Pädagogik bei Autismus - Georg Theunissen - E-Book

Pädagogik bei Autismus E-Book

Georg Theunissen

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Beschreibung

This book examines autism from the point of view of the strengths the condition confers, but without disregarding the challenges that autistic behavior poses for the surrounding world. The volume starts with an introduction on the history of treating with autism, before going on to outline the current understanding of the condition, always focusing on viewing the problem sympathetically. Moving on from there to educational practice, the book first discusses the guiding principles of contemporary remedial and special education, as well as work with the disabled. Central issues in educational work are then addressed, with topics ranging from early assistance and preschool teaching, school and classroom work, to adult education, vocational training, employment and housing.

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Der Autor, die Autorin

Universitätsprofessor Dr. Georg Theunissen (Dipl.-Päd., Heilpäd.), Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus (i. R.)

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Mieke Sagrauske (Studium der Förderpädagogik), Mitarbeiterin am Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Georg Theunissen, Mieke Sagrauske

Pädagogik bei Autismus

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036318-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036319-9

epub:    ISBN 978-3-17-036320-5

mobi:    ISBN 978-3-17-036321-2

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

Teil I: Geschichte, Basiswissen und Leitprinzipien für die Pädagogik

1 Geschichte

Erste Anhaltspunkte für Autismus

Erste wissenschaftliche Betrachtungen in Bezug auf Autismus

Autismus – psychogenetisch verursacht?

Erste Elternbewegungen

Ein Blick auf Deutschland

Die intensive Verhaltenstherapie nach Ivar Lovaas

Entstehung und Verbreitung des TEACCH-Konzepts

Impulse aus Großbritannien

Wirken und Einfluss von Hans Asperger

Die Verbreitung von zwei umstrittenen Methoden

Ein weiterer Blick auf Deutschland

Internationale Ereignisse

Anfänge der Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen

Autism Speaks – Entstehung und Kontroverse

Gründung von Autistic Self Advocacy Network und Verbindungslinien zu aktuellen Modellen von Autismus

2 Autismus

Klassifikation von Autismus aus klinischer Sicht

Das Autismus-Spektrum-Konzept

Schlussbemerkung

3 Leitprinzipien für die pädagogische Praxis

Zur Einführung: Die Geschichte von Kayla Takeuchi

Empowerment

Stärken-Perspektive

Von Geschichten lernen

Zu den Spezialinteressen

Konsequenzen für die Praxis und kritische Reflexion

Inklusion

Schlussbemerkung

Teil II: Pädagogische Praxisfelder, Konzepte und Methoden

4 Frühe Hilfen und vorschulische Erziehung und Bildung

Das Beispiel Jeff

Behandeln oder unterstützen?

Unterstützerkreis und Programmplanung

Inklusion im vorschulischen Bereich

Schlussbemerkung

5 Schule und Unterricht

Schulische und unterrichtliche Inklusion

Schlussbemerkung

6 Berufliche Bildung und Arbeit

Einleitende Bemerkungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Übergangsschulen

Systeme der beruflichen Bildung und Rehabilitation

Unterstützte Beschäftigung

Integrationsfirmen, -projekte und soziale Unternehmen

Unterstützte Hochschulausbildung

7 Unterstütztes Wohnen

Personenzentrierte Planung

Wohnen aus der Betroffenen-Sicht

Pädagogische Unterstützungsmöglichkeiten

Das Modell der Aktiven Unterstützung

8 Umgang mit Stress, herausforderndem Verhalten und psychischen Begleitstörungen

Pädagogische Handlungsmöglichkeiten bei Vulnerabilität und Stress

Pädagogisches Handeln bei herausforderndem Verhalten

Pädagogische Handlungsmöglichkeiten bei psychischen Begleitstörungen

9 Beratung und Psychoedukation im Kontext von Autismus

Grundzüge einer modernen Beratung und Psychoedukation

Beratung und Psychoedukation autistischer Personen

Beratung und Psychoedukation als Angebot für Eltern und Familien mit einem autistischen Kind

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

»Educators need to work on building up the area of strength. There is often too much emphasis on deficits. The most successful individuals developed their areas of strength« (Temple Grandin 2009).

Mit diesen Worten führt uns Temple Grandin, die als Autistin und Wissenschaftlerin nicht zuletzt durch Oliver Sacks’ Buch »Eine Anthropologin auf dem Mars« weltweit berühmt geworden ist, ein wichtiges pädagogisches Anliegen vor Augen: Wurden viele Jahrzehnte Autist*innen in erster Linie im Lichte von Defekten, Defiziten, Fehlverhaltensweisen oder Verhaltensstörungen pathologisiert und behandelt, so sollte heute eine an ihren Stärken orientierte Sicht und Praxis von zentraler Bedeutung sein. Dieses Buch knüpft an dieses Anliegen an. Es löst damit zwei auslaufende Veröffentlichungen aus unserem Arbeits- und Forschungsbereich ab, das Buch »Autismus« (Kohlhammer-Verlag 2011) und das Buch »Menschen im Autismus-Spektrum« (Kohlhammer-Verlag 2014).

Die Stärken-Perspektive besagt, dass es fruchtbarer ist, an dem anzusetzen, was eine (autistische) Person kann, als ihr ständig Versagen, Schwächen oder Fehler vor Augen zu führen, die es zu beseitigen gilt. Ziel einer solchen Intervention ist die größtmögliche Anpassung an die »normale« Entwicklung und gesellschaftliche Normen. Dagegen wendet sich die Botschaft von Temple Grandin. Ihr zufolge sollen autistische Personen nicht »normalisiert«, sondern mit ihren Stärken, Spezialinteressen und Ressourcen wertgeschätzt und zu einem sozialen Leben mit Autismus befähigt werden.

Zudem kann Autismus selbst eine Stärke sein, wie es immer mehr Autist*innen aus dem Lager der Selbstvertretungsbewegungen kundtun und beispielhaft durch außergewöhnliche Leistungen im Rahmen künstlerischer oder beruflicher Tätigkeiten demonstrieren. Gleichwohl müssen wir aber auch Probleme beachten, die mit Autismus einhergehen. Das kann zum Beispiel ein Missverstehen sprachlicher Informationen betreffen, indem eine autistische Person die intuitive (hintergründige) Botschaft der Worte nicht erfasst und das Gesagte wörtlich nimmt. Ein weiteres Problem ist die von vielen Autist*innen beschriebene erhöhte Reizempfindlichkeit, die erheblichen Stress erzeugt, welcher bewältigt werden muss. In dem Zusammenhang stoßen wir oft auf selbststimulierende, repetitive Verhaltensmuster, soziale Rückzugstendenzen, Vermeidung sozialer Situationen und Interaktionen, impulsartige Wutausbrüche, aggressives oder selbstverletzendes Verhalten. Solche Reaktionen gelten zumeist als herausforderndes Verhalten. Aus der Sicht der Betroffenen sind sie funktional bedeutsam, indem sie der Bewältigung von Stress, Ängsten oder Überforderung dienen. Für die nicht-autistische Bezugswelt ist es wichtig, den Sinn dieser herausfordernden Reaktionen zu verstehen, denn nur dann kann eine tragfähige pädagogische Arbeit geleistet werden.

Ferner gibt es noch eine weitere pädagogische Herausforderung, die sich auf zusätzliche Lernschwierigkeiten bezieht. Diese sind nicht selten bei kaum oder nicht-sprechenden Autist*innen mit mehrfacher Behinderung oder bei autistischen Personen mit schwer ermittelbaren kognitiven Beeinträchtigungen zu beobachten. Mit der sogenannten Unterstützungsperspektive stellen wir einen Ansatz vor, der für die frühe pädagogische, schulische und erwachsenenspezifische Arbeit mit Autist*innen vielversprechend zu sein scheint.

Das Spektrum des Autismus ist somit breit: Einerseits gibt es autistische Personen, die für sich selber sprechen und mit ihren Stärken und Spezialinteressen imponieren können; andererseits haben wir es mit Menschen zu tun, bei denen schwere kognitive (geistige) Beeinträchtigungen vermutet oder angenommen werden und daher ein erhöhter Unterstützungsbedarf besteht.

In diesem Sinne verstehen wir Autismus als Stärke und Herausforderung zugleich. Beide Momente sind untrennbar miteinander verbunden und bilden den fühlbaren Hintergrund der Beiträge unseres Buches.

Das Buch beginnt mit der »Geschichte des Autismus« – ein Thema, das bislang im deutschsprachigen Raum kaum aufgegriffen wurde. Wenngleich weltweit bedeutsame und richtungsweisende Informationen über die Entwicklungsgeschichte des Autismus aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammen, waren wir bemüht, ebenso den hiesigen Verlauf unter Berücksichtigung der Entstehung der Elternselbsthilfeorganisation, Autismusforschung und Selbstvertretungsbewegung zu beachten und zu würdigen.

Das zweite Kapitel greift das aktuelle Verständnis von Autismus auf, welches aus der Kritik an der traditionellen klinischen Sicht hervorgegangen ist. Dabei greifen wir wichtige Anregungen der weltweit führenden Selbstvertretungsorganisation autistischer Menschen, dem Autistic Self Advocacy Network (ASAN), auf. Ferner orientieren wir uns an den Erstbeschreibungen über Autismus, die wir nach wie vor als zeitlos und aktuell betrachten.

Das dritte Kapitel hat eine Art Brückenfunktion, indem es von der theoretischen Perspektive zur pädagogischen Praxis überleitet. Im Mittelpunkt stehen Leitprinzipien zeitgemäßer Behindertenarbeit wie Empowerment, die Stärken-Perspektive und Inklusion.

Der vierte Hauptteil greift zentrale Felder pädagogischen Handelns auf. Zunächst geht es um »frühe Hilfen«. In diesem Kapitel werden eine Abkehr von der bisherigen Behandlungsperspektive und eine Hinwendung zur Unterstützungsperspektive begründet und für das pädagogische Handeln im Früh- und vorschulischen Bereich aufbereitet. In den nachfolgenden Teilen werden dann unter Beachtung der Leitprinzipien Fragen und Überlegungen zur Schule und zum Unterricht, zur beruflichen Bildung und Arbeit sowie zum Wohnen aufgegriffen. Abgerundet wird das Buch mit pädagogischen Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten, Stress und Autismus sowie mit Anregungen zur Beratung und Psychoedukation von Personen aus dem Autismus-Spektrum und Familien oder Eltern autistischer Kinder.

