Wasser in die Filtertüte.

Ich lief ins Zimmer und stellte ihr ein Kristallungetüm hin, das Herbert mir schenkte, als ich das Rauchen gerade aufgab. Sie brannte sich manieriert eine Zigarette an und sog Rauch ein. Müde ging ich in die Küche, um die Kanne zu holen.

Was war ich anfänglich für eine dumme Gans gewesen! Meine hochfliegenden Träume zerschellten an der Realität, ehe ich selbst herausfand, was ich wirklich wollte. Ulbricht-Zitate durfte ich ersetzen, durch vorgestanzte Sprüche des Neuen. Warum öffnete mir dieser Zynismus nicht schon damals die Augen?

Das kratzige Geräusch der Untertassen auf der gläsernen Tischplatte ermahnte mich, Platzdeckchen unter die Gedecke zu legen.

Ich stellte Weinbrand neben den Whisky und holte für sie einen Schwenker dazu.

„Also ehrlich, ich bin echt sprachlos. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Auf die Couchlehne gestützt, sah ich Sylvia ins Gesicht.

Kaum Krähenfüße! Ich setzte mich, griff eilig nach der Kanne und schenkte ein.

„Sprachlos? Du, die überall ihren Senf dazugeben musste?“ wandte Sylvia spöttisch ein. „Entschuldige liebe Sylvia und ein triftiger Grund, weshalb ich Dir bis heute kein Wort wert war, würden mir fürs erste genügen.“

„Ich wollte Dir Ärger sparen“, behauptete ich leichtfertig, obschon ich lediglich diffus ahnte, weshalb alles so kam, wie es gekommen war. „Spät dran, findest Du nicht?“ fügte ich hinzu, um klar zu stellen, dass sich mein Hirn nicht von obsoleten Nebelkerzen beirren ließ. „Wärst Du im November hier angetanzt, hätte mich Dein Possenspiel vielleicht überzeugt. Aber jetzt?“

„Ärger hättest Du mir nur erspart, wenn Du nicht abgehauen wärst“, ignorierte sie meinen Einwand beinahe bockig. „Andere zu kränken, gehörte schon immer zu Deinen Stärken.“

„Kränken?“ rechtfertigte ich mich. „Null Ahnung, warum gerade ich mit Nagels Bildern nach Düsseldorf reisen durfte. Vielleicht haben sie meinen Namen aus der Lostrommel gezogen, was weiß ich denn…“

Ein schmachtendes Senken der Lider war das einzige, was ich mir gestattete. Ich hatte nicht vergessen, wie nachtragend sie sein konnte, wenn sie sich mies behandelt glaubte.

„Du haust ab und ich sitze da wie’s Kind beim Dreck“ schnauzte Sylvia, „als ob all unsere Schwüre für die Katz gewesen wären. Wochenlang hab ich Rotz und Wasser geheult! Aus einem Modeblatt, von netten Kollegen illegal eingeführt, durfte ich drei, vier Jahre später erfahren, was aus Dir geworden ist.“

„Ich hatte keinen Plan, als ich weg bin. Worüber hätte ich also mit Dir reden sollen? Und ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich einen Plan gehabt und ein Wort darüber verloren hätte? Ich saß bereits im Zug, als ich mich für die Risikovariante entschied. Da gab es nicht viel zu ordnen.“

Statt zurück nach Berlin, fuhr ich am Rhein entlang ins niedliche Bonn. Wenn ich was tat, tat ich es an oberster Stelle, besuchte das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen. Dort geleitete man mich zur zuständigen Abteilung. Tagelang hockte ich auf Dienststellen, an die ich mich kaum erinnerte.

Eine Schreiberin von Springers Welt, mit der ich irgendwann am Rande der Leipziger Messe in Kontakt gekommen war, half mir beim Neustart, besorgte mir erste freie Aufträge für Bild der Frau.

„Armes Mädchen, hatte Dich der Westduft so benebelt, dass Du mit simplen Dingen wie Telefon oder Stift und Papier nichts mehr anzufangen wusstest?“, lästerte Sylvia indes und zeigte mir einen Vogel. „Spar Dir die Ausreden. Wer nur das Offensichtliche zugibt, betrügt gemeiner als jemand, der schweigt.“

Ich hatte keine Lust auf Haarspalterei. Sie kreuzte unverhofft auf, brachte Blumen und belegte mich. Ganz schön abgefahren.

Da freute man sich richtig, dass jetzt zusammenwuchs, was zusammengehörte.

Dogmatik, Heuchelei, sexuelle Neigungen als Karrierebremse, Sylvias Klammern hatte sich zu Ballast angehäuft, den ich einfach loswerden wollte.

Ich hätte mir bis ans Ende der Tage Vorwürfe gemacht, die einmalige Chance dazu ungenutzt verstreichen zu lassen. Ihr eitles Verletztsein bewies mir zudem, dass ich mich all die Jahre nicht umsonst glücklich geschätzt hatte, den elenden Teufelskreis durchbrochen zu haben.

„Du hast Rengers Eier doch nur geschaukelt, damit Du raus durftest! Für wie blöd hältst Du mich“, ereiferte sie sich, stupste die Kippe in den Ascher und goss Weinbrand in ihr Glas. Ich trank einen Schluck Kaffee und wunderte mich über unser Wortgefecht.

Mir schienen nicht neun Jahre seit dem letzten vergangen, sondern höchstens neun Tage.

