Pädagogik der frühen Kindheit - Anke König - E-Book

Pädagogik der frühen Kindheit E-Book

Anke König

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Beschreibung

Die Pädagogik der frühen Kindheit ist durch ihre Alltagsnähe gekennzeichnet, wird als Bildungsbereich allerdings häufig unterschätzt - nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in der Praxis. Um diese Pädagogik dennoch nicht selbstverständlich umzusetzen oder überkommene Handlungsmuster fortzuführen, ist ein Blick auf die historischen Entwicklungslinien elementar. Dazu löst die Autorin die Pädagogik der frühen Kindheit aus ihren engen institutionellen Bezügen und stellt diese in den Kontext der allgemeinen Geschichte der Kindheit. Sie untersucht die Einflüsse, die dazu geführt haben, intuitive Erziehungspraxen mit einer bewussten Pädagogik zu verknüpfen. Dabei werden Ambivalenzen im Projekt der Erziehung und Bildung deutlich und dominante - auch verhängnisvolle - Entwicklungslinien bis in die Gegenwart sichtbar. Das Buch lädt dazu ein, tradierte Konzepte hinter sich zu lassen und progressiv neue Wege zu beschreiten, die in erster Linie die Perspektive der Kinder stärken. Das Buch richtet sich an Lehrende an Fachschulen für Sozialpädagogik und Studierende der Sozial- und Erziehungswissenschaften, Kindheitpädagogik, Sozialen Arbeit und den Studiengang berufliche Fachrichtung Sozialpädagogik. Fachpolitik und engagierte PraktikerInnen erhalten wertvolle Impulse.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Einleitung

2 Kinder, Familien, Gesellschaft

2.1 Kind und Kindheit

2.2 Familie

2.3 Gesellschaft

3 Kindheits- und Erziehungsgeschichte

3.1 Antike

3.2 Mittelalter

3.3 Neuzeit

3.4 Aufklärung und Romantik

3.5 Kindergartenbewegung

3.6 Reformpädagogiken

3.6.1 Ellen Key

3.6.2 Maria Montessori

3.6.3 Fröbel-Montessori-Streit

3.6.4 Pragmatismus

3.6.5 Neuordnung der Kindergärten

3.7 Faschismus

3.8 Resümee

4 Institutionelle Entwicklungen

4.1 Entwicklungen 1945 – 1970

4.2 Erste Bildungsreform (1970)

4.2.1 Curriculumsdiskussion

4.3 Zweite Bildungsreform (2000)

4.3.1 Rechtsanspruch und Qualitätsdiskussion

4.3.2 Bildungs- und Orientierungspläne

4.3.3 Inklusion

4.3.4 Professionalisierungsdiskussion

4.4 Resümee

5 Going Beyond

5.1 Perspektiven der Kinder

5.2 Kritsch-reflexive Pädagogik der frühen Kindheit

5.3 Pädagogikethik

6 Literaturverzeichnis

7 Abbildungsverzeichnis

8 Personenregister

Die Autorin

Univ.-Prof. Dr. Anke König ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Allgemeine Pädagogik/Frühpädagogik an der Universität Vechta. Davor war sie Projektleitung der »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte« (WiFF) am Deutschen Jugendinstitut e. V. in München (2013 – 2019). Sie ist Mitglied in unterschiedlichen wissenschaftlichen Gesellschaften (u. a. DGfE) und Beiräten, u. a. Vorstandsmitglied des Pestalozzi-Fröbel-Verbands e. V. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: (Internationale) Diskurse in der Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit, Inklusion, Pädagogikethik und sozialer Wandel sowie Interaktions-‍, Professionalisierungs- und Arbeitsfeldforschung.

Anke König

Pädagogik derfrühen Kindheit

Erziehung und Bildung im soziokulturellen Wandel

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]

Print:ISBN 978-3-17-039226-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-039227-4epub:ISBN 978-3-17-039228-1

Vorwort

Seit über zwanzig Jahren beobachte ich die Reformprozesse in der frühen Bildung vor dem Hintergrund der sogenannten Post-PISA-Debatten bzw. der zweiten großen Bildungsreform nach den 1960/70er Jahren in Deutschland. Kindertageseinrichtungen als erste Stufe des Bildungssystems zu stärken, war hierbei – wie schon in den 1960/70er Jahren – eines der zentralen Ziele. Trotz versuchter Teilakademisierung und intensiver Forschung bleibt die Pädagogik der frühen Kindheit als gesellschaftlich anerkannter professioneller Bildungsbereich nach wie vor unterschätzt, und das nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in der Praxis. Vor dem Hintergrund des sozialen Wandels wird der Mangel an Agilität des Systems offensichtlich. Beharrungskräfte wirken stärker als der politische Wille zur Reform. Zugleich zeigt sich auch in diesem Bereich eine zunehmende Geschichtsvergessenheit und damit eine mangelnde Einsicht, um aus historischen Entwicklungslinien lernen zu können.

Mit diesem Buch versuche ich, Ansätze zu einer Bottom-up-Perspektive zu eröffnen, d. h. von der Erziehung im Alltag zur kritisch-reflexiven Pädagogik. Deren Grundlage bilden soziokulturelle Theorien, welche die Bedeutung von Kindheit als sozialem Phänomen und die Gestaltung des Generationenverhältnisses als verantwortungsvoller Praxis hervorheben. Kultur, verstanden als Praxis, die im gemeinsamen Handeln und in gefestigten Mustern dieses Handelns zum Ausdruck kommt, rahmt die Bedingungen des jeweiligen Aufwachsens. Untersucht werden die Einflüsse, die dazu geführt haben, intuitive Erziehungspraxen mit einer bewussten Pädagogik zu verknüpfen. Unter dieser Betrachtungsweise werden Ambivalenzen im Projekt der Erziehung und Bildung deutlich und dominante – auch verhängnisvolle – Entwicklungspfade bis in die Gegenwart sichtbar.

Mit dem Beitrag möchte ich einen Perspektivenwechsel anregen, um die Diskussion in der Pädagogik der frühen Kindheit von den engen institutionellen Bezügen zu lösen und diese in den Mittelpunkt des soziokulturellen Wandels zu stellen. Das Buch lädt dazu ein, tradierte Konzepte hinter sich zu lassen und progressiv neue Wege zu beschreiten, die in erster Linie die Perspektiven der Kinder stärken.