Insgesamt waren wir bemüht, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf Autismus auf verständliche Weise einzuarbeiten. Damit hoffen wir ein zugängliches, attraktives und innovatives Buch vorgelegt zu haben, welches zum Überdenken herkömmlicher Vorstellungen über Autismus beitragen, zu einer Aufgeschlossenheit anregen sowie richtungsweisende Impulse für die Praxis bieten soll.

Konzipiert wurde das Buch als eine Einführung in das Thema des Autismus für alle pädagogischen Berufe im Erziehungs- und Bildungswesen sowie in außerschulischen Unterstützungssystemen. Darüber hinaus sollte es aber auch für Studierende in Fächern wie Erziehung, Heilerziehungspflege, Heil- oder Sonderpädagogik sowie für Fachkräfte wie Therapeut*innen, Ärzt*innen oder auch Eltern autistischer Kinder ein Gewinn sein.

Unser ausdrücklicher Dank gilt Herrn Dr. K.-P. Burkarth vom Kohlhammer-Verlag für die gute Zusammenarbeit, Frau Bettina Mohr für die Durchsicht des Textes und allen, die das Buchprojekt unterstützt haben.

März 2019

Georg Theunissen, Freiburg (i. Br.) und Halle (Saale)

Mieke Sagrauske, Leipzig und Halle (Saale)

 

 

 

Teil I:   Geschichte, Basiswissen und Leitprinzipien für die Pädagogik

1          Geschichte

 

 

Erste Anhaltspunkte für Autismus

Das gilt aber nicht für einige Überlieferungen oder Berichte, die John Donvan und Caren Zucker (2016, 42) in ihrer »Geschichte über Autismus« zitieren. Zum Beispiel habe es um 1469 einen russischen Schuhmacher gegeben, dessen Verhalten zum Teil autistisch gewesen sei. Gleichfalls habe der 1708 geborene Hugh Blair of Borgue, ein bekannter schottischer Adliger, ungewöhnliche Verhaltensweisen gezeigt, die heute als Zeichen von Autismus betrachtet würden (z. B. habe er Vogelfedern, Zweige und Stoffstücke leidenschaftlich gesammlt; sich bizzar, immer wieder mit den gleichen Sachen gekleidet; sich über Echolalie geäußert; sich kaum für Menschen interessiert, aber eine Vorliebe für Katzen und einen außergewöhnlichen, zwanghaft anmutenden Umgang mit Objekten gezeigt; soziale Konventionen oder Normen missachtet).

Ebenso wird in der (Fach-)Literatur »Victor«, der um 1800 vom französischen Arzt J.-M.-G. Itard entdeckte sogenannte »Wilde Junge von Aveyron«, häufig als Autist bezeichnet (vgl. Feinstein 2010, 4). Diese Annahme sollte nach Harlan Lane (1985, 204ff.) jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, da sich einige der autistischen Verhaltensmerkmale von Victor (z. B. in Bezug auf seine emotionalen Äußerungen, Empfindungen, Wahrnehmungen und motorischen Besonderheiten) auch als Resultat seiner sozialen Isolation in der Wildnis erklären lassen. Zudem galt er »im Rahmen seiner Möglichkeiten als äußerst kommunikativ« (ebd., 206).

Anders sind wiederum einige Berichte über »idiotische« Personen zu bewerten, die S. G. Howe um etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengestellt hatte. So greifen J. Donvan und C. Zucker (2016, 50ff.) mehrere seiner dokumentierten »Fälle« auf, um autistische Merkmale zu belegen. Dabei treten zum Teil außergewöhnliche Fähigkeiten (Gedächtnisleistungen) zu Tage, die für damals sogenannte »idiot savant«1 typisch sind. Dazu zählt zum Beispiel der Berner Künstler Gottfried Mind (1768–1814). Durch seine bis ins winzigste Detail fein ausgearbeiteten, realistisch-naturalistischen Zeichnungen (vor allem von Tieren und Kinder) war Mind schon zu seinen Lebzeiten als »Der Katzen-Raphael« berühmt geworden (vgl. Theunissen & Schubert 2010, 41ff.). Um eine Diskriminierung zu vermeiden, wird seit wenigen Jahrzehnten aber nicht mehr von »idiot savant«, sondern nur noch von Savants gesprochen. Diesbezüglich unterscheidet der Savant-Forscher Darald Treffert (zit. n. ebd., 47ff.) zwischen »talentierten Savants« und »Wunderkindern« (im Sinne genialer Savants): Als »talentierte Savants« werden neben intellektuell behinderten Menschen in erster Linie Personen aus dem Autismus-Spektrum bezeichnet (autistic savants), die vor dem Hintergrund ihrer (schweren) Beeinträchtigungen mit Inselbegabungen oder außergewöhnlichen Fähigkeiten imponieren. Demgegenüber gelten die Inselbegabungen von »Wunderkindern« vor allem in Bezug auf nichtbehinderte (überdurchschnittlich begabte) Menschen als spektakulär und genial. Während mindestens 10% aller autistischen Personen außergewöhnliche Fähigkeiten im Sinne »talentierter Savants« zeigen, sind nur etwa 100 bis 150 »Wunderkinder« der einschlägigen Forschung bekannt.

Erste wissenschaftliche Betrachtungen in Bezug auf Autismus

Dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1911) wird nachgesagt, dass er der erste Wissenschaftler war, der den Begriff Autismus im klinischen und heilpädagogischen Bereich bekannt gemacht hat (vgl. Feinstein 2010, 5f.). Im Rahmen seiner Untersuchungen über Schizophrenie beschreibt er Personen, die ihm durch einen sozialen Rückzug, eine Selbstbezogenheit und ein In-sich-Gekehrtsein mit immer spärlicher werdender Kommunikation aufgefallen waren.

Daran anknüpfend stammt vermutlich die erste wissenschaftliche Abhandlung über Autismus von der russischen Kinder- und Jugendpsychiaterin Grunja E. Ssucharewa (1891–1981)2. In den 1920er Jahren beschreibt sie im Rahmen ihrer Forschungen über Psychopathien im Kindes- und Jugendalter Heranwachsende, die ihr als »Sonderlinge« durch Eigentümlichkeiten, ein eigenwilliges, exzentrisches Verhalten besonders ins Auge gefallen waren (vgl. dazu Theunissen 2018). Dabei hatte sie den Eindruck, dass es jenseits der Schizophrenie noch ein anderes klinisches Bild gab. Dieses Bild wird von ihr durch Merkmale charakterisiert, die wesentliche Aspekte von Autismus widerspiegeln (z. B. typische motorische, emotionale, intellektuelle Besonderheiten, »autistische Grundhaltung« wie Selbstisolation). Da ihrer Ansicht nach der von Bleuler eingeführte Autismus-Begriff für die Gesamtheit der von ihr beobachteten Symptome zu eng ausgelegt war, bevorzugt sie in Abgrenzung zur Schizophrenie die Bezeichnung »schizoide Psychopathie«. Nach A. Feinstein (2010, 7, 31f.) scheint dieses klinische Bild dem später in den 1940er Jahren von Hans Asperger beschriebenen Autismus-Syndrom weithin zu entsprechen. Jedoch werden unseres Erachtens beim sogenannten Asperger-Autismus mehr Spezialinteressen und Stärken autistischer Kinder und Jugendlicher berücksichtigt, weshalb Ssucharewas Defizitorientierung kritisiert werden kann. Bemerkenswert ist aber ihr Interesse für die Entstehungsbedingungen und den Entwicklungsverlauf der »schizioden Psychopathien«. So erkennt sie bereits das Zusammenwirken von ungünstigen anlagebedingten Faktoren (z. B. Epilepsie) mit kritischen äußeren Einflüssen (z. B. einem »schlechten Milieu«, einer »schlechten Erziehung« oder traumatischen Erfahrungen). Zudem beschreibt sie Probleme und Auffälligkeiten im schulischen Alltag, die das gemeinsame Unterrichten von nicht-autistischen und autistischen Schüler*innen erschweren. Leider sind Ssucharewas Erkenntnisse in der Autismusforschung jahrzehntelang nicht zur Kenntnis genommen worden. Ihre Texte waren in russischer Sprache verfasst und viele Jahrzehnte für den deutsch- und englischsprachigen Raum schwer zugänglich.

Die zweite Erstbeschreibung über Autismus stammt von dem österreichischen Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1896–1981), der in den 1920er Jahren in die USA ausgewandert war. Dort praktizierte er am Johns-Hopkins-Hospital in Baltimore (Maryland) und war maßgeblich am Aufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie beteiligt. Nach J. Donvan und C. Zucker (2016) galt er zu jener Zeit als der bedeutsamste Kinder- und Jugendpsychiater in den USA. Im Jahr 1943 veröffentlichte er einen englischsprachigen Grundlagenaufsatz über Autismus, der ähnlich wie die Schriften von Grunja E. Ssucharewa oder seines Zeitgenossen Hans Asperger auf Beobachtungen und Begutachtungen von Kindern beruht. Diese Kinder galten als »sonderbar« und entsprachen nicht den bislang bekannten klinischen Bildern (z. B. »Intelligenzminderung«; »frühkindliche Schizophrenie«). Da die Schriften von H. Asperger erst in den 1980er Jahren im internationalen, vor allem englischsprachigen Raum fachwissenschaftliche Beachtung fanden, werden sie an späterer Stelle unserer Geschichtsdarstellung aufgegriffen.

