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Kalline ist die jüngste Archivleiterin, die es in der Geschichte der Stadtwache je gab. Mit Tinte und Feder setzt sie sich für ihre Ideale einer gerechten, demokratischen Gemeinschaft ein. Denn sie ist überzeugt: Nur die pflichttreue Ausführung des eigenen Auftrags hilft dabei, die Nachwehen der zerbrochenen Monarchie zu überstehen und den Frieden auf der freien Insel Vea zu wahren. Doch Gerechtigkeit ist rar, wenn die Falschen danach fragen. Unruhen erschüttern Vea und Kalline ist sicher, dass die magisch begabten Goldhände dahinterstecken – von der Gottheit gesegnet, von der Gesellschaft geächtet. Bei ihren Nachforschungen gerät sie in eine grausame Intrige, die sie in die innersten Kreise von Veas Demokratie führt. Kallines feste Überzeugungen kommen ins Wanken, als sie erkennt, dass Gut und Böse eng miteinander verwoben sind und sie ausgerechnet in den Goldhänden Verbündete finden könnte. Eine intrigenreiche High Fantasy mit starken Frauen, Talentmagie und queerness in einer mythischen Inselwelt, inspiriert von der griechischen Antike.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Pakt der Goldhände
Verbotenes Archiv
Band 1 der Goldhand-Trilogie
Impressum
2. überarbeitete Auflage
Februar 2025
© 2024 Ella Laurier
Ella Laurier
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
www.ellalaurier.com
Covergestaltung: Christin Giessel (Giessel Design), www.giessel-design.de
Korrektorat: Sarah Nierwitzki, www.lektorat-wortkosmos.de
Illustrationen: Ella Laurier
veröffenlicht über tolino media
978-3-757-95803-9
Hinweise zum Inhalt: Diese Geschichte behandelt möglicherweise belastende Inhalte. Am Ende des Buches sind die Themen aufgelistet. Lies sie gerne vorab durch und entscheide, ob du dich mit allem wohlfühlst.
Für mein jüngeres Ich, das einfach drauflosgeschrieben hat.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Vom Aufstieg und Untergang der Lyr
Danksagung
Über die Autorin
Inhaltswarnung
»Möge der Wille des Volkes mein Wille sein.« Kalline legte ihre rechte Hand übers Herz und salutierte. Dabei fuhr sie mit den Fingerkuppen die goldenen Schwünge ihrer Federbrosche entlang und verkündete: »Archivleiterin Kalline meldet sich zum Dienst.«
Als der Morgenwind an ihrer Kleidung zerrte und ihr Haar zerzauste, biss sie die Zähne zusammen und spannte ihre Schultern an. Das graue Augenpaar hinter dem Sichtfenster warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Keine Beschwerde und kein Fluch kamen ihr über die Lippen, während sie ausharrte, bis der Wächter die Tür zum Wachtposten aufgezogen hatte. Als sie endlich hereingelassen wurde, grüßte sie ihn und salutierte erneut, wie es sich gehörte. Doch der Mann hatte sich bereits von ihr abgewandt, die Hand locker um den Lanzengriff gelegt. An diesem wie an jedem anderen Morgen beschloss sie, das irrationale Ziehen im Magen zu ignorieren, das die Teilnahmslosigkeit des Mannes in ihr auslöste. Sie nickte, als habe er sie aus ihrem Salut entlassen oder ihr einen erfolgreichen Arbeitstag gewünscht, und ging mit erhobenem Kinn ihres Weges.
Erst als sie die Wendeltreppe erklomm, die den Wachtposten hinauf- und in die innere Stadtmauer hineinführte, erlaubte sie sich, innezuhalten. Sie wärmte ihre Finger mit ihrem Atem und rieb sich über die Arme. Innerhalb des Gemäuers war es im Winter ähnlich frostig wie außerhalb, weshalb sie sich auf ihr warmes Archiv freute.
Am Ende der Treppe horchte sie auf, denn sie hörte das vielzählige Klopfen auf den Tischen im angrenzenden Besprechungssaal. Eilig machte sie den Weg frei und stellte sich an die Wand. Als die Tür aufschwang, stand sie stramm und salutierte den Stadtwachen.
Die wenigsten nahmen Kalline überhaupt wahr, während sie die Treppe hinabstiegen. Doch sie blieb stehen, auch als ein Lanzengriff sie am Schienbein traf oder eine Wache grunzend die Nase rümpfte. Obwohl die Wachen und Schreiblinge am selben Wachtposten arbeiteten, trennten sogar die Stoffe ihrer Uniform ihren Rang. Die Federführung – zumindest in der Stadtwache – blieb in schlichte Gewänder gekleidet, die bis auf die Federbrosche ganz auf das schnelle und präzise Schreiben ausgelegt waren. Die Stadtwache hingegen trug die feinsten Tücher, die Veas Manufakturen herstellten: wärmend wie Wolle, leicht wie Leinen und stolz wie Seide. Turban und Mantel waren mit goldenen Fäden bestickt und in die handgegossene Gürtelschnalle war die Insel Vea unter Ichrylis’ göttlichem Schein eingraviert.
Kalline blieb stehen und salutierte, bis die letzte Person aus dem Besprechungszimmer kam. Es war auch die einzige, die auf den Salut reagierte.
»Guten Morgen, Stadtwache Chadis.«
Er stockte, als wollte er etwas sagen, entschied sich jedoch dagegen und schüttelte schmunzelnd den Kopf.
»Guten Morgen, Kalline.«
Sie löste den Salut und bemerkte ein Bündel in seinen Armen.
»Du kommst aus einem Verhör?«
»Nein, ich bin gerade erst zurück von der Patrouille, direkt in die Besprechung des neuen Patrouillenplans.« Chadis sah zur Akte und verzog den Mund, ehe er ihr das Papier reichte. »Aber der Kommandant bat mich, diese Akte ins Archiv zu bringen. Würdest du das bitte übernehmen? Sie stammt wohl von einem Vorfall heute Nacht. Das Verhör ist abgeschlossen, meinte der Kommandant. Du sollst sie archivieren.«
»In Ordnung.« Kalline strich über den festen Leinenstoff, in den das Dokument eingeschlagen war, und erahnte die Buchstaben darunter. Etwas in seinem Tonfall löste ein mulmiges Gefühl in ihr aus. Leiser fragte sie: »Ein Goldhand-Vorfall?«
»Einer von der schlimmen Sorte«, seufzte Chadis. Er rieb sich den Nacken und ein harter Zug legte sich um seine Lippen. »So etwas ist lange nicht vorgekommen.«
Kalline nickte. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick zu Chadis glitt – und zu seinen Händen. Wie mit einer Goldschicht überzogen schimmerten sie im Licht der Öllampen. Hände, denen Ichrylis’ göttliche Gabe innewohnte: Eine Magie, die der einfache Verstand nicht zu greifen vermochte. Aber Kalline hatte zu viel über Goldhände gelesen und zu viele von ihnen in den Verhörräumen gesehen, um sich blenden zu lassen. Nicht alles, was golden glänzte, war auch golden im Inneren. Göttlicher Segen brachte kein göttliches Wesen.
Chadis schien ihren Blick bemerkt zu haben. Lachfalten tanzten um seine Augen, als er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sagte: »Sie haben ihn schnell gefasst und auch im Unteren Ring ist es weiterhin ruhig. Nun liegt es an uns, zu ermitteln, wie es dazu kommen konnte. Dafür tun wir schließlich unsere Arbeit. Für Frieden, Gemeinschaft und …«
»Gerechtigkeit«, beendete Kalline den Satz und erwiderte sein Lächeln, wenn auch zögerlich.
In Momenten wie diesen war sie sich nie sicher, ob er nicht gerade seine Gabe an ihr anwandte. Seine goldenen Hände, die mit einer Berührung das Gemüt besänftigten, Sorgen vertrieben und den Verstand vernebelten. Doch sie atmete durch und lockerte die angespannte Haltung. Es war Chadis, der hier vor ihr stand. Keine kriminelle Goldhand aus dem Unteren Ring.
Sie klopfte auf die Akte in ihren Armen und sagte: »Ich möchte dich nicht länger aufhalten, außerdem sollte ich im Archiv nach dem Rechten schauen.«
»In Ordnung. Wir sehen uns nach deiner Schicht.«
Sie deuteten einen freundschaftlichen Salut an. »Bis später.«
Das Papier in ihren Armen raschelte, während sie in den schmalen Gang durch die Stadtmauer einbog. Ein angenehmes Geräusch, das ihre Vorfreude auf das Archiv steigerte. Viele der Stadtwachen blieben nicht länger als nötig im Archiv. Es füllte beinahe die gesamte Länge der Wachanlage – vom Tor bis zum nächsten Eckposten –, und das über mehrere Stockwerke mit niedrigen Decken. Regale waren dicht aneinandergestellt worden, sodass ein breit gebauter Mensch nur knapp hindurchgehen konnte. Und darin befanden sich lauter Lederbände, Papierstapel und Pergamentrollen, welche die Arbeit des Wachtpostens seit Beginn von Veas Demokratie aufzeichneten und bewahrten. Kallines liebster Ort auf der gesamten Insel.