Kapitel 1, »Einleitung«, führt in das Buch und dessen zugrundeliegende Argumentation ein. Der Blick auf den sozialen Wandel und die Herausbildung einer verantwortungsvollen Pädagogik der frühen Kindheit vor dem Hintergrund soziokultureller Entwicklungen ist das Ziel. Kapitel 2 beschreibt und definiert die Begriffe »Kind/Kindheit, Familie und Gesellschaft«. Erziehung bestimmt sich aus dem Kontext dieser wechselseitigen Dynamiken und macht auch Spannungsfelder in der Pädagogik der frühen Kindheit sichtbar. In Kapitel 3, »Kindheits- und Erziehungsgeschichte«, wird die historische Basis für eine kritisch-konstruktive Pädagogik der frühen Kindheit gelegt. Im Zeitverlauf werden Ambivalenzen in der Erziehung und Bildung deutlich. Dafür gilt die kritische Selbstreflexion der Pädagogik der frühen Kindheit als Prämisse. Kapitel 4 fokussiert auf »institutionelle Entwicklungen« in der jüngeren Geschichte. Im Mittelpunkt stehen die erste und zweite Bildungsreform. Reflektiert wird die Entstehung einer modernen institutionellen Pädagogik der frühen Kindheit im Kontext bildungspolitischer Diskussionen. Dabei werden zugleich nachteilige Entwicklungslinien offensichtlich und zentrale Erkenntnisse der letzten Reformjahre herausgestellt. Kapitel 5, »Going Beyond«, hebt hervor, welche Bedeutung Kindheit und die Gestaltung des Generationenverhältnisses heute in unterschiedlichen Wissenschaften hat. Entlang der Perspektiven der Kinder wird die Notwendigkeit einer kritisch-konstruktiven Praxis offenbar. Pädagogik der frühen Kindheit ist mehr als Intuition, sie bedarf der Bewusstheit und Reflexion im pädagogischen Prozess.

Dortmund, Oktober 2024

1 Einleitung

»Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.«Hannah Arendt (2018, S. 215)

Hannah Arendt verdeutlicht mit diesem Zitat, welche Kraft in Menschen liegt und dass Menschsein Möglichkeit bedeutet. Um dieses »Anfänger:innen«-Sein zu entfalten, kommt Erziehung, Bildung und Sozialisation eine entscheidende Rolle zu. Daher ist die Befassung mit der Pädagogik der frühen Kindheit so zentral.

Wer sich mit der Pädagogik der frühen Kindheit auseinandersetzt, muss zunächst verstehen, dass Pädagogik Praxis und Theorie umschließt. Beide Perspektiven sind für den Erkenntnisgewinn in der Pädagogik essenziell. Handlungs- und Forschungsfelder müssen hierbei eng ineinander verschränkt sein, denn Erkenntnis wird durch Praxis und Theorie gleichermaßen befördert. Die Pädagogik der frühen Kindheit ist dabei stärker als andere Pädagogiken darauf angewiesen, die intuitive Praxis zu durchdringen. Sie orientiert sich an familienähnlichem »Alltag«, vermeintlichen Selbstverständlichkeiten und »Routinen« (wie Anziehen, Begrüßen, Essen, Singen, Spielen, Streiten, Zeigen, Kommentieren, Vorlesen etc.). Diese Routinen gelten zum Teil gar als hoch bedeutsam, um den jungen Kindern in ihrem Aufwachsen Wiederholbarkeit, aber auch Vertrautheit und Sicherheit zu gewähren (La Paro und Gloeckler 2016; Bonello 2023). Eben diese Alltagsnähe macht die Pädagogik aber auch besonders anspruchsvoll. Denn es kommt darauf an, die Pädagogik nicht alltäglich, gewöhnlich oder gar banal umzusetzen oder überkommene Handlungsmuster fortzuführen, sondern den tiefergreifenden Sinn zu verstehen, um offen zu bleiben für individuelle und situative Herausforderungen, darin erst liegt ihre Stärke. Die Pädagogik der frühen Kindheit ist daher eine der anspruchsvollsten Pädagogiken überhaupt (Helsper 2021). Werner Helsper erkennt in ihr insbesondere die professionelle Handlungs- und Interaktionsstruktur, die professionelle Tätigkeiten auszeichnet (ebd., S. 192). Denn die Interaktion darf eben nicht auf ein planmäßiges, starres Handeln gründen, sie braucht vielmehr Bewusstheit, um sensibel und responsiv auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen und Lernen und Entwicklung zu ermöglichen. Professionelle Pädagogik ist eine gekonnte Koordinationsleistung.1Pädagogik ist nicht gleichzusetzen mit Erziehung:

»Die Geschichte der Erziehung ist nicht die Geschichte der Pädagogik, so wie sich die Praxis der Erziehung von den zahlreichen Konzepten unterscheidet. Konzepte und Praxis sind nicht zwingend aufeinander bezogen, das gilt auch dann, wenn eine Pädagogik den Plan für die Praxis liefert und versucht, die Entwicklung im Sinne dieses Plans zu steuern.« (Oelkers 2013, S. 3)

Erziehung ist eine Form sozialer Praktik. Sie kann sich durch bewusste Reflexionen auszeichnen, ist aber in hohem Grad insbesondere durch ihre Unmittelbarkeit im Interaktionsprozess von spontanen und emotionalen Momenten geprägt. Das Drama, das sich morgens in fast allen Familien abspielt – unter Zeitdruck aufstehen, frühstücken, sich anziehen und sich zurechtmachen, dabei Kindergarten, Schule und Arbeitsalltag unter einen Hut bringen –, zeigt dies besonders deutlich:

Sina (Mutter) steht an der Kinderzimmertür. Nina wirft die blaue Strumpfhose in die Luft und kommentiert ihr Handeln: »Die zieh ich nicht an!«

»Was ist denn damit los? Du wolltest doch das Kleid anziehen und wir hatten doch schon beschlossen, dass das nur mit Strumpfhose bei den Temperaturen möglich ist.«

»Ja, aber nicht die doofe blaue!«, schreit Nina und ist den Tränen nahe.

Aus der Küche drängt Leo (Vater) zur Eile, während der elfjährige Jo am Esstisch mit seinem älteren Bruder um die letzten Reste in der Milchflasche streitet. »Jetzt macht endlich!«

Die hier genannten Interaktionen, immer bezogen auf den fixen Zeitplan, der vom Beginn der Schulstunden, der Kindergartenbringzeiten und den Terminen am elterlichen Arbeitsplatz vorgegeben ist, befördern affektives Handeln. Es wird deutlich, wie wechselseitige Handlungen mit den Bedingungen des Alltags verknüpft sind. Dieser Zusammenhang prägt die Praktik zwischenmenschlichen Handelns. Auch erzieherisches Handeln lässt sich daher nicht isoliert, sondern nur in einem raumzeitlichen Gesamtgefüge verstehen:

»›Praxis‹ muss anders verstanden werden, nämlich grundlegend als gesellschaftlich-kulturelle Reaktion auf das, was Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) die ›Entwicklungstatsache‹ genannt hat.« (Bernfeld 1973; Oelkers 2013, S. 3)

Das bloße Zusammenleben in sozialen Gruppen im Allgemeinen und eine implizit geforderte Anpassungsbereitschaft wirken bereits als Erziehung. In dem Roman »Streulicht« von Deniz Ohde reflektiert die Erzählerin ihre Kindheitserfahrungen. Als Erwachsene kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück und wird hierbei mit vergangenen Erziehungsmustern konfrontiert. Nach kurzem Befremden ruft der Besuch der Familie die Erinnerung an entsprechende Anpassungsleistungen wach:

»Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könne man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, dem mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.« (Ohde 2021, S. 7)

Das Zitat verdeutlicht die impliziten Effekte von Erziehung, in diesem Kontext der sozialen Unterordnung, »[e]‌ine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht« (ebd.).