Nach Jan Blacher und Lisa Christensen (2011) zeigen allerdings nur wenige der von Leo Kanner vorgestellten Kinder das von ihm beschriebene »Vollbild« von Autismus, darüber hinaus waren nur wenige zusätzlich »geistig behindert«. Einige der Kinder galten vielmehr als hoch intelligent und die meisten imponierten durch Stärken. Zudem gab es mehrere positive Entwicklungen im Erwachsenenalter, bei denen es zu einem weithin »normalen« und glücklichen Leben gekommen war. Dabei konnten manche ihre speziellen Begabungen und Interessen beruflich oder in der Freizeit nutzen. Ferner hatten sich bei einigen der Betroffenen die ursprünglich beobachteten autistischen Merkmale (z. B. im stereotypen, repetitiven Verhalten, in der sozialen Kommunikation) zurückgebildet (dazu die bemerkenswerte Geschichte des heute über 80-jährigen Donald Triplett, Kanners erster »Fall«; beschrieben in Donvan & Zucker 2016). Nach Kanner war die Entwicklung vor allem dann günstig, wenn es noch vor dem fünften Lebensjahr zu einem Spracherwerb, zu einem längeren Verbleib und Unterstützungsangebot in der Familie und zu keiner Institutionalisierung (Unterbringung in Anstalten) gekommen war. Gleichwohl war er vor allem bei autistischen Kindern mit mehrfachen Beeinträchtigungen (z. B. zusätzliche Epilepsie) in Bezug auf Prognosen zurückhaltend.

Autismus – psychogenetisch verursacht?

Für Leo Kanner war der Autismus in erster Linie angeboren. Allerdings verhielten sich nach seinen Beobachtungen die meisten der Eltern (Mütter) in ihren Interaktionen distanziert und kühl. Dass dieses Verhalten den Zustand der Kinder beeinflusst hat, war für ihn durchaus denkbar. Daher wurde ihm spätestens seit Ende der 1950er Jahre die Annahme einer psychogenetischen Verursachung von Autismus unterstellt. Diese These wurde im April 1948 vom US-amerikanischen »Time« Magazin aufgegriffen und führte zum Begriff der »Kühlschrankmutter« mit entsprechenden Vorwürfen gegenüber Eltern autistischer Kinder (vgl. Donvan & Zucker 2016, 73ff.). Solche Anschuldigungen kamen vor allem von Bruno Bettelheim (1967), der Ende der 1930er Jahre aus Österreich in die USA geflüchtet und ursprünglich Kunstwissenschaftler war, sich psychoanalytische Kenntnisse angeeignet und mit der Orthogenic School in Chicago ein Behandlungszentrum für emotional und sozial schwer gestörte oder auffällige Kinder aufgebaut hatte. Bruno Bettelheim vertrat vehement die psychogenetische Verursachungstheorie von Autismus (emotionales Trauma als Ursache) und hatte mit Erfolgsmeldungen (»recovery« – »Genesung vom Autismus«) bezüglich seiner Behandlungsmethode in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Seine Geschichten waren jedoch wissenschaftlich umstritten (vgl. Feinstein 2010, 67ff.), und sein Affront gegen Eltern (speziell gegen die Mütter) autistischer Kinder führte zu vehementen Auseinandersetzungen. Das aber hatte Leo Kanner nicht gewollt, weshalb er sich zu Beginn der 1970er Jahre für seine missverständlichn Ausführungen entschuldigte.

Neben Bruno Bettelheim gab es noch andere Anhänger der psychogenetischen Verursachungstheorie in Bezug auf Autismus (z. B. Eric Erikson), die sowohl autistische Kinder als auch ihre Eltern tiefenpsychologisch (psychoanalytisch) zu behandeln versuchten. Allerdings folgten manche nicht uneingeschränkt den Auffassungen Bruno Bettelheims. So fanden zum Beispiel in der von der Psychotherapeutin Virginia Axline (1971; 1974) veröffentlichten »Spieltherapie«3 mit autistischen Kindern nicht nur tiefenpsychologische Aspekte, sondern (vor allem) auch Erkenntnisse und Überlegungen aus der humanistischen Psychologie Carl Rogers Eingang. Dieser Ansatz stand kontrapunktisch der Praxis der Kinderpsychiaterin Lauretta Bender gegenüber, die in den 1950er und 1960er Jahren den Einsatz von Elektroschocks (später auch eine Insulinschocktherapie und Behandlung mit LSD)4 bei schizophrenen oder autistischen Kindern propagierte oder unterstützte. Über Auswirkungen der Elektroschocktherapie, zum Beispiel über psychische »Zerstörung« und »Leblosigkeit«, berichtet A. Feinstein (2010, 46). Neben ihren therapeutischen Bemühungen setzte sich Lauretta Bender mit Fragen der Ursachen und des Verständnisses von Autismus auseinander. Ihrer Ansicht nach war der kindliche Autismus ein Sichtbarwerden der Schizophrenie im Kindesalter. Allerdings sei der Autismus als Ausdruck von Schizophrenie selten in »reiner Form« zutage getreten. Außerdem sei es »oft unmöglich gewesen, zwischen dem ›idiotischen‹ Kind und dem ›autistischen‹ Kind zu unterscheiden« (ebd., 44). Diesen Auffassungen hatte Leo Kanner aufgrund seiner Erkenntnisse deutlich widersprochen. Ursächlich zog Lauretta Bender eine Verbindung zwischen biologischen Faktoren, traumatischen Erfahrungen, Entwicklungsbeeinträchtigungen und »psycho-neurotischen« Reaktionen in Betracht, wobei sie der bloßen psychoanalytischen Erklärung (psychogenetischen Theorie) kritisch gegenüberstand.

Erste Elternbewegungen

Eine der in den USA einflussreichsten Mütter autistischer Kinder, die sich gleichfalls gegen Behauptungen und vor allem Vorwürfe (Bruno Bettelheim) aus dem Lager der Psychoanalyse wandte, war Ruth Sullivan. Sie warf unter anderem die Frage auf: Wie kommt es, dass nur eines ihrer sieben Kinder autistisch war, alle anderen aber enge wechselseitige Beziehungen pflegten, liebkosten oder Körperkontakt aufsuchten? Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit gelang es Ruth Sullivan, andere Mütter autistischer Kinder zu sensibilisieren und zu einem Gruppenzusammenschluss anzustiften. Die sich daraus entwickelnde Elternselbsthilfe-Bewegung fand alsbald Zuspruch und Unterstützung durch den damals noch jungen Psychologen Bernard Rimland, der selbst Vater eines autistischen Jungen war. Für Rimland gab es wissenschaftlich überzeugende Argumente für eine genetisch-biologische Verursachungstheorie von Autismus. Im Zuge der damit verknüpften Kontroversen und Spannungen mit Bruno Bettelheim kam es durch entscheidende Impulse von Ruth Sullivan und Bernard Rimland im November 1965 zur Gründung der National Society for Autistic Children (NSAC), die sich als erste Organisation in den USA für Belange und Rechte autistischer Kinder einsetzte (vgl. Donvan & Zucker 2016, 133).

Erwähnenswert ist, dass einige Jahre zuvor schon US-amerikanische Eltern unter der Bezeichnung »The ARC« (The Association of Retarded Children) eine Organisation gegründet hatten, der es um die Interessen von Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten (beziehungsweise geistiger Behinderung) ging. Nach Donvan und Zucker (2016, 158) sei es wohl zu Rivalitäten zwischen beiden Vereinigungen gekommen, obwohl es gemeinsame Bezugspunkte gab. So galten zur damaligen Zeit mindestens 75 % aller autistischen Kinder zugleich als »geistig behindert«. Diese Annahme wurde vor allem durch Studien der Psychiaterin Marian DeMyer gestützt. Interessant war ihre Frage nach dem Grund für den niedrig ermittelten IQ. Denn »obwohl die meisten der am stärksten sozial zurückgezogenen autistischen Kinder den niedrigsten IQ hatten, konnten wir nicht in Erfahrung bringen, ob der Rückzug die niedrigen IQs verursachte, oder ob die niedrigen IQs Ursache für den Rückzug waren« (zit. n. Feinstein 2010, 145). Der enge Zusammenhang zwischen niedrigem IQ und Autismus wurde allerdings von einigen Mitgliedern der NSAC kritisch gesehen. In Anlehnung an Leo Kanners Erfahrungen gab es Stimmen (z. B. von Bernard Rimland), zwischen Autismus und Intelligenzminderung stärker zu differenzieren. Nicht-sprechende Kinder aus dem Autismus-Spektrum waren zumal schwerer zu testen und standen in der Gefahr, in ihrer Intelligenz unterschätzt zu werden. Jedoch stimmten die beiden eben genannten Organisationen NSAC und The ARC darin überein, dass die bisherige Unterbringung in Anstalten für die Entwicklung behinderter Kinder schädlich war und überwunden werden musste.

In der Tat waren damals die Zustände in großen Einrichtungen der Behindertenhilfe menschenverachtend und menschenrechtsverletzend (vgl. dazu Theunissen 2012). Diese Erkenntnis führte in den USA sowie in vielen anderen westlichen Industrienationen unter dem Leitgedanken der Deinstitutionalisierung zu einer tiefgreifenden Reform, die insbesondere das Wohnen betraf. Anstelle des Lebens im Heim oder in einer Komplexeinrichtung wurden kleine, häusliche Wohnformen im Gemeinwesen favorisiert. Darüber hinaus ging es beiden Organisationen um das Recht auf Erziehung und Bildung behinderter Kinder, dem in den USA mit einer entsprechenden Schulgesetzgebung seit 1975 stattgegeben wurde.

Ein Blick auf Deutschland

Wie in den USA gab es auch in Deutschland politisch bedeutsame Initiativen von Eltern autistischer Kinder. Zu Beginn der 1970er Jahre schlossen sich in Westdeutschland (BRD) Eltern autistischer Kinder vielerorts zusammen und gründeten auf Bundesebene den Selbsthilfeverein »Hilfe für das autistische Kind«. Der Verein war unter anderem neben seiner Öffentlichkeitsarbeit bestrebt, bundesweit Regionalverbände sowie Autismus-Therapie-Zentren aufzubauen und ähnlich wie die in den 1950er Jahren gegründete Elternvereinigung »Lebenshilfe« die Schulpflicht für alle behinderten Kinder politisch durchzusetzen. Dieser Initiative wurde in der BRD 1975 mit Einführung der Schulpflicht für alle und dem damit verknüpften Ausbau des Sonderschulwesens Rechnung getragen. Allerdings wurde damals – was bis heute weithin unverändert geblieben ist – Autismus nicht explizit als sonderpädagogisch relevante Behinderungsform aufgeführt, sondern unter dem Förderschwerpunkt »geistige Behinderung« (heute »geistige Entwicklung«) und nachfolgend auch unter dem Förderschwerpunkt »emotionale und soziale Entwicklung« (bezogen auf das »Asperger-Syndrom«) gefasst.