Die Schuld für die abgekühlte Zuneigung, auf die sie anspielte, durfte sie getrost bei sich suchen. Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft, sprach der kluge Volksmund.

„Du weißt besser als jede andere, warum ich Christian geheiratet habe!“

Sylvia legte die Hände auf die Tischkante und beäugte prüfend ihre im Farbton der Bluse lackierten Nägel.

„Benutzt und weggeschmissen hast Du uns, wie alte Putzlappen“, fauchte sie.

„Tu nicht so blöd, steht Dir nicht und hör endlich auf, im verschimmelten Quark zu rühren.“

Als ob mich Renger je interessiert hätte! Meine Hochzeit mit ihm, dem smarten FDJ-Boy, immerhin Abteilungsleiter im Zentralrat, war die pure Trotzreaktion auf Diffamierungen im Verlag, auf die Giftpfeile von Mutter und meiner Schwester Cordula. Wäre mir sein Hang zum Herumvögeln nicht lieb und teuer gewesen, hätte ich mich nie Hals über Kopf in dieses Abenteuer gestürzt. Bei ihm konnte ich mir wenigstens sicher sein, dass er nicht für jede Stunde Alibis verlangte und mir alberne Szenen machte. Renger für die Karriere, Sylvia fürs Bett, ich hätte damit leben können. Nur sie fühlte sich verschaukelt, Besitz ergreifend wie sie war.

„Hast ja recht. Die Zeiten haben sich radikal geändert“, gestand Sylvia auffallend aufgeräumt und wischte mit der Hand über die Tischplatte, als wollte sie sagen, dass ihr die Vergangenheit längst so schnuppe wäre wie die Zigarettenasche, die von ihrem Glimmstängel abgefallen war.

„He, hörst Du überhaupt zu? Es gibt wirklich Wichtigeres zu bereden.“

„Und das wäre?“ fragte ich lauernd.

„Bin zum Jahresende gefeuert.“ Ihre Hand zitterte. „Freigestellt. Vogelfrei, wenn man will. Auch die Konterrevolution muss alte Eliten ausschalten, wenn sie erfolgreich sein will. Richtig? Links-Ruck wird mich nehmen, hoffentlich. Bürgerrechtler, Du verstehst?“

Nichts verstand ich, nur, dass meine Flucht bei ihr offenbar keine existenziellen Narben hinterlassen hatte. Was erstaunlich war, denn wer aus der Reihe tanzte, Verwandte oder Freunde besaß, die der DDR untreu werden wollten oder gar geworden waren, durfte stets damit rechnen, gnadenlos abgestraft zu werden. Kritisch denken, tolerant und weltoffen sein, ja, aber nur nicht den eigenen Alltag an diesen Maximen messen.

„Falls Du ein warmes Plätzchen suchst, bist Du bei mir falsch, das sag ich Dir gleich“, warf ich provokant ein.

„I wo“, tat Sylvia meinen Spott jovial ab und fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft. „Ich werde bei Links-Ruck selbstständig ein Projekt bearbeiten und hab interessante Leute kennengelernt.“

Ich überlegte, warum sie so scharf darauf war, mir von ihren Projekten und Kontakten zu erzählen.

„Prost!“ Ich erhob mein Glas. „Auf die Zukunft.“

„Eigentlich bin ich hier, um bei Dir einzusteigen“, sprudelte sie euphorisch heraus.

Hastig kippte sie Cognac hinunter, als wollte sie sich Mut machen, leerte sofort die Tasse Kaffee, wie ich es seit dem Studium kannte, wenn wir im Marktcafé saßen.

Einsteigen? Hatte ich mich verhört? Ich sah sie total entgeistert an. Ebenso gut hätte sie mich fragen können, ob sie nicht stehenden Fußes bei mir einziehen dürfte.

„Einsteigen?“ fragte ich schockiert. „Was verstehst Du darunter?“

„Na mich an Deiner Firma beteiligen, was sonst“, protzte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Mit zwei Millionen.“

„Aluchips?“ flüsterte ich verwirrt und kippte ebenfalls meinen Kaffee hinter.

„Deutsche Mark selbstverständlich“, korrigierte sie offenherzig und sah mich an, als hätte sie das Pokern erfunden.

„Und die kommen woher?“

„Spielt keine Rolle!“

Ihre Offerte machte mich fassungsloser als all die faden Bilder, die sie aufgerührt hatte. Ihr naives Geschwätz stand mir Oberkante Unterlippe.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, woher ausgerechnet sie soviel Westgeld haben sollte. Der Groschen fiel zwar pfennigweise, aber er fiel immerhin: Schwarzgeld! Es konnte sich eigentlich nur um Penunse aus dunklen Kanälen handeln, die klammheimlich versteckt werden sollte. Gerüchteweise hatte ich so einiges gehört, was vom Einheitsdusel vernebelt, eingefädelt und gedeichselt wurde.

Das war also der wahre Anlass ihres Besuchs. Absurde Situation. Selbst wenn ich gewollt hätte, verbot es sich mitzumachen, basta. Meine Karriere aus Raffgier vor die Wand zu fahren, wäre mehr als töricht gewesen. Netter Versuch, aber viel zu hohes Risiko.

Wer dem Irrsinn dieser Zeit entrinnen wollte, durfte sich von ihm keinesfalls anstecken lassen.

„Geschenkt“, lehnte ich zerstreut ab. „Self made woman,