Sobald sie die Tür zum Archiv öffnete und das vertraute Knarzen erklang, strömte ihr trockene Luft entgegen, nach Papier und Tinte duftend. Sie wurde begrüßt vom Kratzen einer Feder auf Pergament, geschwungen in lang gezogenen Linien, die zu Mechlanos’ Handschrift gehörten. Als er Kalline bemerkte, sah er von seiner Arbeit auf, rieb sich die Nase und schmierte sich einen Tintenfleck auf die Haut. Er hatte tiefe Augenringe und sein Haar lugte zerzaust unter dem Turban hervor. Sein Untergewand quoll aus den Schreibhandschuhen heraus, die an den Handballen bereits aufgescheuert waren.
Kalline schmunzelte unweigerlich. Wann immer sie ihn sah, erinnerte sie sich an ihre eigene Ausbildung. Gerade sechzehn Jahre alt, das Studium der Schönschrift und Stenografie in der Zunft der Federführung kürzlich beendet und nun an die erste Ausbildungsstätte vermittelt. Damals hatte sie nächtelang nicht geschlafen, weil sie so gefesselt von dem neuen Wissen gewesen war, das sich ihr mit der Ausbildung im Archiv aufgetan hatte. Chadis hatte sie zwischen den Regalen hervorzerren müssen, damit sie nicht vergaß, zu essen und zu trinken. Bis dahin hatte sie nur die Bibliothek ihrer Mutter gekannt, ebenfalls eine Federführerin, und dann die Bibliothek der Zunft. Doch hier war sie im Herzen Veas: Verhandlungsprotokolle, Anhörungen und Rechtsprechungen. In diesen Regalen befanden sich Aufzeichnungen über alles, was sich in den letzten Jahrzehnten in Veas Mittlerem Ring ereignet hatte. Für Außenstehende mochte es wie ein Hort der Verbrechen wirken, aber nicht für Kalline. Für sie war es ein Ort der Gerechtigkeit. Wo das Gute über das Schlechte siegte, die Vernunft über das Gefühl. Wann immer sie las, was vor ihrer Zeit geschehen war, verstand sie die Welt um sie herum ein bisschen besser. Sie konnte sich keinen aufregenderen Ort vorstellen. Und nun, acht Jahre später, durfte sie sich Leiterin dieses Archivs nennen.
»Guten Morgen, Mechlanos. Wie ist die Nachtschicht gelaufen?« Kalline reichte ihm ein frisches Tuch, um sich zu säubern.
Dankend nahm er es an und wischte sich das Gesicht und die Fingerspitzen ab, ehe er sich an die Reinigung seiner Feder machte. «Guten Morgen, Archivleiterin Kalline. Nun ja, ich denke, ganz gut. Es gab keine Vorkommnisse, die protokolliert werden mussten. Ich habe nur die Übersicht der Akten des vergangenen Monats ergänzt.«
Zum Beweis klopfte er auf den Dokumentenstapel neben sich, etwa eine Elle hoch. Stirnrunzelnd blickte Kalline auf die Akte in ihren Händen, die sie eben erhalten hatte.
»Du hast also keinen Vorfall für die Stadtwache protokolliert, eine Verhandlung oder dergleichen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du wurdest nicht einmal gerufen?«
»Nein, Archivleiterin Kalline.«
Sie zögerte, nickte dann. »In Ordnung, ich danke dir, Mechlanos. Ich überprüfe deine Arbeit später.«
Sie setzte sich an ihr Schreibpult auf der gegenüberliegenden Seite. Der Tisch war so aufgeräumt, wie sie ihn verlassen hatte. Keine neuen Akten und Dokumente zum Archivieren, Mechlanos’ Arbeit ausgeschlossen. Sie hielt die Akte von Chadis in der Hand und erst jetzt wunderte sie sich, weshalb sie auf diese Weise zu ihr gelangt war. Selbst wenn nur ein Auszubildender wie Mechlanos zur Verfügung stand, war es unüblich, Stadtwachen Verhöre dokumentieren zu lassen. Ein anständiges Protokoll konnte kaum jemand von ihnen anfertigen. Nicht auf die Art, wie es die Volksversammlung und vor allem der Rat der Hundert für die monatlichen Sitzungen forderten.
Kalline schlug den Stoff beiseite. Die Schrift kam ihr nicht bekannt vor. Es gab im gesamten Mittleren Ring fünf größere Wachtposten entlang der Oberen Ringmauer mit eigener Federführung für die Protokolle. Aber alle Schriftzeugnisse kamen zu ihr, ins Mittlere Archiv. Jedes Protokoll trug den Namen der protokollierenden Person und wenn sie diesen einer Handschrift zugeordnet hatte, vergaß sie diese nicht mehr. Am Kopf des Dokuments stand der Name der Leiterin des hiesigen Wachtpostens. Nur war die Wachtleiterin zurzeit nicht am Posten und das war nicht ihre Schrift. Kalline fuhr die Tintenstriche mit den Fingern nach.
Die Buchstaben waren niedergedrückt, als wollten sie sich ebenso wie die Verfasserin oder der Verfasser kleinmachen. Sie drängten sich aneinander, hielten sich nicht immer auf einer Höhe, taumelten. Trotzdem war jeder Buchstabe sauber gezeichnet, in sanften Bögen und überraschend senkrecht. Tatsächlich waren die Schriftzüge ein wenig zu sauber für die Geschwindigkeit, in der protokolliert werden musste.
Allein bei Betrachtung der Schrift versteifte sich Kallines Körper, sie zog die Schultern an und hielt den Kopf gesenkt. Wer auch immer das Protokoll geschrieben hatte, musste verunsichert gewesen sein. Vielleicht eingeschüchtert. Schließlich war eine Goldhand involviert. Manche von ihnen waren friedliche Gemüter wie Chadis, die sich für Gutes einsetzten. Aber die meisten von ihnen waren geblendet von ihrer Macht und nutzten sie für grausame Taten.
Kalline überflog den Text. Es handelte sich bei der inhaftierten Goldhand um einen Mann aus dem Unteren Ring, dessen Gabe darin bestünde, den Wachen die Sicht zu nehmen. Zumindest gab es eine Randnotiz, dass er bei der Verfolgung wiederholt im plötzlich auftauchenden Dunkel der Nacht verschwunden sei. Sie hätten ihn nur ergreifen können, indem sie ihn mit einer Lanze am Bein verletzten und er stürzte. Er sei durch das Untere Tor in den Mittleren Ring gekommen. Anschließend habe er das Haus eines Ratsmitglieds aufgesucht. Er habe Bedienstete ermordet, den Mann des Ratsmitglieds aus dem Fenster gedrängt, bevor er schließlich den Ratsherren mit einem Strick gehängt habe. Es war das Kind des Ratsherrn, das geflohen sei und die Stadtwache alarmiert habe.
Wenn Kalline daran dachte, dass sich dieses Verbrechen nur wenige Meter von ihr entfernt ereignet hatte, wurde ihr ganz anders. Die Boshaftigkeit, die sich im Unteren Ring sammelte, ruhte nicht mehr in den besetzten Straßen. Nein, sie pochte gegen die Tore und drang durch die Ritzen tiefer in die Stadt hinein. Dies war der dritte Vorfall, der dritte blutige Angriff im letzten halben Jahr. Wohin sollte all das noch führen?
Während die Patrouillen die Straßen Veas sicherten, war es an Kalline, die Ordnung innerhalb Veas zu bewahren. Sie war der Geist dieses Körpers und sie musste klaren Verstand behalten. Deshalb straffte sie ihre Schultern und griff nach ihrer Feder. Sobald die ersten Worte aus der Tinte flossen, erfüllte sie tiefste Zufriedenheit und Ruhe. Sie beschrieb das Deckblatt, fasste den Inhalt zusammen und notierte die wichtigsten Daten.
Da bemerkte sie etwas auf der letzten Seite des Protokolls. So unleserlich, dass sie es zunächst für einfache Striche hielt, um die Tinte aus der Feder zum Fließen zu bekommen. Da war ein Kürzel: D.I.
Sie stutzte. Diese Abkürzung war ihr neu. D.I. Was mochte das bedeuten? Und warum war es an den untersten Rand der letzten Seite notiert? Aus ihrer Schublade zog sie das Tafelverzeichnis aller offiziell zu nutzenden Kürzel heraus. Doch diesen fand sie dort nicht.
»Archivleiterin Kalline? Ist alles in Ordnung bei Euch?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und blickte zu Mechlanos. Er stand mit seinem Stapel Akten im Arm vor ihr und fragte: »Ich bin nun fertig. Darf ich Euch die Dokumente geben?«
»Natürlich.« Kalline schloss das merkwürdige Protokoll und nahm die Papiere entgegen. »Du darfst jetzt gehen. Wir sehen uns zum Schichtwechsel. Erhol dich gut.«
Mechlanos salutierte ein wenig ungeschickt und schlaff. Er lächelte sie an, bevor er das Archiv verließ. Einige Momente sah sie ihm hinterher, ehe ihr Blick von dem Protokoll zu seiner Arbeit glitt. Sie fragte sich, ob …
Mit flinken Fingern ließ sie eine Akte nach der anderen durch ihre Hände gleiten. Ihre Augen flogen über die Protokolle des letzten Monats. Zunftstreit, Bußgelder für Steuerverweigerung, Diebstahl … Da war es.
Eine weitere Notiz am Ende der letzten Seite. Und diesmal war es nachträglich in derselben geduckten Handschrift eingefügt worden: D.I.
* * *
Das Archiv sah aus, als sei ein Sturm hindurchgefegt. Kalline hegte und pflegte die Ordnung darin sonst so gewissenhaft wie die Priesterinnen den Tempel von Ichrylis. Doch nun lagen die Akten am Eingang verteilt, waren aufgeschlagen, nebeneinandergelegt und verschoben, zugeklappt und beiseitegelegt, nur um erneut geöffnet zu werden. Und von allen Seiten blickte ihr das Kürzel entgegen: D.I.