Zuvor hatte sich bereits seit den 1950er Jahren der Kinder- und Jugendpsychiater Gerhard Bosch intensiv mit dem »frühkindlichen Autismus«, später auch mit der »autistischen Psychopathie« (Asperger) befasst und gegen die Annahme argumentiert, Autismus sei Ursache eines emotionalen Traumas (vgl. Feinstein 2010, 80). Indem er beide autistischen Bilder auf Hirnschädigungen zurückführte, zeigte er zugleich Verständnis für die Situation der Eltern autistischer Kinder. Daher wandte sich eine wachsende Zahl an organisierten Eltern gegen die bisherige Unterbringung autistischer Kinder in psychiatrischen Krankenhäusern. Dort wurden die Betroffenen zumeist lebenslänglich auf nicht selten überfüllten Stationen mit wenig Personal einer in der Regel aversiven Anstaltspraxis unterworfen. Diese Verwahrpsychiatrie war ein fruchtbarer Boden für schwere Hospitalisierungsschäden, wie zum Beispiel Tics, Stereotypien, Selbststimulationen, soziale Abkapselung, selbstverletzende Verhaltensweisen, Sachzerstörung oder fremdaggressives Verhalten (vgl. Theunissen 2000; 2012).

Die intensive Verhaltenstherapie nach Ivar Lovaas

In den USA war die Organisation NSAC weiterhin bemüht, die Öffentlichkeit und Politik für das Thema Autismus zu sensibilisieren. Dabei gelang es ihr, prominente Persönlichkeiten als Fürsprecher und Unterstützer zu gewinnen. Wie erfolgreich die NSAC war, wird daran sichtbar, dass sie 1974 die Anerkennung von Autismus als Behinderungsform (developmental disability) und die Schaffung von ersten gemeindeintegrierten Wohngruppen mit (zumeist) sechs autistischen Personen durchzusetzen vermochte. Zudem wurden erste Autismus-Dienstleistungszentren (autism services center) eingerichtet. Schwerpunkte ihrer Arbeit bezogen sich auf Beratung und Hilfen für Eltern autistischer Kinder sowie auf Förderangebote.

1980 wurde dann zunächst von der US-amerikanischen Psychiatriegesellschaft der »frühkindliche Autismus« unabhängig von Schizophrenie in das Klassifikationssystem DSM-III aufgenommen. Die Weltgesundheitsorganisation hatte hingegen schon 1979 in ihrem Klassifikationssystem ICD-9 den frühkindlichen Autismus und eine »nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung« anerkannt. Diese nicht näher bezeichnete Form enthielt bereits einige der von Hans Asperger beschriebenen Autismus-Merkmale. Darauf wurde in den USA erst 1987 mit dem DSM-III-R reagiert (vgl. Feinstein 2010, 179f.).

Jenseits dieser Entwicklung zeichnete sich in den USA ein wachsendes Interesse ab, Methoden zur Behandlung von Autismus zu erproben. Zunächst wurde in den 1960er Jahren mit LSD als »Behandlungsdroge« gegen Autismus experimentiert (vgl. dazu Donvan & Zucker 2016, 192ff). Als deutlich wurde, dass die Versuche mit LSD nicht den erwünschten Behandlungserfolg erbrachten, wandte sich der Psychologe Ivar Lovaas, der an diesen Experimenten beteiligt war, einem verhaltenstherapeutischen Ansatz zu. Dabei ging es um die Umsetzung lerntheoretischer Gesetzmäßigkeiten in Verbindung mit einer sogenannten angewandten Verhaltensanalyse (Applied Behavior Analysis; kurz: ABA)5. Zunächst experimentierte Ivar Lovaas mit aversiven Behandlungsmethoden (Bestrafungen wie aufs Knie legen und schlagen oder Elektroschocks), um unerwünschtes (v. a. auch schweres selbstverletzendes) Verhalten autistischer Kinder abzubauen und sozial angepasstes aufzubauen (vgl. ebd., 195ff.; auch Feinstein 2016, 130ff.). Seine Untersuchungen führten ihn zur Konzeption einer intensiven Verhaltenstherapie im frühen Kindesalter. Hierbei wurden autistische Kinder für zwei Jahre einer Intensivtherapie unterzogen, die 40 Wochenstunden beinhaltete und das Eintrainieren wünschenswerter Verhaltensweisen (z. B. Blickkontakt, Aufmerksamkeit, Konzentration auf eine Sache, Nachahmung, Benennen von Dingen, sozial angepasstes Verhalten) vorsah. Diese intensive Praxis stand der psychoanalytisch gestützten Behandlung nach Bruno Bettelheim (z. B. Begleitung der Spielaktivitäten eines autistischen Kindes) kontrapunktisch gegenüber.

Als durch erste Erfolgsmeldungen und Veröffentlichungen die »Lovaas-Therapie« im Lager der NSAC sowie bei anderen US-amerikanischen Eltern- und Fachorganisationen (z. B. TASH) bekannt wurde, kam es zu heftigen Reaktionen und kontroversen Debatten (vgl. Donvan & Zucker 2016, 218f.). Gegenstand der Auseinandersetzung war vor allem die aversive Behandlungspraxis (einschließlich Timeout), die insbesondere von Vertreter*innen der TASH und kritischen Fachleuten aus dem Lager der Verhaltenstherapie und Sonderpädagogik als menschenverachtend, erniedrigend und ethisch nicht vertretbar betrachtet wurde. Einige der Fachleute engagierten sich daraufhin für eine nicht-bestrafende Praxis, die als »Positive Behavioral Support« (Positive Verhaltensunterstützung) bezeichnet wurde (vgl. Theunissen 2018, 108f.). Ferner wurde das Pivotal Response Training (PRT) zur frühen Hilfe für autistische Kinder entwickelt. Hierbei handelt es sich um ein kind- und spielsituationsorientiertes, behavioristisch gestütztes Gegenmodell zur intensiven, einst aversiv, heute restriktiv geprägten »Lovaas-Therapie« (vgl. Koegel & Koegel 2006; Mohammadzaheri et al. 2014).

Wenngleich einige Forscher die Ergebnisse und das »Heilungspostulat« kritisch hinterfragten, hatte nunmehr Ivar Lovaas mit Bernard Rimland und Catherine Maurice einflussreiche Fürsprecher gefunden, die vom Erfolg seines Modells überzeugt waren. Catherine Maurice war Mutter einer autistischen Tochter und Autorin einer biographisch angelegten Schrift über die Vorzüge der intensiven Frühtherapie nach der angewandten Verhaltensanalyse (ABA). Fungierte die intensive Therapie nach Lovaas zunächst nur als frühe Hilfe für autistische Kinder, so wurden jetzt zentrale verhaltensbezogene Strategien des Ansatzes (z. B. das »discrete trial training«) für den schulischen und unterrichtlichen Bereich aufbereitet. Diese ABA-Praxis wurde auf Druck von Eltern und nach rechtlichen Auseinandersetzungen nun auch behördlicherseits finanziert (vgl. ebd., 259ff.). Zugleich wurden Bemühungen sichtbar, auf aversive Interventionen zu verzichten. Dabei zeichneten sich Erfolge ab, die vermutlich mit ausschlaggebend dafür waren, dass sich Ivar Lovaas zusehends von seinen ursprünglichen Bestrafungsmethoden distanzierte und zu Beginn der 1990er Jahre nur noch eine nicht-aversive ABA-Therapie vertrat.

Entstehung und Verbreitung des TEACCH-Konzepts

Dank dieser Wertschätzung aus der Praxis kam es in der Folgezeit zu einer Verbreitung des TEACCH-Konzepts nicht nur in vielen US-Bundesstaaten, sondern ebenso außerhalb der USA in mehreren westlichen Ländern, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern und Deutschland.

Was Großbritannien betraf, so hatten sich dort schon 1962 (noch vor der US-amerikanischen Elternbewegung) Eltern autistischer Kinder zu einer nationalen Vereinigung zusammengeschlossen. Diese Bewegung unterstützte zunächst in den 1960er Jahren den Aufbau einer speziellen Schule, der ersten für autistische Kinder. In dem Zusammenhang hatte sich die Lehrerin Sybil Elgar hervorgetan, die mit schwer emotional gestörten Kindern arbeitete und dabei auch auf autistische Schüler*innen gestoßen war. Da diese Kinder schwer zugänglich waren, experimentierte Elgar mit verschiedenen Angeboten und Aktivitäten. Diesbezüglich stellte sich alsbald heraus, dass über strukturierte Ablaufpläne, übersichtlich angelegte und begrenzte Arbeitsplätze und Spielzonen die autistischen Kinder am besten erreicht werden und zu guten Lernergebnissen gelangen konnten (vgl. Donvan & Zucker 2016, 276; Feinstein 2016, 87ff.). Dem Anschein nach war wohl Eric Schopler auf das Wirken von Sybil Elgar aufmerksam geworden, weshalb er sich vor Ort informierte und einige ihrer Strategien in das TEACCH-Konzept übernahm.

Impulse aus Großbritannien

Ansonsten gab es in Großbritannien im Unterschied zu den USA eine eher theoriebezogene Fokussierung auf Autismus. Erste gezielte Autismus-Forschungen erfolgten in den 1960er Jahren durch den Psychologen Neil O’Connor und die Psychologin Beate Hermelin. Sie beobachteten zum Beispiel sensorische Besonderheiten autistischer Kinder und erforschten außergewöhnliche Begabungen (Savants). Auf dem Hintergrund ihres Datenmaterials und ihrer Befunde wurde von ihnen der emotionale Erklärungsansatz (mangelnde Mutterliebe) unmissverständlich verworfen. Stattdessen gingen O’Connor und Hermelin von neurobiologischen Besonderheiten bei Autismus aus. Diese Annahme wurde von Uta Frith weiterverfolgt, die mit ihrem Forschungsteam (u. a. mit Simon Baron-Cohen) experimentelle Untersuchungen durchführte. Dabei kam Uta Frith zu der Überzeugung, dass autistische Kinder besondere Schwierigkeiten hätten, sich in andere Personen hineinzuversetzen beziehungsweise deren Perspektive zu übernehmen. Das war die Stunde der »Theorie des Geistes« (Theory of Mind), mit der die Mentalisierungsprobleme autistischer Kinder erklärt wurden.

