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Cael schweigt. Schon immer. Kira sucht. Schon zu lange. In einer Stadt voller Lichter, Stimmen und verlorener Träume begegnen sich zwei Menschen – und spüren in der Stille das, was Worte nie hätten sagen können. Zwischen zarten Berührungen und tiefen Fragen entsteht eine Nähe, die sich nicht planen lässt – und doch alles verändert. "OX YTO CIN" ist ein leiser, poetischer Roman über das, was bleibt, wenn alles gesagt ist. Über eine Welt, in der Berührung zur Dienstleistung geworden ist – und wie tief ein einziger Moment echter Verbindung uns berühren kann. Ein Roman für alle, die Sehnsucht kennen. Und sich trauen, ihr zu folgen.
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Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2025
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ROMAN
Martin Wintersberger
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ASTRO und alle darin vorkommenden Personen und ihre Namen, alle Handlungen, Gegebenheiten und Naturgesetze sind fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Fischen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Eingebettete Schriften: Fira Sans (OFL), PT Serif (OFL), Sollte Ihr E-Book-Reader diese Schriften nicht laden können, kontaktieren Sie bitte Ihren Händler.
Copyright © 2025 Martin Wintersberger
Herausgegeben von ASTRO Entertainment
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-99119-159-9
astro-entertainment.at
Vorwort
Dieses Buch ist aus einem Gefühl heraus entstanden:Dass unsere Welt zu laut geworden ist.
Zwischen Terminen, Nachrichten und ständiger Erreichbarkeit scheint kaum noch Raum zu bleiben – für das, was in uns leise ruft. Für Sehnsucht, Nähe, Zärtlichkeit. Für das, was uns berührt, aber keine Worte braucht.
Ich glaube: Echte Gefühle brauchen Stille.Und Zeit.Zeit, um sich zu entfalten. Um aufeinander einzugehen. Um den anderen wirklich zu sehen.
Oxytocin – so heißt der Botenstoff, den unser Körper ausschüttet, wenn wir uns nah sind. Wenn wir berühren, vertrauen, uns wirklich begegnen. Es ist das Hormon der Bindung, der Wärme, der sanften Stärke. Es macht uns ruhig. Und es macht uns menschlich.
OX YTO CIN – Sterne über Trinia erzählt von einer Begegnung in einer solchen Welt. Einer Welt, die schnell, effizient und perfekt sein will – und dabei oft das verliert, was uns menschlich macht. Es ist eine Geschichte über Berührung, Vertrauen und Verletzlichkeit.
Und darüber, was möglich wird, wenn wir beginnen, einander wirklich zu begegnen.
Für mich ist dieser Roman auch ein stiller Beitrag zu der Zeit, in der wir leben. Ein kleines Gegenmodell zur lauten Realität. Eine Erinnerung daran, dass wahres Glück selten laut ist – aber tief und erfüllend.
Wir sind keine Einzelgänger. Das größte Glück ist ein Mensch an unserer Seite, der uns sieht und hört. Der unser Glück und unsere Traurigkeit teilt – und uns in einem Miteinander vervollständigt.
Ich wünsche dir beim Lesen Momente der Ruhe.Und vielleicht ein leises Wiedererkennen.
Martin Wintersberger
Hände, die zuhören
Cael
Der Raum war still und warm, abgesehen vom leisen Surren des Heizstrahlers und dem kaum hörbaren Rauschen des Luftfilters. Die Wände waren in warmes Beige getaucht, gedämpftes Licht fiel auf die Massageliege, wo eine Frau mittleren Alters auf dem Bauch lag – regungslos, mit geschlossenen Augen, das Gesicht in das gepolsterte Oval gebettet.
Cael stand hinter ihr, barfuß, ruhig atmend. Seine warmen Hände bewegten sich langsam über ihren Rücken – gleichmäßig, mit Druck und Präzision.
Sie hatte von Anfang an geredet. Über ihre Arbeit. Ihre Tochter. Den Streit mit dem Partner.Dann war sie leiser geworden. Jetzt schwieg sie.