Erziehung ist also keine Praktik, die auf pädagogische Institutionen, Organisationen oder Gruppen beschränkt ist bzw. nur von ausgebildeten Pädagog:innen »angewandt« wird. Sie weist auf ein grundlegendes menschliches Potenzial. Die Erziehungsmuster wirken von Generation zu Generation implizit, wenn sie nicht bewusst wahrgenommen und hinterfragt werden. Erziehung stellt sich nicht universell als einheitlich dar, sondern zeichnet sich durch Mannigfaltigkeit und Abhängigkeit vom Kontext aus. Erziehung ist moralisch, d. h. darauf ausgerichtet, was als richtig in sozialen Gemeinschaften empfunden wird.

Emile Durkheim (1858 – 1917), einer der großen Soziologen am Beginn des 20. Jahrhunderts, bringt das wie folgt auf den Punkt:

»Statt daß die Erziehung das Individuum und sein Interesse als einziges und hauptsächliches Ziel hat, ist sie vor allem das Mittel, mit dem die Gesellschaft immer wieder die Bedingungen ihrer eigenen Existenz erneuert. Die Gesellschaft kann nur leben, wenn unter ihren Mitgliedern ein genügender Zusammenhalt besteht. Die Erziehung erhält und verstärkt diesen Zusammenhalt, indem sie von vornherein in der Seele des Kindes die wesentlichen Ähnlichkeiten fixiert, die das gesellschaftliche Leben voraussetzt. Aber ohne eine gewisse Vielfalt wäre andererseits jede Zusammenarbeit unmöglich. Die Erziehung sichert die Fortdauer dieser notwendigen Vielfalt, indem sie sich selbst vervielfältigt und spezialisiert. Sie besteht also unter der einen wie der anderen Ansicht aus einer methodischen Sozialisierung der jungen Generation.« (Durkheim 1902/1984, S. 45 f.; zit. nach Koller 2008, S. 124)

Die Pädagogik der frühen Kindheit hat ihren Ursprung in den genuinen erzieherischen Praktiken im Generationenverhältnis, die divers und vielfältig sind, aber auch für Fortbestand und »Zusammenhalt« sorgen und nicht unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen bestehen. Zur Pädagogik wird Erziehung aber erst durch Reflexion, d. h. die theoretische Durchdringung von erzieherischer Praxis. Der Erziehungswissenschaftler Werner Helsper beschreibt den pädagogischen Habitus entsprechend anhand von zwei Dimensionen: pädagogisch-praktisch und wissenschaftlich-reflexiv (Helsper 2021).

Kindheit ist dabei nicht isoliert von gesellschaftlichen Konstitutionen und Wandlungen zu betrachten, ist nicht generalisierbar oder auf institutionelle Räume zu begrenzen. Diese Erkenntnis nimmt Einfluss auf die pädagogische Theorie und Praxis. Sie verändert vor dem Hintergrund eines dynamischen sozialen Wandels und der weltweiten Polykrisen das vorherrschende »Mindset« (Højholt 2018; National Scientific Council on the Developing Child 2024).

Die Vielfalt der erzieherischen Praktiken ist eingebettet in alltägliche Routinen, die in der Kindheit insbesondere durch Spiele, Lieder, Bilder, Märchen, Reime, Erzählungen etc. zum Ausdruck kommen. Eine geschlechtergerechte Sprache, kultur- und natursensibles Verhalten und eine vorurteilsbewusste Pädagogik ermöglichen u. a., die blinden Flecken zu beleuchten, wie in dem Lied »Alle Kinder lernen lesen«, das über Jahrzehnte am Anfangsunterricht in der Grundschule eingesetzt wurde:

Alle Kinder lernen lesenIn***ner und Chinesen.Selbst am Nordpol lesen alle Es***osHallo Kinder jetzt geht's los!2

Ohne Reflexion fungieren diese Praktiken im Laufe der Zeit als Tradition und verfestigen sich mit unreflektierten, aus der Zeit gefallenen Moralvorstellungen bzw. Werten, Normen und Regeln.

Die den Interaktionen eingeschriebenen Muster sind aber auch Basis für Teilhabe und Partizipation. Die Wiederholbarkeit der Routinen führt zu einer kollaborativen Zusammenarbeit (Rogoff 2003). Die Pädagogik der frühen Kindheit basiert auf diesen unterschiedlichen Dimensionen soziokultureller Praktiken. Nur so kann die Vielfalt des Aufwachsens in einer pluralen Welt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive (kritisch-konstruktiv) angemessen reflektiert und zum Ausgangspunkt für das professionelle pädagogische Handeln gemacht werden. Wenn hier auf den Kulturbegriff rekurriert wird, wird weder angeknüpft an die Annahmen zu einer Hochkultur noch werden damit spezifische Zuschreibungen verbunden. Im Fokus stehen vielmehr die vielschichtigen, dynamischen Interaktionen zwischen den Individuen, die auch von historischen, sozialen, institutionellen und interpersonellen Dimensionen beeinflusst sind. Mit Verweis auf den sozioökonomischen Ansatz von Uri Bronfenbrenner formulieren Sanders und Farago diese Zusammenhänge hinsichtlich der Entwicklung des Subjekts wie folgt (Sanders und Farago 2018):

»the individual is situated within a web of concentric circles in which historical events, societal changes, institutions, and interpersonal interactions interact to influence development of the individual.« (ebd., S. 1385)

Die Pädagogik der frühen Kindheit als Wissenschaft beschäftigt sich im Kern mit diesen interaktiven Wechselverhältnissen und ist daher wie Pädagogik im Allgemeinen genuin kulturell bezogen (Marsico und Dazzani 2022). Sie fragt nach den Möglichkeiten von Erziehung und Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung sowie von Verbundenheit und Teilhabe junger Kinder in einer pluralen Welt. Denn Erziehung weist mindestens auf zwei Seinsweisen – das persönliche und das soziale Sein (Durkheim 2012). Bildung wird klassisch mit »Selbstbildung« und Eigenaktivität des Menschen verbunden. Auch wenn der Bildungsbegriff als unverzichtbar gilt, um über Legitimation, Zielsetzung und Kritik des pädagogischen Handels zu reflektieren, ist noch nicht ausgelotet, inwiefern dieser im 18. Jahrhundert entwickelte Begriff heute noch genügend Orientierung bietet (Koller 2018). In der frühen Bildung heißt Weltaneignung – so legt es eine Vielzahl an Studien nahe –, die frühen Kommunikationsangebote der jungen Kinder zu erwidern (Ahnert 2011; National Scientific Council on the Developing Child 2024), Beziehungen aufzubauen (Funk et al. 2023) und Interessen zu unterstützen (National Scientific Council on the Developing Child 2024), die für junge Kinder Welt »begreifbar« machen.