Ferner erarbeiteten Uta Frith und ihr Team ein weiteres Erklärungsmodell, indem angesichts einer »unnormalen«, erhöhten und priorisierten Detailwahrnehmung autistischen Kindern eine »schwache zentrale Kohärenz« (Probleme beim Erkennen eines Ganzen) nachgesagt wurde. Beide Theorien haben Geschichte gemacht und werden bis heute in vielen Lehrbüchern über Autismus herausgestellt.

Neben Uta Frith und Simon Baron-Cohen, der nachfolgend die viel zitierte Hypothese des »extrem männlichen Gehirns« autistischer Menschen entwickelte und diese bis heute in Verbindung mit der Theorie des »Systematisierens« (systemizing) vertritt, gewann die britische Kinderpsychiaterin Lorna Wing großen Einfluss auf dem Gebiet der Autismusforschung. Wing war selbst Mutter einer stark autistischen Tochter. Sie engagierte sich zunächst zu Beginn der 1960er Jahre in der britischen Elternselbsthilfebewegung und National Society for Autistic Children (NSAC), unterstützte als ihr Komiteemitglied das Schulprojekt von Sybil Elgar und befasste sich dann als Wissenschaftlerin intensiv mit Autismus. Dabei erkannte sie den Vorteil, von einem Autismus-Spektrum auszugehen, um dadurch Variabilitäten und individuelle Ausprägungsformen autismustypischer Merkmale besser erfassen zu können (vgl. Donvan & Zucker 2016, 313). Einige ihrer Überlegungen und Vorschläge in Bezug auf Autismus fanden nachfolgend Eingang in den Klassifikationssystemen psychischer Störungen ICD und DSM.

Ein besonderer Verdienst kommt Lorna Wing zu, indem sie nach Kenntnisnahme der Arbeiten über Autismus des österreichischen Kinder- und Jugendpsychiaters Hans Asperger dessen deutschsprachigen Schriften ins Englische übersetzt und seine Befunde der internationalen Fachwelt bekannt gemacht hatte.

Wirken und Einfluss von Hans Asperger

Es gibt die Vermutung, dass Leo Kanner Aspergers Arbeiten durchaus bekannt gewesen waren (vgl. Feinstein 2010, 11). Der Vorwurf, dass er sie bewusst zurückgehalten hat, ist jedoch bislang nicht bewiesen worden. Etwa zeitgleich wie Kanner waren ebenso Hans Asperger Kinder und Jugendliche aufgefallen, die ein höchst eigenwilliges und einzelgängerisches Verhalten zeigten. Für dieses klinische Bild nutzte er in Abgrenzung zur Schizophrenie den Begriff der »autistischen Psychopathie«, die er als konstitutionell verankert und vererbt betrachtete. Diese Annahme wurde wenige Jahrzehnte später durch Familien- und Zwillingsstudien gestützt.

Auf der Grundlage seiner Untersuchungen und Behandlungen von ca. 200 autistischen Kindern und Jugendlichen war Aspergers Blick nicht nur einseitig auf Defizite oder Fehlverhaltensweisen ausgerichtet. Vielmehr war er davon überzeugt, »dass in jedem Charakter (der ›autistischen Psychopathen‹; d. A.) Vorzüge und Mängel Ausfluß derselben Wesenszüge sind, daß Positives und Negatives zwei Seiten sind, die man nicht ohne weiteres voneinander trennen kann« (1944, 135). Das macht seine Schriften über Autismus besonders wertvoll (vgl. Theunissen 2018, 21ff.).

Was Hans Aspergers Wirken betrifft, so gibt es Hinweise darauf, »dass sein Verhalten zwiespältig war« (Sheffer 2018, 16; dazu auch Donvan & Zucker 2016, 328ff.; Feinstein 2010, 15ff.). Wenngleich er kein Mitglied der NSDAP war, hat er wohl mit den Nazis zusammengearbeitet, sich abfällig über Kinder mit schweren Intelligenzbeeinträchtigungen und Störungsbildern geäußert und keine Einwände gegen das Abschieben und die Unterbringung schwer geistig und mehrfach behinderter Kinder in die berüchtigte österreichische Fürsorgeanstalt und Kinderfachabteilung »Am Spiegelgrund« gehabt. Dort wurden zur Zeit der Naziherrschaft verhaltensauffällige und behinderte Kinder medizinischen Experimenten unterworfen und getötet. Zugleich hat er sich aber auch für nicht-intellektuell beeinträchtigte Kinder aus dem Autismus-Spektrum eingesetzt, die er mit dem Argument ihrer »sozial wertvollen Brauchbarkeit« für die nationalsozialistische Gesellschaft vor der Euthanasie zu retten versuchte. »Beides lässt sich« – so die Historikerin Edith Sheffer (2018, 16) – »belegen«.

Schauen wir zurück, ist unschwer zu erkennen, dass Aspergers Erkenntnisse über »autistische Psychopathen« im Kindes- und Jugendalter für die weitere Autismusforschung von hohem Erfahrungswert waren. Darüber hinaus lieferten seine Erkenntnisse dem Nachdenken und der Theorieentwicklung über Autismus wichtige Impulse. Vor diesem Hintergrund wurde das sogenannte Asperger-Syndrom neben dem von Leo Kanner abgeleiteten frühkindlichen Autismus ab 1992 in das Klassifikationssystem ICD-10 und ab 1994 in das DSM-IV aufgenommen. Gleichwohl gab es mit Lorna Wing Stimmen, die das Gemeinsame zwischen den von Kanner und Asperger beschriebenen Autismus-Bildern betonten und den Bemühungen um eine klare Unterscheidung kritisch gegenüberstanden.

Die Verbreitung von zwei umstrittenen Methoden

Mit Blick auf einige westliche Industrienationen (z. B. Nordamerika, Nordeuropa, deutschsprachiger Raum) war es parallel zur intensiven Verhaltenstherapie nach Lovaas in den 1970er Jahren mit der sogenannten Festhaltetherapie7 zu einer weiteren Aufsehen erregenden Methode gekommen. Sie stützt sich auf die vom niederländischen Ethologen Nikolaas Tinbergen vertretene Annahme, dass traumatische Erfahrungen oder fehlendes Sicherheitserleben und Urvertrauen durch mangelnde körperbezogene, zwischenmenschliche Interaktionen die zentrale Ursache der Verweigerung der Kontaktaufnahme von Kindern mit frühkindlichem Autismus seien.

In den USA wurde die Festhaltetherapie vor allem durch Martha Welch und in Westdeutschland sowie Österreich durch Jirina Prekop vertreten. Nach einer anfänglichen Phase starker Verbreitung stellte sich jedoch alsbald heraus, dass die Festhaltetherapie nicht nur auf einem unzulänglichen Erklärungsansatz beruhte, sondern auf handlungspraktischer Ebene zumeist ineffektiv und für die psychische Entwicklung der Heranwachsenden eher schädlich als gewinnbringend war (vgl. Feinstein 2016, 161). Zudem war sie für viele Mütter autistischer Kinder emotional belastend und nicht selten schwer aus- und zeitlich durchzuhalten.

Eine andere Methode, die große Beachtung fand, war die GestützteKommunikation8. Sie geht zurück auf die australische Aktivistin für Behindertenrechte Rosemary Crossley und wurde in den USA vor allem vom Erziehungswissenschaftler Doug Biklen bekannt gemacht. Die Chance, die mit der Gestützten Kommunikation sowie mit anderen unterstützten Kommunikationsformen einhergeht, besteht darin, dass mittels ihrer Hilfe kaum oder nicht-sprechende Personen aus dem Autismus-Spektrum lernen können, sich eigenständig mitzuteilen und zu verständigen. Hierzu gibt es heute zahlreiche Beispiele und Dokumentationen. Allerdings haben Forschungsstudien die Zuverlässigkeit der Methode in Zweifel gezogen. So konnte in einigen Untersuchungen aus den frühen 1990er Jahren nachgewiesen werden, dass die autistische Person von ihrer Stützerin oder ihrem Stützer eindeutig beeinflusst wurde (vgl. Donvan & Zucker 2016, 364f.). Gleichwohl stehen vor allem kommunikationseingeschränkte Selbstvertretungsaktivist*innen der Gestützten Kommunikation aufgeschlossen gegenüber, da sie keinen Versuch auslassen wollen, der ihnen womöglich zu einer besseren Mitteilungsmöglichkeit verhelfen kann.

Ein weiterer Blick auf Deutschland

Hierzulande kam es etwa zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Festhaltetherapie zu Kooperationen zwischen einigen pädagogischen Fachleuten, Kinder- und Jugendpsychiatern und dem Elternverein »Hilfe für das autistische Kind«, der sich seit 2005 unter dem Namen »autismus Deutschland e. V. – Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus« politisch und fachlich engagiert. Einer der bedeutsamsten Kooperationspartner war der Kinder- und Jugendpsychiater Hans E. Kehrer, welcher sich schon seit den 1970er Jahren intensiv mit dem »frühkindlichen Autismus« beschäftigt hatte. Als Vorsitzender des von ihm 1983 in Münster initiierten Instituts für Autismusforschung (IFA) unterstützte er verschiedene Projekte, zum Beispiel in Bezug auf Früherkennung, diagnostische Untersuchungen und Hilfsmittel, Sprachbehandlung, pädagogische Förder- und Therapiemöglichkeiten, autistisches Denken, Sonderbegabungen oder spezielle Leistungen autistischer Kinder. Nach seinem Tod im Jahr 2002 wurde das IFA nach Bremen verlegt und unter der Regie von Hermann Cordes, Vater eines autistischen Sohnes, als Forschungsstätte, Beratungs- und Praxiszentrum für intensive Verhaltenstherapie ausgebaut.

