Pakt der Goldhände 1 - Verbotenes Archiv - Ella Laurier - E-Book
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Pakt der Goldhände 1 - Verbotenes Archiv E-Book

Ella Laurier

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Beschreibung

Kalline ist die jüngste Archivleiterin, die es in der Geschichte der Stadtwache je gab. Mit Tinte und Feder setzt sie sich für ihre Ideale einer gerechten, demokratischen Gemeinschaft ein. Denn sie ist überzeugt: Nur die pflichttreue Ausführung des eigenen Auftrags hilft dabei, die Nachwehen der zerbrochenen Monarchie zu überstehen und den Frieden auf der freien Insel Vea zu wahren. Doch Gerechtigkeit ist rar, wenn die Falschen danach fragen. Unruhen erschüttern Vea und Kalline ist sicher, dass die magisch begabten Goldhände dahinterstecken – von der Gottheit gesegnet, von der Gesellschaft geächtet. Bei ihren Nachforschungen gerät sie in eine grausame Intrige, die sie in die innersten Kreise von Veas Demokratie führt. Kallines feste Überzeugungen kommen ins Wanken, als sie erkennt, dass Gut und Böse eng miteinander verwoben sind und sie ausgerechnet in den Goldhänden Verbündete finden könnte. Eine intrigenreiche High Fantasy mit starken Frauen, Talentmagie und queerness in einer mythischen Inselwelt, inspiriert von der griechischen Antike.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


 

 

 

Pakt der Goldhände

Verbotenes Archiv

Band 1 der Goldhand-Trilogie

 

 

Impressum

 

 

2. überarbeitete Auflage

Februar 2025

 

 

© 2024 Ella Laurier

 

 

Ella Laurier

c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice

Bodenfeldstr. 9

91438 Bad Windsheim

 

www.ellalaurier.com

 

Covergestaltung: Christin Giessel (Giessel Design), www.giessel-design.de

Korrektorat: Sarah Nierwitzki, www.lektorat-wortkosmos.de

Illustrationen: Ella Laurier

 

veröffenlicht über tolino media

 

978-3-757-95803-9

 

 

Hinweise zum Inhalt: Diese Geschichte behandelt möglicherweise belastende Inhalte. Am Ende des Buches sind die Themen aufgelistet. Lies sie gerne vorab durch und entscheide, ob du dich mit allem wohlfühlst.

 

 

Für mein jüngeres Ich, das einfach drauflosgeschrieben hat.

 

 

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Vom Aufstieg und Untergang der Lyr

Danksagung

Über die Autorin

Inhaltswarnung

Kapitel 1

»Mö­ge der Wil­le des Vol­kes mein Wil­le sein.« Kal­li­ne leg­te ih­re rech­te Hand übers Herz und sa­lu­tier­te. Da­bei fuhr sie mit den Fin­ger­kup­pen die gol­de­nen Schwün­ge ih­rer Fe­der­bro­sche ent­lang und ver­kün­de­te: »Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne mel­det sich zum Dienst.«

Als der Mor­gen­wind an ih­rer Klei­dung zerr­te und ihr Haar zer­zaus­te, biss sie die Zäh­ne zu­sam­men und spann­te ih­re Schul­tern an. Das graue Augen­paar hin­ter dem Sicht­fens­ter warf ihr ei­nen flüch­ti­gen Blick zu. Kei­ne Be­schwer­de und kein Fluch ka­men ihr über die Lip­pen, wäh­rend sie aus­harr­te, bis der Wäch­ter die Tür zum Wacht­pos­ten auf­ge­zo­gen hat­te. Als sie end­lich her­ein­ge­las­sen wur­de, grüß­te sie ihn und sa­lu­tier­te er­neut, wie es sich ge­hör­te. Doch der Mann hat­te sich be­reits von ihr ab­ge­wandt, die Hand lo­cker um den Lan­zeng­riff ge­legt. An die­sem wie an je­dem an­de­ren Mor­gen be­schloss sie, das ir­ra­tio­na­le Zie­hen im Ma­gen zu ig­no­rie­ren, das die Teil­nahms­lo­sig­keit des Man­nes in ihr aus­lös­te. Sie nick­te, als ha­be er sie aus ih­rem Sa­lut ent­las­sen oder ihr ei­nen er­folg­rei­chen Ar­beits­tag ge­wünscht, und ging mit er­ho­be­nem Kinn ih­res We­ges.

Erst als sie die Wen­del­trep­pe er­klomm, die den Wacht­pos­ten hin­auf- und in die in­ne­re Stadt­mau­er hin­ein­führ­te, er­laub­te sie sich, in­ne­zu­hal­ten. Sie wärm­te ih­re Fin­ger mit ih­rem Atem und rieb sich über die Ar­me. In­ner­halb des Ge­mäu­ers war es im Win­ter ähn­lich fros­tig wie außer­halb, wes­halb sie sich auf ihr war­mes Ar­chiv freu­te.

Am En­de der Trep­pe horch­te sie auf, denn sie hör­te das viel­zäh­li­ge Klop­fen auf den Ti­schen im an­gren­zen­den Be­spre­chungs­saal. Ei­lig mach­te sie den Weg frei und stell­te sich an die Wand. Als die Tür auf­schwang, stand sie stramm und sa­lu­tier­te den Stadt­wachen.

Die we­nigs­ten nah­men Kal­li­ne über­haupt wahr, wäh­rend sie die Trep­pe hin­ab­stie­gen. Doch sie blieb ste­hen, auch als ein Lan­zeng­riff sie am Schien­bein traf oder ei­ne Wa­che grun­zend die Na­se rüm­pfte. Ob­wohl die Wachen und Schreib­lin­ge am sel­ben Wacht­pos­ten ar­beit­eten, trenn­ten so­gar die Stof­fe ih­rer Uni­form ih­ren Rang. Die Fe­der­füh­rung – zu­min­dest in der Stadt­wa­che – blieb in schlich­te Ge­wän­der ge­klei­det, die bis auf die Fe­der­bro­sche ganz auf das schnel­le und prä­zi­se Schrei­ben aus­ge­legt waren. Die Stadt­wa­che hin­ge­gen trug die feins­ten Tü­cher, die Ve­as Ma­nu­fak­tu­ren her­stell­ten: wär­mend wie Wol­le, leicht wie Lei­nen und stolz wie Sei­de. Tur­ban und Man­tel waren mit gol­de­nen Fä­den be­stickt und in die hand­ge­gos­se­ne Gür­tel­schnal­le war die In­sel Vea un­ter Ich­ry­lis’ gött­li­chem Schein ein­gra­viert.

Kal­li­ne blieb ste­hen und sa­lu­tier­te, bis die letz­te Per­son aus dem Be­spre­chungs­zim­mer kam. Es war auch die ein­zi­ge, die auf den Sa­lut rea­gier­te.

»Gu­ten Mor­gen, Stadt­wa­che Cha­dis.«

Er stock­te, als woll­te er et­was sa­gen, ent­schied sich je­doch da­ge­gen und schüt­tel­te schmun­zelnd den Kopf.

»Gu­ten Mor­gen, Kal­li­ne.«

Sie lös­te den Sa­lut und be­merk­te ein Bün­del in sei­nen Ar­men.

»Du kommst aus ei­nem Ver­hör?«

»Nein, ich bin ge­ra­de erst zurück von der Pa­trouille, direkt in die Be­spre­chung des neu­en Pa­trouillen­plans.« Cha­dis sah zur Ak­te und ver­zog den Mund, ehe er ihr das Papier reich­te. »Aber der Kom­man­dant bat mich, die­se Ak­te ins Ar­chiv zu brin­gen. Wür­dest du das bit­te über­neh­men? Sie stammt wohl von ei­nem Vor­fall heu­te Nacht. Das Ver­hör ist ab­ge­schlos­sen, mein­te der Kom­man­dant. Du sollst sie ar­chi­vie­ren.«

»In Ord­nung.« Kal­li­ne strich über den fes­ten Lei­nens­toff, in den das Do­ku­ment ein­ge­schla­gen war, und er­ahn­te die Buch­sta­ben da­run­ter. Et­was in sei­nem Ton­fall lös­te ein mul­mi­ges Ge­fühl in ihr aus. Lei­ser frag­te sie: »Ein Gold­hand-Vor­fall?«

»Ei­ner von der schlim­men Sor­te«, seufzte Cha­dis. Er rieb sich den Na­cken und ein har­ter Zug leg­te sich um sei­ne Lip­pen. »So et­was ist lan­ge nicht vor­ge­kom­men.«

Kal­li­ne nick­te. Den­noch konn­te sie nicht ver­hin­dern, dass ihr Blick zu Cha­dis glitt – und zu sei­nen Hän­den. Wie mit ei­ner Gold­schicht über­zo­gen schim­mer­ten sie im Licht der Öl­lam­pen. Hän­de, de­nen Ich­ry­lis’ gött­li­che Ga­be in­ne­wohn­te: Ei­ne Ma­gie, die der ein­fa­che Ver­stand nicht zu grei­fen ver­moch­te. Aber Kal­li­ne hat­te zu viel über Gold­hän­de ge­le­sen und zu viele von ih­nen in den Ver­hör­räu­men ge­se­hen, um sich blen­den zu las­sen. Nicht alles, was gol­den glänz­te, war auch gol­den im In­ne­ren. Gött­li­cher Se­gen brach­te kein gött­li­ches We­sen.

Cha­dis schien ih­ren Blick be­merkt zu ha­ben. Lach­fal­ten tanz­ten um sei­ne Augen, als er ihr ei­ne Hand auf die Schul­ter leg­te und sag­te: »Sie ha­ben ihn schnell ge­fasst und auch im Un­te­ren Ring ist es weiter­hin ru­hig. Nun liegt es an uns, zu er­mitteln, wie es da­zu kom­men konn­te. Da­für tun wir schließ­lich un­se­re Ar­beit. Für Frie­den, Ge­mein­schaft und …«

»Ge­rech­tig­keit«, be­en­de­te Kal­li­ne den Satz und er­wi­der­te sein Lä­cheln, wenn auch zö­ger­lich.

In Mo­men­ten wie die­sen war sie sich nie si­cher, ob er nicht ge­ra­de sei­ne Ga­be an ihr an­wand­te. Sei­ne gol­de­nen Hän­de, die mit ei­ner Be­rüh­rung das Ge­müt be­sänf­tig­ten, Sor­gen ver­trie­ben und den Ver­stand ver­ne­bel­ten. Doch sie at­me­te durch und lo­cker­te die an­ge­spann­te Hal­tung. Es war Cha­dis, der hier vor ihr stand. Kei­ne kri­mi­nel­le Gold­hand aus dem Un­te­ren Ring.

Sie klopf­te auf die Ak­te in ih­ren Ar­men und sag­te: »Ich möch­te dich nicht län­ger auf­hal­ten, außer­dem soll­te ich im Ar­chiv nach dem Rech­ten schau­en.«

»In Ord­nung. Wir se­hen uns nach dei­ner Schicht.«

Sie deu­te­ten ei­nen freund­schaft­li­chen Sa­lut an. »Bis spä­ter.«

Das Papier in ih­ren Ar­men ra­schel­te, wäh­rend sie in den schma­len Gang durch die Stadt­mau­er ein­bog. Ein an­ge­neh­mes Ge­räusch, das ih­re Vor­freu­de auf das Ar­chiv stei­ger­te. Viele der Stadt­wachen blie­ben nicht län­ger als nö­tig im Ar­chiv. Es füll­te bei­nahe die ge­sam­te Län­ge der Wa­chan­la­ge – vom Tor bis zum näch­sten Eck­pos­ten –, und das über meh­re­re Stock­wer­ke mit nie­dri­gen De­cken. Rega­le waren dicht an­ein­an­der­ge­stellt wor­den, so­dass ein breit ge­bau­ter Mensch nur knapp hin­durch­ge­hen konn­te. Und da­rin be­fan­den sich lau­ter Leder­bän­de, Papier­sta­pel und Per­ga­men­trol­len, wel­che die Ar­beit des Wacht­pos­tens seit Be­ginn von Ve­as De­mo­kra­tie auf­zeich­ne­ten und be­wahr­ten. Kal­li­nes liebs­ter Ort auf der ge­sam­ten In­sel.

So­bald sie die Tür zum Ar­chiv öff­ne­te und das ver­trau­te Knar­zen er­klang, ström­te ihr tro­cke­ne Luft ent­ge­gen, nach Papier und Tin­te duf­tend. Sie wur­de be­grüßt vom Krat­zen ei­ner Fe­der auf Per­ga­ment, ge­schwun­gen in lang ge­zo­ge­nen Li­ni­en, die zu Mech­la­nos’ Hand­schrift ge­hör­ten. Als er Kal­li­ne be­merk­te, sah er von sei­ner Ar­beit auf, rieb sich die Na­se und schmier­te sich ei­nen Tin­ten­fleck auf die Haut. Er hat­te tie­fe Augen­rin­ge und sein Haar lug­te zer­zaust un­ter dem Tur­ban her­vor. Sein Un­ter­ge­wand quoll aus den Schreib­hand­schu­hen her­aus, die an den Hand­bal­len be­reits auf­ge­scheu­ert waren.

Kal­li­ne schmun­zel­te un­wei­ger­lich. Wann immer sie ihn sah, er­in­ner­te sie sich an ih­re eige­ne Aus­bil­dung. Ge­ra­de sech­zehn Jah­re alt, das Stu­di­um der Schön­schrift und Ste­no­gra­fie in der Zunft der Fe­der­füh­rung kürz­lich be­en­det und nun an die er­ste Aus­bil­dungs­stät­te ver­mittelt. Da­mals hat­te sie näch­te­lang nicht ge­schla­fen, weil sie so ge­fes­selt von dem neu­en Wis­sen ge­we­sen war, das sich ihr mit der Aus­bil­dung im Ar­chiv auf­ge­tan hat­te. Cha­dis hat­te sie zwi­schen den Re­ga­len her­vor­zer­ren müs­sen, da­mit sie nicht ver­gaß, zu es­sen und zu trin­ken. Bis da­hin hat­te sie nur die Biblio­thek ih­rer Mutter ge­kannt, eben­falls ei­ne Fe­der­füh­re­rin, und dann die Biblio­thek der Zunft. Doch hier war sie im Her­zen Ve­as: Ver­hand­lungs­pro­to­kol­le, An­hö­run­gen und Recht­spre­chun­gen. In die­sen Re­ga­len be­fan­den sich Auf­zeich­nun­gen über alles, was sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten in Ve­as Mitt­le­rem Ring er­eig­net hat­te. Für Außen­ste­hen­de moch­te es wie ein Hort der Ver­bre­chen wir­ken, aber nicht für Kal­li­ne. Für sie war es ein Ort der Ge­rech­tig­keit. Wo das Gu­te über das Schlech­te sieg­te, die Ver­nunft über das Ge­fühl. Wann immer sie las, was vor ih­rer Zeit ge­sche­hen war, ver­stand sie die Welt um sie he­rum ein biss­chen bes­ser. Sie konn­te sich kei­nen auf­re­gen­de­ren Ort vor­stel­len. Und nun, acht Jah­re spä­ter, durf­te sie sich Lei­te­rin die­ses Ar­chivs nen­nen.

»Gu­ten Mor­gen, Mech­la­nos. Wie ist die Nacht­schicht ge­lau­fen?« Kal­li­ne reich­te ihm ein fri­sches Tuch, um sich zu säu­bern.

Dan­kend nahm er es an und wisch­te sich das Ge­sicht und die Fin­ger­spit­zen ab, ehe er sich an die Rei­ni­gung sei­ner Fe­der mach­te. «Gu­ten Mor­gen, Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne. Nun ja, ich den­ke, ganz gut. Es gab kei­ne Vor­komm­nis­se, die pro­to­kol­liert wer­den muss­ten. Ich ha­be nur die Über­sicht der Ak­ten des ver­gan­ge­nen Monats er­gänzt.«

Zum Be­weis klopf­te er auf den Do­ku­men­tens­ta­pel ne­ben sich, et­wa ei­ne El­le hoch. Stirn­run­zelnd blick­te Kal­li­ne auf die Ak­te in ih­ren Hän­den, die sie eben er­hal­ten hat­te.

»Du hast al­so kei­nen Vor­fall für die Stadt­wa­che pro­to­kol­liert, ei­ne Ver­hand­lung oder der­glei­chen?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Du wur­dest nicht ein­mal ge­ru­fen?«

»Nein, Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne.«

Sie zö­ger­te, nick­te dann. »In Ord­nung, ich dan­ke dir, Mech­la­nos. Ich über­prü­fe dei­ne Ar­beit spä­ter.«

Sie setz­te sich an ihr Schreib­pult auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te. Der Tisch war so auf­ge­räumt, wie sie ihn ver­las­sen hat­te. Kei­ne neu­en Ak­ten und Do­ku­men­te zum Ar­chi­vie­ren, Mech­la­nos’ Ar­beit aus­ge­schlos­sen. Sie hielt die Ak­te von Cha­dis in der Hand und erst jetzt wun­der­te sie sich, wes­halb sie auf die­se Wei­se zu ihr ge­langt war. Selbst wenn nur ein Aus­zu­bil­den­der wie Mech­la­nos zur Ver­fü­gung stand, war es un­üb­lich, Stadt­wachen Ver­hö­re do­ku­men­tie­ren zu las­sen. Ein an­stän­di­ges Pro­to­koll konn­te kaum je­mand von ih­nen an­fer­ti­gen. Nicht auf die Art, wie es die Volks­ver­samm­lung und vor al­lem der Rat der Hun­dert für die monat­li­chen Sit­zun­gen for­der­ten.

Kal­li­ne schlug den Stoff bei­sei­te. Die Schrift kam ihr nicht be­kannt vor. Es gab im ge­sam­ten Mitt­le­ren Ring fünf grö­ße­re Wacht­pos­ten ent­lang der Obe­ren Ring­mau­er mit ei­ge­ner Fe­der­füh­rung für die Pro­to­kol­le. Aber alle Schrift­zeug­nis­se ka­men zu ihr, ins Mitt­le­re Ar­chiv. Je­des Pro­to­koll trug den Na­men der pro­to­kol­lie­ren­den Per­son und wenn sie die­sen ei­ner Hand­schrift zu­geord­net hat­te, ver­gaß sie die­se nicht mehr. Am Kopf des Do­ku­ments stand der Na­me der Lei­te­rin des hie­si­gen Wacht­pos­tens. Nur war die Wacht­lei­te­rin zur­zeit nicht am Pos­ten und das war nicht ih­re Schrift. Kal­li­ne fuhr die Tin­ten­stri­che mit den Fin­gern nach.

Die Buch­sta­ben waren nie­der­ge­drückt, als woll­ten sie sich eben­so wie die Ver­fass­erin oder der Ver­fas­ser klein­ma­chen. Sie dräng­ten sich an­ein­an­der, hiel­ten sich nicht immer auf ei­ner Hö­he, tau­mel­ten. Trotz­dem war je­der Buch­sta­be sau­ber ge­zeich­net, in sanf­ten Bö­gen und über­ra­schend sen­krecht. Tat­säch­lich waren die Schrift­zü­ge ein we­nig zu sau­ber für die Ge­schwin­dig­keit, in der pro­to­kol­liert wer­den muss­te.

Allein bei Be­trach­tung der Schrift ver­steif­te sich Kal­li­nes Körper, sie zog die Schul­tern an und hielt den Kopf ge­senkt. Wer auch immer das Pro­to­koll ge­schrie­ben hat­te, muss­te ver­un­si­chert ge­we­sen sein. Viel­leicht ein­ge­schüch­tert. Schließ­lich war ei­ne Gold­hand in­vol­viert. Man­che von ih­nen waren fried­li­che Ge­mü­ter wie Cha­dis, die sich für Gu­tes ein­setz­ten. Aber die meis­ten von ih­nen waren ge­blen­det von ih­rer Macht und nutz­ten sie für grau­sa­me Ta­ten.

Kal­li­ne über­flog den Text. Es han­del­te sich bei der in­haf­tier­ten Gold­hand um ei­nen Mann aus dem Un­te­ren Ring, des­sen Ga­be da­rin be­stün­de, den Wachen die Sicht zu neh­men. Zu­min­dest gab es ei­ne Rand­notiz, dass er bei der Ver­fol­gung wie­der­holt im plötz­lich auf­tau­chen­den Dun­kel der Nacht ver­schwun­den sei. Sie hät­ten ihn nur er­grei­fen kön­nen, in­dem sie ihn mit ei­ner Lan­ze am Bein ver­letz­ten und er stürz­te. Er sei durch das Un­te­re Tor in den Mitt­le­ren Ring ge­kom­men. An­schlie­ßend ha­be er das Haus ei­nes Rats­mit­glieds auf­ge­sucht. Er ha­be Be­dienst­ete er­mor­det, den Mann des Rats­mit­glieds aus dem Fens­ter ge­drängt, be­vor er schließ­lich den Rats­her­ren mit ei­nem Strick ge­hängt ha­be. Es war das Kind des Rats­herrn, das ge­flo­hen sei und die Stadt­wa­che alar­miert ha­be.

Wenn Kal­li­ne da­ran dach­te, dass sich die­ses Ver­bre­chen nur we­ni­ge Me­ter von ihr ent­fernt er­eig­net hat­te, wur­de ihr ganz an­ders. Die Bos­haf­tig­keit, die sich im Un­te­ren Ring sam­mel­te, ruh­te nicht mehr in den be­setz­ten Stra­ßen. Nein, sie poch­te ge­gen die To­re und drang durch die Rit­zen tie­fer in die Stadt hin­ein. Dies war der drit­te Vor­fall, der drit­te blu­ti­ge An­griff im letz­ten hal­ben Jahr. Wo­hin soll­te all das noch füh­ren?

Wäh­rend die Pa­trouillen die Stra­ßen Ve­as si­cher­ten, war es an Kal­li­ne, die Ord­nung in­ner­halb Ve­as zu be­wah­ren. Sie war der Geist die­ses Körpers und sie muss­te kla­ren Ver­stand be­hal­ten. Des­halb straff­te sie ih­re Schul­tern und griff nach ih­rer Fe­der. So­bald die er­sten Wor­te aus der Tin­te flos­sen, er­füll­te sie tief­ste Zu­frie­den­heit und Ru­he. Sie be­schrieb das Deck­blatt, fass­te den In­halt zu­sam­men und no­tier­te die wich­tigs­ten Daten.

Da be­merk­te sie et­was auf der letz­ten Sei­te des Pro­to­kolls. So un­le­ser­lich, dass sie es zu­nächst für ein­fa­che Stri­che hielt, um die Tin­te aus der Fe­der zum Flie­ßen zu be­kom­men. Da war ein Kür­zel: D.I.

Sie stutz­te. Die­se Ab­kür­zung war ihr neu. D.I. Was moch­te das be­deu­ten? Und wa­rum war es an den un­ter­sten Rand der letz­ten Sei­te no­tiert? Aus ih­rer Schub­la­de zog sie das Tafel­ver­zeich­nis aller of­fi­ziell zu nut­zen­den Kür­zel her­aus. Doch die­sen fand sie dort nicht.

»Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne? Ist alles in Ord­nung bei Euch?«

Sie schreck­te aus ih­ren Ge­dan­ken auf und blick­te zu Mech­la­nos. Er stand mit sei­nem Sta­pel Ak­ten im Arm vor ihr und frag­te: »Ich bin nun fer­tig. Darf ich Euch die Do­ku­men­te ge­ben?«

»Na­tür­lich.« Kal­li­ne schloss das merk­wür­di­ge Pro­to­koll und nahm die Papie­re ent­ge­gen. »Du darfst jetzt ge­hen. Wir se­hen uns zum Schicht­wech­sel. Er­hol dich gut.«

Mech­la­nos sa­lu­tier­te ein we­nig un­ge­schickt und schlaff. Er lä­chel­te sie an, be­vor er das Ar­chiv ver­ließ. Ei­ni­ge Mo­men­te sah sie ihm hin­ter­her, ehe ihr Blick von dem Pro­to­koll zu sei­ner Ar­beit glitt. Sie frag­te sich, ob …

Mit flin­ken Fin­gern ließ sie ei­ne Ak­te nach der an­de­ren durch ih­re Hän­de glei­ten. Ih­re Augen flo­gen über die Pro­to­kol­le des letz­ten Monats. Zunfts­treit, Buß­gel­der für Steu­er­ver­wei­ge­rung, Diebs­tahl … Da war es.

Ei­ne weite­re Notiz am En­de der letz­ten Sei­te. Und dies­mal war es nach­träg­lich in der­sel­ben ge­duck­ten Hand­schrift ein­ge­fügt wor­den: D.I.

* * *

Das Ar­chiv sah aus, als sei ein Sturm hin­durch­ge­fegt. Kal­li­ne heg­te und pfleg­te die Ord­nung da­rin sonst so ge­wiss­en­haft wie die Pries­ter­in­nen den Tempel von Ich­ry­lis. Doch nun lagen die Ak­ten am Ein­gang ver­teilt, waren auf­ge­schla­gen, ne­ben­ein­an­der­ge­legt und ver­scho­ben, zu­ge­klappt und bei­sei­te­ge­legt, nur um er­neut ge­öff­net zu wer­den. Und von allen Sei­ten blick­te ihr das Kür­zel ent­ge­gen: D.I.

Es waren in­zwi­schen zwei Dut­zend Ak­ten, in de­nen sie es ent­deckt hat­te. Die meis­ten von ih­nen do­ku­men­tier­ten Ver­ge­hen von Gold­hän­den, mal mehr, mal we­ni­ger schwer­wie­gend. Ei­ni­ge an­de­re be­inhal­te­ten Kor­rup­tions­pro­zes­se ge­gen Mit­glie­der des Rats der Hun­dert oder ver­häng­te Buß­gel­der für Mit­glie­der der Volks­ver­samm­lung. Kal­li­ne las und las und konn­te den­noch kei­nen in­halt­li­chen Zu­sam­men­hang er­ken­nen, der ihr die Be­deu­tung des Kür­zels ver­ra­ten wür­de.

Be­son­ders ver­wun­der­te sie, dass die Zeichen, dem Ver­blas­sen der Tin­te nach zu ur­tei­len, stets zu an­de­ren Zeit­punk­ten als das Pro­to­koll ge­schrie­ben wor­den waren. Das Do­ku­ment, das sie ge­ra­de in der Hand hielt, war mit Ar­chiv­tin­te ver­fasst wor­den. Nur rang­ho­he Mit­glie­der der Fe­der­füh­rung durf­ten sie ver­wen­den, da sie in der Her­stel­lung so­wohl kost­spie­lig als auch gif­tig war. Sie war mit den Schup­pen des Mon­daals an­ge­rei­chert und mach­te die Tin­te licht­echt, so­dass die Do­ku­men­te nie ver­blass­ten und fäl­schungs­si­cher waren. Die­se Tin­te be­nutz­ten sie nur bei den wich­tigs­ten Fäl­len, die Grund­la­ge für ei­ne ein­ge­hen­de ge­richt­li­che Ver­hand­lung sein soll­ten.

Hier ging es um den Mord an ei­nem Mit­glied des Ober­sten Ge­richts, ver­übt durch ei­ne Gold­hand. Zwar konn­te ihr der Mord nie nach­ge­wie­sen wer­den, da die Be­wei­se un­auf­find­bar waren, den­noch stimm­te das Ober­ste Ge­richt für die In­haf­tie­rung der ver­däch­tig­ten Frau. Kal­li­ne blät­ter­te zur letz­ten Sei­te des Pro­to­kolls und fand dort die Er­gän­zung mit den Ge­richts­be­schlüs­sen und am En­de der Sei­te das Kür­zel D.I. Et­was an­de­res mach­te sie stut­zig: In die­ser Ak­te war ei­ne Notiz ein­ge­fügt, und zwar mit of­fi­ziel­ler Sig­natur ei­ner Fe­der­füh­rung. Ei­ne Notiz, die das Ver­schwin­den – ei­nen mög­li­chen Aus­bruch? – der be­trof­fe­nen Gold­hand aus dem Ge­fäng­nis ver­merk­te.

Sie leg­te das Do­ku­ment auf ihr Schreib­pult und zog ei­ne Lu­pe her­vor, mit der sie das un­be­kann­te Kür­zel be­trach­te­te. Für das blo­ße un­ge­lern­te Au­ge war es kaum zu un­ter­schei­den, denn es wirk­te eben­so schwarz wie die Ar­chiv­tin­te. Aber Kal­li­ne er­kann­te bei ge­naue­rer Be­trach­tung, dass das Kür­zel mit ei­ner an­de­ren Tin­te ge­schrie­ben wor­den war. Der Ton war gräu­li­cher, ver­mut­lich han­del­te es sich um ein Asche­ge­misch, um die dunk­le Fär­bung der Ar­chiv­tin­te nach­zu­ah­men. Dem Grad des Ver­blass­ens nach zu ur­tei­len, war das Kür­zel vor zwei Jah­ren ein­ge­fügt wor­den. Ihr Blick glitt zum Datum des Pro­to­kolls. Es war vor drei Jah­ren an­ge­fer­tigt wor­den. Die Notiz zum Ver­schwin­den der Gold­hand … vor zwei Jah­ren.

Sie nahm ei­ne an­de­re Ak­te über ei­nen Gold­hand-Vor­fall auf. Laut Pro­to­koll war die­se Gold­hand noch in Haft. Trotz­dem fand sich das Kür­zel D.I. am En­de der Ak­te. Hier war der Un­ter­schied zur Ar­chiv­tin­te kaum er­sicht­lich. Da­für war die Schrift ei­ne an­de­re. Wes­halb fiel es ihr jetzt erst auf?

Wie­der und wie­der leg­te sie die Ak­ten zu­sam­men und stell­te sich all die­se Men­schen aus den un­ter­schied­lich­sten Rin­gen mit den un­ter­schied­lich­sten Ab­sich­ten und Ver­ge­hen vor. Die meis­ten von ih­nen Gold­hän­de. Was soll­te die Ab­kür­zung be­deu­ten? Das weite­re Ver­fah­ren? Das Kenn­zeichen für ei­ne be­stimm­te Art von Fall? Oder …?

Kei­ne vor­ei­li­gen Schlüs­se. Sie wür­de zu­nächst mit ih­rem Vor­ge­setz­ten spre­chen. Schließ­lich war ei­ne nach­träg­li­che Än­de­rung der Ar­chi­vak­ten nur durch ei­nen di­rek­ten Be­fehl des Kom­man­dan­ten mög­lich. In die­sem Fall muss­te es wohl ei­ne dring­li­che Direkt­ive ge­we­sen sein, wenn es so­gar oh­ne Kal­li­nes Bei­woh­nen ge­sche­hen war.

In ih­rem per­sön­li­chen Notiz­buch ver­merk­te sie sich die Ar­chiv­num­mern der Ak­ten, in de­nen sie die Kür­zel ge­fun­den hat­te, ehe sie die­se ein­sor­tier­te. Allein das Pro­to­koll, das Cha­dis ihr über­reicht hat­te, woll­te sie mit­neh­men. Be­fehl des Kom­man­dan­ten oder nicht, es muss­te bei Ver­hö­ren stets ein Mit­glied der Fe­der­füh­rung an­we­send sein. Ord­nung galt eben­so für den Vor­ge­setz­ten. Kal­li­ne woll­te Ant­wor­ten.

 

Kapitel 2

Der Kom­man­dant ge­noss ho­hes An­se­hen im Mitt­le­ren Ring. Er hat­te viel da­zu beige­tra­gen, die Kri­mi­na­li­tät zu sen­ken und Strei­tig­kei­ten zwi­schen den Zünf­ten zu schlich­ten. Kal­li­nes Vater hat­te ihr stets ehr­fürch­tig von dem Wan­del be­rich­tet, den der Kom­man­dant in sei­nen fünf­und­zwan­zig Dienst­jah­ren ge­bracht hat­te. Die Men­schen des Mitt­le­ren Rings mun­kel­ten, dass selbst sein ein­zi­ger Vor­ge­setz­ter, der Ge­ne­ral, zu ihm auf­sah und ihm in Be­lieb­theit und Be­fehls­ge­walt un­ter­stand. Trotz all die­ser Er­run­gen­schaf­ten leb­te er be­schei­den, trug bis auf sei­ne Uni­form kei­nen Prunk und war ein Mann der kla­ren Ent­schei­dun­gen und prä­zi­sen Wor­te. Da­für re­spek­tier­te Kal­li­ne ihn um­so mehr – aber das war es auch, was sie ver­wun­der­te. Der Kom­man­dant wür­de nie den Rechts­weg ver­las­sen und solch omi­nö­se Kür­zel er­lau­ben. Nicht oh­ne ei­nen Grund.

Vor der Tür zu sei­ner Kam­mer stan­den zwei Stadt­wachen, die sie mit ei­nem Sa­lut be­grüß­te. »Ich möch­te den Kom­man­dan­ten spre­chen.«

Ei­ner der bei­den Wäch­ter lös­te sich von sei­nem Pos­ten, klopf­te an die mas­si­ve Tür und sag­te: »Kom­man­dant, ein Schreib­ling aus dem Ar­chiv will zu Euch.«

Un­ge­se­hen von den Wachen ver­zog Kal­li­ne den Mund. Sie war­te­te den­noch ge­dul­dig auf das »Her­ein« des Kom­man­dan­ten. Da­rauf­hin nick­ten die Wachen ihr zu, mach­ten aber kei­ne An­stal­ten, ihr zu hel­fen. Sie ig­no­rier­te zum zwei­ten Mal an die­sem Tag den Kno­ten in ih­rem Ma­gen und stemm­te die Tür auf.

Der Kom­man­dant saß an sei­nem Schreib­pult und be­en­de­te ge­ra­de in ei­ner sau­be­ren Ge­ste den letz­ten Fe­ders­trich sei­ner Sig­natur. Sorg­fäl­tig rei­nig­te er die Fe­der und ver­stau­te das Do­ku­ment zum Trock­nen un­ter der Klap­pe des Schreib­pul­tes. Erst da­nach rich­te­te er sich auf, die Ar­me hin­ter dem Rü­cken ver­schränkt, die Brust her­aus­ge­drückt und das Kinn er­ho­ben. Das gräu­li­che Haar ver­deck­te er un­ter dem Tur­ban, ver­ziert mit dem Ab­zeichen der Stadt­wa­che. Trotz der Alters­an­zeichen, die sich im Bart und um die Augen fan­den, strahl­te er ei­ne Autor­ität aus, die Kal­li­ne sog­leich den Blick sen­ken ließ.

Ihr Herz schlug mit ei­nem Mal kräf­tig ge­gen ih­re Brust. Da­durch, dass sie im Ar­chiv ar­beit­ete, be­kam sie den Kom­man­dan­ten sel­ten zu Ge­sicht, höch­stens aus der Ferne. Es war ihr ein we­nig un­an­ge­nehm, wie auf­ge­regt sie war. Vor al­lem in An­be­tracht des­sen, wie lan­ge sie an die­sem Stütz­punkt tä­tig war. Sie blin­zel­te zu ihm hoch.

Ih­re Groß­eltern so­wie ihr Vater waren be­reits bei der Stadt­wa­che ge­we­sen, wes­halb für Kal­li­ne früh klar ge­we­sen war, wo­hin sie ihr Weg füh­ren wür­de. Zu­nächst war vor­ge­se­hen ge­we­sen, dass sie ih­rem Vater in den Obe­ren Ring folg­te, um dort ei­nes Tages die Ar­chiv­lei­tung zu über­neh­men. Ih­re Mutter hät­te sie mit ih­ren Ta­len­ten und der schnel­len Auf­fas­sungs­ga­be gern in den Ar­chi­ven un­ter Ich­ry­lis’ Tempel ge­wusst. Letzt­lich hat­te sie sich da­ge­gen ent­schie­den, denn sie woll­te dem Kom­man­dan­ten in den Mitt­le­ren Ring fol­gen.

Da­mals muss­te sie ge­ra­de drei­zehn Jah­re alt ge­we­sen sein. Sie waren auf dem Markt­platz im Obe­ren Ring ge­we­sen. Es war er­neut zu Kon­flik­ten zwi­schen Han­dels­leu­ten des Mitt­le­ren und Obe­ren Rings ge­kom­men, weil sie sich ge­gen­sei­tig des Diebs­tahls be­zich­tigt hat­ten. Dann war der Kom­man­dant er­schie­nen, hat­te sich zwi­schen die Fron­ten ge­stellt und zum Volk ge­spro­chen. Er hat­te be­tont, wie wich­tig die Rol­le aller Bürg­er­in­nen und Bür­ger Ve­as in der Auf­recht­er­hal­tung der Ge­rech­tig­keit und De­mo­kra­tie war. Dass es nicht die Stadt­wa­che sei, die das Recht zu den Men­schen brach­te. Es seien die Men­schen, die das Recht in ih­ren Hand­lun­gen schaff­ten. Sei­ne Wor­te hat­ten nicht nur den Streit zwi­schen den Zünf­ten ge­schlich­tet, son­dern Kal­li­ne ein Licht auf­ge­zeigt. Ein Licht für Ve­as und ih­re eige­ne Zu­kunft, dem sie um je­den Preis fol­gen woll­te.

»Mö­ge der Wil­le des Vol­kes mein Wil­le sein, Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne.« Sie sa­lu­tier­te und war­te­te auf sei­nen Wink, bis sie es wag­te, an ihn her­an­zu­tre­ten. Mit ei­nem tie­fen Atem­zug er­mahn­te sie ihr Herz zur Ru­he.

»Kom­man­dant, ich kom­me mit ei­ner Bit­te zu Euch.« Sie räu­sper­te sich, als ih­re Stim­me schwank­te, und schlug die Ak­te auf der letz­ten Sei­te auf, wo das Kür­zel ver­merkt wor­den war. »Mir wur­de die­ses Pro­to­koll an­ver­traut, doch bei der Durch­sicht be­merk­te ich, dass es sich um ei­ne mir un­be­kann­te Hand­schrift han­delt. Und wie ich er­fuhr, wur­de Aus­zu­bil­den­der Mech­la­nos nicht be­rufen, ob­wohl er Nacht­dienst hat­te.«

Ge­wich­ti­gen Schrit­tes trat er ihr ent­ge­gen und so­fort be­gra­dig­te sie ih­re Hal­tung. »Der Na­me steht zu Be­ginn des Pro­to­kolls, soll­te ich mich nicht ir­ren.«

Kal­li­ne stock­te. Der schar­fe Ton er­stick­te bei­nahe jeg­li­chen Wi­der­spruch in ihr. »Die Wacht­lei­te­rin ist ein­ge­tra­gen, da­bei ist sie zur­zeit nicht im Dienst. Wenn sich je­mand als sie aus­gibt, ist das doch ein schwe­res Ver­ge­hen, nicht, Kom­man­dant? Außer­dem ent­deck­te ich ein mir nicht be­kann­tes Kür­zel, das ich in an­de­ren Ak­ten wie­der­fand. Nach­träg­lich ein­ge­setzt.«

Ei­ne sei­ner Augen­brau­en hob sich, als er ih­rer Be­schrei­bung folg­te und die Buch­sta­ben be­trach­te­te. »Es gibt kei­nen Grund zur Sor­ge.«

»Mit Ver­laub, Kom­man­dant … Dann kennt Ihr die Per­son, die dies ver­fasst hat? Und die­ses Kür­zel? Wenn ich Euch bit­ten dürf­te, mir zu­min­dest dies zu ver­ra­ten, da­mit ich zu­künf­tig –«

»Zu­künf­tig seht Ihr die­se Notiz und wisst, dass sie ih­re Rich­tig­keit hat und dies ein er­laub­tes Kür­zel ist. Das ist alles, was es da­zu zu sa­gen gibt.«

Kal­li­ne press­te die Lip­pen auf­ein­an­der. Ihr Körper spann­te sich an, wäh­rend ih­re Ge­dan­ken ra­sten. Wenn es ei­nen Grund gab, soll­te er ihn ihr an­ver­trauen kön­nen. Schließ­lich war sie die lei­ten­de Fe­der­füh­rung die­ses Ar­chivs.

Vor ihr stand der Mann, der Recht und Ord­nung in Ve­as Mit­te hielt. Der Mann, zu dem sie jah­re­lang auf­ge­se­hen und der sie dort­hin ge­bracht hat­te, wo sie nun war. An den Ort, an dem die De­mo­kra­tie Ve­as ge­schützt wur­de. Sie at­me­te zit­trig ein, die Augen auf sei­ne Brust fi­xiert, ehe sie sag­te: »Nein.«

Sie press­te das Wort zwi­schen ih­re Lip­pen her­vor und trotz­dem spür­te sie es nicht auf der Zun­ge. Als hät­te ei­ne Frem­de es in die­sem Mo­ment für sie ge­spro­chen.

»Nein«, wie­der­hol­te sie und sah das er­ste Mal in sei­ne Augen. »Ich ver­lan­ge, mehr zu wis­sen. Mei­ne Zunft hat den Eid ge­schwo­ren, dem Vol­ke mit der Kunst des Schrei­bens zu die­nen. Und ich über­nahm die Ver­ant­wor­tung, dies im Auf­trag der Ge­rech­tig­keit und des ge­rech­ten Ur­teils hier in der Stadt­wa­che zu tun. Das be­deu­tet, dass nie­mand außer der Zunft der Fe­der­füh­rung Ge­scheh­nis­se do­ku­men­tie­ren und nie­mand oh­ne mein Zu­tun die­se Schrif­ten ver­än­dern darf. Ich bin Euch un­ter­stellt, aber das Ar­chiv dient als un­ab­hän­gi­ge In­stanz, die die Will­kür der Stadt­wa­che ein­zu­schrän­ken hat.«

Ihr Herz droh­te, aus ih­rer Brust zu sprin­gen, als sie tief ein­at­me­te. Doch ih­re An­spra­che ließ sich nicht mehr un­ter­bre­chen.

»Ich ver­säum­te es, un­mittel­bar nach Über­nah­me des Pos­tens der Ar­chiv­lei­tung vor Euch zu tre­ten«, fuhr sie fort. »Das ist mein Feh­ler. Ihr mögt weiter­hin an mei­nen Vor­gän­ger den­ken, des­halb möch­te ich es be­to­nen: Ich bin die Lei­tung des hie­si­gen Ar­chivs. Und ich wa­ge zu be­haup­ten, mei­ne Leis­tung ver­die­ne Eu­er Ver­trauen in die­se Po­si­tion und in mich. Ent­we­der Ihr weiht mich in die Be­deu­tung die­ses Kür­zels und die­ser Un­ge­reim­thei­ten ein oder ich bin ver­pflich­tet, die­sen Vor­fall der am­tie­ren­den Lei­te­rin mei­ner Zunft der Fe­der­füh­rung zu mel­den.«

Mit je­dem Wort ge­wann ih­re Stim­me an Fes­tig­keit. Das Wis­sen, den Re­geln ih­rer Zunft und des Ge­set­zes zu fol­gen, gab Kal­li­ne die Ge­wiss­heit, dass die For­de­rung ge­recht­fer­tigt war. Selbst wenn das hieß, dem Kom­man­dan­ten zu wi­der­spre­chen. Oder ge­ra­de des­we­gen.

»Wes­halb wur­de Aus­zu­bil­den­der Mech­la­nos nicht ge­ru­fen? Wer ver­fass­te statt­des­sen das Pro­to­koll? Und wo­für steht die­ses Kür­zel? Ich er­bit­te ei­ne Ant­wort auf mei­ne Fra­gen, Kom­man­dant.«

Das Blut rausch­te in Kal­li­nes Oh­ren und über­tön­te das Knis­tern der Flam­men, die sich wie vor An­span­nung wan­den. Dann ver­klang jeg­li­ches Ge­räusch, als der Kom­man­dant ei­nen Schritt auf sie zu­kam.

»Ich schät­ze Eu­ren Sinn für Ge­rech­tig­keit sehr, Ar­chiv­lei­te­rin«, sag­te der Kom­man­dant und nick­te nach­denk­lich. »Ihr habt recht, mein Blick war zu kurz­sich­tig. Ist es nicht das Herz­stück un­se­rer De­mo­kra­tie, dass alle Mäch­te im Gleich­ge­wicht sind? Die Macht des Körpers und die Macht des Wor­tes.«

Mit vor Stolz ge­schwol­le­ner Brust er­wi­der­te sie: »So ist es, Kom­man­dant.«

»Was ich Euch nun an­ver­traue, Ar­chiv­lei­te­rin, ist ge­heim. Eu­er Vor­gän­ger war ein­ge­weiht und ich ging da­von aus, dass er Euch eben­falls ein­wies. An­schei­nend ließ er Euch zu Eu­rem Schut­ze in Un­wiss­en­heit.«

Kal­li­ne er­rö­te­te bei dem Lä­cheln, das er ihr schenk­te.

»Eu­er Vor­gän­ger scheint nicht er­kannt zu ha­ben, was für ein loya­les Herz in Euch schlägt.«

»Ich schwö­re bei Ich­ry­lis, die De­mo­kra­tie Ve­as mit je­dem Mittel zu schüt­zen.« Sie sa­lu­tier­te, die freie Hand fest um ih­re Fe­der­bro­sche ge­schlos­sen.

»Was habt Ihr bis­her in Er­fah­rung brin­gen kön­nen über das Kür­zel?«

»Nun ja«, sie strich über die Ak­te in ih­ren Hän­den, »ich ha­be es in sehr vielen Pro­to­kol­len ent­deckt und es wur­de stets nach­träg­lich ein­ge­fügt, oh­ne of­fi­ziel­len Be­schluss oder ei­ne Er­klä­rung. Und dies vor al­lem in den Fäl­len, in de­nen Gold­hän­de für ih­re Ver­ge­hen ver­ur­teilt wur­den, aber nicht aus­schließ­lich. Mehr ha­be ich bis­her nicht er­fah­ren, mein Kom­man­dant.«

»Ich ver­ste­he«, sag­te der Kom­man­dant. »Und ich se­he mei­nen Feh­ler ein, Ar­chiv­lei­te­rin. Ihr seid außer­or­dent­lich sorg­fäl­tig in Eu­rer Ar­beit.«

»Ich dan­ke Euch, Kom­man­dant.«

»Bei die­sem Kür­zel han­delt es sich um ei­ne eigens von mir ent­wi­ckel­te Chif­fre, wie Ihr wis­sen müsst. Ich kann Euch lei­der nicht mehr ver­ra­ten, als dass es, wie Ihr be­reits be­merkt habt, im wei­tes­ten Sin­ne mit den Gold­hand-Vor­fäl­len zu tun hat. Aller­dings auch mit ehe­mals treu­en Bürg­er­in­nen und Bürg­ern Ve­as, die mit den Fein­den un­se­rer De­mo­kra­tie pak­tie­ren und sich im Ver­bor­ge­nen un­se­ren Un­ter­gang wün­schen. Aus Vor­sicht ist die Be­deu­tung die­ser Chif­fre sehr we­ni­gen Men­schen be­kannt. Es sei nur so viel ge­sagt: Es ist kein Zu­fall, dass die Grau­sam­keit der Über­grif­fe in den letz­ten Mo­na­ten zu­nahm.«

»Ihr glaubt, es steckt mehr da­hin­ter?«, hak­te sie nach.

Der Kom­man­dant seufzte. »Sprecht die­sen Ver­dacht nicht zu laut aus, Ar­chiv­lei­te­rin. Ih­re Oh­ren sind über­all.«

»Die Gold­hän­de?«, flüs­ter­te sie.

»Ich bin ver­schwie­gen, um Euch zu schüt­zen, Ar­chiv­lei­te­rin, bit­te ver­steht. Mehr als die­se Ant­wor­ten kann ich Euch nicht ge­ben. Wenn Ihr die­ses Kür­zel ent­deckt, so wisst, dass ich es ge­neh­migt ha­be und dass es ein Zeichen ist, um all dem Un­heil ein En­de zu set­zen. Das Schi­cksal Ve­as steht auf dem Spiel.«

Der Kom­man­dant ver­schränk­te die Ar­me hin­ter dem Rü­cken und trat zum Fens­ter. Er öff­ne­te es und wink­te Kal­li­ne zu sich. Weit un­ter ih­nen be­fand sich das Tor, zur Sei­te des Obe­ren Rings. Un­ver­ständ­li­che Wort­fet­zen dran­gen von den Men­schen zu ih­nen, von de­nen sie kaum mehr als die Schei­tel und Kopf­tü­cher sah. Von der Kam­mer des Kom­man­dan­ten hat­ten sie freie Sicht auf Ich­ry­lis’ Tempel am En­de der Haupt­stra­ße. Er thron­te über all den an­de­ren Ge­bäu­den in sei­nem gol­de­nen Glanz.

Dann wand­te sich der Kom­man­dant ihr zu und reck­te das Kinn zum an­ge­deu­te­ten Sa­lut. »Was wür­de ich nur tun, wenn mir solch ei­ne treue See­le wie die Eu­re ab­hand­en­kä­me? Lasst mich Euch ver­si­chern, dass ich alles in mei­ner Macht Ste­hen­de tun wer­de, um Ge­rech­tig­keit wal­ten zu las­sen. All das, was Ihr hier seht, be­darf un­se­res Schut­zes. Auf dass die recht­mä­ßi­gen Er­ben von Ich­ry­lis in Frie­den herr­schen.«

»Das Volk«, er­gänz­te Kal­li­ne und sa­lu­tier­te. »Mö­ge sein Wil­le auch mei­ner sein.«

Der Kom­man­dant lä­chel­te. »So sei es.«

* * *

Als Kal­li­ne abends aus dem Wacht­pos­ten trat, biss die Käl­te in ih­re Wan­gen. Has­tig ver­grub sie die Na­se im Kra­gen ih­res Man­tel­tuchs. Sie blick­te sich um, ent­deck­te Cha­dis aller­dings nicht. Am Tor zum Obe­ren Ring tum­mel­ten sich ver­ein­zelt Men­schen, de­ren Pas­sier­schei­ne und Wä­gen von der Stadt­wa­che kon­trol­liert wur­den. Die meis­ten waren augen­schein­lich Han­dels­leu­te, die nach dem lan­gen Markt­tag im Obe­ren Ring zurück in ih­re Zunft im Mitt­le­ren Ring ge­lan­gen woll­ten. Zwi­schen ih­nen stand ein Mann, ver­hüllt von ei­nem Schleier und ei­ner Ro­be, die bei­nahe blas­phe­misch dem Ge­wand der Pries­ter­in­nen äh­nel­te. Er schrie sich hei­ser mit wir­ren Phra­sen, die das En­de der De­mo­kra­tie und die Rück­kehr zur Mon­ar­chie for­der­ten.

»Und auf De­la sam­melt die Kö­ni­gin ih­re Kräf­te und wird sich zurück­ho­len, was recht­mä­ßig Ih­res ist!«, plärr­te er, als zwei Wäch­ter ihn von sei­nem Platz und in den Wacht­pos­ten zerr­ten. Er schim­pfte und spuck­te, Kal­li­ne konn­te nur Mit­ge­fühl für ihn emp­fin­den.

Sie wich den Wachen und dem Predi­ger aus und schlen­der­te ein Stück die Mau­er ent­lang in Rich­tung des Haupt­ka­nals. Es war kühl am Was­ser, so kühl, dass ihr Atem in Wol­ken von ih­ren Lip­pen auf­stieg. Es roch nach Schnee, ob­wohl es am Himmel kei­ne An­zeichen da­für gab. Ihr Blick streif­te das Durch­ein­an­der aus Haus­blö­cken und Kup­peln, Tür­men und über­dach­ten Pass­agen des Mitt­le­ren Rings. Wür­de der Schnee die­ses Jahr auf sie her­ab­fal­len, wür­de wohl allein Ich­ry­lis’ Tempel mit sei­ner ver­gol­de­ten Mo­saik­kup­pel zwi­schen den be­deck­ten Dä­chern her­aus­ste­chen. Vea war die Per­le des Lyr’schen Meeres, hat­te Kal­li­ne je­man­den sa­gen hö­ren, und sie konn­te nur zu­stim­men. Sie lieb­te ih­re In­sel. Des­halb schmerz­te es sie um­so mehr, zu wis­sen, dass et­was Un­heil­vol­les in ih­ren Schat­ten bro­del­te: Un­se­re Fein­de.

Hin­ter der sand­far­be­nen Mau­er er­ahn­te sie den Un­te­ren Ring. Die­ses Di­ckicht aus Holz­hüt­ten, dicht ge­drängt und krumm. Dor­nen, die sich ge­gen­sei­tig ver­schlan­gen, zu­sam­men­wuch­sen und ver­küm­mer­ten. Zur spä­ten Stun­de hing ein fei­ner Ne­bel über den Gas­sen. Die Pro­to­kol­le ka­men ihr in den Sinn und die dro­hen­den Wor­te des Kom­man­dan­ten. Sie dach­te an die Ver­ge­hen der Gold­hän­de, ih­re List und ih­re Bos­haf­tig­keit, mit der sie die In­sel hin­auf­ge­kro­chen waren und es ver­mut­lich weiter­hin tun wür­den. Be­son­ders, wenn sie von Men­schen ge­deckt wur­den, die ih­re Pflich­ten als Die­ne­rin­nen und Die­ner des Vol­kes ver­nach­läs­sig­ten.

Mit ei­nem Schau­dern wand­te Kal­li­ne den Blick ab und schau­te auf das Meer. Die Son­ne war längst un­ter­ge­gan­gen, nur der ver­schwin­den­de Mond spen­de­te fah­len Schein, der sich auf den Wel­len spiegel­te. Die an­ge­leg­ten Boo­te wirk­ten wie Fisch­ge­stal­ten, die ei­nen Blick an Land wag­ten.

»Du siehst aus, als sei dir ein Geist be­geg­net.«

Cha­dis’ Stim­me riss sie aus ih­ren Ge­dan­ken und ließ sie zu­sam­men­zu­cken. Fra­gend schau­te sie auf und er schenk­te ihr ein scher­zen­des Lä­cheln.

»Ist es wahr, was man sich er­zählt? Haust der Geist der fäl­schlich ein­geord­ne­ten Ak­ten im Ar­chiv?«

Augen­bli­cklich sah Kal­li­ne zu sei­nen gol­de­nen Hän­den, die Lan­ze und La­ter­ne um­fass­ten. Sie zog ihr Man­tel­tuch fest und schlang die Ar­me um ih­ren Körper, als sie ne­ben ihn trat, und wag­te es nicht, ihm in die Augen zu se­hen.

»Nicht ein­mal ein Schmun­zeln?« Er leuch­te­te ih­nen mit ei­ner La­ter­ne den Weg. »Ist et­was vor­ge­fal­len?«

Sie wuss­te, sie soll­te ihm nicht von dem Kür­zel er­zäh­len. Der Kom­man­dant woll­te es nicht, denn es war zu ih­rem Schut­ze. Im Ge­spräch mit ihm hat­te sich Kal­li­ne ge­ehrt ge­fühlt von sei­nen Wor­ten, dass er sie – sei­ne Ar­chiv­lei­te­rin – nicht in Ge­fahr brin­gen konn­te. Aber jetzt ver­spür­te sie Un­mut da­rüber, nur be­schützt zu wer­den. Sie war ei­ne wert­vol­le Ar­chi­va­rin und wie der Kom­man­dant be­stä­tigt hat­te war sie auf­merk­sam und flei­ßig. Er konn­te sie ein­wei­hen. Viel­leicht ver­trau­te er ih­ren Fä­hig­kei­ten doch nicht ge­nug, um sie als sei­ne rech­te Hand an­zu­se­hen.

Cha­dis war­te­te ge­dul­dig auf ih­re Ant­wort. Kal­li­ne ha­der­te und mus­ter­te sein Ge­sicht, ehe sie zum Wacht­pos­ten zurück­sah.

»Lass uns ein Stück ge­hen«, sag­te sie und sie folg­ten dem Ka­nal ent­lang in Rich­tung Ka­ser­ne. »Es be­gann mit der Ak­te, die du mir heu­te über­ge­ben hast«, sag­te sie schließ­lich, als sie si­cher sein konn­te, dass das Ka­nal­rau­schen ih­re Stim­me schlu­cken wür­de.

Cha­dis rück­te nä­her zu ihr, oh­ne sei­nen Blick vom Weg zu neh­men.

»Mech­la­nos wur­de nicht ein­mal für das Pro­to­koll an­ge­fragt. Ich ha­be sie über­prüft, aber sie war in ei­ner un­be­kann­ten Schrift ver­fasst. Und als ich ge­nau­er hin­sah, be­merk­te ich, dass sie außer­dem ei­ne Ab­kür­zung ver­wen­de­te, die ich nicht kann­te. D.I.«

Kal­li­ne hielt in­ne. Nun war es ge­sagt. Sie soll­te Reue ver­spü­ren, doch sie fühl­te ihr Herz kräf­tig in der Brust schla­gen, als sie weiter­er­zähl­te.

»Ich fing an, in an­de­ren Pro­to­kol­len zu su­chen, und fand immer mehr, in de­nen die­ses Kür­zel ver­merkt wor­den war. Mal am En­de, mal am Rand.«

»Selbst in den al­ten Ak­ten?« Cha­dis hob ei­ne Augen­braue und ver­zog den Mund.

»Selbst dort. Das Kür­zel wur­de nach­träg­lich ein­ge­setzt. Und …« Sie zö­ger­te, ob sie die näch­sten Wor­te aus­spre­chen soll­te. Ge­gen ih­ren Wil­len husch­ten ih­re Augen aber­mals zu sei­nen gol­de­nen Hän­den. Sie seufzte. »Und es han­del­te sich bei den meis­ten Ak­ten um Vor­fäl­le mit Gold­hän­den. Nicht nur die klein­eren Delik­te, son­dern auch die Ver­ge­hen an den Re­gie­rungs­mit­glie­dern.«

»Und du kannst dir nicht er­schlie­ßen, von wem das Kür­zel stammt oder wo­für es steht?«

»Ich frag­te den Kom­man­dan­ten da­nach. Und er er­klär­te, dass er es mir nicht sa­gen kön­ne. Es ge­he aber um die An­grif­fe durch Gold­hän­de. Er mein­te, dass sie an­stei­gen wür­den, an­ge­trie­ben von bös­wil­li­gen Men­schen in un­se­ren Rei­hen.«

Cha­dis schwieg und sie konn­te in sei­nem Blick nicht le­sen, was er dach­te. Ei­ne Wei­le folg­ten sie der Stra­ße, bis sich nach all den Häus­ern und Ge­schäf­ten ei­ne Mau­er her­vor­hob, die den Ein­gang zur Ka­ser­ne mar­kier­te. Nun wur­de Kal­li­ne lang­sa­mer und er­griff sein Man­tel­tuch. Augen­bli­cklich ließ sie wie­der los, be­schämt über die­se ver­zwei­fel­te Ge­ste. In sol­chen Fäl­len hät­te sie sich der Wacht­lei­te­rin an­ver­trauen kön­nen. Doch die­se hat­te den Wacht­pos­ten erst vor we­ni­gen Wo­chen we­gen der na­hen­den Ge­burt ver­las­sen und Kal­li­ne wuss­te nicht, wie bald sie zurück­keh­ren wür­de. In ih­rer Ab­we­sen­heit über­nahm der Kom­man­dant zu­sätz­lich zu sei­nen an­de­ren Pflich­ten die Lei­tung des Pos­tens. Ei­ne Ver­tre­tung schien er nicht er­nen­nen zu wol­len. Mit wem soll­te sie sonst da­rüber spre­chen?

»Der Kom­man­dant sag­te, ich sol­le nicht nach­fra­gen und ihm ver­trauen, aber ich … ich kann nicht. Nicht, wenn ich weiß, dass es un­schul­di­ge Men­schen tref­fen könn­te. Dass es weite­re Mit­glie­der der Re­gie­rung tref­fen könn­te. Wie kann ich da still sit­zen? Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Ich glau­be, du weißt, was du tun soll­test. Du soll­test es da­bei be­las­sen, wie es der Kom­man­dant ge­sagt hat. Es ist nicht dei­ne Auf­ga­be als Ar­chi­va­rin, dem nach­zu­ge­hen.«

Kal­li­ne ver­zog den Mund. Sie wuss­te, dass er recht hat­te. Nur stell­te sie die­se Ant­wort nicht zu­frie­den. Die Vor­stel­lung er­schien ihr ab­surd, am näch­sten Mor­gen in das Ar­chiv zu ge­hen, Pro­to­kol­le zu schrei­ben und zu ar­chi­vie­ren, oh­ne je­mals weiter über das Kür­zel nach­zu­den­ken.

Als er ih­ren zerk­nirsch­ten Blick sah, lä­chel­te Cha­dis. »Aber ich weiß, was du statt­des­sen tun wirst. Du wirst es nicht ru­hen las­sen, so oft man es dir auch be­fiehlt. So­lan­ge du das Ge­fühl hast, es ge­sche­he Un­recht, wirst du weiter­ma­chen. Und des­halb wer­de ich dir hel­fen.«

Ver­wun­dert mus­ter­te sie ihn. »Du han­delst dir da­mit nur Är­ger ein und bringst dich in Ge­fahr, ich möch­te nicht –«

»Wenn du die Sa­che allein an­gehst, bist du die­je­ni­ge, die in Ge­fahr ist. Lass mich dir hel­fen und dir we­nigs­tens den Rü­cken frei­hal­ten.« Er er­griff ih­re Schul­tern. Die Be­rüh­rung reich­te aus, um ih­re Ge­dan­ken zu ent­wir­ren und sie zu be­ru­hi­gen. Sein Aus­druck wur­de ernst. »Was mich stut­zig macht, sind die­se Gold­hand-Vor­fäl­le und dass sie zu­neh­men. Ich möch­te dir um dei­net­wil­len hel­fen. Aber wenn es et­was mit Gold­hän­den zu tun hat, möch­te ich auch um mei­net­wil­len in­vol­viert wer­den. Lässt du mich dir hel­fen?«

Sie zö­ger­te und wäg­te ab, ob sie soll­te. Es war sein gu­tes Recht, ins­be­son­de­re, nach­dem sie ihm schon so viel er­zählt hat­te. Und wenn sie ehr­lich zu sich selbst war, war sie froh um die Stüt­ze, die er ihr bot. Sie nick­te.

»Ich dan­ke dir«, sag­te Cha­dis und drück­te ih­re Schul­tern. »Dann lass uns das weite­re Vor­ge­hen spä­ter be­spre­chen.«

»Ist gut.« Mit schnel­len Schrit­ten und an­ge­zo­ge­nen Schul­tern be­eil­ten sie sich, vor dem Sperr­stun­den­ge­läut in ih­re Kam­mern ein­zu­keh­ren.

* * *

Am näch­sten Tag hat­te Kal­li­ne über fünf­zig Ak­ten mit dem Kür­zel ge­fun­den. Sie hat­te da­mit be­gon­nen, ein Re­gis­ter zu füh­ren, in dem sie die Ar­chiv­num­mern und den zu­sam­men­ge­fass­ten In­halt so­wie das Schrift­bild pro­to­kol­lier­te. Auch zu wel­chem Zeit­punkt die Ak­te an­ge­legt wor­den war und auf wann der Nach­trag D.I. mög­li­cher­wei­se da­tier­te. Die äl­tes­te Ak­te stamm­te aus ei­nem Ge­richts­ur­teil von vor zwei Jah­ren, das Kür­zel schien kurz da­rauf ein­ge­tra­gen wor­den zu sein. Die Neu­es­te war die, die Cha­dis ihr mit­ge­ge­ben hat­te. Allein seit Be­ginn die­sen Jah­res ent­deck­te sie zehn weite­re sol­cher, da­mals ein­fach ar­chi­vier­ter Pro­to­kol­le, alle in ihr un­be­kann­ten Hand­schrif­ten.

Die Re­cher­che muss­te heim­lich ge­sche­hen. Denn sie woll­te we­der sich noch Cha­dis in Ge­fahr brin­gen und den Un­mut des Kom­man­dan­ten auf sich zie­hen.

»Ih­re Oh­ren sind über­all«, hör­te sie sei­ne Wor­te nach­hal­len.

Die­se Ge­dan­ken hat­ten sie zu­nächst da­von ab­ge­hal­ten, weiter im Ar­chiv zu su­chen. Wes­halb soll­te sie ihr Wohl­er­ge­hen ris­kie­ren, oh­ne zu wis­sen, ob sie dem Kom­man­dan­ten über­haupt hel­fen konn­te? Wenn der Kom­man­dant sag­te, er küm­me­re sich da­rum, dann wür­de er das tun. Sie hat­te Schrift stu­diert, kein Recht. Sie hat­te Fe­der­kie­le ge­schwun­gen, kei­ne Lan­zen. Wer war sie, sich an­zu­ma­ßen, bei der In­haf­tie­rung mor­den­der Gold­hän­de zu hel­fen? Der Kom­man­dant hin­ge­gen war ein Mann des Ge­set­zes und hat­te zum Wohl des Vol­kes ei­nen Eid ge­schwo­ren. War die­se Rast­lo­sig­keit in ihr wirk­lich Grund ge­nug, um sich ei­nem di­rek­ten Be­fehl zu wi­der­set­zen? Eigent­lich nicht.

Eigent­lich.

Und trotz­dem konn­te sie nicht auf­hö­ren, über die Be­deu­tung die­ses Kür­zels nach­zu­den­ken oder was es mit den Vor­fäl­len zu tun ha­ben könn­te. Wäh­rend ih­rer üb­li­chen Ar­beit stock­te sie je­des Mal, so­bald sie über die Buch­sta­ben D und I stol­per­te. Seit ih­rem Ge­spräch mit Cha­dis hat­ten sie ge­mein­sam über­legt, wie sie an die Lö­sung die­ses Rät­sels her­an­ge­hen wür­den. Kal­li­ne war da­zu über­ge­gan­gen, ih­re Re­cher­chen in ein schma­les Notiz­buch zu schrei­ben. Sie ver­steck­te es un­ter ih­rer Uni­form und falls sie ent­deckt wur­de, konn­te sie es zwi­schen die Ak­ten schie­ben. Es wog schwer, wann immer sie es in ih­rer Hand hielt, Zwei­fel und Sor­gen haf­te­ten an den Sei­ten. Gleich­zei­tig konn­ten ih­re Fin­ger nicht schnell ge­nug da­rin blät­tern, um nach der Ant­wort zu su­chen. Die­ses Rät­sel, das sich so lan­ge schon ih­rem Blick ent­zo­gen hat­te. Ir­gend­wo zwi­schen den Buch­sta­ben wür­de die Lö­sung sein und Kal­li­ne wür­de sie fin­den.

Da­für brauch­te sie nur ei­nen er­sten Hin­weis, ei­ne er­ste Idee. Es fiel ihr noch immer schwer, ei­nen Zu­sam­men­hang zwi­schen den Fäl­len zu er­ken­nen, egal, wie oft sie ih­re No­ti­zen auch ver­glich. Aller­dings zog ei­ne Ak­te ih­ren Blick wie­der­holt auf sich: Die ver­schwun­de­ne Gold­hand aus dem Ge­fäng­nis. Wenn der ver­meint­li­che Aus­bruch do­ku­men­tiert wor­den war und so­gar ein An­trag auf Er­mitt­lung ge­stellt wur­de – wo war die­ser? Es war kein Be­weis, nicht ein­mal ein schlüs­si­ger Hin­weis, dass es et­was mit dem Kür­zel zu tun hat­te. Aber es war ei­ne Spur, der sie nach­ge­hen woll­te. Und sie wuss­te be­reits, wo sie su­chen muss­te: Im Ge­fäng­nis.

 

Kapitel 3

Zum Son­nen­auf­gang stan­den sie vor dem Ge­fäng­nis. Die Wol­ken zo­gen in zar­ten Blüten­tö­nen über ih­ren Köp­fen vor­über und zeich­ne­ten ei­nen sanf­ten Hin­ter­grund für das mäch­ti­ge Stein­ge­bäu­de. Es war nach den Un­ab­hän­gig­keits­krie­gen auf ei­ner schma­len Ka­na­lin­sel im Mitt­le­ren Ring er­rich­tet wor­den. Weit ge­nug vom flo­rie­ren­den Han­dels­zentrum ent­fernt und in Sicht­wei­te von zwei Wacht­pos­ten. Ein Ge­mäu­er aus di­ckem Sand­stein, bei­nahe so hoch wie die obe­re Stadt­mau­er und zu­dem von Wach­tür­men flan­kiert. Ei­ner von Ve­as Flüs­sen um­schloss das Ge­bäu­de, so­dass der ein­zi­ge Zu­gang ei­ne Zug­brü­cke war.

Als Kal­li­ne vor dem Wach­häus­chen ne­ben dem Ein­gang stand, war sie froh, dass Cha­dis sie be­glei­te­te. Nicht nur be­rei­te­te ihr der An­blick des Ge­fäng­nis­ses ein mul­mi­ges Ge­fühl. Es war das ei­ne, von den Ver­bre­chen zu le­sen, und das an­de­re, die Men­schen hin­ter den Ge­richts­ur­tei­len zu se­hen. Vor al­lem auch, um über­haupt mit den Wachen spre­chen zu kön­nen, half ih­nen sei­ne Be­kannt­heit un­ter den Stadt­wachen.

Die Wäch­te­rin tas­te­te ih­re Uni­for­men nach un­er­laub­ten Waf­fen ab und Kal­li­ne schien es, als sei sie bei ihr be­son­ders gründ­lich. Für Cha­dis reich­te es, sei­ne Uni­form zu prä­sen­tie­ren, die ihn als Teil des Mitt­le­ren Wacht­pos­tens aus­zeich­ne­te.

»Und was bringt Euch hier­her?«, frag­te die Wäch­te­rin.

Sie sa­lu­tier­te: »Kal­li­ne, Ar­chiv­lei­tung des Mitt­le­ren Ar­chivs. Ich be­glei­te Stadt­wa­che Cha­dis, um –«

»Die Fe­der­füh­rung und ih­re Pro­to­kol­le«, un­ter­brach er sie und zuck­te mit den Schul­tern. Zu­nächst war sie ver­är­gert über sein Ver­hal­ten, doch als die Wa­che lach­te und zu­stim­mend nick­te, schluck­te sie ih­ren Stolz hin­un­ter. Die Wa­che ließ sie pas­sie­ren und sie über­quer­ten die Zug­brü­cke. Im In­ne­ren wur­den sie von zwei wei­te­ren Wachen durch­sucht, ehe sie ei­ner Fe­der­füh­rung an der Pfor­te be­geg­ne­ten, die ih­re An­we­sen­heit no­tie­ren soll­te. Sie hat­ten Glück. Kal­li­ne kann­te die zu­stän­di­ge Schreib­erin, sie war in der Aus­bil­dung ein Jahr un­ter ihr ge­we­sen. Und die Schreib­erin wuss­te, wer Kal­li­nes Mutter war.

»Wä­re es mög­lich, die Zel­len­ver­zeich­nis­se ein­zu­se­hen?«, frag­te sie und die Schreib­erin zück­te augen­bli­cklich den Ar­chiv­band. Kal­li­ne bat sie um ei­nen Mo­ment allein mit Cha­dis und ob­wohl es ge­gen jeg­li­che Re­geln der Fe­der­füh­rung ver­stieß, ge­horch­te die Schreib­erin und trat außer Hör­wei­te. Wäh­rend sie sich be­schäf­tigt gab, späh­te sie zu ih­nen her­über.

»Du kennst die Fall­num­mer?«, frag­te er. Kal­li­ne schürz­te die Lip­pen und er schmun­zel­te. Auch wenn je­de der Fall­num­mern in ih­rem Kopf schwirr­te, woll­te sie sich auf die­je­ni­ge kon­zen­trie­ren, die ih­re Auf­merk­sam­keit auf sich ge­zo­gen hat­te: die ver­schwun­de­ne Gold­hand und der ver­ges­se­ne Un­ter­su­chungs­an­trag. Nach we­ni­gen Augen­bli­cken fand sie die rich­ti­ge Sei­te.

»Das ist selt­sam«, mur­mel­te sie. »Hier steht, dass die Gold­hand ver­stor­ben sei. Ein paar Ta­ge nach dem Datum, an dem im Pro­to­koll das Ver­schwin­den no­tiert wur­de. Wes­halb ist hier nichts von dem Aus­bruch no­tiert? Und wes­halb steht in mei­nem Pro­to­koll nichts vom Tod der Gold­hand?«

»Was ist mit den an­de­ren Ge­fan­ge­nen?«

Er beug­te sich mit ihr über das Buch und sie blät­ter­te weiter. Sie such­te die neu­es­ten Fäl­le, die in dem Pro­to­koll­band zu fin­den sein wür­den. Zu fin­den sein soll­ten. Kal­li­ne er­schrak, als hin­ter dem Ein­trag schlicht­weg die Ab­kür­zung für ver­setzt stand. Die Gold­hand, de­ren Ver­haf­tungs­pro­to­koll Cha­dis ihr erst vor drei Ta­gen ge­ge­ben hat­te, war nicht mehr im Ge­fäng­nis. Zel­le vier­und­zwan­zig war leer.

»Das müss­te alles pro­to­kol­liert wor­den sein«, flüs­ter­te sie und ging zum näch­sten Fall. »Wenn sie ver­setzt wur­de, wä­ren ein Nach­trag in mei­ner Ak­te und ei­ne Ab­schrift des ent­spre­chen­den Ur­teils not­wen­dig ge­we­sen. Das hät­te gar nicht so schnell pas­sie­ren kön­nen und dür­fen. Nicht, oh­ne dass ich da­von weiß.«

Je mehr Ge­fan­ge­ne sie in dem Re­gis­ter such­te, de­sto mehr Lü­cken ta­ten sich auf.

»Ent­schul­di­ge!«, rief Kal­li­ne die Schreib­erin zurück. »Wie lan­ge bist du schon für das Pro­to­koll zu­stän­dig?«

»Seit ein paar Wo­chen, Ar­chiv­lei­te­rin«, ant­wort­ete die Schreib­erin und nes­tel­te an ih­ren Hand­schu­hen. »Ich ar­bei­te eigent­lich als As­sis­tenz im Un­te­ren Ar­chiv. Aber die Zunft hat mir her­be­ru­fen. Ihr wisst, Eu­re Mutter emp­fahl, dass –«

»Dass sich der Pos­ten der Fe­der­füh­rung im Ge­fäng­nis ab­wech­selt, um Be­stech­lich­keit vor­zu­beu­gen«, be­en­de­te Kal­li­ne den Satz und run­zel­te die Stirn. Das hieß, dass sie die schein­ba­re Ver­set­zung der Ge­fan­ge­nen nur über ei­nen An­trag bei der Zunft wür­de nach­voll­zie­hen kön­nen.

»Gibt es ein Pro­blem?«, frag­te die Schreib­erin mit wan­ken­der Stim­me nach. »Der Kom­man­dant woll­te gleich zum Kon­troll­gang vor­bei­kom­men. Ich möch­te kei­nen Är­ger be­kom­men.«

So­fort schlug Kal­li­ne das Re­gis­ter zu und wech­sel­te ei­nen Blick mit Cha­dis. Ihr Ma­gen kram­pfte, wäh­rend sie da­rum rang, das Lä­cheln nicht zu ver­lie­ren.

»Es ist nicht so wich­tig«, ant­wort­ete sie. »Ihm wird es nicht auf­fal­len. Ich dan­ke dir für die Aus­kunft.«

Kal­li­ne gab das Re­gis­ter zurück und eil­te mit Cha­dis in den Ge­fäng­nis­trakt. Sie mahn­te sich zur Ru­he. Wenn sie schnell und klug vor­gin­gen, wä­ren sie in we­ni­gen Mi­nu­ten fort. Sie muss­ten nur si­cher­ge­hen, ob et­was an die­sen selt­sa­men Ein­tra­gun­gen dran war.

»Das kann nicht sein«, mur­mel­te sie. »Es kann nicht sein, dass so viele Ge­fan­ge­ne ver­setzt wur­den, aber kei­ne Notiz da­von den Ak­ten bei­liegt.«

»Und wenn ver­setzt et­was an­de­res be­deu­tet?«, er­wi­der­te er. Ihr ge­fiel der Ton­fall nicht, den er da­bei an­schlug. Sie schlang die Ar­me um den Körper und plötz­lich schien es im Durch­gang käl­ter zu sein als zu­vor.

»Zum Bei­spiel so et­was wie … aus­ge­bro­chen?«

Cha­dis ver­zog den Mund und zuck­te mit den Schul­tern.

»Wo­hin könn­ten sie denn ver­schwun­den sein?«, dach­te sie laut. »Es gibt nur ei­nen ein­zi­gen Aus­gang aus die­sem Ge­fäng­nis. Und dort sind mehr als ge­nug Wachen po­stiert, um ei­ne Gold­hand auf­zu­hal­ten.«

»Das soll­te man mei­nen, ja.«

»Außer sie konn­ten über den Ka­nal flie­hen. Ist das mög­lich?«

»Viel­leicht, da­für müss­te die Strö­mung aller­dings schwach ge­nug für ei­ne Durch­que­rung sein.«

Als ih­nen ei­ne Wa­che ent­ge­gen­kam, hielt Cha­dis den Mann auf. Er war alt, mit tief­hän­gen­den Augen­li­dern und doch war sein Blick ste­chend.

»Die Gold­hand in Zel­le vier­und­zwan­zig, ist sie noch da?«, frag­te er. »Mir wur­de auf­ge­tra­gen, sie zu be­fra­gen, nur die Schreib­erin an der Pfor­te be­haup­tet, sie sei ver­setzt wor­den. Sie kann mir aber auch nicht sa­gen, wo­hin.«

»Zel­le vier­und­zwan­zig ist leer«, blaff­te der Wäch­ter und schnaub­te. »Du kannst dich gern statt­des­sen rein­set­zen. Dei­ne Uni­form könn­te ge­stoh­len sein, wer weiß?«

»Das ist un­er­hört!«, zisch­te Kal­li­ne, doch Cha­dis hielt sie zurück. Er lä­chel­te und leg­te dem Wäch­ter ei­ne Hand auf die Schul­ter. Sie spür­te ein fei­nes Krib­beln auf der Haut, als sie da­bei zu­sah, wie er sei­ne Ga­be nutz­te: Der Wäch­ter rüm­pfte die Na­se, dann aber ent­spann­te sich sei­ne Hal­tung und er be­geg­ne­te ih­nen mit ru­hi­gem Blick.

»Seit wann ist die Zel­le leer?«, hak­te Cha­dis nach. Der Wäch­ter schwank­te wie ein Be­trun­ke­ner. Der An­blick jag­te Kal­li­ne ei­ne Gän­se­haut über den Körper und sie trat ei­nen Schritt zurück. Cha­dis lä­chel­te, wie er es eben­so tat, wenn sie sich un­ter­hiel­ten. Und doch brauch­te es allein ei­ne Be­rüh­rung mit der gol­de­nen Hand und der Mann gab nach wie war­mes Wachs. Sein Kol­le­ge! Ihr wur­de übel und sie woll­te ihn von dem Wäch­ter zurück­zie­hen.

»Die gan­ze Zeit schon«, sag­te der Wäch­ter da mit glä­ser­nen Augen. »Die Gold­hand war nicht mal ei­ne Stun­de hier und war dann weg. Ver­schwun­den.«

Cha­dis run­zel­te die Stirn. »Was meinst du mit ver­schwun­den? Wur­de sie ab­ge­führt?«

»Ein­fach weg. Ver­mut­lich mit die­sen ver­fluch­ten Hän­den ab­ge­hau­en. Wä­re nicht das er­ste Mal.«

Das Ge­re­de über Gold­hän­de schien den Wäch­ter wach­zu­rüt­teln. Er blin­zel­te und mit ei­nem Ruck schlug er Cha­dis’ Hand weg. Er stol­per­te zurück, stütz­te sich be­nom­men an der Wand ab und starr­te sie bei­de an. »Was fragt ihr das eigent­lich? Mir wur­de nicht ge­sagt, dass ihr hier sein sollt.«

»Ich hat­te ein paar Nach­fra­gen für das Pro­to­koll«, log Kal­li­ne. Ihr Herz und Ver­stand ra­sten, als sie sich zwi­schen Cha­dis und die Wa­che schob. »Aber wenn die Gold­hand nicht mehr auf­zu­fin­den ist, wer­den wir uns noch­mals um den ent­spre­chen­den Ver­set­zungs­be­fehl be­mü­hen. Ich dan­ke Euch für Eu­re Zeit.«

Sie war froh, dass die Sin­ne des Wäch­ters von Cha­dis’ Ga­be noch so be­ne­belt waren, dass er ih­nen zwar nach­rief, aber nicht folg­te. Wie­so hat­te die Wa­che da­von ge­spro­chen, dass die Gold­hand ver­schwun­den und nicht ver­setzt wor­den war? Wie konn­te es sein, dass die­ses Ver­schwin­den kei­nen Alarm aus­ge­löst hat­te? Wes­halb waren jeg­li­che Pro­to­kol­le falsch? Hing all das mit dem Kür­zel zu­sam­men, mit dem der Kom­man­dant die Fäl­le ver­sah? Stand es für das Ver­schwin­den der Gold­hän­de aus dem Ge­fäng­nis?

»Was geht hier vor sich?«, mur­mel­te sie. Cha­dis hat­te die Lip­pen auf­ein­an­der­ge­presst und schwieg, die Augen starr ge­ra­de­aus ge­rich­tet.

Sie senk­te den Kopf und be­trach­te­te sei­ne gol­de­nen Fin­ger. Von ih­nen schien noch immer ein wär­men­der Schein aus­zu­ge­hen, der auf ih­rer Haut krib­bel­te. Wenn er sei­ne Ga­be ziel­ge­rich­te­ter und län­ger aus­ge­übt hät­te, wä­re der Wäch­ter ver­mut­lich be­wusst­los ge­stürzt und erst spät er­wacht. Wo­mög­lich hät­te er ih­nen mehr er­zäh­len kön­nen, wenn Cha­dis ihm alle Sor­gen und Hem­mun­gen ge­nom­men hät­te. Plötz­lich wur­de ihr be­wusst, wie viel Glück sie hat­ten, dass Ich­ry­lis ihn zur Stadt­wa­che und nicht in den Un­ter­grund ge­führt hat­te. Was wä­re ge­we­sen, wenn er die Kin­der Ve­as nicht schüt­zen, son­dern be­dro­hen wür­de? Wenn er in die­sem Ge­fäng­nis ge­we­sen wä­re, hät­te er Schwie­rig­kei­ten ge­habt, mit­hil­fe sei­ner Ga­be aus­zu­bre­chen?

Er blieb so ab­rupt ste­hen, dass sie vor Schreck bei­nahe stol­per­te. Sein ge­sam­ter Körper nahm die stram­me Hal­tung der Wachen ein und als sie sei­nem star­ren Aus­druck folg­te, er­kann­te sie, wa­rum. Der Kom­man­dant stand in Be­glei­tung ei­ner Wa­che am Ein­gang und un­ter­hielt sich mit der Schreib­erin, die aus­schwei­fend ge­sti­ku­lier­te. Als spür­te er Kal­li­nes Blick, sah er auf und starr­te erst Cha­dis, dann sie an. Ih­re Wan­gen brann­ten, wäh­rend ihr Körper zit­ter­te. Sie sa­lu­tier­te, weil sie nicht wuss­te, was sie sonst tun oder sa­gen soll­te.

»Ar­chiv­lei­te­rin«, grüß­te der Kom­man­dant, aber für sie fühl­te es sich an wie ei­ne Ohr­fei­ge. Ob­wohl er sich nicht vom Fleck be­weg­te, schien sei­ne Prä­senz mit die­sen Wor­ten zu wach­sen. Ih­re At­mung ging flach, ihr Kie­fer war ver­krampft und sie hat­te Mü­he, zu schlu­cken.

»Was führt Euch so weit weg von Eu­rem Schreib­pult?«

»Ich …«

»Ich bat sie, mich zu be­glei­ten, Kom­man­dant«, ant­wort­ete Cha­dis für sie. Er sa­lu­tier­te eben­falls. »Ich woll­te nach dem Dieb se­hen, den ich vor ei­ner Wo­che ge­fasst ha­be. Er hat­te sich am Arm ver­letzt, aber die Wun­de scheint gut zu ver­hei­len. Ar­chiv­lei­te­rin Kal­li­ne soll­te es für mich be­zeugen, für den Fall, dass ich ei­nen An­trag auf Ver­sor­gung im Spi­tal für ihn stel­len müss­te.«

Sie senk­te den Blick, als der Kom­man­dant sie an­sah. Ihr war übel und alles in ihr sträub­te sich da­ge­gen, den Kom­man­dan­ten zu be­lü­gen. Und den­noch press­te sie die Lip­pen auf­ein­an­der und nick­te. »So war es, Kom­man­dant.«

Das Schwei­gen, das folg­te, war un­er­träg­lich. Es zerr­te an ihr und er­drück­te sie gleich­zei­tig. Sie schwank­te, konn­te sich kaum auf den Bei­nen hal­ten.

»Ver­stan­den«, sag­te der Kom­man­dant, die Dro­hung da­hin­ter war klar zu ver­neh­men. »Weg­tre­ten.«

Kal­li­ne sa­lu­tier­te und drück­te sich in Cha­dis’ Schat­ten am Kom­man­dan­ten vor­bei. Die Schreib­erin frag­te et­was und der Kom­man­dant wand­te sich ab, um ihr zu ant­wor­ten.

Aber selbst als sie die Brü­cke schon längst hin­ter sich ge­las­sen hat­ten, glaub­te sie, sei­nen Blick in ih­rem Rü­cken bren­nen zu spü­ren.

* * *

Es klopf­te drei­mal an der Tür, be­vor Cha­dis in das Ar­chiv ein­trat. Er nick­te Mech­la­nos zu, der die Ge­ste höf­lich er­wi­der­te, ehe er sich sei­nen Pro­to­koll­sta­peln wid­me­te. Er trat lä­chelnd an Kal­li­nes Schreib­pult. «Ich brau­che die Ar­chi­vak­te 2209 aus dem Jahr 193, Fall 3d.«

»Selbst­ver­ständ­lich, folgt mir bit­te.« Sie führ­te ihn tie­fer in das Ar­chiv, bis Mech­la­nos sie we­der se­hen noch hö­ren wür­de.

Cha­dis er­griff ih­ren Arm und mus­ter­te sie. »Du bist blass, ist et­was vor­ge­fal­len? Hat dich der Kom­man­dant an­ge­spro­chen?«

Kal­li­ne schüt­tel­te den Kopf. Seit ih­rer Be­geg­nung im Ge­fäng­nis am Mor­gen hat­te sie den Kom­man­dan­ten nicht mehr ge­se­hen. Noch immer fühl­te sie sich elend, ihn be­lo­gen und sein Ver­trauen in sie miss­braucht zu ha­ben.

»Wir soll­ten uns be­deckt hal­ten, aber trotz­dem schnell han­deln.« Er lehn­te sich mit ver­schränk­ten Ar­men ge­gen ein Regal. »Was wir im Ge­fäng­nis er­fah­ren ha­ben, ge­fällt mir nicht.«

Sie nick­te und ließ ih­re Hän­de über die Ak­ten­rü­cken glei­ten. »Ich wer­de ei­nen An­trag an die Zunft stel­len mit der Bit­te, mir die Lis­ten der Fe­der­füh­run­gen im Ge­fäng­nis aus­zu­stel­len. Es kann nicht sein, dass die Re­gis­ter hier und dort nicht über­ein­stim­men. Wenn sie ver­setzt wur­den, wes­halb weiß ich nichts da­von? Und das ein­zi­ge Pro­to­koll, in dem das Ver­schwin­den auf­ge­führt ist, wi­der­spricht dem Ge­fäng­nis­re­gis­ter, das die Gold­hand wie­der­um für tot er­klärt.«

Sie zupf­te an ih­ren Hand­schu­hen, den Blick auf die Buch­rü­cken vor sich ge­rich­tet. Wäh­rend sie über­leg­te, wie sie die An­fra­ge stel­len wür­de, oh­ne zu viel Auf­se­hen zu er­re­gen, frag­te sie: »Bist du vor­an­ge­kom­men?«

Aus der In­nen­ta­sche sei­ner Uni­form zog er ei­ne Kar­te und brei­te­te sie auf dem Boden aus. Sie knie­ten sich über die Zeich­nung des Mitt­le­ren Rings. Mit Koh­le hat­te Cha­dis ein paar Punk­te um das Ge­fäng­nis he­rum mar­kiert.

Nach­ein­an­der zeig­te er auf sie, wäh­rend er er­klär­te: »Ich bin auf dem Rück­weg von der Pa­trouille zum Ge­fäng­nis zurück­ge­kehrt und bin es ein­mal ab­ge­lau­fen. Es gibt ein, zwei Stel­len, an de­nen das Ufer brü­chig ist und man mit viel Glück ein Seil be­fes­ti­gen könn­te. Da­für bräuch­te die Per­son aber ein Seil, das lang ge­nug ist, ei­nen Ha­ken zum Be­fes­ti­gen und dann die Kraft und Prä­zi­sion, es ans an­de­re Ufer zu brin­gen. Et­was, das ei­ne ge­fan­ge­ne Gold­hand kaum voll­brin­gen kann.«

»Selbst mit ih­ren Ga­ben?«, er­wi­der­te sie und stu­dier­te die Kar­te ein­dring­lich. »Schließ­lich waren es zum Groß­teil Ver­ur­teil­te, die zu­vor ein schwer­wie­gen­des Ver­bre­chen be­gan­gen hat­ten. Oder hat­ten sie Hil­fe? Das Kür­zel tauch­te auch bei Ga­ben­lo­sen auf und der Kom­man­dant sprach von un­ehren­haf­ten Men­schen, die in­vol­viert seien.«

Die Ge­dan­ken ra­sten durch ih­ren Kopf, als sie die Kar­te an­starr­te. Was war über die ver­schwun­de­ne – schein­bar to­te – Gold­hand ge­schrie­ben wor­den? Sie ha­be sehr ner­vös bei der Ver­hand­lung und dem Ver­hör ge­wirkt. Ih­re Ga­be hat­te das Ge­richt nie her­aus­fin­den kön­nen. Aber man hat­te Blut an ih­rer Klei­dung ge­fun­den und sie hat­te mehr­mals ver­sucht, aus dem Ver­hör­raum zu flie­hen. Und die Gold­hand aus dem Pro­to­koll, das Cha­dis ihr vor we­ni­gen Ta­gen über­reicht hat­te, war den Wachen auf der Flucht wie­der­holt ent­kom­men. Un­wahr­schein­lich war es nicht, dass ei­ne der Gold­hän­de ei­ne Fä­hig­keit be­saß, die ei­nen Mord oder ei­nen Aus­bruch oh­ne Be­wei­se er­mög­lich­te.

»Könn­te es nicht so­gar sein, dass es meh­re­re Gold­hän­de sind? Denk an die Wor­te des Kom­man­dan­ten! In den letz­ten Mo­na­ten und Wo­chen nah­men die Über­grif­fe durch Gold­hän­de auf die Volks­ver­tre­ten­den zu. Was, wenn es kei­ne Ein­zel­ta­ten sind? Was, wenn es das ist, was sich da­hin­ter ver­birgt? Ei­ne grö­ße­re Ver­schwö­rung. Wenn sie ih­res­glei­chen aus dem Ge­fäng­nis be­frei­en woll­ten. Oder sie ma­ni­pu­lier­ten ein­zel­ne Ga­ben­lo­se und zwan­gen sie, ih­nen zu hel­fen, sich auf ih­re Sei­te zu schla­gen. Und da­rauf­hin –«

»Kal­li­ne«, un­ter­brach Cha­dis sie und nahm sie an den Schul­tern. So­fort glitt ihr Blick zu sei­nen Augen, de­ren Grün sie an Al­gen er­in­ner­te, die sanft im Was­ser wieg­ten. Sie schmeck­te Salz auf den Lip­pen, hör­te das Rau­schen des Meeres und fühl­te die Wel­len trä­ge durch ih­re Adern flie­ßen. sei­ne Hän­de wärm­ten ih­re Schul­tern und drück­ten sie sach­te he­rab. In ih­rem Kopf wur­de es ru­hig.

Sei­ne Ga­be, dach­te sie und ver­gaß es im sel­ben Augen­blick.

»Bit­te hör mir zu«, flüs­ter­te er im Takt der Wo­gen. »Gold­hän­de wer­den in den Ge­fäng­nis­sen schlecht be­han­delt. Sie wer­den in win­zi­ge Ein­zel­zel­len ge­sperrt und je nach Be­ga­bung zu­sätz­lich ein­ge­schränkt, da­mit sie nicht flie­hen kön­nen. Die­se Men­schen sind nicht aus ei­ge­ner Kraft ge­flo­hen.«

Er seufzte, ließ sie los und brach­te sie zurück ins Hier und Jetzt. Kal­li­ne er­schau­der­te, als ha­be sie ein ei­si­ger Wind ge­packt und wach­ge­rüt­telt. Jeg­li­che Wär­me war aus Cha­dis’ Augen ver­schwun­den. Statt­des­sen be­trach­te­te er sie mit ei­nem trau­ri­gen Aus­druck. Wo­bei, nicht trau­rig, son­dern … ver­letzt? Sein Seuf­zen schnür­te ihr die Brust zu und sie schluck­te die wei­te­ren Wor­te hin­un­ter. Dann senk­te sie den Blick auf sei­ne gol­de­nen Hän­de. Wie ig­no­rant war sie, da­für, wie sie vor ihm sprach. Sie war nicht bes­ser als der Wäch­ter im Ge­fäng­nis.

Den­noch … der Ge­dan­ke schien ihr schlüs­sig. Gold­hän­de hat­ten ei­ne Macht, die un­ver­gleich­lich war. Ei­ne Macht, die mehr für Bö­ses statt Gu­tes ge­nutzt wur­de. Sie wirk­te un­sicht­bar, oh­ne jeg­li­che Spu­ren zu hin­ter­las­sen. Wie oft hat­te Cha­dis schon sei­ne Ga­be ein­ge­setzt, oh­ne dass sie es be­merkt hat­te? Wie leicht war es ihm im Ge­fäng­nis ge­fal­len, den Wäch­ter zu be­täu­ben? Wä­re er es in der Zel­le vier­und­zwan­zig ge­we­sen, wie schnell hät­te er wohl da­mit flie­hen kön­nen? Sie ver­trieb den Ge­dan­ken als­bald und den­noch nag­te er sich an ihr fest.

»Mir be­rei­tet es Sor­gen, dass es sich um so viele Gold­hän­de han­delt«, sag­te er nach ei­ner Wei­le des Schwei­gens. »Ich bin ei­ne Gold­hand. Zwar hat mir der Kom­man­dant die Chan­ce ge­ge­ben, Teil der Stadt­wa­che zu wer­den. Aber nur, weil ich jetzt Stadt­wa­che Cha­dis bin, bin ich nicht we­ni­ger Gold­hand Cha­dis. Du spürst die Bli­cke nicht und du hörst die Wor­te nicht. Der Wäch­ter im Ge­fäng­nis war harm­los. Nun stel­le dir ei­ne Gold­hand vor, die dort in ei­ner Zel­le sitzt. Sie wer­den nicht mit Sam­thand­schu­hen an­ge­fasst.«

Kal­li­ne press­te die Lip­pen auf­ein­an­der und senk­te den Kopf. Sie mus­ter­te Cha­dis’ Brust … Sie glaub­te, sei­ne Ge­dan­ken nach­voll­zie­hen zu kön­nen, auch wenn sie ihr fern schie­nen. Sei­ne Be­den­ken waren si­cher­lich der Tat­sa­che ge­schul­det, dass er selbst ei­ne Gold­hand war, wie sei­ne Mutter und jün­ge­re Schwes­ter, und sie waren si­cher be­rech­tigt. Aber die­ses Ge­fühl soll­te sie nicht von dem Fakt ab­brin­gen, dass es ei­ni­gen Gold­hän­den mög­lich sein könn­te, zu flie­hen – vor al­lem, wenn sie sich ge­gen­sei­tig aus­hal­fen. Der Un­te­re Ring war ein Ort der nie­de­ren Ge­füh­le. Hass, Hab­gier, Hem­mungs­lo­sig­keit. Die Stadt­wachen be­müh­ten sich da­rum, Recht und Ord­nung durch­zu­set­zen, aber der Un­te­re Ring war un­bän­dig wie der Wind. D.I.

Er beug­te sich in ihr Blick­feld. »Ich möch­te nicht sa­gen, dass alle Gold­hän­de gut sind. Und ich möch­te nicht alle ver­ur­tei­len. Das ist nur ei­ne Ver­mu­tung, die wir ha­ben. Ein Ge­dan­ke.«

»Aber ein Ge­dan­ke, ein mög­li­cher Hin­weis, dem wir nach­ge­hen kön­nen«, ent­geg­ne­te sie. »Wenn es sich um ei­ne Ver­schwö­rung han­delt, muss der Kom­man­dant mit Be­dacht ab­wä­gen, wer wel­che In­for­ma­tio­nen er­hält.«

Cha­dis seufzte er­neut, doch nick­te dies­mal. »Wir wer­den es über­prü­fen. Ge­mein­sam. Ich bit­te dich nur, vor­sich­tig zu sein und die Augen für alle Mög­lich­kei­ten of­fen zu hal­ten. Wenn der Kom­man­dant da­rüber schweigt, wird es kein ein­fa­cher Fall sein. Außer­dem darfst du nicht ver­ges­sen, dass es nicht aus­schließ­lich Gold­hän­de sind, bei de­nen du das Kür­zel ge­fun­den hast. Was ist mit den an­de­ren, den Ga­ben­lo­sen? Viel­leicht über­se­hen wir et­was, weil wir uns zu sehr auf Gold­hän­de kon­zen­trie­ren.«

»Ar­chiv­lei­te­rin?«, er­tön­te Mech­la­nos’ Stim­me nä­her als ge­dacht. Kal­li­ne und Cha­dis zuck­ten zu­sam­men. »Ent­schul­digt die Stö­rung, ich hät­te ei­ne Fra­ge.«

Has­tig schob sie die Kar­te in ihr Notiz­buch und zog ei­ne Ak­te aus dem Regal. Doch be­vor sie so tun konn­te, als ha­be er sie ihr ge­ra­de zurück­ge­ge­ben, nahm Cha­dis ihr die Ak­te aus der Hand und dräng­te sie an das Regal.

»Ent­schul­di­ge«, sag­te er und rück­te zu ihr, die ei­ne Hand an ih­rer Sei­te, die an­de­re mit der Ak­te über ih­rem Kopf ab­ge­stützt. So­bald sie ver­stand, was er an­deu­ten woll­te, spür­te sie Hit­ze in ih­ren Wan­gen.

»Schon in Ord­nung«, er­wi­der­te sie und leg­te ih­re Hän­de an sei­ne Brust. Sie spür­te sei­nen Herz­schlag kräf­tig und ru­hig. Er beug­te sich zu ihr he­rab, so­dass sein Körper sie ab­schirm­te, und flüs­ter­te in ihr Ohr: »Wir re­den spä­ter weiter. Pass’ auf dich auf, ja?«

Er lä­chel­te, als Mech­la­nos in den Gang ein­bog und ab­rupt stopp­te. Schein­bar er­tappt ent­fern­te Cha­dis sich von ihr und räu­sper­te sich.

»Ent­schul­di­ge, die … Ak­te hat sich ver­steckt«, lach­te er und be­gra­dig­te sei­ne Hal­tung. »Du ver­stehst?«

Mech­la­nos mus­ter­te sie bei­de mit sei­nen mü­den Augen, die sich dann vor Er­kennt­nis wei­te­ten. Sein blas­ses Ge­sicht er­rö­te­te und Kal­li­ne spür­te die Scham in ih­rem Ma­gen bro­deln. Vor den an­de­ren Wachen hät­te sie lie­ber ris­kiert, ent­deckt zu wer­den, als sich so in­tim mit ei­nem Kol­le­gen zu zei­gen. Aber Mech­la­nos war ihr Aus­zu­bil­den­der, er wür­de schwei­gen und sie weiter­hin re­spek­tie­ren. Das muss­te er, wenn ihm sein Pos­ten lieb war. Al­so be­müh­te sie sich, ih­re Fas­sung zu wah­ren, und strich ih­re Klei­dung glatt.

»Aber ich ha­be alles, wo­für ich ge­kom­men bin, und las­se Euch Eu­ren Pflich­ten nach­ge­hen. Be­sten Dank.« Cha­dis deu­te­te ei­ne Ver­beu­gung an. »Mei­ne Schicht dau­ert heu­te län­ger als die Eu­re, des­halb kann ich Euch heu­te Abend nicht zur Ka­ser­ne be­glei­ten, Ar­chiv­lei­te­rin. Seid vor­sich­tig auf dem Rück­weg und bit­tet um Be­glei­tung. Ich ver­ab­schie­de mich.« Mit ei­nem an­ge­deu­te­ten Sa­lut schritt er aus dem Ar­chiv.

Mech­la­nos sah ihm nach, ehe er sich pu­ter­rot an Kal­li­ne wand­te. »Ar­chiv­lei­te­rin, ich …«

Sie ver­zog den Mund und be­deu­te­te ihm mit ei­ner har­schen Ge­ste, zu schwei­gen. Ih­re Oh­ren wur­den viel zu warm un­ter dem Blick, mit dem er sie mus­ter­te.

»Nun sag schon, was du brauchst«, murr­te sie. »Und sieh mich nicht so an.«

 

Kapitel 4