Für die Diskussion in diesem Buch wird eine Bottom-up-Perspektive eingenommen, welche die Pädagogik der frühen Kindheit über die intuitiven, sozialen Interaktionen im Generationenverhältnis reflektiert und die Frage nach einer bewussten pädagogischen Praxis stellt. Damit rückt auch die Differenz zwischen früher und mittlerer Kindheit in den Fokus:

»In den Augen vieler Kulturinstitutionen und Traditionen über viele Jahrhunderte und Gesellschaften hinweg kündigt der sechste oder siebte Geburtstag eines Kindes seinen Eintritt ins ›Alter der Vernunft‹ an. Dem britischen Gewohnheitsrecht zufolge ist es das erste Alter, in dem ein Kind ein Verbrechen begehen kann. In der katholischen Kirche ist es das Alter, in dem ein Kind erstmals zur Kommunion gehen darf. In Kulturen, die eine formale Bildung erfordern, ist es das Alter, in dem ein Kind für einen regelrechten Schreib- und Rechenunterricht bereit ist. Und in traditionellen Gesellschaften ist dies das Alter, in dem einem Kind erstmals wichtige selbständige Aufgaben überlassen werden, wie beispielsweise eine Herde zu hüten, Brennholz zu sammeln oder eine Botschaft zu überbringen (Rogoff et al., 1975).« (Tomasello 2020, S. 17/18)

Auch wenn Kindheiten sich als soziales Phänomen prinzipiell vielfältig, divers und im Zeitverlauf unterschiedlich darstellen, zeigen sich in der frühen Kindheit im Hinblick auf die Sorgebeziehungen doch erstaunliche kultur- und zeitübergreifende Ähnlichkeiten, die in Resonanz mit genuinen Bedürfnissen der Kinder stehen. Erziehung wird in dem vorliegenden Buch als soziokulturelles Handeln betrachtet, welches der kulturellen Weitergabe, aber auch dem Aspekt von Partizipation und der Sorge in der Generationenfolge eine zentrale Rolle für die Sozialität zuschreibt.

Endnoten

1Hier wird bewusst der Begriff der Koordination verwendet, wohl wissend, dass Kooperation eigentlich der korrekte Begriff für das Zusammenarbeiten von Subjekten ist. Mit Koordination wird aber auf das Interaktionsvermögen der professionellen Pädagog:innen und ihre Fähigkeit fokussiert, mit komplexen Situationen koordiniert umzugehen.

2In***ner und Esk***os sind Fremd- und keine Eigenbezeichnungen. Sie sind hier nicht ausgeschrieben, um eine »blinde« Reproduktion zu vermeiden.

2 Kinder, Familien, Gesellschaft

Das vorliegende Kapitel dient als Orientierungskapitel, um sich einer Pädagogik der frühen Kindheit zu nähern. Dazu werden im Folgenden die Begriffe Kinder, Familie und Gesellschaft fokussiert sowie im Kontext historischer Entwicklungslinien und zentraler Forschungsfelder betrachtet. Klassisch bestimmt sich die Erziehung über die Trias Kind‍(er), Familie und Gesellschaft (▸ Abb. 1). Die folgenden Beschreibungen machen auch Spannungsfelder in der Pädagogik der frühen Kindheit sichtbar.

Abb. 1:Trias der Erziehung (eigene Darstellung)

2.1 Kind und Kindheit

Kind und Kindheit sind alltagssprachliche Begriffe, die im Kontext einer fachwissenschaftlichen Diskussion einer klaren Charakterisierung bedürfen. Mit den Begriffen Kind und Kindheit wird implizit auf eine Differenzkategorie bzw. auf ein Generationenverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen verwiesen. Generationale Ordnungen zählen zu einer zentralen Kategorie, mit der sich Pädagogik, aber auch Soziologie – insbesondere die sogenannte Kindheitssoziologie – befassen (Kelle 2018). Kindheit gilt als ein soziales Phänomen, das innerhalb der Sozialstruktur einer Gesellschaft hergestellt wird (Qvortrup et al. 1994). Sie ist in der Gesellschaft zeitlich sowie in Bezug auf ihre Handlungsoptionen und Ressourcen begrenzt (Hungerland 2018).

In der UN-Kinderrechtskonvention Artikel 1 ist dazu zu lesen: »Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt.« Die Kategorie Kindheit beschreibt ein breites Spektrum (▸ Abb. 2).

Abb. 2:Spektrum der Kindheit (eigene Darstellung)

In Deutschland findet sich über § 7 des Achten Sozialgesetzbuchs (SGB VIII; Kinder- und Jugendhilfegesetz) eine weitere Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen. Ein Kind ist, »Wer noch nicht 14 Jahre alt ist [...]«. Unter Kindheit wird dagegen die Lebensphase zusammengefasst, die mit der Geburt für jede:n Einzelne:n beginnt und bis zur Geschlechtsreife andauert.

Auch wenn das Kindsein als anthropologische Konstante gelten kann, trifft Gleiches nicht auf das Erleben von Kindheiten zu. Kindheit ist nicht universell gleich oder einfach generalisierbar, sondern kann aufgrund persönlicher, sozialer und kultureller Erfahrungen ganz unterschiedlich aussehen. Aus der Innenperspektive erscheinen uns im Allgemeinen diese Erfahrungen als »normal«, erst mit Abstand offenbaren sich die Muster, die das Aufwachsen und die Handlungsoptionen bestimmt haben. In dem Roman »Populärmusik aus Vittula« (Niemi 2004) beschreibt Mikael Niemi den Erweckungsmoment des Protagonisten über sein Aufwachsen in der Kleinstadt Tornedal in Nordschweden wie folgt:

»Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiten. Ein kräftiges, riesiges Spinnengewebe aus Hass, Anziehung, Angst und Erinnerung. Ein Netz, das vierdimensional war und seine klebrigen Fäden sowohl nach hinten als auch nach vorn in der Zeit ausdehnte, hinunter zu den Toten in der Erde und hinauf zu den noch Ungeborenen im Himmel, und das mich mit seinem Kraftfeld auch beeinflussen würde, ob ich es nun wollte oder nicht. Es war kräftig, es war schön, es erschreckte mich. Ich war ein Kind gewesen, und jetzt lehrte mein Vater mich zu sehen. Wurzeln, Kultur, weiß der Teufel, wie es genannt wurde, aber es war meins.« (ebd., S. 223)

Aber nur vermeintlich kann – wie der Text zeigt – die Kindheit an einem Ort erlebt zu haben als gleicher Erfahrungshintergrund gelten. Vielmehr zeigt sich die Vielschichtigkeit und Komplexität der sozialen Bezüge. Diese folgen keinem bestimmten Muster, sondern konstituieren sich stets neu, abhängig von den Interaktionen und Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen (Familie etc.) bzw. den sogenannten generationalen Ordnungen (Kelle 2018). Die jeweiligen Vernetzungen und Beziehungen sind besonders wirkmächtig, weil diese zu den frühesten Erfahrungen zählen, die Kinder machen, daher sind diese eng vertraut und tief mit der eigenen Persönlichkeit verwoben. Sie bilden ein sicheres Netzwerk und offenbaren sich zugleich als Spinnennetz, das uns gefangen nimmt. Intuitives Handeln auf Basis der eigenen Erfahrung ist daher in der pädagogischen Praxis der frühen Kindheit (u. a. Kindertageseinrichtungen etc.) nicht unbedingt ein guter Ratgeber, um den diversen Kindheitserfahrungen gerecht zu werden, d. h. sie auch zu durchdringen und zu verstehen.