Die Zusammenarbeit zwischen der Elternvereinigung und den verschiedenen Fachleuten verlief aber nicht immer reibungslos. So gab es mitunter Auseinandersetzungen in Bezug auf Fragen nach der geeigneten Therapie sowie nach der Verortung und dem Verständnis von Autismus. Aus dem Lager der Behindertenpädagogik wurde beispielsweise durch den Behindertenpädagogen Georg Feuser eine kompetenzorientierte Sicht auf den (klassischen) Autismus vertreten. Führende Repräsentanten der Kinder- und Jugendpsychiatrie ließen sich hingegen eher (v. a. mit Blick auf intelligenzbeeinträchtigte, autistische Kinder und Jugendliche) vom sogenannten psychiatrischen Modell leiten (vgl. dazu Theunissen 2012). Einige Symptome dieser klinischen Denkfigur (individualistisches Behandlungsprinzip; Institutionalisierung) schimmern bis heute in der hiesigen Behindertenhilfe und Psychiatrie im Umgang mit Autismus durch. Umso erfreulicher ist es, dass sich im deutschsprachigen Raum seit der im Jahr 2008 aus dem Lager der Psychiatrie und klinischen Psychologie ins Leben gerufenen »Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum e. V.« (WGAS) eine Veränderung beobachten lässt. Sie ist zwar auf genetische oder Hirnforschungen sowie therapeutisches Denken und Handeln fokussiert, aber auch sozialphilosophische Überlegungen, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, Fragen der Lebensqualität, Sichtweisen und Forderungen aus der Selbstvertretung autistischer Menschen werden beachtet.

Internationale Ereignisse

Neben der Suche und Erprobung wirksamer Interventionen oder Therapiemethoden wurden in den letzten Jahrzehnten humangenetische und neurowissenschaftliche Untersuchungen über Ursachen, Erklärungen und Entwicklungsverläufe von Autismus und seinen typischen Merkmalen fokussiert. Bei diesen Untersuchungen ging es vor allem um Hirnforschung und biomedizinische Behandlungsmöglichkeiten sowie um die Entwicklung von Diagnostikinstrumenten.

Bemerkenswert sind darüber hinaus Ereignisse aus den zurückliegenden Jahren 1986 und 1988. Im Jahr 1986 veröffentlichte die heute weltweit bekannte Autistin und Professorin für Viehhaltungsanlagen, Temple Grandin, ihr erstes Buch »Emergence: Labeled Autistic«, in dem sie sich als eine »Denkerin in Bildern« beschreibt. Grandins Überlegungen waren für die US-amerikanische Fachwelt und Wissenschaft hoch interessant, weshalb sie schon Ende der 1980er Jahre Gelegenheiten erhielt, auf Fachkongressen zu sprechen. Mittlerweile gibt es zahlreiche Bücher von Temple Grandin, die ein Beleg dafür sind, dass Betroffene als Expert*innen in eigener Sache nicht nur mit Informationen über ihre Lebensgeschichte und ihr Innenleben, sondern ebenso mit wertvollen Erkenntnissen über Autismus, zum Beispiel in Bezug auf autistische Fähigkeiten, atypische Lern- und Denkweisen sowie besondere Stärken, imponieren können (vgl. Theunissen 2016).

Ferner war 1988 der Hollywoodfilm »Rain Man« erschienen, der vor allem in westlichen Industrienationen große Beachtung und Wertschätzung erfuhr und damit eine Autismus-Debatte in der Öffentlichkeit angestoßen hat. Nach Ansicht vieler Autismus-Fachleute (z. B. Ruth Sullivan) hat der Film letztlich mehr Verständnis für autistische Personen bewirkt (vgl. Donvan & Zucker 2016, 412ff.; Feinstein 2010, 231). B. Rimland und der Savant-Forscher D. Treffert hatten als Fachberater bei der Filmproduktion mitgewirkt. Darüber hinaus hatte der Schauspieler Dustin Hoffman als der »Rain Man« neben seiner Begegnung mit dem Savant Kim Peek vor allem das Verhalten von Peter Guthrie, ein junger autistischer Mann aus Princeton, akribisch genau einstudiert.

Etwa 10 Jahre später erreichte dann eine Publikation über mögliche Zusammenhänge zwischen Impfungen und Autismus des britischen Gastroenterologen Andrew Wakefield die Öffentlichkeit (vgl. Donvan & Zucker 2016, 440ff.; Feinstein 2010, 226ff.). Dieser Beitrag war wegbereitend für die in den nachfolgenden Jahren weit verbreitete Ansicht, dass Impfungen mit nur einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) sowie Quecksilber (Thimerosal) Autismus und Darmerkrankungen verursachen würden. Viele Eltern neugeborener Kinder entwickelten Ängste und Vorbehalte gegenüber der MMR-Impfung, und nicht selten kam es zu Verweigerungen und rechtlichen Auseinandersetzungen.

Anfänge der Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen

Die nachfolgenden Jahre standen aber nicht nur im Zeichen der Impfungsdebatte. Schon Ende der 1980er Jahre gab es erste Bemühungen, unabhängig von Elternverbänden eine Selbsthilfegruppe und Selbstvertretung autistischer Menschen zu bilden (vgl. Theunissen & Paetz 2011). So entstand unter der Initiative bekannter Persönlichkeiten wie Jim Sinclair und Donna Williams das Autism Network International (ANI). Einen Meilenstein in der Geschichte der Organisation und der damit verbundenen Entwicklung einer international bedeutsamen Rechtebewegung autistischer Menschen (Autism Rights Movement) markiert ein 1993 auf einer Fachkonferenz gehaltener Vortrag von Jim Sinclair. Unter dem Titel »Don’t Mourn For Us« (Sinclair 2005) vertrat er die Meinung, dass Autismus weder eine Krankheit sei, noch dass Eltern ihr autistisches Kind betrauern müssten; vielmehr sollten sie es wertschätzen. Viele Elternvereinigungen sahen in diesem Vortrag einen Angriff auf ihr Anliegen, stets im besten Interesse ihres Kindes zu handeln. Daher gab es erhebliche Auseinandersetzungen zwischen dem Lager der Betroffenen und den Elternorganisationen. Diese Zeit wirkt bis heute nach.

Anknüpfend an der Position, dass Autismus keine Krankheit sei, entstand nunmehr im Schulterschluss mit der Rechtebewegung autistischer Menschen im angloamerikanischen Sprachraum eine sogenannte Neurodiversitätsbewegung. Im Wesentlichen soll der Begriff den Umstand beschreiben, dass das menschliche Gehirn auf verschiedene Weise neuronal vernetzt sein kann und neurobiologische Unterschiede respektiert werden sollten. Tatsächlich wurde einige Zeit später erkannt, dass autistische Menschen »von Natur aus« anders wahrnehmen, was nicht pathologisch, defizitär oder behandlungsbedürftig sei (vgl. Theunissen 2016, 70). Neben Selbstvertretungsorganisationen autistischer Menschen orientieren sich heute mehrere psychiatrieerfahrene oder psychiatrisch stigmatisierte Gruppen am Konzept der Neurodiversität (z. B. Homosexuelle, ADHS oder Tourette-Syndrom-Betroffene).

Wie in den englischsprachigen Ländern haben sich ebenso hierzulande Selbstvertretungsorganisationen der Neurodiversitätsdebatte angeschlossen. Die Anfänge der Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen in Deutschland gehen vor allem auf die Gründung des bundesweit agierenden Vereins Aspies e. V. im Jahr 2004 zurück. Ganz im Sinne der Rechtebewegung autistischer Menschen will Aspies e. V. ein Umdenken in der Gesellschaft in Bezug auf Autismus erreichen. Statt Autismus als Krankheit zu sehen und vermeintliche Schwächen zu fokussieren, soll die Öffentlichkeit sensibilisiert werden, ein Autismus-Spektrum und die grundsätzliche Vielfalt des menschlichen Seins anzuerkennen und wertzuschätzen. Daran anknüpfend soll das Recht auf ein selbstbestimmtes und individuell bedeutungsvolles Leben respektiert werden. Neben Aspies e. V. gibt es in Deutschland eine wachsende Zahl an regional organisierten Selbsthilfegruppen. Hervorheben möchten wir die Selbstvertretungsorganisation»autWorkere. G.« aus Hamburg, die neben der Betroffenen-Beratung (Peer Counseling) sogenannte Stärken- und Fähigkeiten-Workshops anbietet, um autistischen Menschen zu mehr Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbst- und Handlungssicherheit sowie Autonomie zu verhelfen.

Autism Speaks – Entstehung und Kontroverse

Ein weiteres wichtiges Ereignis trat im Jahr 2005 in den USA ein, als von Suzanne und Bob Wright, Großeltern eines autistischen Kindes, die Organisation Autism Speaks gegründet wurde. Sie gilt heute als die weltweit größte Fachorganisation. Dies war im Prinzip das erklärte Ziel, denn von Anfang an ging es der Organisation um politische Einflussnahme mit einer »starken Stimme«. Daher versuchte sie andere Vereinigungen in Autism Speaks einzubinden, was ihr auch gelang. In der Tat verloren Organisationen wie Autism Society of America (vormals NSAC) an Bedeutung, da sich die Organisation Autism Speaks als die wichtigste Vertretung autistischer Menschen dank des Medien-Netzwerkes öffentlich in Szene zu setzen wusste (vgl. Donvan & Zucker 2016, 465). Inhaltlich ging es der Organisation im Wesentlichen um biomedizinische und therapeutische Forschung im Hinblick auf Heilung oder Genesung von Autismus. Da Autism Speaks gewaltige Summen an Spenden und Forschungsgeldern (mehr als andere Organisation zusammen) rekrutieren konnte, entschieden noch im Gründungsjahr andere Organisationen, sich mit Autism Speaks zu vereinen.