Cael hatte nichts gesagt. Bis auf ein paar tiefe, freundliche Laute, sagte er selten etwas.Er wusste, wie seine Stimme klang – tief, weich, beinahe warm – aber er nutzte sie kaum.
Schon sehr lange nicht mehr.
Früher hatte er gestottert. Wünsche, Bedürfnisse – Worte hatten sich in seinem Hals gestaut wie Treibholz vor einem Damm. Er hatte gelernt, damit zu leben – schweigend, beobachtend. Und irgendwann war das Stottern verschwunden. Wenn er sprach, konnte er die Seele berühren. Aber das Gefühl, nicht gehört zu werden, war geblieben.
* * *
Er fuhr mit den Daumen langsam entlang der Schulterblätter der Frau. Ihre Haut spannte sich leicht, dann löste sie sich. Ein leiser Seufzer.
»Du bist anders als alle anderen«, murmelte die Frau. »Nicht so hektisch. Nicht so… geschwätzig.«
Er schwieg.
»Ich glaub, ich komm nur noch wegen dir. Dabei wollt ich eigentlich zu einer Frau. Aber irgendwie… deine warmen Hände. Fühlen sich so gut an.«
Cael nickte kaum sichtbar.Dann wechselte er die Seite.
Sein Blick war ruhig, fast leer.Doch in seinem Inneren arbeitete es.
Der Umzugstermin stand. Eine andere Stadt, ein anderes Viertel.Das Massagezimmer hier – sein eigenes, über dem alten Blumenladen – war nur noch für zwei Wochen gebucht.Dann war Schluss.
Ein Neuanfang. Vielleicht.Oder nur ein Ortswechsel.
Sie war gegangen.Ela.
Nicht wütend. Nicht mit Geschrei.Einfach... gegangen.
»Ich liebe dich, Cael. Aber ich kann nicht der einzige Mensch sein, der redet.«So hatte sie es gesagt.Ohne Drama.Nur mit müden Augen.
Er hatte geschwiegen. Wie immer.Weil alles, was er sagen wollte, zu groß war, um durch den Hals zu passen.
* * *
Seine Hände glitten nun bis zur Lendenwirbelsäule. Sanft, tief, routiniert.
Früher, als er noch bei Ela schlief, hatte sie manchmal seine Hände genommen – einfach so – und sie in ihre gelegt. Still.Dann hatte sie seine Stirn geküsst.
Auf Zehenspitzen
»Ich sehe dich«, hatte sie gesagt.»Ich höre dich.«
Er hatte damals fast geglaubt, es könnte reichen. Die Berührung. Hand in Hand.
Aber es hatte nicht gereicht.Nicht für sie.
* * *
Die Frau auf der Liege bewegte sich leicht, räusperte sich. »Ich glaub, ich bin weggedöst.«
Cael legte sanft ein Handtuch über ihren Rücken.Sein Blick glitt zur kleinen Sanduhr auf dem Regal. Die Zeit war um.
»Ich... danke dir«, sagte sie. »Wirklich. Es war schön.«
Er nickte.Reichte ihr wortlos den Bademantel, während sie aufstand.Dann verließ er den Raum, ließ ihr Privatsphäre.
Im kleinen Nebenraum wusch er sich die Hände.Er roch die Salbe an seinen Fingern – Lavendel und Zitrus.
Ein Duft, der ihm fremd blieb.
Er sah auf den Flyer, der auf dem Tisch lag:Oxytocin – Host gesucht. Ruhig. Diskret. Körperbewusst.
Er hatte die Anzeige gespeichert. Nicht beworben. Noch nicht.
Aber der Gedanke wuchs.
Ein Neuanfang in einer anderen Stadt.
Nicht zu reden.
Vielleicht war das der Ort, an dem er endlich seine Bestimmung, seinen Frieden finden würde.
Wo Menschen nicht redeten, sondern fühlten.Und vielleicht war das genug.
Was bleibt
Cael
Die Wohnung roch nach Staub. Nicht viel, nur ein Hauch – wie alte Pappe oder ein vergessenes Buch, wenn man nahe ran ging.
Cael stand im Türrahmen und sah auf das, was von »ihrem Zuhause« übrig geblieben war.Er hatte nie viel besessen, nie Dinge gesammelt, die erklärten, wer er war.
Er liebte keine – Dinge.
Aber in dieser Wohnung, auf diesen achtundvierzig Quadratmetern, hatten Ela und er gekocht, gelacht, geschlafen.
Jetzt war es still. Und viel zu ordentlich.
Ela – die Künstlerin …
* * *
Die Umzugskisten standen halb gefüllt am Boden. Kleidung, Werkzeuge, das faltbare Massagebett, ein paar Bücher. Mehr war es nicht.
Er ging langsam durch den Raum, als müsste er sich vergewissern, dass alles, was zählte, wirklich mitging – und alles andere wirklich zurückblieb.
Auf dem Fenstersims lag noch etwas, das nicht in die Kiste passte: ein kleiner Tonanhänger mit einem eingeprägten Fingerabdruck. Ela hatte ihn einmal gemacht.
Für ihn.
»Damit du weißt, dass du berührst, selbst wenn du es nicht willst.«
Er nahm ihn in die Hand. Dachte einen Moment lang darüber nach. Dann steckte er ihn wortlos in die Seitentasche seines Rucksacks. Kein Zögern. Kein Schmerz. Nur: Konsequenz.
Er sortierte leise weiter.Ein paar Gläser. Zwei Handtücher. Die Yogamatte, die er nie benutzt hatte.Dann die Schublade mit den Erinnerungen, von der er gedacht hatte, sie nie wieder zu öffnen.
Ein Foto.Ela, barfuß auf dem Balkon, ein Lächeln, das nicht wusste, wie es enden würde.
Daneben ein Stück Papier.In liebevoller, schöner Schrift.Geschrieben von seiner Mutter.
»Ich sehe dich. Ich höre dich.«
Er hielt es in der Hand.Lang.
Ein Abend, viele Jahre her.Er war vielleicht sieben. Hatte wochenlang kaum gesprochen. Die Worte waren dick in seinem Mund, sie wollten nicht durch. Andere Kinder hatten über sein Stottern gelacht.
Seine Mutter hatte sich zu ihm gesetzt, in der alten Küche mit dem Ölofen, und beide seine Hände genommen.Beide.
Dann hatte sie ihm auf die Stirn geküsst und gesagt:»Ich sehe dich, Cael. Ich höre dich. Auch wenn du nichts sagst.«
Das hatte gewirkt. Nicht sofort. Aber tief.So tief, dass er es heute noch spürte, obwohl er es nicht zeigen konnte.
Dann hatte sie es aufgeschrieben und – weil er es nie vergessen sollte, half
Er faltete das Papier sauber zusammen.Steckte es in ein Fach seines Werkzeugschranks.Nicht wegwerfen. Aber auch nicht mitnehmen.
Das Leben, das dazugehört hatte, war vorbei.
* * *
Seine neue Wohnung lag im Randbezirk von Vetera – nördlich.Abseits der Hauptstraße, trotzdem viel Lärm, viel Bewegung. Aber vor allem: anonym.Niemand kannte ihn dort. Niemand stellte Fragen.
Das Gebäude war ein ehemaliges Wohnheim.Dünne Wände, schnelle Verträge, kein Stil.Aber: billig, warm, verlässlich.
Er trug die Kisten hoch, zwei Stockwerke, ohne Lift.Ein junger Mann mit Kopfhörern blickte ihn im Vorbeigehen im Treppenhaus kurz an, sagte aber nichts.Perfekt.
Er stellte die letzte Kiste ab, sah sich um.Das Fenster ging zur Straße raus. Werbetafeln wechselten in Endlosschleife.
Einer der Spots zeigte die neue MARICOM-Einheit 23.»Kommunikation in Echtzeit – für alle Sektoren! Vertrauen beginnt bei Verbindungen.«
Cael sah kurz hin.Er hatte einmal im Auftrag für MARICOM gearbeitet. Halterungen montiert.Gute Bezahlung, starker Kaffee in den Pausen.
Und jetzt – Werbesprech. Vertrauen. Verbindung.Ironie.
* * *
Bei seinem letzten Einsatz für den Hauswartservice einer Wohnanlage empfing ihn ein älterer Herr – wie immer mit viel Worten.
»Ich sag Ihnen was, junger Mann, diese Welt ist nicht mehr das, was sie mal war. Wissen Sie, was die in Vetera jetzt aufmachen? Steht unten auf einem Plakat! Ein… ein Körperlokal!«
Cael schraubte schweigend das Scharnier an der Küchentür fest.
»Kein Witz. Die nennen das ›Oxytocin‹. Hah! Wie das Bindungshormon. Nähe auf Bestellung! Ist das nicht krank?«
Cael sah ihn nicht an. Justierte das Türblatt.Zweite Stellschraube.
»Früher hat man sich umarmt, weil man sich kannte. Und wenn man sich gernhatte. Das war echt. Heute macht man Termine, legt sich zu Fremden. Und zahlt auch noch dafür.«
Cael nickte langsam. Nicht als Zustimmung. Nur: ja, ich habe gehört.
»Ich schwör Ihnen, ich versteh das nicht mehr. Da liegst du bei einem Fremden, nackt, und hoffst auf... was? Geborgenheit? Echt jetzt. Es wird doch nur noch gelogen. Egal wer den Mund aufmacht.«
Letzte Schraube. Sitzt. Tür schließt wieder sauber.
Cael wischte sie ab. Stellte sich gerade.»Das war mein letzter Termin«, sagte er. Leise. Klar.
Der Mann sah überrascht auf.»Was? Wieso?«
»Ich zieh um.«
»Das ist aber schade. Wirklich. Sie sind ein Guter, mein Freund. Sie sind immer verlässlich. Echt.«
Cael nickte.Packte sein Werkzeug.Verabschiedete sich.
Am Ausgang des Wohnhauses hing das neue Plakat.Oxytocin – Nähe, wie du sie brauchst.Ein stilisiertes Symbol: Zwei ineinandergelegte Hände.
Cael sah es lange an.
Dann ging er weiter.
Funktionieren
Kira
Die Lichter der Stadt gingen nie ganz aus. Vetera atmete in Neonfarben – in hellgrünen Streifen, blassem Blau und einem künstlichen Goldton, der sich wie Morgensonne gab. Die Luft roch nach heißgelaufener Elektronik, nach abgestandenem Fruchtaroma, nach Reinigungsmitteln und dem Parfum der Nacht. Von draußen drang ein kaum hörbares Vibrieren herauf, das durch die Wände wanderte – das Summen der Reklametafeln, das ferne Grollen der unteren Straßen.
Kira erwachte, bevor der Wecker summte. Das tat sie immer. Ihr Körper wusste längst, wann es Zeit war, zu funktionieren.
Sie lag still, starrte an die Decke. Ein dünner Staubfilm lag auf der oberen Lichtleiste. Die Heizung surrte leise, unregelmäßig, wie ein schlafendes Tier.
Neuer Tag.
Neue Zahlen.
Gleiche Abläufe.
Sie schälte sich aus der Decke. Ihre Füße fanden den kalten Boden, der unter der rechten Ferse ein leises Knacken von sich gab. Sie hatte den Riss in der Bodenplatte zweimal gemeldet. Niemand hatte reagiert. So wie bei den meisten Dingen.
Im Bad drehte sie das Wasser auf. Der Spiegel zeigte ein Gesicht, das sie nicht ganz erkannte – blass, Augenringe, ein Anflug von Müdigkeit, der nie ganz verschwand. Als sie sich das Gesicht wusch, bemerkte sie es wieder:das leichte Zittern ihrer Finger, wenn das Wasser zu heiß war. Oder zu kalt. Oder genau richtig.
Es war nicht so dramatisch.
Eher wie ein Fleck weit unten auf einer Freizeithose, nahe den Schuhen, der niemand interessiert. Sie ignorierte es – wie man eine dunkle Stelle an der Wand ignoriert, in der Hoffnung, dass es kein Schimmel ist.
Sie zog sich an. Nichts Auffälliges. Graue Hose, enganliegend, ein beiger Pullover, schlichte Büroschuhe. Passend, aber angenehm, wenn man sie den ganzen Tag an den Füßen trug, selbst wenn gegen Feierabend hin die Füße angeschwollen waren.
Keine Accessoires.
Keine Farben.
Sie mochte es nicht, wenn Leute zu lange hinsahen.
Ihr Frühstück bestand aus einem weichen Ei, halb gegessen, und einem synthetischen Kaffee, den sie trank, während sie die Nachrichten auf der MARICOM-App überflog. Im Großen und Ganzen Angstmacherei, damit man seine eigenen Probleme vergaß.
Einverstanden.
* * *
Die Luft draußen war kühl und voller Menschen. Kira setzte ihre Kopfhörer auf und marschierte zur Bahn, die auch voller Menschen war. Die morgendliche Energie war enorm. Genug, um aufzuwachen und sich an den Job im Büro zu erinnern. Niemand sprach. Jeder starrte auf das eigene Interface. Auch sie.
Sie blätterte durch die Termine des Tages. Drei Übergaben, zwei Routing-Korrekturen, ein Bericht für Sektorleitung B. Alles klar. Alles machbar.
Als sie ausstieg, wehte ein Schwall Musik von einem nahegelegenen Werbepod herüber. Eine Stimme versprach Nähe. Berührung. Ein ganz neues Erlebnis.»Oxytocin – Wir berühren dich, ohne dich zu verändern.«
Sie verzog keine Miene. Ihre Finger zitterten minimal, als sie den Tragegurt ihrer Tasche nachjustierte.
Der Weg zum Büro führte an der Lieferstation vorbei, wo schon zwei Drohnen mit Paketen befüllt wurden. Ein Techniker rauchte. Als er sie sah, nickte er. Kira nickte zurück. Keine Worte. Keine Zeit.
Im Foyer piepte die Gesichtserkennung. Sie stellte sich auf die Markierung, wartete das Okay ab, trat durch die Tür.
Im Fahrstuhl war sie allein. Die Spiegelung zeigte sie in voller Größe. Aufrecht. Sachlich. Korrekt.Und trotzdem fühlte sie sich wie ein Puzzle, das vollständig war, aber dessen Einzelteile nur dann zusammenhielten, wenn man es nicht berührte. Wenig berührte. Gar nicht berührte.
Oben angekommen ging alles automatisch. Mantel ablegen. Datenpad andocken. Kaffee holen. Begrüßungen aus dem Augenwinkel.
Lächeln.
Funktionieren.
Aber sie fühlte nichts.
Die Routine der anderen
Kira
Das Bürogebäude der Firma MARILINK lag im hinteren Teil von Vetera, einem sanierten, aber alten Industrieareal – ein Kasten mit Glasfront und künstlicher Pflanzenfassade, die tagsüber in langsamen Bewegungen leuchtete, damit das Auge nicht Krebs bekam.
Innen war es funktionaler: Betonwände, mattes Licht, Arbeitsnischen im Großraumbüro, die »transparente Kommunikation« fördern sollten, aber einfach nur billig waren. Jeder konnte jeden sehen, niemand konnte sich verstecken. Nachvollziehbar für das Startup.
Kira setzte sich an ihren Platz in Box A-12. Ihr Terminal blinkte bereits, eine neue Anfrage aus Sektor F, Komponente 3A war nicht auffindbar. Sie schob die Tasche unter den Tisch, aktivierte das Interface und begann zu arbeiten.
»Morgen, Zahlenqueen«, hörte sie es zwei Plätze weiter.Tommy grinste über seinen Bildschirmrand hinweg. Er hatte einen dieser übergroßen Becher in der Hand, mit der Aufschrift ›Ich rechne, also bin ich‹.
Kira hob leicht die Augenbrauen und erwiderte: »Guten Morgen, Versorgungsorakel.«