Denn Kindheit ist nicht immer gleich und auch nicht universell. Kindheit verläuft vielmehr »divergent« und »dynamisch« (Waller et al. 2014). Wie die Kindheit erlebt wird, ist abhängig von soziokulturellen Kontexten bzw. auch den generationalen Verhältnissen, in denen Kinder aufwachsen. Demnach durchlaufen Kinder ganz unterschiedliche Kindheiten. Kindheit hat keine global einheitliche Ausprägung und unterliegt durch Krisen im Lebenslauf auch individuellen Wandlungsprozessen.

Kindheit gilt als eine strukturelle Kategorie der Gesellschaft, die sozial konstruiert wird (Corsaro 2018). Als strukturelle Kategorie ist diese fest in Gesellschaften eingeschrieben, befindet sich aber im permanenten Wandel – nicht nur über Epochen hinweg, sondern dynamisch von Kind zu Kind. Denn Kinder sind auch Betreiber:innen ihrer eigenen Kindheiten. Mit dem Begriff Agency wird auf diese Wirkmacht der Kinder Bezug genommen. Agency ist ein seit drei Jahrzehnten im Fokus stehendes Schlüsselkonzept der Kindheitsforschung (Winkler 2017). Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff in der pädagogischen Praxis auch mit dem Verständnis von »Kindern als Akteur:innen« verbunden.

Dieser Wandel wird in der Kindheitsforschung gekennzeichnet als Übergang vom »OPIA«-Kind zum »CAMP«-Kind. Das Akronym OPIA wird aus den Begriffen ontologically given, passively, idyllic and apolitical zusammengesetzt. Andreas Lange hat in einem Forschungsbericht aus dem Jahr 1995 die Begriffe näher ausdifferenziert:

»•

›ontologically given‹: Definitionsfragen spielten keine wesentliche Rolle, die chronometrische Einteilung bestimmte Anfang und Ende der Kindheit.

›passively‹: Kinder wurden mehr oder weniger als passive Empfänger von Sozialisationsimpulsen gesehen.

›idyllic‹: Kindheit wurde wesentlich als gesellschaftliches Reservat angesehen.

›apolitical‹: Kindheitsfragen spielten keine herausragende Rolle im Zusammenhang mit Politik«. (1995: 65 f.; zit. nach Sünker und Bühler-Niederberger 2020, S. 44)

Mit dem Akronym CAMP rücken neue Leitbegriffe in den Vordergrund discursively constructed, actively acting, modernized, politically contested. Sie differenziert Lange wie folgt:

»•

›discursively constructed‹: Monographien haben zu einem differenzierten Einblick in die Prozesse verholfen, die dazu geführt haben, dass Kindheit heute als eine spezielle, eigenwertige Entwicklungsphase angesehen wird.

›actively acting‹: Kinder sind nicht mehr nur Opfer oder Erdulder von Sozialisationsprozessen, sondern sie geraten zunehmend als kompetente Akteure und Individuen, die eigene Interessen verfolgen, in den Blick der Sozialwissenschaften.

›modernized‹: Die Modernisierungstheorie und ihre spezifischen Varianten haben sich zu einem zentralen Bezugspunkt heutiger Kindheitsdiskurse entwickelt.

›politically contested‹: Kindheit ist heute ein umkämpftes politisches Terrain. In diesen Kämpfen geht es nicht allein um eine Verbesserung kindlicher Lebensbedingungen, sondern um grundsätzliche Positionsbestimmungen über den gesellschaftlichen Status des Kindes« (1995: 65 f.; Sünker und Bühler-Niederberger 2020, S. 44).

Dieses Paradigma der Kindheitsforschung ist eng mit den Namen Allison James und Alan Prout verbunden. Die beiden Sozialwissenschaftler:innen markieren mit ihrem Buch Constructing and Reconstructing Childhood (Erstveröffentlichung 1997; James und Prout 2015b) einen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften und erheben den Anspruch auf eine neue Forschungsdisziplin social studies of childhood:

»The traditional consignment of childhood to the margins of the social sciences or its primarily location within the fields of developmental psychology and education is, then, beginning to change: it is now much more common to find acknowledgement that childhood should be regarded as a part of society and culture rather than a precursor to it; and that children should be seen as already social actors not beings in the process of becoming such. In short, although much remains to be done and these encouraging developments need to be taken much further, a significant change has occurred« (1997: IX; vgl. 4, 8, 22).

»Kindheit«, so führen die Autor:innen aus, wird mit dem angesprochenen Paradigmenwechsel nicht nur als Interessengebiet von Pädagogik und Entwicklungspsychologie angesehen, sondern als Forschungsgebiet der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen. Kritik wurde insbesondere daran geübt, dass in der Soziologie die Lebenswelten der Kinder bisher fast völlig ausgespart wurden (Bollig 2020). Ziel war es zum einen, die Auseinandersetzung mit Kind und Kindheit nicht mehr auf bestimmte Räume wie Kinderzimmer, Kindergärten und Schulen zu begrenzen. Zum anderen wurde damit auch die einseitige Perspektive auf Kinder als »Werdende« und Kindheit als sogenanntes »Transitionalstadium« auf dem Weg zum rational denkenden Erwachsenen versucht zu erweitern. Kinder sind zentrale soziale Akteur:innen mit eigenen Rechten. Sie werden nicht nur passiv sozialisiert, sondern wirken ein auf das gesellschaftliche Leben. Kindheit rückt damit in einen interdisziplinären Fokus. Mit der neueren soziologischen Kindheitsforschung (social childhood studies) wurde insbesondere in der Soziologie ein neues Forschungsfeld eröffnet, um das Aufwachsen von Kindern im Kontext sozialer Ordnungen zu beforschen (ebd., S. 22). Kindheitsforschung richtet sich am Primat der »Kinder als Akteur:innen« und Träger eigener Rechte aus. Zugleich gelten die social childhood studies international als inter- bzw. multidisziplinär geprägtes Forschungsfeld (Graf 2015).

Der markierte sogenannte Paradigmenwechsel (James und Prout 2015a) wurde vor allem in der Pädagogik und der Entwicklungspsychologie kritisch reflektiert. Nicht weil der Blick auf die Kindheit und der Anspruch einer Forschung, die die Perspektive der Kinder aufgreift, nicht geteilt würde, sondern vielmehr, weil es den Anschein hat, dass ein Teil der Erziehungsgeschichte in der Reflexion außer Acht gelassen wurde. Denn der Fokus auf die Agency der Kinder hat in der Pädagogik durchaus einen Stellenwert. Vor diesem Hintergrund kann bereits Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) als Nestor der Kindheitspädagogik gelten. Er hob Kindheit als bedeutende Lebensphase hervor und stellte Kinder als Akteuer:innen in den Mittelpunkt. Diese Ansätze wurden auch von der Kindergartenbewegung übernommen (Oelkers 2013). Die Kritik von James und Prout ist daher nicht ganz verständlich, denn theoretisch steht in den sogenannten kindzentrierten bzw. auch handlungsorientierten Ansätzen von Erziehungswissenschaft und Entwicklungspsychologie gerade die Perspektive der Kinder im Fokus (Baader 2018; Graf 2015; Mey 2013). Die Beobachtung der Kinder ist ein wichtiges Instrument dieser Wissenschaften, die auch wichtige neue Sichtweisen auf Kinder eröffnet hat, welche jenseits der einseitig betonten Vorstellungen von Normierung und Vermessung liegen (Seichter 2023).

Vorläufer der soziologischen Kindheitsforschung

Zu diesen Vorläufer:innen einer Forschung aus der Perspektive der Kinder als Teil gesellschaftlicher Akteur:innen zählen u. a. John H. Chase, Martha Muchow oder auch Janusz Korczak (Kirchner et al. 2018). John H. Chase verfasste zu Beginn des 20. Jahrhunderts Street Games of New York City (Chase 1905). Dazu befragte er zunächst Kinder in Brooklyn und Worcester, welche Outdoor-Spiele sie am liebsten spielen. Um letztlich eine Liste der am häufigsten gespielten Outdoor-Spiele in New York zu erstellen, lief er anschließend zwei Jahre durch New York und beobachtete zu unterschiedlichen Jahreszeiten und in unterschiedlichen Stadtbezirken die Outdoor-Spiele der Kinder. In den 1920er Jahren initiierte Martha Muchow in Hamburg eine ähnliche Studie mit dem Titel »Der Lebensraum des Großstadtkindes« (Muchow und Muchow 2012). Beide Studien sind im Kontext der Urbanisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts zu lesen und beschäftigen sich mit der Frage, wie sich Kinder in dieser veränderten Welt eigene Orte erschließen. Auch Muchows weitere Untersuchungen im Kontext der Entwicklungspsychologie und Kindergartenpädagogik (Muchow 1929) sind inspiriert durch ihre Beobachtungen, die u. a. zentrale Plätze kindlicher Akteur:innenschaft im (Fiktions-)‌Spiel herausstellen und im Kontext soziokulturellen Wandels hinterfragen.

Der Verdienst einer soziologischen Kindheitsforschung kann aus pädagogischer Sicht heute darin gesehen werden, dass Kinder und Kindheit nicht nur in generationalen Ordnungen, sondern im Rahmen struktureller, gesellschaftlicher Differenzkategorien (Gender, Migration, Armut etc.) stärker wahrgenommen und die Sichtweisen von Kindern explizit in der Forschung aufgegriffen werden (Honig et al. 1999; Heinzel 2012). In letzter Zeit erweitern sich darüber hinaus die Perspektiven der social childhood studies und wird das Konzept der Agency der Kinder vor dem Hintergrund des neuen Materialismus (Peeters 2023) hinterfragt, der sich an posthumanistischen Theorieentwürfen orientiert. Die Vernetzungen des Kindes mit der belebten und unbelebten Welt eröffnen dabei innovative Sichtweisen (Spyrou 2018):

»[...] humans are no longer seen as being at the epicenter of the world and as the only privileged ones with the capacity for agency. On the contrary, for new materialists agency is distributed widely beyond humans.« (ebd., S. 133)

Kindheiten sind zeitlich begrenzt, divers und spiegeln die Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaft. In der europäischen Geschichte etwa haben sich die Arbeits- und Lebenswelten von Erwachsenen und Kindern im Zuge der fortschreitenden Moderne zunehmend differenziert. Dazu trug auch der sogenannte Schutz- und Sonderstatus bei, der sich mit dem beginnenden 20. Jahrhundert in der wohlfahrtsstaatlichen Kindheit ausgeprägt hat (Mierendorff 2014). Diese besondere Situiertheit des Kindes in Familie und Gesellschaft hat auch dazu geführt, dass Kinder als Mitgestalter:innen von Gesellschaft bis heute von der Politik zu wenig beachtet werden.

2.2 Familie

Die Familie gilt als eine zentrale Sozialisationsinstanz. Der Begriff Sozialisation ist im Vergleich zu zentralen erziehungswissenschaftlichen Begriffen – wie z. B. Bildung und Erziehung – relativ jung (Abels und König 2016). Er taucht zum ersten Mal im Jahr 1828 in einem Wörterbuch der englischen Sprache auf. Das Verb to socialize wird mit »to render social, to make fit for living in society« umschrieben (Clausen 1968). Ziel der Sozialisation ist die Integration des Individuums in eine bestehende soziale Ordnung (Familie, soziale Gruppe, Gesellschaft). Erziehung in der Familie ist aber nicht nur ein passiv ablaufender Prozess, sondern ist implizit und explizit durch die wechselseitigen Praktiken in der Familie geprägt. Diese spielen für das Hineinwachsen des jungen Kindes in eine Gesellschaft bzw. das Mitglied-Werden in einer Gesellschaft eine bedeutungsvolle Rolle. Dies gilt es, unter einer Perspektive der Pädagogik der frühen Kindheit bewusst und kritisch zu reflektieren, denn Pädagogik als Praxis nimmt in den Familien ihren Ausgang. Darüber hinaus bleiben bis heute historische Entwicklungspfade und die Ausprägung traditioneller Familienideale lebendig.

Der Begriff »Familie« stammt vom lateinischen familia, was so viel wie »Hausgenossenschaft«, »Dienerschaft« oder »Gesinde« meint. Die Brockhaus Enzyklopädie online (Brockhaus 2024) beschreibt Familie als eine »soziale Gruppe beziehungsweise jene spezifische Lebensgemeinschaft, deren Leistungen und Verhaltensregeln ausgerichtet sind auf die Sicherung der Handlungs- und Überlebensfähigkeit ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder und der für sie verantwortlichen Erwachsenen, in historisch jeweils unterschiedlichen Lebensräumen und Lebenssituationen.«

Entstehung der bürgerlichen Kernfamilie

Familienideale in der Form der sogenannten Kernfamilien etablieren sich in Europa im 14./15. Jahrhundert (Neumann 1993). Wirkmächtige Diskurslinien, die diese Entwicklung festigen, etablieren sich über die Kirche, wobei Reformation und Gegenreformation später dazu führen, dass deren Einfluss auf das Individuum wieder abgemildert wird (Jacobi 2014). Durch das Sakrament der Ehe wird der Erziehungsauftrag von der Kirche in die Familien gelegt. Die Vielfalt an Gemälden zur Darstellung der vorgeblich »Heiligen Familie« sind dafür Zeitzeugnisse, sie haben wirkungsvoll den Mythos der Familie etabliert und weitergetragen (▸ Abb. 3).

Abb. 3: Hans Baldung, Markgraf Christoph I. von Baden mit seiner Familie in Anbetung vor der Heiligen Anna Selbdritt, Tannenholz/Mischtechnik, 1510, 67,4 x 219,2 cm, Kunsthalle Karlsruhe

Erziehung in Familien ist ein komplexes inter- und intragenerationales Projekt (Ecarius 2022). Das Vorbild der sogenannten bürgerlichen Familie zeichnet sich ab dem 19. Jahrhundert ab. Diese gestaltet sich als besonderer Raum des Aufwachsens. Pädagogik als Praxis bzw. häusliche Erziehung wirkt zunehmend gezielt auf das Aufwachsen der Kinder. Seit dem 16./17. Jahrhundert werden die Ideen zur Erziehung von Theolog:innen, Moralist:innen und Mediziner:innen über sogenannte Erziehungsratgeber verbreitet (Jacobi 2014; Neumann 1993). Bekannt sind dabei u. a. die Schriften von Erasmus von Rotterdam (ca. 1466 – 1536) Liber Aureus. De civilitate morum puerilium (Goldenes Büchlein. Von der Höflichkeit, Sitten und Gebärden der blühenden Jugend) (1530) oder die von Juan Vives (1492 – 1540) verfassten Anweisungen De institutione feminae christianae (Unterweisung der christlichen Frau). Vives schrieb das Werk im Jahr 1524 für die Erziehung von Katharina von Aragon, der späteren Königin von England und Gattin Heinrichs VIII. (Jacobi 2011). Die Lektüre avancierte zu einem der meistgelesenen Ratgeber für Mädchenerziehung im 16. Jahrhundert. Erziehungsratgeber gewinnen dann viel später, im 19. Jahrhundert, zunehmend an Bedeutung und wirken auf die Erziehung in Familien und damit auch auf die Kindheit ein. Die bürgerliche Familie umfasst folgende Charakteristika:

Familiale Bindungen werden säkular vertragsrechtlich konstituiert und durch emotionale Bindungen begründet.

Der Sozialisations- und Erziehungsprozess ist verknüpft mit bürgerlichen Ideen von Freiheit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit (»mündiger Bürger«).

Familie gilt als Erlebnis- und Erfahrungsraum, in welchem in der Kindheit und im Jugendalter die grundlegenden Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung hinsichtlich des bürgerlichen Leitbildes durch konsequentes Vorleben der Eltern organisiert werden.

Es entstehen bürgerliche ›Geschlechtscharaktere‹ der familialen Beziehungen und Rollen, insbesondere von Mann und Frau.

Das »Ideal« der bürgerlichen Kernfamilie beherrscht bis heute den Diskurs der Familienpolitik (Ecarius 2002) und bildet entsprechend ein beharrliches Muster in den Daten der amtlichen Statistik. Im Jahr 2018 wuchsen die meisten Kinder (ca. 70 %) in Familien auf, in denen die Partner:innen verheiratet waren. 19 % der Kinder wurden von Alleinerziehenden und 11 % in sogenannten Lebensgemeinschaften erzogen. Allerdings bestehen regional große Unterschiede. So existieren in den östlichen Bundesländern und Berlin weniger traditionelle Modelle. Der Anteil der Familien mit Ehepartner:innen ist dort bedeutend geringer (ca. 50 %) und mehr Kinder wachsen in Lebensgemeinschaften (23 %) bzw. bei alleinerziehenden Elternteilen (24 %) auf. Heute erleben die meisten Kinder (52 %) die Familie als Einzelkinder, 37 % haben ein Geschwisterkind und 11 % wachsen mit mehr als einem Geschwisterkind auf (BMFSFJ 2021a).

Kinder und Jugendliche übernehmen in familialen Beziehungen grundlegende Verhaltensweisen und werden mit emotionalen und kognitiven Mustern der Familie vertraut. Diese Vertrautheit, die implizit aufgenommen wird, ist schwer zu reflektieren und tief eingeschrieben in die eigenen Praktiken und Verhaltensweisen. Der bereits zitierte Roman »Streulicht« von Deniz Ohde beschreibt rückblickend Heterogenitätserfahrungen, die die junge Akteuerin in ihrer Kindheit beobachtet und zu erklären versucht hat, zugleich erkennt sie, wie tief verankert diese Muster sind (Ohde 2021):

»Ich hatte schon früh den Verdacht, dass die Arglosigkeit ihrer Mutter auf Sophia abgefärbt hatte und dass meine Unwissenheit etwas ganz anderes war. Es lag nichts Liebenswürdiges darin, es handelte sich um eine tiefsitzende Verunsicherung, die weiter ging als bei allen anderen Mädchen und etwas damit zu tun hatte, dass ich keinen Namen hatte, der in einem Lesebuch oder auf einem Schulranzen stand. Meine Unwissenheit war nichts, was weitläufig akzeptiert war und oft sogar begrüßt wurde – ein schmaler Grat, den Sophia schon als Kind zu navigieren wusste. Sie war nicht so, dass man Verständnis für ›meine Schwächen in Mathe‹ gehabt hätte, weil ›meine Stärken eben woanders‹ lägen, oder dass man über meine niedlichen Schwierigkeiten, im Sachkundeunterricht den Stromkreislauf zu verstehen, gelächelt hätte. Ich konnte am Vier-Ecken-Rechnen teilnehmen, dem Lieblingsspiel der Klasse (wer zuerst die richtige Antwort auf eine von der Lehrerin gestellte Aufgabe rief, durfte eine Ecke weiter rücken), und ich sagte die Antwort, aber ich war nicht laut genug und blieb bis zum Ende des Spiels in der Ecke stehen, in die ich zuerst gestellt worden war.

Es war eine Unwissenheit, die weit hineinreichte in meine Vergangenheit, weit über den Zeitpunkt meiner Geburt hinaus, die gekoppelt war an helle staubige Straßen an Berghängen entlang, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, die aber meinem Aderlauf entsprachen, die Luft klar, aber in der Mittagshitze drückend; eng stehende Augen und ein flacher Hinterkopf, weil man mich als Kind zu lange auf dem Rücken hatte liegen lassen.« (ebd., S. 41)

Die Familie ist nicht nur der Ausgangspunkt für das Aufwachsen, vielmehr wirkt soziale Herkunft nachhaltig auf die Bedingungen von Erziehung. Das bessere Verständnis von intergenerationalen Beziehungen ist Gegenstand der Familienforschung. Insbesondere die Forschung zu Erziehungsstilen oder Erziehungsmustern im Generationenverhältnis ist hier aufschlussreich.

Erziehungsstilforschung ist trotz berechtigter Kritik bis heute ein wichtiges Element der Familienforschung. Kritisch zu betrachten sind die eher universalistisch gedachten Einzelbefunde, welche die unterschiedlichen Lebenslagen der Familien weitgehend unberücksichtigt lassen. Sogenannte Milieustudien geben dazu einen tieferen Einblick, indem auch Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb der beschriebenen »Schichten« oder »Klassen« berücksichtig werden (Liebenwein 2008).

Langzeitstudien bzw. sogenannte Panel-Studien, wie z. B. die britische Millennium Cohort Study (MCS) (Dex 2020) oder auch das Nationale Bildungspanel (NEPS), eröffnen dagegen einen differenzierten Einblick in den Lebenslauf von Kindern bis in das Erwachsenenalter und können beharrliche Trends im Längsschnitt oder Zeitvergleich sichtbar machen. Sie zeigen, dass Ungleichheit bereits relativ früh im Leben verstärkt und durch zunehmend sich stärker herauskristallisierende Muster bestimmt wird (Bradbury 2013; Huebener et al. 2023). Frühe Ungleichheit äußert sich auf Struktur- (SES, Zugänge zu Bildungseinrichtungen) und Prozessebene (Erziehungsstile, Interaktionsverhalten).

In jüngerer Zeit ist der Wandel der Erziehungsverhältnisse zwischen den Generationen zum Thema geworden. Der 18. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2019 zufolge gelten Eltern heute als wichtige Erziehungsvorbilder: 16 % würden ihre Kinder genauso erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, und 58 % ungefähr so. Weniger als ein Viertel der Jugendlichen (23 %) würde ihre Kinder anders oder sogar ganz anders erziehen, als sie selbst von ihren Eltern erzogen wurden (2002 äußerten dies noch 29 %) (Albert et al. 2019).

Trotz dieser Ergebnisse, die eher auf ein Verharren in den Familienverhältnissen schließen lassen, betont die Familienforschung in den letzten Jahrzehnten auch einen Wandel der Familienerziehung. Längsschnittstudien bestätigen diese These. Jutta Ecarius hat Veränderungen von Erziehungsmustern in der Zeitspanne von 1908 bis 1994 über drei Generationen (Großeltern: 1908 – 1929, Eltern: 1939 – 1953 und Kinder: 1967 – 1975) beforscht. Vor dem Hintergrund der Sozialgeschichte von Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus muss von relativ konstanten, zutiefst traditional organisierten und im Nationalsozialismus weiter gefestigten Weltanschauungs- und Weltdeutungsmustern ausgegangen werden. Modernisierung wurden zum Teil an konservative Muster gebunden – Stichwort: Frauenbildung und -berufe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sich tiefergehende demokratische Handlungsmuster – so die Studie von Jutta Ecarius –, unterstützt auch durch die sich ausbildenden Strukturen eines Wohlfahrtsstaats (Ecarius 2002). In diesem Zusammenhang stellt die Autorin einen Wandel der Erziehung vom Befehlen hin zu einer Erziehung des Verhandelns fest. Diese groben Trends sind nicht als generelle Ausprägungen zu verstehen, in jeder Zeit finden sich auch gegenläufige Erziehungsmuster. Es zeigt sich jedoch, dass Erziehung mit der Gesellschaftsform, aber auch dem sozialen Wandel korrespondiert und damit neue Formen annimmt. Seit einigen Jahren gewinnt zudem der Wandel der »Elternschaft« (Rerrich 1983) an Bedeutung. Denn unterschiedliche Anforderungen in einer komplexen Welt verändern die Bedingungen (Berufs-‍, Freizeit-‍, Familienleben), unter denen Familie verwirklicht werden kann. Die Begriffsklammer »Doing Family« rückt diese relationalen Beziehungen in den Fokus. Die heutigen Herausforderungen bezüglich der Gestaltung von Familienbeziehungen sind zum einen die steigenden Ansprüche aufgrund der dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen wie die zunehmende Digitalität, die sich durch alle Lebensbereiche zieht und auch das Familienleben bereits mit sehr jungen Kindern stark beeinflusst. Zum anderen sind die Familienhintergründe selbst heute vielfältiger und müssen in den Familien die unterschiedlichen Ansprüche ausgelotet werden. So wachsen Kinder heute in komplexen Bezügen, d. h. unterschiedlichen regionalen, kulturellen, religiösen, ethischen oder sprachlichen Hintergründen auf, die die Familien lernen müssen, auszubalancieren bzw. auch die Widersprüche auszuhalten.

Des Weiteren stehen Familien im Zentrum von Politik und Medien. So beeinflusst die stärkere Ökonomisierung von Bildung bereits junge Familien. Status und Platzierung in der Gesellschaft werden früh zu einem Thema. Die Abgrenzung durch zusätzliche und besondere Bildungsangebote/-leistungen in Sport, Sprachen, Kunst, Musik etc. wirkt sich als ein weiterer Stressfaktor im Familienleben aus. Auch stehen die Geschlechterasymmetrien deutlicher zur Diskussion als noch vor Jahrzehnten, zugleich sind damit die Familien herausgefordert, Kinderbetreuung und Berufskarriere gemeinsam zu arrangieren (Lange und Alt 2020). Um all die erweiterten Ansprüche zu erfüllen, geraten Familien zunehmend nicht nur unter Druck (Merkle und Wippermann 2008), sondern auch in Zeitnot – denn die Organisation der diversen Unternehmungen und Anliegen der Familie ist nur mittels einer guten Taktung möglich. Familienerziehung in der »Kernfamilie« wird daher mit vielfältigen Betreuungsarrangements gerahmt, neben den Großeltern (Barschkett et al. 2022) spielen die Kindertageseinrichtungen und die Tagespflege eine zentrale Rolle.

Das Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach führte für den Neunten Familienbericht eine Umfrage darüber durch, wie Eltern heute Elternschaft erleben. Dabei geben 61 % der Eltern an, dass Elternschaft gegenüber früher höheren Anforderungen gerecht werden müsse. Die Ursachen für gestiegene Erwartungen an das »Elternsein« sehen sie insbesondere in folgenden Ansprüchen (BMFSFJ 2021b):

organisatorischer Aufwand und hoher Bedarf an Absprachen bedingt durch die Berufstätigkeit beider Eltern (78 %),

höhere Bildungserwartungen (68 %),

höhere Ausgaben für die Kinder (54 %),

Einfluss der Medien (52 %).

Zentrale gesellschaftliche Herausforderungen für die Zukunft sind für die Sachverständigenkommission des Neunten Berichtswesens (BMFSFJ 2021b):

»•

die Diversität der Familienformen mit ihren unterschiedlichen Herausforderungen bei der Gestaltung des Familienlebens und noch ungelöste Implikationen für das Familien- und Sozialrecht,

die hartnäckigen Unterschiede der Bildungschancen von Kindern je nach ihrer sozialen Herkunft, die nicht nur das Bildungssystem vor beträchtliche Herausforderungen stellen,

die nach wie vor beharrlichen sozialen Ungleichheiten der Lebensbedingungen von Familien und mit ihnen die ungleichen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern,

die trotz zahlreicher politischer Initiativen nach wie vor begrenzten Chancen von Familien, eine egalitäre Arbeitsteilung der Partner zu realisieren, mithin auch die weiterhin für Mütter und Väter bestehenden Asymmetrien der Teilhabe am Erwerbsleben und der Betreuung und Erziehung von Kindern,

der Zuwachs an sozialer und kultureller Heterogenität durch Zuwanderung, nicht erst durch die Fluchtmigration, sondern auch durch die wachsende Mobilität innerhalb der EU-Mitgliedstaaten,