Interessant ist, dass alsbald die Impfungsdebatte Autism Speaks ergriff und die Organisation durch heftige interne Auseinandersetzungen erschüttert wurde. Dies führte nicht nur zu einem starken Rückgang an Spenden, sondern zu freiwilligen und erzwungenen Austritten von Mitgliedern, die sich für wissenschaftliche Untersuchungen der Impfungshypothese einsetzen. Seit 2004 gab es bereits wissenschaftliche Studien, die die Annahme, dass MMR-Impfungen Autismus verursachen würden, in Zweifel zogen. Als auch nachfolgende Forschungen keine Beweise für die Behauptung fanden, wurde im Jahr 2010 der Beitrag von Andrew Wakefield aus dem Jahr 1998 öffentlich zurückgezogen; und zudem wurde dem Mediziner in Großbritannien bewusste Täuschung der Öffentlichkeit vorgeworfen und die Berufserlaubnis entzogen (vgl. ebd., 493). Dem Anschein nach wollte Autism Speaks dennoch weitere Untersuchungen. Als nach wie vor kein kausaler Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus festgestellt werden konnte, gab die Organisation erst im Jahr 2015 folgendes Statement heraus: »Während der letzten zwei Jahrzehnte sind umfangreiche Forschungen der Frage nachgegangen, ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen Impfungen im Kindesalter und Autismus gibt. Das Ergebnis dieser Forschung ist eindeutig: Impfungen verursachen keinen Autismus. Wir bitten darum, dass alle Kinder geimpft werden sollen« (zit. n. Donvan & Zucker 2016, 491).

Ferner hielt Autism Speaks bis vor kurzem am Heilungsgedanken fest. Dagegen hatte sich bereits im Jahr 2004 die Psychologin und Autismusforscherin Morton Ann Gernsbacher mit ihrem Artikel »Autistics Need Acceptance, Not Cure« (zit. n. Theunissen & Paetz 2011) gewandt. Anstatt durch die Fremdentscheidungen und Behandlungen die Identität zu verlieren, sollten autistische Menschen in ihrem autistischen Sein respektiert werden und eine gleichberechtigte Behandlung aller innerhalb einer Gesellschaft vertretenen Bevölkerungsgruppen erhalten. Ähnlich argumentierten auch andere Aktivist*innen oder Selbstvertretungsorganisationen. Bemerkenswert sind in dem Zusammenhang Kommentare auf der 2004 vom damals 17jährigen Autisten und heutigen TV-Akteur Alex Plank erstellten Internetplattform »Wrong Planet«. Sie hat eine zentrale Bedeutung für autistische Personen und ihre soziale Vernetzung – erlaubt sie doch einen schnellen und unkomplizierten Austausch von Meinungen und Informationen, ohne dabei in unmittelbare Interaktionen treten zu müssen.

Gründung von Autistic Self Advocacy Network und Verbindungslinien zu aktuellen Modellen von Autismus

Zu einer der einflussreichsten Galionsfigur der Kritik an Autism Speaks wurde Ari Ne’eman, der als »Experte in eigener Sache« 2006 das US-amerikanische Autistic Self Advocacy Network (ASAN) gründete. Dieses unterhält inzwischen ein internationales Netzwerk. Neben der scharfen Zurückweisung des Heilungsgedankens stehen gleichfalls die Missachtung des Konzepts der Neurodiversität, die Präferenzen für einschränkende Therapiemaßnahmen (wie zum Beispiel das ABA nach Lovaas), die einseitige Vergabe von Forschungsgeldern an humangenetische oder biomedizinische Projekte, die Ignoranz einer »partizipatorischen Forschung« sowie der Stimme der Betroffenen im Kreuzfeuer der Auseinandersetzung mit Autism Speaks (vgl. Donvan & Zucker 2016, 518ff.; Theunissen & Paetz 2011). Hauptanliegen von ASAN ist ein Umgang mit Autismus nach dem aus der Behindertenbewegung stammenden Slogan »Nichts über uns ohne uns«. Hierbei geht es der Selbstvertretungsorganisation vor allem um Antidiskriminierung, Akzeptanz eines »Lebens mit Autismus«, Verbesserung von Lebensbedingungen, Peer Counseling (Betroffene beraten Betroffene), Partizipation am öffentlichen Leben und Inklusion im Sinne sozialer und gesellschaftlicher Zugehörigkeit.

Darüber hinaus findet im Lager und im Umfeld von ASAN eine Auseinandersetzung mit Theorien und Befunden statt, die in den letzten Jahren aus der Autismusforschung hervorgegangen sind und zum Teil wichtige Erkenntnisse reflektieren. Das betrifft zum Beispiel die sogenannte Monotropismus-Theorie (vgl. Burne 2005). Sie besagt, dass nicht-autistische Menschen sich üblicherweise auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren und ihre Aufmerksamkeit verteilen könnten. Personen aus dem Autismus-Spektrum würden hingegen weitaus weniger Aspekte gleichzeitig fokussieren (Tunnelblick), dafür aber eine wesentlich intensivere Konzentration auf eine Sache zeigen. Diese monotropistische Form der Wahrnehmung gilt als ursächlich für ein verändertes Erleben und Handeln von autistischen Menschen. So können insbesondere soziale Situationen und Interaktionen überfordernd und stresserzeugend sein, wenn zu viele Reize auf eine autistische Person einströmen, so dass ihr begrenzt aufnahmefähiges Wahrnehmungssystem aufgrund einer Erschöpfung der zur Verarbeitung zur Verfügung stehenden Kapazitäten zusammenbricht. An der Stelle wird die Bedeutung eines Präventions- und Bewältigungskonzepts (Coping) für autistische Personen im Hinblick auf Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Reizüberempfindlichkeit) und Stress sichtbar.

Ein präventionsorientiertes Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell lässt sich gleichfalls aus anderen modernen neurowissenschaftlichen Theorien über Autismus ableiten (dazu ausführlich Theunissen 2016, 52ff.). Zum Beispiel legt die »Theorie der intensiv erlebten Welt« (K. Markram & H. Markram) eine »Hyperreaktivität der Hirnreale (nahe, d. A.), die für Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind« (Szalavitz 2013, zit. n. Theunissen 2016, 52). Ebenso geht die »Hypothese der unausgewogenen Empathie« (A. Smith) von einer hyperreaktiven Affektivität durch eine hyperfunktionale Amygdala (die »Angstzentrale« des Gehirns) aus; und das »Modell des Ungleichgewichts zwischen Hemmung und Erregung« (J. Rubenstein & M. Merzenich) beschreibt eine angst-assoziierte Überempfindlichkeit autistischer Menschen in Bezug auf sensorische Reize. Interessant ist zudem die »Theorie über eine Welt, die sich zu schnell bewegt oder verändert« (B. Gepner). Ihr ist zu entnehmen, dass autistische Menschen signifikante Schwierigkeiten haben können, rasche Bewegungsstimuli zu verarbeiten sowie Situationen unter Zeitdruck zu bewältigen. Darüber hinaus sind dem »Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit« (L. Mottron) weitreichende Erkenntnisse in Bezug auf eine andere Form der Wahrnehmung und des Denkens autistischer Menschen zu entnehmen. Demnach sei ihr Wahrnehmungssystem auf die Erfassung und Verarbeitung lokaler Reize (wie Details) ausgerichtet, dem ein sogenanntes »Bottom-up-Denken« zugrunde läge. Nicht-autistische Menschen seien hingegen sogenannte »Top-down-Denker«, indem sie vom Allgemeinen (durch Kategorien- und Begriffsbildung) zum Speziellen (Daten, Merkmale einer Sache) kämen. Dabei sei das sprachbezogene Denken mit dem wahrnehmungsbezogenen untrennbar verbunden. Bei vielen Autist*innen würden hingegen auf der Grundlage der Dominanz des wahrnehmungsbezogenen Denkens beide Denktypen getrennt zutage treten, was vor allem einen intuitiven Zugang zu sozialen Kontexten erschwere (vgl. Seng 2019).

All diese neueren Ansätze ziehen Wahrnehmungsbesonderheiten bei Personen aus dem Autismus-Spektrum in Betracht, weshalb sie vom ASAN und anderen Aktivist*innen geschätzt werden. Bemerkenswert ist, dass auf Formen einer Hyper- oder Hyposensibilität autistischer Menschen schon in den frühen 1970er Jahren der Psychologe Carl Delacato aufmerksam gemacht hatte. Seine Erkenntnisse wurden damals jedoch kaum beachtet. Ebenso finden wir in den »Erstbeschreibungen« von Leo Kanner und Hans Asperger entsprechende Hinweise; und heute sind es viele Betroffene, die über ihre Wahrnehmungsbesonderheiten berichten. Leider wird dieser Bereich in der Praxis noch allzu oft übergangen oder (wie mitunter in der hiesigen Autismusforschung) in seiner Bedeutung heruntergespielt.

Befunde im Rahmen des »Modells der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit« gaben L. Mottron und seiner Mitarbeiterin Michele Dawson, Forscherin und Expertin in eigener Sache, in den letzten Jahren Anlass, die Intelligenz autistischer Menschen genauer zu untersuchen. Dabei konnte bei (nichtsprechenden) Personen mit der Diagnose »frühkindlicher Autismus« festgestellt werden, dass ihre Intelligenz bisher unterschätzt wurde. Besondere Stärken und schnellere (korrekte) Lösungen als nicht-autistische Testpersonen zeigten sich im Mosaiktest oder beim Zusammenlegen und Vervollständigen von Bildern als Untertest der Wechsler-Intelligenztests. Dieses Ergebnis wurde mit der anderen Form der Wahrnehmung autistischer Menschen in Verbindung gebracht. Ferner waren bei der Anwendung sprachfreier Verfahren (z. B. Raven) die Intelligenzwerte höher als bei sprachgebundenen (herkömmlichen) Intelligenztests (Wechsler-Verfahren). In der Tat bestätigen mehrere aktuelle Untersuchungen, dass im Unterschied zu früheren Annahmen, (nur) 35 % bis 50 % aller Kinder mit »Autismus-Diagnose« zusätzlich eine unterdurchschnittliche Intelligenz aufweisen. Dass viele Jahrzehnte von einem engen Zusammenhang zwischen dem »frühkindlichen Autismus« und einer niedrigen Intelligenz ausgegangen wurde, erklärt sich dadurch, dass die betroffenen Personen in der Regel mit »falschen« (sprachgebundenen) Verfahren getestet wurden (vgl. Feinstein 2010, 201).