Es waren inzwischen zwei Dutzend Akten, in denen sie es entdeckt hatte. Die meisten von ihnen dokumentierten Vergehen von Goldhänden, mal mehr, mal weniger schwerwiegend. Einige andere beinhalteten Korruptionsprozesse gegen Mitglieder des Rats der Hundert oder verhängte Bußgelder für Mitglieder der Volksversammlung. Kalline las und las und konnte dennoch keinen inhaltlichen Zusammenhang erkennen, der ihr die Bedeutung des Kürzels verraten würde.
Besonders verwunderte sie, dass die Zeichen, dem Verblassen der Tinte nach zu urteilen, stets zu anderen Zeitpunkten als das Protokoll geschrieben worden waren. Das Dokument, das sie gerade in der Hand hielt, war mit Archivtinte verfasst worden. Nur ranghohe Mitglieder der Federführung durften sie verwenden, da sie in der Herstellung sowohl kostspielig als auch giftig war. Sie war mit den Schuppen des Mondaals angereichert und machte die Tinte lichtecht, sodass die Dokumente nie verblassten und fälschungssicher waren. Diese Tinte benutzten sie nur bei den wichtigsten Fällen, die Grundlage für eine eingehende gerichtliche Verhandlung sein sollten.
Hier ging es um den Mord an einem Mitglied des Obersten Gerichts, verübt durch eine Goldhand. Zwar konnte ihr der Mord nie nachgewiesen werden, da die Beweise unauffindbar waren, dennoch stimmte das Oberste Gericht für die Inhaftierung der verdächtigten Frau. Kalline blätterte zur letzten Seite des Protokolls und fand dort die Ergänzung mit den Gerichtsbeschlüssen und am Ende der Seite das Kürzel D.I. Etwas anderes machte sie stutzig: In dieser Akte war eine Notiz eingefügt, und zwar mit offizieller Signatur einer Federführung. Eine Notiz, die das Verschwinden – einen möglichen Ausbruch? – der betroffenen Goldhand aus dem Gefängnis vermerkte.
Sie legte das Dokument auf ihr Schreibpult und zog eine Lupe hervor, mit der sie das unbekannte Kürzel betrachtete. Für das bloße ungelernte Auge war es kaum zu unterscheiden, denn es wirkte ebenso schwarz wie die Archivtinte. Aber Kalline erkannte bei genauerer Betrachtung, dass das Kürzel mit einer anderen Tinte geschrieben worden war. Der Ton war gräulicher, vermutlich handelte es sich um ein Aschegemisch, um die dunkle Färbung der Archivtinte nachzuahmen. Dem Grad des Verblassens nach zu urteilen, war das Kürzel vor zwei Jahren eingefügt worden. Ihr Blick glitt zum Datum des Protokolls. Es war vor drei Jahren angefertigt worden. Die Notiz zum Verschwinden der Goldhand … vor zwei Jahren.
Sie nahm eine andere Akte über einen Goldhand-Vorfall auf. Laut Protokoll war diese Goldhand noch in Haft. Trotzdem fand sich das Kürzel D.I. am Ende der Akte. Hier war der Unterschied zur Archivtinte kaum ersichtlich. Dafür war die Schrift eine andere. Weshalb fiel es ihr jetzt erst auf?
Wieder und wieder legte sie die Akten zusammen und stellte sich all diese Menschen aus den unterschiedlichsten Ringen mit den unterschiedlichsten Absichten und Vergehen vor. Die meisten von ihnen Goldhände. Was sollte die Abkürzung bedeuten? Das weitere Verfahren? Das Kennzeichen für eine bestimmte Art von Fall? Oder …?
Keine voreiligen Schlüsse. Sie würde zunächst mit ihrem Vorgesetzten sprechen. Schließlich war eine nachträgliche Änderung der Archivakten nur durch einen direkten Befehl des Kommandanten möglich. In diesem Fall musste es wohl eine dringliche Direktive gewesen sein, wenn es sogar ohne Kallines Beiwohnen geschehen war.
In ihrem persönlichen Notizbuch vermerkte sie sich die Archivnummern der Akten, in denen sie die Kürzel gefunden hatte, ehe sie diese einsortierte. Allein das Protokoll, das Chadis ihr überreicht hatte, wollte sie mitnehmen. Befehl des Kommandanten oder nicht, es musste bei Verhören stets ein Mitglied der Federführung anwesend sein. Ordnung galt ebenso für den Vorgesetzten. Kalline wollte Antworten.
Der Kommandant genoss hohes Ansehen im Mittleren Ring. Er hatte viel dazu beigetragen, die Kriminalität zu senken und Streitigkeiten zwischen den Zünften zu schlichten. Kallines Vater hatte ihr stets ehrfürchtig von dem Wandel berichtet, den der Kommandant in seinen fünfundzwanzig Dienstjahren gebracht hatte. Die Menschen des Mittleren Rings munkelten, dass selbst sein einziger Vorgesetzter, der General, zu ihm aufsah und ihm in Beliebtheit und Befehlsgewalt unterstand. Trotz all dieser Errungenschaften lebte er bescheiden, trug bis auf seine Uniform keinen Prunk und war ein Mann der klaren Entscheidungen und präzisen Worte. Dafür respektierte Kalline ihn umso mehr – aber das war es auch, was sie verwunderte. Der Kommandant würde nie den Rechtsweg verlassen und solch ominöse Kürzel erlauben. Nicht ohne einen Grund.
Vor der Tür zu seiner Kammer standen zwei Stadtwachen, die sie mit einem Salut begrüßte. »Ich möchte den Kommandanten sprechen.«
Einer der beiden Wächter löste sich von seinem Posten, klopfte an die massive Tür und sagte: »Kommandant, ein Schreibling aus dem Archiv will zu Euch.«
Ungesehen von den Wachen verzog Kalline den Mund. Sie wartete dennoch geduldig auf das »Herein« des Kommandanten. Daraufhin nickten die Wachen ihr zu, machten aber keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie ignorierte zum zweiten Mal an diesem Tag den Knoten in ihrem Magen und stemmte die Tür auf.
Der Kommandant saß an seinem Schreibpult und beendete gerade in einer sauberen Geste den letzten Federstrich seiner Signatur. Sorgfältig reinigte er die Feder und verstaute das Dokument zum Trocknen unter der Klappe des Schreibpultes. Erst danach richtete er sich auf, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Brust herausgedrückt und das Kinn erhoben. Das gräuliche Haar verdeckte er unter dem Turban, verziert mit dem Abzeichen der Stadtwache. Trotz der Altersanzeichen, die sich im Bart und um die Augen fanden, strahlte er eine Autorität aus, die Kalline sogleich den Blick senken ließ.
Ihr Herz schlug mit einem Mal kräftig gegen ihre Brust. Dadurch, dass sie im Archiv arbeitete, bekam sie den Kommandanten selten zu Gesicht, höchstens aus der Ferne. Es war ihr ein wenig unangenehm, wie aufgeregt sie war. Vor allem in Anbetracht dessen, wie lange sie an diesem Stützpunkt tätig war. Sie blinzelte zu ihm hoch.
Ihre Großeltern sowie ihr Vater waren bereits bei der Stadtwache gewesen, weshalb für Kalline früh klar gewesen war, wohin sie ihr Weg führen würde. Zunächst war vorgesehen gewesen, dass sie ihrem Vater in den Oberen Ring folgte, um dort eines Tages die Archivleitung zu übernehmen. Ihre Mutter hätte sie mit ihren Talenten und der schnellen Auffassungsgabe gern in den Archiven unter Ichrylis’ Tempel gewusst. Letztlich hatte sie sich dagegen entschieden, denn sie wollte dem Kommandanten in den Mittleren Ring folgen.
Damals musste sie gerade dreizehn Jahre alt gewesen sein. Sie waren auf dem Marktplatz im Oberen Ring gewesen. Es war erneut zu Konflikten zwischen Handelsleuten des Mittleren und Oberen Rings gekommen, weil sie sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigt hatten. Dann war der Kommandant erschienen, hatte sich zwischen die Fronten gestellt und zum Volk gesprochen. Er hatte betont, wie wichtig die Rolle aller Bürgerinnen und Bürger Veas in der Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit und Demokratie war. Dass es nicht die Stadtwache sei, die das Recht zu den Menschen brachte. Es seien die Menschen, die das Recht in ihren Handlungen schafften. Seine Worte hatten nicht nur den Streit zwischen den Zünften geschlichtet, sondern Kalline ein Licht aufgezeigt. Ein Licht für Veas und ihre eigene Zukunft, dem sie um jeden Preis folgen wollte.
»Möge der Wille des Volkes mein Wille sein, Archivleiterin Kalline.« Sie salutierte und wartete auf seinen Wink, bis sie es wagte, an ihn heranzutreten. Mit einem tiefen Atemzug ermahnte sie ihr Herz zur Ruhe.
»Kommandant, ich komme mit einer Bitte zu Euch.« Sie räusperte sich, als ihre Stimme schwankte, und schlug die Akte auf der letzten Seite auf, wo das Kürzel vermerkt worden war. »Mir wurde dieses Protokoll anvertraut, doch bei der Durchsicht bemerkte ich, dass es sich um eine mir unbekannte Handschrift handelt. Und wie ich erfuhr, wurde Auszubildender Mechlanos nicht berufen, obwohl er Nachtdienst hatte.«
Gewichtigen Schrittes trat er ihr entgegen und sofort begradigte sie ihre Haltung. »Der Name steht zu Beginn des Protokolls, sollte ich mich nicht irren.«
Kalline stockte. Der scharfe Ton erstickte beinahe jeglichen Widerspruch in ihr. »Die Wachtleiterin ist eingetragen, dabei ist sie zurzeit nicht im Dienst. Wenn sich jemand als sie ausgibt, ist das doch ein schweres Vergehen, nicht, Kommandant? Außerdem entdeckte ich ein mir nicht bekanntes Kürzel, das ich in anderen Akten wiederfand. Nachträglich eingesetzt.«
Eine seiner Augenbrauen hob sich, als er ihrer Beschreibung folgte und die Buchstaben betrachtete. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.«
»Mit Verlaub, Kommandant … Dann kennt Ihr die Person, die dies verfasst hat? Und dieses Kürzel? Wenn ich Euch bitten dürfte, mir zumindest dies zu verraten, damit ich zukünftig –«
»Zukünftig seht Ihr diese Notiz und wisst, dass sie ihre Richtigkeit hat und dies ein erlaubtes Kürzel ist. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.«
Kalline presste die Lippen aufeinander. Ihr Körper spannte sich an, während ihre Gedanken rasten. Wenn es einen Grund gab, sollte er ihn ihr anvertrauen können. Schließlich war sie die leitende Federführung dieses Archivs.
Vor ihr stand der Mann, der Recht und Ordnung in Veas Mitte hielt. Der Mann, zu dem sie jahrelang aufgesehen und der sie dorthin gebracht hatte, wo sie nun war. An den Ort, an dem die Demokratie Veas geschützt wurde. Sie atmete zittrig ein, die Augen auf seine Brust fixiert, ehe sie sagte: »Nein.«
Sie presste das Wort zwischen ihre Lippen hervor und trotzdem spürte sie es nicht auf der Zunge. Als hätte eine Fremde es in diesem Moment für sie gesprochen.
»Nein«, wiederholte sie und sah das erste Mal in seine Augen. »Ich verlange, mehr zu wissen. Meine Zunft hat den Eid geschworen, dem Volke mit der Kunst des Schreibens zu dienen. Und ich übernahm die Verantwortung, dies im Auftrag der Gerechtigkeit und des gerechten Urteils hier in der Stadtwache zu tun. Das bedeutet, dass niemand außer der Zunft der Federführung Geschehnisse dokumentieren und niemand ohne mein Zutun diese Schriften verändern darf. Ich bin Euch unterstellt, aber das Archiv dient als unabhängige Instanz, die die Willkür der Stadtwache einzuschränken hat.«
Ihr Herz drohte, aus ihrer Brust zu springen, als sie tief einatmete. Doch ihre Ansprache ließ sich nicht mehr unterbrechen.
»Ich versäumte es, unmittelbar nach Übernahme des Postens der Archivleitung vor Euch zu treten«, fuhr sie fort. »Das ist mein Fehler. Ihr mögt weiterhin an meinen Vorgänger denken, deshalb möchte ich es betonen: Ich bin die Leitung des hiesigen Archivs. Und ich wage zu behaupten, meine Leistung verdiene Euer Vertrauen in diese Position und in mich. Entweder Ihr weiht mich in die Bedeutung dieses Kürzels und dieser Ungereimtheiten ein oder ich bin verpflichtet, diesen Vorfall der amtierenden Leiterin meiner Zunft der Federführung zu melden.«
Mit jedem Wort gewann ihre Stimme an Festigkeit. Das Wissen, den Regeln ihrer Zunft und des Gesetzes zu folgen, gab Kalline die Gewissheit, dass die Forderung gerechtfertigt war. Selbst wenn das hieß, dem Kommandanten zu widersprechen. Oder gerade deswegen.
»Weshalb wurde Auszubildender Mechlanos nicht gerufen? Wer verfasste stattdessen das Protokoll? Und wofür steht dieses Kürzel? Ich erbitte eine Antwort auf meine Fragen, Kommandant.«
Das Blut rauschte in Kallines Ohren und übertönte das Knistern der Flammen, die sich wie vor Anspannung wanden. Dann verklang jegliches Geräusch, als der Kommandant einen Schritt auf sie zukam.
»Ich schätze Euren Sinn für Gerechtigkeit sehr, Archivleiterin«, sagte der Kommandant und nickte nachdenklich. »Ihr habt recht, mein Blick war zu kurzsichtig. Ist es nicht das Herzstück unserer Demokratie, dass alle Mächte im Gleichgewicht sind? Die Macht des Körpers und die Macht des Wortes.«
Mit vor Stolz geschwollener Brust erwiderte sie: »So ist es, Kommandant.«
»Was ich Euch nun anvertraue, Archivleiterin, ist geheim. Euer Vorgänger war eingeweiht und ich ging davon aus, dass er Euch ebenfalls einwies. Anscheinend ließ er Euch zu Eurem Schutze in Unwissenheit.«
Kalline errötete bei dem Lächeln, das er ihr schenkte.
»Euer Vorgänger scheint nicht erkannt zu haben, was für ein loyales Herz in Euch schlägt.«
»Ich schwöre bei Ichrylis, die Demokratie Veas mit jedem Mittel zu schützen.« Sie salutierte, die freie Hand fest um ihre Federbrosche geschlossen.
»Was habt Ihr bisher in Erfahrung bringen können über das Kürzel?«
»Nun ja«, sie strich über die Akte in ihren Händen, »ich habe es in sehr vielen Protokollen entdeckt und es wurde stets nachträglich eingefügt, ohne offiziellen Beschluss oder eine Erklärung. Und dies vor allem in den Fällen, in denen Goldhände für ihre Vergehen verurteilt wurden, aber nicht ausschließlich. Mehr habe ich bisher nicht erfahren, mein Kommandant.«
»Ich verstehe«, sagte der Kommandant. »Und ich sehe meinen Fehler ein, Archivleiterin. Ihr seid außerordentlich sorgfältig in Eurer Arbeit.«
»Ich danke Euch, Kommandant.«
»Bei diesem Kürzel handelt es sich um eine eigens von mir entwickelte Chiffre, wie Ihr wissen müsst. Ich kann Euch leider nicht mehr verraten, als dass es, wie Ihr bereits bemerkt habt, im weitesten Sinne mit den Goldhand-Vorfällen zu tun hat. Allerdings auch mit ehemals treuen Bürgerinnen und Bürgern Veas, die mit den Feinden unserer Demokratie paktieren und sich im Verborgenen unseren Untergang wünschen. Aus Vorsicht ist die Bedeutung dieser Chiffre sehr wenigen Menschen bekannt. Es sei nur so viel gesagt: Es ist kein Zufall, dass die Grausamkeit der Übergriffe in den letzten Monaten zunahm.«
»Ihr glaubt, es steckt mehr dahinter?«, hakte sie nach.
Der Kommandant seufzte. »Sprecht diesen Verdacht nicht zu laut aus, Archivleiterin. Ihre Ohren sind überall.«
»Die Goldhände?«, flüsterte sie.
»Ich bin verschwiegen, um Euch zu schützen, Archivleiterin, bitte versteht. Mehr als diese Antworten kann ich Euch nicht geben. Wenn Ihr dieses Kürzel entdeckt, so wisst, dass ich es genehmigt habe und dass es ein Zeichen ist, um all dem Unheil ein Ende zu setzen. Das Schicksal Veas steht auf dem Spiel.«
Der Kommandant verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat zum Fenster. Er öffnete es und winkte Kalline zu sich. Weit unter ihnen befand sich das Tor, zur Seite des Oberen Rings. Unverständliche Wortfetzen drangen von den Menschen zu ihnen, von denen sie kaum mehr als die Scheitel und Kopftücher sah. Von der Kammer des Kommandanten hatten sie freie Sicht auf Ichrylis’ Tempel am Ende der Hauptstraße. Er thronte über all den anderen Gebäuden in seinem goldenen Glanz.
Dann wandte sich der Kommandant ihr zu und reckte das Kinn zum angedeuteten Salut. »Was würde ich nur tun, wenn mir solch eine treue Seele wie die Eure abhandenkäme? Lasst mich Euch versichern, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Gerechtigkeit walten zu lassen. All das, was Ihr hier seht, bedarf unseres Schutzes. Auf dass die rechtmäßigen Erben von Ichrylis in Frieden herrschen.«
»Das Volk«, ergänzte Kalline und salutierte. »Möge sein Wille auch meiner sein.«
Der Kommandant lächelte. »So sei es.«
* * *
Als Kalline abends aus dem Wachtposten trat, biss die Kälte in ihre Wangen. Hastig vergrub sie die Nase im Kragen ihres Manteltuchs. Sie blickte sich um, entdeckte Chadis allerdings nicht. Am Tor zum Oberen Ring tummelten sich vereinzelt Menschen, deren Passierscheine und Wägen von der Stadtwache kontrolliert wurden. Die meisten waren augenscheinlich Handelsleute, die nach dem langen Markttag im Oberen Ring zurück in ihre Zunft im Mittleren Ring gelangen wollten. Zwischen ihnen stand ein Mann, verhüllt von einem Schleier und einer Robe, die beinahe blasphemisch dem Gewand der Priesterinnen ähnelte. Er schrie sich heiser mit wirren Phrasen, die das Ende der Demokratie und die Rückkehr zur Monarchie forderten.
»Und auf Dela sammelt die Königin ihre Kräfte und wird sich zurückholen, was rechtmäßig Ihres ist!«, plärrte er, als zwei Wächter ihn von seinem Platz und in den Wachtposten zerrten. Er schimpfte und spuckte, Kalline konnte nur Mitgefühl für ihn empfinden.
Sie wich den Wachen und dem Prediger aus und schlenderte ein Stück die Mauer entlang in Richtung des Hauptkanals. Es war kühl am Wasser, so kühl, dass ihr Atem in Wolken von ihren Lippen aufstieg. Es roch nach Schnee, obwohl es am Himmel keine Anzeichen dafür gab. Ihr Blick streifte das Durcheinander aus Hausblöcken und Kuppeln, Türmen und überdachten Passagen des Mittleren Rings. Würde der Schnee dieses Jahr auf sie herabfallen, würde wohl allein Ichrylis’ Tempel mit seiner vergoldeten Mosaikkuppel zwischen den bedeckten Dächern herausstechen. Vea war die Perle des Lyr’schen Meeres, hatte Kalline jemanden sagen hören, und sie konnte nur zustimmen. Sie liebte ihre Insel. Deshalb schmerzte es sie umso mehr, zu wissen, dass etwas Unheilvolles in ihren Schatten brodelte: Unsere Feinde.
Hinter der sandfarbenen Mauer erahnte sie den Unteren Ring. Dieses Dickicht aus Holzhütten, dicht gedrängt und krumm. Dornen, die sich gegenseitig verschlangen, zusammenwuchsen und verkümmerten. Zur späten Stunde hing ein feiner Nebel über den Gassen. Die Protokolle kamen ihr in den Sinn und die drohenden Worte des Kommandanten. Sie dachte an die Vergehen der Goldhände, ihre List und ihre Boshaftigkeit, mit der sie die Insel hinaufgekrochen waren und es vermutlich weiterhin tun würden. Besonders, wenn sie von Menschen gedeckt wurden, die ihre Pflichten als Dienerinnen und Diener des Volkes vernachlässigten.
Mit einem Schaudern wandte Kalline den Blick ab und schaute auf das Meer. Die Sonne war längst untergegangen, nur der verschwindende Mond spendete fahlen Schein, der sich auf den Wellen spiegelte. Die angelegten Boote wirkten wie Fischgestalten, die einen Blick an Land wagten.
»Du siehst aus, als sei dir ein Geist begegnet.«
Chadis’ Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken. Fragend schaute sie auf und er schenkte ihr ein scherzendes Lächeln.
»Ist es wahr, was man sich erzählt? Haust der Geist der fälschlich eingeordneten Akten im Archiv?«
Augenblicklich sah Kalline zu seinen goldenen Händen, die Lanze und Laterne umfassten. Sie zog ihr Manteltuch fest und schlang die Arme um ihren Körper, als sie neben ihn trat, und wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Nicht einmal ein Schmunzeln?« Er leuchtete ihnen mit einer Laterne den Weg. »Ist etwas vorgefallen?«
Sie wusste, sie sollte ihm nicht von dem Kürzel erzählen. Der Kommandant wollte es nicht, denn es war zu ihrem Schutze. Im Gespräch mit ihm hatte sich Kalline geehrt gefühlt von seinen Worten, dass er sie – seine Archivleiterin – nicht in Gefahr bringen konnte. Aber jetzt verspürte sie Unmut darüber, nur beschützt zu werden. Sie war eine wertvolle Archivarin und wie der Kommandant bestätigt hatte war sie aufmerksam und fleißig. Er konnte sie einweihen. Vielleicht vertraute er ihren Fähigkeiten doch nicht genug, um sie als seine rechte Hand anzusehen.
Chadis wartete geduldig auf ihre Antwort. Kalline haderte und musterte sein Gesicht, ehe sie zum Wachtposten zurücksah.
»Lass uns ein Stück gehen«, sagte sie und sie folgten dem Kanal entlang in Richtung Kaserne. »Es begann mit der Akte, die du mir heute übergeben hast«, sagte sie schließlich, als sie sicher sein konnte, dass das Kanalrauschen ihre Stimme schlucken würde.
Chadis rückte näher zu ihr, ohne seinen Blick vom Weg zu nehmen.
»Mechlanos wurde nicht einmal für das Protokoll angefragt. Ich habe sie überprüft, aber sie war in einer unbekannten Schrift verfasst. Und als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sie außerdem eine Abkürzung verwendete, die ich nicht kannte. D.I.«
Kalline hielt inne. Nun war es gesagt. Sie sollte Reue verspüren, doch sie fühlte ihr Herz kräftig in der Brust schlagen, als sie weitererzählte.
»Ich fing an, in anderen Protokollen zu suchen, und fand immer mehr, in denen dieses Kürzel vermerkt worden war. Mal am Ende, mal am Rand.«
»Selbst in den alten Akten?« Chadis hob eine Augenbraue und verzog den Mund.
»Selbst dort. Das Kürzel wurde nachträglich eingesetzt. Und …« Sie zögerte, ob sie die nächsten Worte aussprechen sollte. Gegen ihren Willen huschten ihre Augen abermals zu seinen goldenen Händen. Sie seufzte. »Und es handelte sich bei den meisten Akten um Vorfälle mit Goldhänden. Nicht nur die kleineren Delikte, sondern auch die Vergehen an den Regierungsmitgliedern.«
»Und du kannst dir nicht erschließen, von wem das Kürzel stammt oder wofür es steht?«
»Ich fragte den Kommandanten danach. Und er erklärte, dass er es mir nicht sagen könne. Es gehe aber um die Angriffe durch Goldhände. Er meinte, dass sie ansteigen würden, angetrieben von böswilligen Menschen in unseren Reihen.«
Chadis schwieg und sie konnte in seinem Blick nicht lesen, was er dachte. Eine Weile folgten sie der Straße, bis sich nach all den Häusern und Geschäften eine Mauer hervorhob, die den Eingang zur Kaserne markierte. Nun wurde Kalline langsamer und ergriff sein Manteltuch. Augenblicklich ließ sie wieder los, beschämt über diese verzweifelte Geste. In solchen Fällen hätte sie sich der Wachtleiterin anvertrauen können. Doch diese hatte den Wachtposten erst vor wenigen Wochen wegen der nahenden Geburt verlassen und Kalline wusste nicht, wie bald sie zurückkehren würde. In ihrer Abwesenheit übernahm der Kommandant zusätzlich zu seinen anderen Pflichten die Leitung des Postens. Eine Vertretung schien er nicht ernennen zu wollen. Mit wem sollte sie sonst darüber sprechen?
»Der Kommandant sagte, ich solle nicht nachfragen und ihm vertrauen, aber ich … ich kann nicht. Nicht, wenn ich weiß, dass es unschuldige Menschen treffen könnte. Dass es weitere Mitglieder der Regierung treffen könnte. Wie kann ich da still sitzen? Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Ich glaube, du weißt, was du tun solltest. Du solltest es dabei belassen, wie es der Kommandant gesagt hat. Es ist nicht deine Aufgabe als Archivarin, dem nachzugehen.«
Kalline verzog den Mund. Sie wusste, dass er recht hatte. Nur stellte sie diese Antwort nicht zufrieden. Die Vorstellung erschien ihr absurd, am nächsten Morgen in das Archiv zu gehen, Protokolle zu schreiben und zu archivieren, ohne jemals weiter über das Kürzel nachzudenken.
Als er ihren zerknirschten Blick sah, lächelte Chadis. »Aber ich weiß, was du stattdessen tun wirst. Du wirst es nicht ruhen lassen, so oft man es dir auch befiehlt. Solange du das Gefühl hast, es geschehe Unrecht, wirst du weitermachen. Und deshalb werde ich dir helfen.«
Verwundert musterte sie ihn. »Du handelst dir damit nur Ärger ein und bringst dich in Gefahr, ich möchte nicht –«
»Wenn du die Sache allein angehst, bist du diejenige, die in Gefahr ist. Lass mich dir helfen und dir wenigstens den Rücken freihalten.« Er ergriff ihre Schultern. Die Berührung reichte aus, um ihre Gedanken zu entwirren und sie zu beruhigen. Sein Ausdruck wurde ernst. »Was mich stutzig macht, sind diese Goldhand-Vorfälle und dass sie zunehmen. Ich möchte dir um deinetwillen helfen. Aber wenn es etwas mit Goldhänden zu tun hat, möchte ich auch um meinetwillen involviert werden. Lässt du mich dir helfen?«
Sie zögerte und wägte ab, ob sie sollte. Es war sein gutes Recht, insbesondere, nachdem sie ihm schon so viel erzählt hatte. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war sie froh um die Stütze, die er ihr bot. Sie nickte.
»Ich danke dir«, sagte Chadis und drückte ihre Schultern. »Dann lass uns das weitere Vorgehen später besprechen.«
»Ist gut.« Mit schnellen Schritten und angezogenen Schultern beeilten sie sich, vor dem Sperrstundengeläut in ihre Kammern einzukehren.
* * *
Am nächsten Tag hatte Kalline über fünfzig Akten mit dem Kürzel gefunden. Sie hatte damit begonnen, ein Register zu führen, in dem sie die Archivnummern und den zusammengefassten Inhalt sowie das Schriftbild protokollierte. Auch zu welchem Zeitpunkt die Akte angelegt worden war und auf wann der Nachtrag D.I. möglicherweise datierte. Die älteste Akte stammte aus einem Gerichtsurteil von vor zwei Jahren, das Kürzel schien kurz darauf eingetragen worden zu sein. Die Neueste war die, die Chadis ihr mitgegeben hatte. Allein seit Beginn diesen Jahres entdeckte sie zehn weitere solcher, damals einfach archivierter Protokolle, alle in ihr unbekannten Handschriften.
Die Recherche musste heimlich geschehen. Denn sie wollte weder sich noch Chadis in Gefahr bringen und den Unmut des Kommandanten auf sich ziehen.
»Ihre Ohren sind überall«, hörte sie seine Worte nachhallen.
Diese Gedanken hatten sie zunächst davon abgehalten, weiter im Archiv zu suchen. Weshalb sollte sie ihr Wohlergehen riskieren, ohne zu wissen, ob sie dem Kommandanten überhaupt helfen konnte? Wenn der Kommandant sagte, er kümmere sich darum, dann würde er das tun. Sie hatte Schrift studiert, kein Recht. Sie hatte Federkiele geschwungen, keine Lanzen. Wer war sie, sich anzumaßen, bei der Inhaftierung mordender Goldhände zu helfen? Der Kommandant hingegen war ein Mann des Gesetzes und hatte zum Wohl des Volkes einen Eid geschworen. War diese Rastlosigkeit in ihr wirklich Grund genug, um sich einem direkten Befehl zu widersetzen? Eigentlich nicht.
Eigentlich.
Und trotzdem konnte sie nicht aufhören, über die Bedeutung dieses Kürzels nachzudenken oder was es mit den Vorfällen zu tun haben könnte. Während ihrer üblichen Arbeit stockte sie jedes Mal, sobald sie über die Buchstaben D und I stolperte. Seit ihrem Gespräch mit Chadis hatten sie gemeinsam überlegt, wie sie an die Lösung dieses Rätsels herangehen würden. Kalline war dazu übergegangen, ihre Recherchen in ein schmales Notizbuch zu schreiben. Sie versteckte es unter ihrer Uniform und falls sie entdeckt wurde, konnte sie es zwischen die Akten schieben. Es wog schwer, wann immer sie es in ihrer Hand hielt, Zweifel und Sorgen hafteten an den Seiten. Gleichzeitig konnten ihre Finger nicht schnell genug darin blättern, um nach der Antwort zu suchen. Dieses Rätsel, das sich so lange schon ihrem Blick entzogen hatte. Irgendwo zwischen den Buchstaben würde die Lösung sein und Kalline würde sie finden.
Dafür brauchte sie nur einen ersten Hinweis, eine erste Idee. Es fiel ihr noch immer schwer, einen Zusammenhang zwischen den Fällen zu erkennen, egal, wie oft sie ihre Notizen auch verglich. Allerdings zog eine Akte ihren Blick wiederholt auf sich: Die verschwundene Goldhand aus dem Gefängnis. Wenn der vermeintliche Ausbruch dokumentiert worden war und sogar ein Antrag auf Ermittlung gestellt wurde – wo war dieser? Es war kein Beweis, nicht einmal ein schlüssiger Hinweis, dass es etwas mit dem Kürzel zu tun hatte. Aber es war eine Spur, der sie nachgehen wollte. Und sie wusste bereits, wo sie suchen musste: Im Gefängnis.
Zum Sonnenaufgang standen sie vor dem Gefängnis. Die Wolken zogen in zarten Blütentönen über ihren Köpfen vorüber und zeichneten einen sanften Hintergrund für das mächtige Steingebäude. Es war nach den Unabhängigkeitskriegen auf einer schmalen Kanalinsel im Mittleren Ring errichtet worden. Weit genug vom florierenden Handelszentrum entfernt und in Sichtweite von zwei Wachtposten. Ein Gemäuer aus dickem Sandstein, beinahe so hoch wie die obere Stadtmauer und zudem von Wachtürmen flankiert. Einer von Veas Flüssen umschloss das Gebäude, sodass der einzige Zugang eine Zugbrücke war.
Als Kalline vor dem Wachhäuschen neben dem Eingang stand, war sie froh, dass Chadis sie begleitete. Nicht nur bereitete ihr der Anblick des Gefängnisses ein mulmiges Gefühl. Es war das eine, von den Verbrechen zu lesen, und das andere, die Menschen hinter den Gerichtsurteilen zu sehen. Vor allem auch, um überhaupt mit den Wachen sprechen zu können, half ihnen seine Bekanntheit unter den Stadtwachen.
Die Wächterin tastete ihre Uniformen nach unerlaubten Waffen ab und Kalline schien es, als sei sie bei ihr besonders gründlich. Für Chadis reichte es, seine Uniform zu präsentieren, die ihn als Teil des Mittleren Wachtpostens auszeichnete.
»Und was bringt Euch hierher?«, fragte die Wächterin.
Sie salutierte: »Kalline, Archivleitung des Mittleren Archivs. Ich begleite Stadtwache Chadis, um –«
»Die Federführung und ihre Protokolle«, unterbrach er sie und zuckte mit den Schultern. Zunächst war sie verärgert über sein Verhalten, doch als die Wache lachte und zustimmend nickte, schluckte sie ihren Stolz hinunter. Die Wache ließ sie passieren und sie überquerten die Zugbrücke. Im Inneren wurden sie von zwei weiteren Wachen durchsucht, ehe sie einer Federführung an der Pforte begegneten, die ihre Anwesenheit notieren sollte. Sie hatten Glück. Kalline kannte die zuständige Schreiberin, sie war in der Ausbildung ein Jahr unter ihr gewesen. Und die Schreiberin wusste, wer Kallines Mutter war.
»Wäre es möglich, die Zellenverzeichnisse einzusehen?«, fragte sie und die Schreiberin zückte augenblicklich den Archivband. Kalline bat sie um einen Moment allein mit Chadis und obwohl es gegen jegliche Regeln der Federführung verstieß, gehorchte die Schreiberin und trat außer Hörweite. Während sie sich beschäftigt gab, spähte sie zu ihnen herüber.
»Du kennst die Fallnummer?«, fragte er. Kalline schürzte die Lippen und er schmunzelte. Auch wenn jede der Fallnummern in ihrem Kopf schwirrte, wollte sie sich auf diejenige konzentrieren, die ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: die verschwundene Goldhand und der vergessene Untersuchungsantrag. Nach wenigen Augenblicken fand sie die richtige Seite.
»Das ist seltsam«, murmelte sie. »Hier steht, dass die Goldhand verstorben sei. Ein paar Tage nach dem Datum, an dem im Protokoll das Verschwinden notiert wurde. Weshalb ist hier nichts von dem Ausbruch notiert? Und weshalb steht in meinem Protokoll nichts vom Tod der Goldhand?«
»Was ist mit den anderen Gefangenen?«
Er beugte sich mit ihr über das Buch und sie blätterte weiter. Sie suchte die neuesten Fälle, die in dem Protokollband zu finden sein würden. Zu finden sein sollten. Kalline erschrak, als hinter dem Eintrag schlichtweg die Abkürzung für versetzt stand. Die Goldhand, deren Verhaftungsprotokoll Chadis ihr erst vor drei Tagen gegeben hatte, war nicht mehr im Gefängnis. Zelle vierundzwanzig war leer.
»Das müsste alles protokolliert worden sein«, flüsterte sie und ging zum nächsten Fall. »Wenn sie versetzt wurde, wären ein Nachtrag in meiner Akte und eine Abschrift des entsprechenden Urteils notwendig gewesen. Das hätte gar nicht so schnell passieren können und dürfen. Nicht, ohne dass ich davon weiß.«
Je mehr Gefangene sie in dem Register suchte, desto mehr Lücken taten sich auf.
»Entschuldige!«, rief Kalline die Schreiberin zurück. »Wie lange bist du schon für das Protokoll zuständig?«
»Seit ein paar Wochen, Archivleiterin«, antwortete die Schreiberin und nestelte an ihren Handschuhen. »Ich arbeite eigentlich als Assistenz im Unteren Archiv. Aber die Zunft hat mir herberufen. Ihr wisst, Eure Mutter empfahl, dass –«
»Dass sich der Posten der Federführung im Gefängnis abwechselt, um Bestechlichkeit vorzubeugen«, beendete Kalline den Satz und runzelte die Stirn. Das hieß, dass sie die scheinbare Versetzung der Gefangenen nur über einen Antrag bei der Zunft würde nachvollziehen können.
»Gibt es ein Problem?«, fragte die Schreiberin mit wankender Stimme nach. »Der Kommandant wollte gleich zum Kontrollgang vorbeikommen. Ich möchte keinen Ärger bekommen.«
Sofort schlug Kalline das Register zu und wechselte einen Blick mit Chadis. Ihr Magen krampfte, während sie darum rang, das Lächeln nicht zu verlieren.
»Es ist nicht so wichtig«, antwortete sie. »Ihm wird es nicht auffallen. Ich danke dir für die Auskunft.«
Kalline gab das Register zurück und eilte mit Chadis in den Gefängnistrakt. Sie mahnte sich zur Ruhe. Wenn sie schnell und klug vorgingen, wären sie in wenigen Minuten fort. Sie mussten nur sichergehen, ob etwas an diesen seltsamen Eintragungen dran war.
»Das kann nicht sein«, murmelte sie. »Es kann nicht sein, dass so viele Gefangene versetzt wurden, aber keine Notiz davon den Akten beiliegt.«
»Und wenn versetzt etwas anderes bedeutet?«, erwiderte er. Ihr gefiel der Tonfall nicht, den er dabei anschlug. Sie schlang die Arme um den Körper und plötzlich schien es im Durchgang kälter zu sein als zuvor.
»Zum Beispiel so etwas wie … ausgebrochen?«
Chadis verzog den Mund und zuckte mit den Schultern.
»Wohin könnten sie denn verschwunden sein?«, dachte sie laut. »Es gibt nur einen einzigen Ausgang aus diesem Gefängnis. Und dort sind mehr als genug Wachen postiert, um eine Goldhand aufzuhalten.«
»Das sollte man meinen, ja.«
»Außer sie konnten über den Kanal fliehen. Ist das möglich?«
»Vielleicht, dafür müsste die Strömung allerdings schwach genug für eine Durchquerung sein.«
Als ihnen eine Wache entgegenkam, hielt Chadis den Mann auf. Er war alt, mit tiefhängenden Augenlidern und doch war sein Blick stechend.
»Die Goldhand in Zelle vierundzwanzig, ist sie noch da?«, fragte er. »Mir wurde aufgetragen, sie zu befragen, nur die Schreiberin an der Pforte behauptet, sie sei versetzt worden. Sie kann mir aber auch nicht sagen, wohin.«
»Zelle vierundzwanzig ist leer«, blaffte der Wächter und schnaubte. »Du kannst dich gern stattdessen reinsetzen. Deine Uniform könnte gestohlen sein, wer weiß?«
»Das ist unerhört!«, zischte Kalline, doch Chadis hielt sie zurück. Er lächelte und legte dem Wächter eine Hand auf die Schulter. Sie spürte ein feines Kribbeln auf der Haut, als sie dabei zusah, wie er seine Gabe nutzte: Der Wächter rümpfte die Nase, dann aber entspannte sich seine Haltung und er begegnete ihnen mit ruhigem Blick.
»Seit wann ist die Zelle leer?«, hakte Chadis nach. Der Wächter schwankte wie ein Betrunkener. Der Anblick jagte Kalline eine Gänsehaut über den Körper und sie trat einen Schritt zurück. Chadis lächelte, wie er es ebenso tat, wenn sie sich unterhielten. Und doch brauchte es allein eine Berührung mit der goldenen Hand und der Mann gab nach wie warmes Wachs. Sein Kollege! Ihr wurde übel und sie wollte ihn von dem Wächter zurückziehen.
»Die ganze Zeit schon«, sagte der Wächter da mit gläsernen Augen. »Die Goldhand war nicht mal eine Stunde hier und war dann weg. Verschwunden.«
Chadis runzelte die Stirn. »Was meinst du mit verschwunden? Wurde sie abgeführt?«
»Einfach weg. Vermutlich mit diesen verfluchten Händen abgehauen. Wäre nicht das erste Mal.«
Das Gerede über Goldhände schien den Wächter wachzurütteln. Er blinzelte und mit einem Ruck schlug er Chadis’ Hand weg. Er stolperte zurück, stützte sich benommen an der Wand ab und starrte sie beide an. »Was fragt ihr das eigentlich? Mir wurde nicht gesagt, dass ihr hier sein sollt.«
»Ich hatte ein paar Nachfragen für das Protokoll«, log Kalline. Ihr Herz und Verstand rasten, als sie sich zwischen Chadis und die Wache schob. »Aber wenn die Goldhand nicht mehr aufzufinden ist, werden wir uns nochmals um den entsprechenden Versetzungsbefehl bemühen. Ich danke Euch für Eure Zeit.«
Sie war froh, dass die Sinne des Wächters von Chadis’ Gabe noch so benebelt waren, dass er ihnen zwar nachrief, aber nicht folgte. Wieso hatte die Wache davon gesprochen, dass die Goldhand verschwunden und nicht versetzt worden war? Wie konnte es sein, dass dieses Verschwinden keinen Alarm ausgelöst hatte? Weshalb waren jegliche Protokolle falsch? Hing all das mit dem Kürzel zusammen, mit dem der Kommandant die Fälle versah? Stand es für das Verschwinden der Goldhände aus dem Gefängnis?
»Was geht hier vor sich?«, murmelte sie. Chadis hatte die Lippen aufeinandergepresst und schwieg, die Augen starr geradeaus gerichtet.
Sie senkte den Kopf und betrachtete seine goldenen Finger. Von ihnen schien noch immer ein wärmender Schein auszugehen, der auf ihrer Haut kribbelte. Wenn er seine Gabe zielgerichteter und länger ausgeübt hätte, wäre der Wächter vermutlich bewusstlos gestürzt und erst spät erwacht. Womöglich hätte er ihnen mehr erzählen können, wenn Chadis ihm alle Sorgen und Hemmungen genommen hätte. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie viel Glück sie hatten, dass Ichrylis ihn zur Stadtwache und nicht in den Untergrund geführt hatte. Was wäre gewesen, wenn er die Kinder Veas nicht schützen, sondern bedrohen würde? Wenn er in diesem Gefängnis gewesen wäre, hätte er Schwierigkeiten gehabt, mithilfe seiner Gabe auszubrechen?
Er blieb so abrupt stehen, dass sie vor Schreck beinahe stolperte. Sein gesamter Körper nahm die stramme Haltung der Wachen ein und als sie seinem starren Ausdruck folgte, erkannte sie, warum. Der Kommandant stand in Begleitung einer Wache am Eingang und unterhielt sich mit der Schreiberin, die ausschweifend gestikulierte. Als spürte er Kallines Blick, sah er auf und starrte erst Chadis, dann sie an. Ihre Wangen brannten, während ihr Körper zitterte. Sie salutierte, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun oder sagen sollte.
»Archivleiterin«, grüßte der Kommandant, aber für sie fühlte es sich an wie eine Ohrfeige. Obwohl er sich nicht vom Fleck bewegte, schien seine Präsenz mit diesen Worten zu wachsen. Ihre Atmung ging flach, ihr Kiefer war verkrampft und sie hatte Mühe, zu schlucken.
»Was führt Euch so weit weg von Eurem Schreibpult?«
»Ich …«
»Ich bat sie, mich zu begleiten, Kommandant«, antwortete Chadis für sie. Er salutierte ebenfalls. »Ich wollte nach dem Dieb sehen, den ich vor einer Woche gefasst habe. Er hatte sich am Arm verletzt, aber die Wunde scheint gut zu verheilen. Archivleiterin Kalline sollte es für mich bezeugen, für den Fall, dass ich einen Antrag auf Versorgung im Spital für ihn stellen müsste.«
Sie senkte den Blick, als der Kommandant sie ansah. Ihr war übel und alles in ihr sträubte sich dagegen, den Kommandanten zu belügen. Und dennoch presste sie die Lippen aufeinander und nickte. »So war es, Kommandant.«
Das Schweigen, das folgte, war unerträglich. Es zerrte an ihr und erdrückte sie gleichzeitig. Sie schwankte, konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Verstanden«, sagte der Kommandant, die Drohung dahinter war klar zu vernehmen. »Wegtreten.«
Kalline salutierte und drückte sich in Chadis’ Schatten am Kommandanten vorbei. Die Schreiberin fragte etwas und der Kommandant wandte sich ab, um ihr zu antworten.
Aber selbst als sie die Brücke schon längst hinter sich gelassen hatten, glaubte sie, seinen Blick in ihrem Rücken brennen zu spüren.
* * *
Es klopfte dreimal an der Tür, bevor Chadis in das Archiv eintrat. Er nickte Mechlanos zu, der die Geste höflich erwiderte, ehe er sich seinen Protokollstapeln widmete. Er trat lächelnd an Kallines Schreibpult. «Ich brauche die Archivakte 2209 aus dem Jahr 193, Fall 3d.«
»Selbstverständlich, folgt mir bitte.« Sie führte ihn tiefer in das Archiv, bis Mechlanos sie weder sehen noch hören würde.
Chadis ergriff ihren Arm und musterte sie. »Du bist blass, ist etwas vorgefallen? Hat dich der Kommandant angesprochen?«
Kalline schüttelte den Kopf. Seit ihrer Begegnung im Gefängnis am Morgen hatte sie den Kommandanten nicht mehr gesehen. Noch immer fühlte sie sich elend, ihn belogen und sein Vertrauen in sie missbraucht zu haben.
»Wir sollten uns bedeckt halten, aber trotzdem schnell handeln.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen ein Regal. »Was wir im Gefängnis erfahren haben, gefällt mir nicht.«
Sie nickte und ließ ihre Hände über die Aktenrücken gleiten. »Ich werde einen Antrag an die Zunft stellen mit der Bitte, mir die Listen der Federführungen im Gefängnis auszustellen. Es kann nicht sein, dass die Register hier und dort nicht übereinstimmen. Wenn sie versetzt wurden, weshalb weiß ich nichts davon? Und das einzige Protokoll, in dem das Verschwinden aufgeführt ist, widerspricht dem Gefängnisregister, das die Goldhand wiederum für tot erklärt.«
Sie zupfte an ihren Handschuhen, den Blick auf die Buchrücken vor sich gerichtet. Während sie überlegte, wie sie die Anfrage stellen würde, ohne zu viel Aufsehen zu erregen, fragte sie: »Bist du vorangekommen?«
Aus der Innentasche seiner Uniform zog er eine Karte und breitete sie auf dem Boden aus. Sie knieten sich über die Zeichnung des Mittleren Rings. Mit Kohle hatte Chadis ein paar Punkte um das Gefängnis herum markiert.
Nacheinander zeigte er auf sie, während er erklärte: »Ich bin auf dem Rückweg von der Patrouille zum Gefängnis zurückgekehrt und bin es einmal abgelaufen. Es gibt ein, zwei Stellen, an denen das Ufer brüchig ist und man mit viel Glück ein Seil befestigen könnte. Dafür bräuchte die Person aber ein Seil, das lang genug ist, einen Haken zum Befestigen und dann die Kraft und Präzision, es ans andere Ufer zu bringen. Etwas, das eine gefangene Goldhand kaum vollbringen kann.«
»Selbst mit ihren Gaben?«, erwiderte sie und studierte die Karte eindringlich. »Schließlich waren es zum Großteil Verurteilte, die zuvor ein schwerwiegendes Verbrechen begangen hatten. Oder hatten sie Hilfe? Das Kürzel tauchte auch bei Gabenlosen auf und der Kommandant sprach von unehrenhaften Menschen, die involviert seien.«
Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, als sie die Karte anstarrte. Was war über die verschwundene – scheinbar tote – Goldhand geschrieben worden? Sie habe sehr nervös bei der Verhandlung und dem Verhör gewirkt. Ihre Gabe hatte das Gericht nie herausfinden können. Aber man hatte Blut an ihrer Kleidung gefunden und sie hatte mehrmals versucht, aus dem Verhörraum zu fliehen. Und die Goldhand aus dem Protokoll, das Chadis ihr vor wenigen Tagen überreicht hatte, war den Wachen auf der Flucht wiederholt entkommen. Unwahrscheinlich war es nicht, dass eine der Goldhände eine Fähigkeit besaß, die einen Mord oder einen Ausbruch ohne Beweise ermöglichte.
»Könnte es nicht sogar sein, dass es mehrere Goldhände sind? Denk an die Worte des Kommandanten! In den letzten Monaten und Wochen nahmen die Übergriffe durch Goldhände auf die Volksvertretenden zu. Was, wenn es keine Einzeltaten sind? Was, wenn es das ist, was sich dahinter verbirgt? Eine größere Verschwörung. Wenn sie ihresgleichen aus dem Gefängnis befreien wollten. Oder sie manipulierten einzelne Gabenlose und zwangen sie, ihnen zu helfen, sich auf ihre Seite zu schlagen. Und daraufhin –«
»Kalline«, unterbrach Chadis sie und nahm sie an den Schultern. Sofort glitt ihr Blick zu seinen Augen, deren Grün sie an Algen erinnerte, die sanft im Wasser wiegten. Sie schmeckte Salz auf den Lippen, hörte das Rauschen des Meeres und fühlte die Wellen träge durch ihre Adern fließen. seine Hände wärmten ihre Schultern und drückten sie sachte herab. In ihrem Kopf wurde es ruhig.
Seine Gabe, dachte sie und vergaß es im selben Augenblick.
»Bitte hör mir zu«, flüsterte er im Takt der Wogen. »Goldhände werden in den Gefängnissen schlecht behandelt. Sie werden in winzige Einzelzellen gesperrt und je nach Begabung zusätzlich eingeschränkt, damit sie nicht fliehen können. Diese Menschen sind nicht aus eigener Kraft geflohen.«
Er seufzte, ließ sie los und brachte sie zurück ins Hier und Jetzt. Kalline erschauderte, als habe sie ein eisiger Wind gepackt und wachgerüttelt. Jegliche Wärme war aus Chadis’ Augen verschwunden. Stattdessen betrachtete er sie mit einem traurigen Ausdruck. Wobei, nicht traurig, sondern … verletzt? Sein Seufzen schnürte ihr die Brust zu und sie schluckte die weiteren Worte hinunter. Dann senkte sie den Blick auf seine goldenen Hände. Wie ignorant war sie, dafür, wie sie vor ihm sprach. Sie war nicht besser als der Wächter im Gefängnis.
Dennoch … der Gedanke schien ihr schlüssig. Goldhände hatten eine Macht, die unvergleichlich war. Eine Macht, die mehr für Böses statt Gutes genutzt wurde. Sie wirkte unsichtbar, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen. Wie oft hatte Chadis schon seine Gabe eingesetzt, ohne dass sie es bemerkt hatte? Wie leicht war es ihm im Gefängnis gefallen, den Wächter zu betäuben? Wäre er es in der Zelle vierundzwanzig gewesen, wie schnell hätte er wohl damit fliehen können? Sie vertrieb den Gedanken alsbald und dennoch nagte er sich an ihr fest.
»Mir bereitet es Sorgen, dass es sich um so viele Goldhände handelt«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Ich bin eine Goldhand. Zwar hat mir der Kommandant die Chance gegeben, Teil der Stadtwache zu werden. Aber nur, weil ich jetzt Stadtwache Chadis bin, bin ich nicht weniger Goldhand Chadis. Du spürst die Blicke nicht und du hörst die Worte nicht. Der Wächter im Gefängnis war harmlos. Nun stelle dir eine Goldhand vor, die dort in einer Zelle sitzt. Sie werden nicht mit Samthandschuhen angefasst.«
Kalline presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf. Sie musterte Chadis’ Brust … Sie glaubte, seine Gedanken nachvollziehen zu können, auch wenn sie ihr fern schienen. Seine Bedenken waren sicherlich der Tatsache geschuldet, dass er selbst eine Goldhand war, wie seine Mutter und jüngere Schwester, und sie waren sicher berechtigt. Aber dieses Gefühl sollte sie nicht von dem Fakt abbringen, dass es einigen Goldhänden möglich sein könnte, zu fliehen – vor allem, wenn sie sich gegenseitig aushalfen. Der Untere Ring war ein Ort der niederen Gefühle. Hass, Habgier, Hemmungslosigkeit. Die Stadtwachen bemühten sich darum, Recht und Ordnung durchzusetzen, aber der Untere Ring war unbändig wie der Wind. D.I.
Er beugte sich in ihr Blickfeld. »Ich möchte nicht sagen, dass alle Goldhände gut sind. Und ich möchte nicht alle verurteilen. Das ist nur eine Vermutung, die wir haben. Ein Gedanke.«
»Aber ein Gedanke, ein möglicher Hinweis, dem wir nachgehen können«, entgegnete sie. »Wenn es sich um eine Verschwörung handelt, muss der Kommandant mit Bedacht abwägen, wer welche Informationen erhält.«
Chadis seufzte erneut, doch nickte diesmal. »Wir werden es überprüfen. Gemeinsam. Ich bitte dich nur, vorsichtig zu sein und die Augen für alle Möglichkeiten offen zu halten. Wenn der Kommandant darüber schweigt, wird es kein einfacher Fall sein. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass es nicht ausschließlich Goldhände sind, bei denen du das Kürzel gefunden hast. Was ist mit den anderen, den Gabenlosen? Vielleicht übersehen wir etwas, weil wir uns zu sehr auf Goldhände konzentrieren.«
»Archivleiterin?«, ertönte Mechlanos’ Stimme näher als gedacht. Kalline und Chadis zuckten zusammen. »Entschuldigt die Störung, ich hätte eine Frage.«
Hastig schob sie die Karte in ihr Notizbuch und zog eine Akte aus dem Regal. Doch bevor sie so tun konnte, als habe er sie ihr gerade zurückgegeben, nahm Chadis ihr die Akte aus der Hand und drängte sie an das Regal.
»Entschuldige«, sagte er und rückte zu ihr, die eine Hand an ihrer Seite, die andere mit der Akte über ihrem Kopf abgestützt. Sobald sie verstand, was er andeuten wollte, spürte sie Hitze in ihren Wangen.
»Schon in Ordnung«, erwiderte sie und legte ihre Hände an seine Brust. Sie spürte seinen Herzschlag kräftig und ruhig. Er beugte sich zu ihr herab, sodass sein Körper sie abschirmte, und flüsterte in ihr Ohr: »Wir reden später weiter. Pass’ auf dich auf, ja?«
Er lächelte, als Mechlanos in den Gang einbog und abrupt stoppte. Scheinbar ertappt entfernte Chadis sich von ihr und räusperte sich.
»Entschuldige, die … Akte hat sich versteckt«, lachte er und begradigte seine Haltung. »Du verstehst?«
Mechlanos musterte sie beide mit seinen müden Augen, die sich dann vor Erkenntnis weiteten. Sein blasses Gesicht errötete und Kalline spürte die Scham in ihrem Magen brodeln. Vor den anderen Wachen hätte sie lieber riskiert, entdeckt zu werden, als sich so intim mit einem Kollegen zu zeigen. Aber Mechlanos war ihr Auszubildender, er würde schweigen und sie weiterhin respektieren. Das musste er, wenn ihm sein Posten lieb war. Also bemühte sie sich, ihre Fassung zu wahren, und strich ihre Kleidung glatt.
»Aber ich habe alles, wofür ich gekommen bin, und lasse Euch Euren Pflichten nachgehen. Besten Dank.« Chadis deutete eine Verbeugung an. »Meine Schicht dauert heute länger als die Eure, deshalb kann ich Euch heute Abend nicht zur Kaserne begleiten, Archivleiterin. Seid vorsichtig auf dem Rückweg und bittet um Begleitung. Ich verabschiede mich.« Mit einem angedeuteten Salut schritt er aus dem Archiv.
Mechlanos sah ihm nach, ehe er sich puterrot an Kalline wandte. »Archivleiterin, ich …«
Sie verzog den Mund und bedeutete ihm mit einer harschen Geste, zu schweigen. Ihre Ohren wurden viel zu warm unter dem Blick, mit dem er sie musterte.
»Nun sag schon, was du brauchst«, murrte sie. »Und sieh mich nicht so an.«