Dem Thema der Intelligenz begegnen wir aber auch an anderer Stelle, wo der Aktivistin Amanda Baggs ein niedrigfunktionaler, stark ausgeprägter Autismus mit kognitiven Beeinträchtigungen attestiert wurde. Mit Hilfe der Gestützten Kommunikation lernte Amanda Baggs ohne fremde Hilfe zu schreiben und sich zu verständigen. Daraufhin entstand 2007 ein von ihr selbst entworfener Kurzfilm »In My Language«, der eine politische Botschaft sein soll. Der Film zeigt sie scheinbar isoliert in ihrer eigenen Welt und verdeutlicht, dass sie sehr wohl das Vorgehen in ihrer Umwelt registriert und ihr vermeintlich autistisches Verhalten nicht Ausdruck einer schweren geistigen Behinderung ist, sondern ihre Art und Weise, die Welt wahrzunehmen, zu begreifen und mit ihr zu kommunizieren. Zugleich führt uns Baggs mit ihrer Präsentation vor Augen, dass unter dem Begriff der »Autismus-Spektrum-Störung« kein Kontinuum von Symptomen und Schweregraden gefasst werden darf, an dessen einem Ende der niedrigfunktionale Autismus in Verbindung mit schwerer Intelligenzminderung platziert wird und an dem anderen Ende der hochfunktionale Autismus oder das Asperger-Syndrom mit hoher Intelligenz. Stattdessen sollte aus der Sicht von ASAN von einem variablen Spektrum ausgegangen werden, wie es bereits L. Wing angedacht hatte. Die Bezeichnungen niedrigfunktional (low functioning) und hochfunktional (high functioning) sind übrigens vor einigen Jahren vom frühkindlichen Autismus abgeleitet worden, als im englischsprachigen Raum erkannt wurde, dass dieses klinische Bild eben nicht unreflektiert oder gar automatisch mit Lernschwierigkeiten (beziehungsweise geistiger Behinderung) assoziiert werden darf.

Zu guter Letzt sollte nicht ungewürdigt bleiben, dass Ari Ne’eman als Präsident von ASAN Ende 2009 vom US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama in das National Council on Disability berufen wurde. Dagegen gab es aus dem Lager der Organisation Autism Speaks heftigen Protest, dem aber das Weiße Haus in Washington nicht Rechnung trug (vgl. Donvan & Zucker 2016, 525ff.). Ebenso ließ sich die amerikanische Psychiatriegesellschaft (APA) nicht davon abhalten, Ari Ne’eman und Steven Kapp als Repräsentanten von ASAN in die für die Überarbeitung des DSM IV zuständige Autismus-Arbeitsgruppe einzuladen. Beide Berufungen können als Wertschätzung der bisherigen Arbeit des ASAN und als Ausdruck dafür betrachtet werden, dass die Stimme der Betroffenen sehr wohl Gehör finden kann. Welche Neuerungen in Bezug auf Autismus aus der Überarbeitung des DSM IV hervorgegangen sind und welches Verständnis von Autismus vonseiten des ASAN vertreten wird, ist Thema unseres nachfolgenden Kapitels.

1     Darunter wurden Personen gefasst, die trotz einer (schweren) intellektuellen Beeinträchtigung und/oder autistischer Verhaltensweisen besondere Fähigkeiten oder Fertigkeiten in einem speziellen Bereich (Musik, Kunst, Rechnen, Gedächtnis) zeigten.

2     Bisher galten nur die Schriften über Autismus von Leo Kanner und Hans Asperger als Erstbeschreibungen (dazu später).

3     Es handelt hierbei um eine »Spieltherapie«, bei der ein »freies Spielen« wertschätzend und »nicht-direktiv« durch die therapeutische Fachkraft begleitet wird.

4     Bei der Elektroschocktherapie ging es um die absichtliche, kurzzeitig angesetzte Einwirkung von Strom auf den menschlichen Organismus. Bei der Insulinschocktherapie wurde, mitunter in Verbindung mit der Eleoktroschocktherapie, Insulin verabreicht, um die Person für wenige Minuten in ein Koma zu versetzen. Dadurch sollten autistische Symptome behandelt werden. Das galt ebenso für die Experimente mit LSD, bei denen vor allem eine soziale »Öffnung« und Zugewandtheit erhofft wurde.

5     Ein wesentlicher Aspekt von ABA bezieht sich auf die Erfassung und Analyse von Verhaltensweisen, ihren auslösenden Bedingungen und der Konsequenzen. Daran anknüpfend soll zum Beispiel durch Veränderung der Konsequenzen (z. B. durch positive Verstärkung, Ignorieren oder Bestrafung) ein wünschenswertes Verhalten erreicht werden.

6     Ausgangspunkt des TEACCH-Programms ist die Erfassung des Entwicklungs- und Lernniveaus des autistischen Kindes, das gefördert oder unterstützt werden soll. Auf der Basis dieser Kenntnisse wird ein Plan erstellt, der sich vor allem durch Strukturierungshilfen (zeitlich, räumlich, aufgabenbezogen) zur Förderung eines selbstständigen Tuns auszeichnet. Die Umsetzung des Förder- oder Unterstützungsplans kann sowohl in pädagogischen Einrichtungen, Arbeitsstätten oder auch im familiären Milieu erfolgen, weshalb auf eine gute Zusammenarbeit mit Bezugspersonen (z. B. Eltern) Wert gelegt wird (vgl. Schatz & Schellbach 2009).

7     Zentrales Ziel der Festhaltetherapie ist es, bei autistischen Personen, die sich anderen Menschen gegenüber sozial abwenden, abkapseln oder isolieren, Sozialkontakt und Zuwendung herzustellen. Dieser Aufbau von Sozialkontakt wird durch Festhalten und Umarmung in einer bequemen Bodenlage erzwungen. Die Dauer eines einzelnen Festhalteprozesses lässt sich dabei nicht vorab bestimmen. Sie hängt von dem Beharrungsvermögen einer betroffenen Person ab, Widerstand gegen das erzwungene Festhalten zu leisten. Erst nach Abklingen ihres Erregungszustands und ihrer Bereitschaft, sich auf den Anderen (freudig) einzulassen, soll das Festhalten beendet werden. Insgesamt kann sich die Therapie über mehrere Monate erstrecken, um ein erwünschtes Sozialverhalten zu erreichen.

8     Die Gestützte Kommunikation sieht vor, dass eine nicht-sprechende Person durch körperliche Hilfestellung einer Begleitperson, die als Stützer*in bezeichnet wird, befähigt werden soll, möglichst eigenständig mithilfe einer Tastatur (PC, Laptop) zu kommunizieren.

2          Autismus

 

 

Viele Jahre war die Auffassung weit verbreitet, dass Autismus ein seltenes Phänomen sei. Nach neueren Studien aus Europa und Nordamerika haben wir es jedoch in den letzten Jahren mit einer deutlichen Zunahme zu tun. Die geschätzte Prävalenz von Autismus liegt derzeit bei über einem Prozent und damit höher als bei »intellektueller Entwicklungsbeeinträchtigung« (geistiger Behinderung). Der Wert von einem Prozent wird auch für Deutschland zugrunde gelegt und betrifft ungefähr 800.000 Menschen im Autismus-Spektrum.

Gründe für diesen Anstieg hängen mit einem »Nachholeffekt« zusammen, indem in den letzten Jahrzehnten das sogenannte Asperger-Syndrom nur selten diagnostiziert wurde (dazu Kapitel Geschichte). Das hat sich heute geändert. So melden sich seit einigen Jahren immer mehr Personen zu Wort, die erst im Erwachsenenalter die »Asperger-Diagnose« erhielten. Darauf hat mittlerweile die Autismusforschung reagiert, indem sie ihre Autismus-Diagnostik nicht nur im Hinblick auf die Früherfassung, sondern ebenso in Bezug auf Entwicklungen im Jugend- und Erwachsenenalter verfeinert hat (vgl. Riedel & Tebartz van Elst 2015).

Was die Ursachen von Autismus betrifft, so wird nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand von einer »genetischen Vulnerabilität«9 ausgegangen (vgl. Grabrucker und Schmeißer 2015). Dabei scheinen epigenetische Prozesse eine zentrale Rolle zu spielen. Sie betreffen das Zusammenspiel zwischen genetischen Faktoren (z. B. sogenannten Risikogenen, Genmutationen) mit Umweltkomponenten (z. B. vorgeburtlichen Risikofaktoren wie spätes Alter der Eltern bzw. des Vaters, mütterliche Erkrankungen, Infektionen während der Schwangerschaft, prä- und perinataler Stress, Ausgesetzsein gegenüber Giftstoffen, Frühgeburt). Die genauen Zusammenhänge und Auswirkungen sind jedoch nach wie vor unklar. Dass Gene nicht von Umweltfaktoren und damit verknüpften individuellen Erfahrungen losgelöst betrachtet werden können, belegen vor allem Zwillingsstudien. Trotz hoher Autismus-Konkordanzrate bei männlichen eineiigen Zwillingen (etwa 80 %) entwickelt nämlich nicht jeder zweite eineiige Zwilling ein autistisches Verhalten. Ferner scheint der Ausprägungsgrad der Behinderung bei eineiigen Geschwistern aus dem Autismus-Spektrum erheblich zu variieren.

Neuere Befunde lassen den Schluss zu, dass es auf dem Hintergrund der genetischen Vulnerabilität bei autistischen Kindern zu einer meist globalen, erhöhten Vernetzung (Konnektivität) von Nervenzellen des Gehirns kommt, die mit einem ungewöhnlichen Hirnwachstum im frühesten Alter einhergeht. Diese Untersuchungsbefunde werden vor allem mit den Wahrnehmungsbesonderheiten und Auffälligkeiten im Sozialverhalten in Verbindung gebracht (vgl. Theunissen 2016). Gleichwohl kommt es spätestens ab dem Schulalter zu Veränderungen und vor allem zu einer Verringerung der neuronalen Konnektivität und Aktivität. Allerdings gibt es hierzu kein einheitliches Bild, so dass derzeit von einer »atypischen Konnektivität« (vgl. Maximo et al. 2013) auf der Grundlage einer Fülle »konkurrierender neurobiologischer Hypothesen« (Lai, Lombardo & Baron-Cohen 2014, 901) bei autistischen Personen ausgegangen wird.

Klassifikation von Autismus aus klinischer Sicht

Zur Beschreibung und Klassifikation von Autismus wird in Deutschland zumeist auf das Internationale Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 zurückgegriffen. Dieses weist Autismus als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung