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Die Goldhand Lysos kümmern die erschütternden Ereignisse in Vea nicht. Obwohl das Misstrauen gegenüber Goldhänden spürbarer ist als je zuvor, schleicht sich der Navigator durch Tebas Gassen auf der Suche nach dem goldenen Glück. Denn Lysos hatte schon immer ein Händchen dafür, Besonderheiten zu finden. Beim Einbruch in eins der einflussreichsten Häuser Tebas wird Lysos jedoch von der kaltherzigen Händlerin Zyria erwischt. Um sein Leben zu retten, bietet er ihr seine magischen Fähigkeiten dar und verspricht, zu finden, was sie begehrt. Zyria willigt ein. Aber was sie sucht, ist kein Schatz, sondern ein verschwundenes Goldhand-Mädchen. Während Zyria sich in Schweigen hüllt, bleibt Lysos‘ einziger Hinweis ein Medaillon voller Trauer, Sehnsucht und Geheimnisse. Gemeinsam beginnen sie eine schicksalhafte Reise, die sie unverhoffter Dinge zum Kern der Intrigen um die Kinder der Oneia bringt. Intrigenreiche Fantasy mit starken Frauen, Talentmagie und queerness in einer mythischen Inselwelt, inspiriert von griechischer Antike.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Pakt der Goldhände
Gestohlenes Erbe
Band 2 der Goldhand-Trilogie
Impressum
1. Auflage
© 2025 Ella Laurier
Ella Laurier
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
www.ellalaurier.com
Covergestaltung: Christin Giessel (Giessel Design), www.giessel-design.de
Korrektorat: Sarah Nierwitzki, www.lektorat-wortkosmos.de
Karte und Kapitelillustration: Ella Laurier
veröffentlicht über Tolino Media
978-3-759-27982-8
Hinweise zum Inhalt: Diese Geschichte behandelt möglicherweise belastende Inhalte. Am Ende des Buches sind die Themen aufgelistet. Lies sie gerne durch und entscheide, ob du dich mit allem wohlfühlst.
Für alle, die das Besondere in sich suchen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Von der Tapferkeit der Tebanis
Danksagung
Über die Autorin
Inhaltswarnung
Lysos hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, Besonderheiten zu finden. Besonderheiten wie die unverschlossene Tür zu einem Lagerraum, die ihn rechtzeitig aus dem Blick der Wasserpatrouille verschwinden ließ. Durch ein milchiges Sichtfenster beobachtete er, wie die Gondel mit den Wachen über den Kanal glitt. Das Wasser schwappte gegen das Ufer und gluckste, wenn das Ruder eingetaucht wurde. Die beiden Wachen wirkten wie lebendige Schatten, umringt von bläulichem Licht.
Es war bereits die dritte Patrouille, der Lysos diese Nacht ausweichen musste – zwei auf dem Wasser, eine am Hafen. Er hatte gehofft, dass die Stadtwache ihr albernes Zurschaustellen endlich beenden würde. Offensichtlich nicht. Und das alles wegen eines Aufstandes auf Vea, am anderen Ende des Meeres, der Monate zurücklag.
Lysos lauschte mit angehaltenem Atem, bis Stille einkehrte. Erst danach lockerte er seine Haltung und spähte in das Lager. Es roch nach Holz und soweit er im Dunkeln erkennen konnte, stapelten in und zwischen den Regalen nur Bretter, Holzscheite und noch mehr Bretter. Keine Ablenkung, der es sich lohnte, nachzugehen. Lysos hatte andere Pläne für diese Nacht.
Er verließ sein Versteck und eilte den Kanal entlang, bis er die erste Trauerweide über eine Mauer ragen sah. Er duckte sich unter ihre Zweige hindurch und bog in eine Seitengasse, die ihn in Tebas reichstes Viertel brachte. Hier auf der Westseite der Insel, getrennt durch den großen Kanal, fanden Bäume und Zierblumen noch Platz in den Vorgärten der Villen.
Mit seinen goldenen Fingern strich er entlang der Mauer. Der Sandstein war rau und angenehm kühl. Während er versuchte, die Villa dahinter zu erahnen, folgte er dem Weg bis zum nächsten Kanal. Das Grundstück reichte bis ans Wasser und als Lysos um die Ecke linste, entdeckte er eine Anlegestelle, von einer Laterne erhellt. Das Wasser wiegte die angelegte Gondel. Ein wahres Prachtstück! Das Holz war fein verarbeitet und lackiert, an keiner Stelle bemerkte er eine Macke oder aufgeplatzte Farbe. Der Vordersteven beugte sich majestätisch nach hinten, über und über mit geschnitzten Verzierungen. Er erkannte die Figuren nicht, aber er sah das eingearbeitete Gold und Silber. Das war keine einfache Ausflugsgondel, nein, das war ein Zeichen von Handwerkskunst und Reichtum. Wer hier wohnte, musste keine Sorgen haben. Außer vielleicht der Frage, ob das Kleid aus Samt oder Damast sein sollte.
Lysos grinste und fasste einen Entschluss: Das war das richtige Anwesen. Er spähte zum Steg und entdeckte zu seinem Bedauern zwei Wachen. Nicht verwunderlich, mit einem schwimmenden Schatz auf offenem Gewässer. Dann blieb ihm nur der Weg über die Mauer. Er zog sich in die Schatten zurück und richtete seinen Turban, um sicherzugehen, dass keine blonde Strähne ihn verriet. Er rieb sich die Hände und berührte seine silbernen Ringe, bevor er die Mauer abtastete. Da war es, dieses Kribbeln in den Fingerspitzen. Sein Herzschlag, kräftig pulsierend in seinen Adern. Diese Nacht würde er etwas Besonderes entdecken. Wie von selbst fanden seine Finger in die Ritzen der Mauersteine, die er mit bloßem Auge nicht einmal sah. Seine Hände führten ihn die Mauer hinauf, bis er den ersten Ast der Trauerweide greifen konnte. Er warf einen letzten Blick zur Gasse, aus der er gekommen war. Irgendwann würden seine nächtlichen Erkundungstouren schiefgehen, sagte Käpt’n Xiafis immer. Irgendwann, aber nicht diese Nacht.
Er hangelte sich in die Baumkrone und hielt Ausschau nach weiteren Wachen im Garten. Es dauerte nicht lange, bis er ein Rascheln hörte und ein Knurren folgte. Hunde, natürlich, für so ein Anwesen sinnvoller als eine bestechliche Wache. Lysos kramte eine Kräuterkugel und einen Zündstein aus seinem Beutel und mit geübten Handgriffen brachte er die Kugel zum Rauchen. Die Hunde spitzten die Ohren und schlichen sich an die Weide heran. Er ließ die Kugel fallen und sofort umkreisten sie den Rauch. Sie schnupperten daran, jaulten verwirrt, dann schnupperten sie erneut. Einer der drei Hunde war töricht genug, hineinzubeißen. Es dauerte nicht lang, da ließen sich die Hunde träge auf das Gras fallen und schnaubten tief.
Seit die Kräuterdame vom Hafen ihre hausgemachten Hilfsmittel unter der Hand mit ihm tauschte, gab es nichts, was ihn mehr aufhielt. Triumphierend stieg er vom Baum und betrachtete die schlafenden Hunde. Sie waren wohlgenährt, nicht dick und hatten fleckiges Fell mit breiten Schnauzen. Keine reinblütige Zucht, so viel konnte er sagen. Er strich über ihre Flanken, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Der Rasen war trotz des trockenen Sommers saftig und mit solch einer Präzision gestutzt, dass kein Halm über den anderen ragte. Die Zypressen waren entlang des Mittelwegs von der Anlegestelle zum Anwesen angelegt, ein Baum exakt wie der andere geschnitten. Dazwischen reihten sich Statuen auf und bei näherer Betrachtung erkannte in ihnen Tebas zehn Tugenden. Er kniete unter der Tugend der Gastfreundschaft, die ihre Arme wie für eine Umarmung ausbreitete und in warmen Rottönen bemalt war. Diese Einladung wollte er nicht ausschlagen.
Geduckt huschte er auf die andere Seite des Weges. Diesmal suchte er Schutz hinter einer Statue, die in schlichten Gewändern einen einzelnen Blütenzweig in den Händen hielt.
»Ich glaube, du bist hier falsch, liebe Genügsamkeit«, murmelte Lysos und betrachtete das Anwesen. Die breiten Treppen führten hinauf zu einem säulengestützten Eingang, Statuen und Stuck verzierten das Dach und die Fenster waren groß wie Eingangstüren. Zu dieser Uhrzeit brannte kein Licht mehr, außer in den Kammern der Angestellten unter dem Dach. Am liebsten hätte er einen Blick in das Haus geworfen, aber so unbedacht war er nun auch wieder nicht.
Er drehte seine Ringe, während er sich vom Mittelweg entfernte und den restlichen Garten erkundete. Da waren ein Teich, in dem golden schillernde Fische schwammen, und Obstbäume, umringt von Beerensträuchern. Er stibitzte sich eine Handvoll Brombeeren.
Während er sie aß, malte er sich aus, wie es sein mochte, in diesem Anwesen zu leben. Er würde im Schatten der Bäume dösen und sich Pistazienkuchen bringen lassen. Er würde in einem Bett mit Matratze schlafen, größer als seine gesamte Kajüte. Er würde jederzeit baden können und sich mit duftenden Ölen einreiben lassen. Wenn er sich nach dem Meer sehnte, könnte er mit der Gondel durch Tebas Kanäle schippern. Nein: sich fahren lassen.
Plötzlich spürte er dieses feine Prickeln in den goldenen Fingerspitzen. Manchmal fühlte sich seine Gabe an wie ein Windstoß im Rücken, der ihm keine andere Wahl ließ, als ihm nachzulaufen. Manchmal war es vielmehr ein ungewisses Jucken in den Fingern, das schlimmer wurde, je mehr er sich näherte. Diesmal war es ein wenig von beidem. Seine Füße folgten wie von selbst dem Kiesweg vom Teich bis in einen hinteren Teil des Gartens, weg von Anlegestelle und Villa. Lysos rieb sich die Hände und drehte seine Ringe. Als sich Lavendelsträucher zu beiden Seiten des Weges erhoben, ahnte er, wohin er kam.
Der Schrein befand sich in einem offenen Pavillon. Olivenbäume, hoch wie die vergoldete Kuppel, flankierten die Säulen am Eingang. Da war er wohl an einen sehr gläubigen Haushalt geraten, wenn sie sich die Mühe machten und das Geld hatten, den Tempel auf Vea zu kopieren. Der Geruch von verbranntem Lavendel hing in der Luft, als er den Pavillon betrat. Der Mond reichte nicht bis Ichrylis’ Statue, weshalb sie in Schatten gehüllt blieb. Hastig deutete er eine Verbeugung an.
»Gegrüßt seist du, Ichrylis«, flüsterte er. Als er aufblickte, entdeckte er eine gemalte Ikone zu den Füßen der Statue. Sie zeigte die Heilige Eveia, umringt von prall gefüllten Truhen und einer ganzen Schiffsflotte im Hintergrund. Vor ihr verneigte er sich nicht. Die Gründerin Tebas und ehemalige Prinzessin der Lyr war für seinesgleichen sicher keine Schutzpatronin, egal ob heilig oder nicht.
Er wandte sich an die Statue. »Du leistest bestimmt wunderbare Arbeit dabei, dieses Haus zu schützen und ihnen Wohlstand zu bescheren. Dennoch hoffe ich, du hast Mitgefühl mit mir Goldhand und erlaubst mir, in deine Opfertruhe zu sehen. Ich habe nämlich Schulden, die ich begleichen muss …«
Obwohl es unmöglich war, schienen sich die Gesichtszüge der Statue argwöhnisch zu verziehen. Deshalb fügte er hastig hinzu: »Nachdem ich sie beglichen habe, bringe ich dir ein Opfer im gleichen Wert zurück. Versprochen!«
Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, biss er sich auf die Zunge. Hoffentlich brachte ihm das leichtfertige Versprechen einer Gottheit gegenüber kein Unglück. Was, wenn in der Truhe ein Edelstein oder ein Goldbarren lag? Aber zurücknehmen konnte er seine Worte auch nicht mehr. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Ichrylis’ Gnade zu hoffen. Er kniete sich zu den Füßen der Statue und begutachtete die Schatulle, die zwischen den Opferschalen mit getrocknetem Lavendel und ausgebrannten Kerzen stand. Im Dunkeln konnte er das Familienwappen nicht genau erkennen, allerdings ertastete er eine Waage – eine Handelsfamilie also. Auf der einen Waagschale erahnte er den Umriss eines Schiffs und auf der anderen womöglich Hammer und Zange. Eine Handelsfamilie mit Werft und Schmiede? Er dachte an die Gondel, die er zuvor gesehen hatte, und grinste. Das war eine reine Goldgrube, die er da entdeckt hatte.
Trotzdem zögerte Lysos, als er den Deckel der Truhe anhob. Mit einem Blick zu Ichrylis hinauf versicherte er sich, nicht gleich vom Blitz oder einer anderen Strafe getroffen zu werden, und öffnete die Schatulle. Sein Herzschlag pulsierte bis in seine Fingerspitzen, als er sich darüber beugte und … nichts fand.
»Was sucht Ihr dort?«
Lysos fuhr herum und stürzte auf seinen Hintern, die leere Schatulle an seine Brust gedrückt. Vor ihm stand die Herrin des Hauses, da war er sicher, sobald er sie erblickte. Ihr kantiges Gesicht war umrahmt von schweren dunklen Locken, die er als lieblich bezeichnet hätte – wären da nicht der finstere Ausdruck und die Armbrust. Ihr Körper war eingehüllt in das nobelste Nachtgewand, das er je gesehen hatte, voller Rüschen und etlicher Lagen perlmuttfarbener Seide.
Lysos senkte den Blick auf ihre samtenen Pantoffeln. Er brachte keinen einzigen Ton mehr heraus. Irgendwann würden seine nächtlichen Erkundungstouren schiefgehen, hatte Käpt’n Xiafis ihn gewarnt. Und anscheinend war es soweit.
»Ihr seid eine Goldhand.«
Lysos zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe die Schatulle fallen ließ. Die Worte blieben ihm im Hals stecken und er brachte nur ein Stammeln heraus. Doch ehe er sich eine Lüge spann, fragte sie: »Gehört Ihr zu den Kindern der Oneia?«
Mit gerunzelter Stirn sah er auf und fand sich dem musternden Blick der Frau ausgesetzt. Sein Hals juckte.
»Ich hatte also recht, es geht Euch um mein Vermögen.«
»Ich weiß nicht –«
»Erspart mir die Ausreden«, unterbrach sie ihn. Sie hob die Armbrust an und Lysos zog den Kopf ein. »Ich habe Euren Freund die letzten beiden Male ziehen lassen, als er rumgeschlichen ist und um ein Gespräch mit mir bat. Ich hörte mir geduldig an, was er zu sagen hatte, und schickte ihn weg, obwohl ich die Stadtwache hätte rufen sollen.«
Sie rümpfte die Nase und drängte ihn einen Schritt zurück. »Nun entdecke ich erneut eine Goldhand in meinem Garten, die auch noch die Dreistigkeit besitzt, den Tempel zu entweihen. Das ist eine Beleidigung und diesmal werde ich nicht –«
»Einen Moment!«, rief er und rappelte sich auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du … wovon Ihr sprecht! Ich habe noch nie etwas von Oneias Kindern gehört und bin nicht deswegen hier. Es gibt keinen Grund, die Stadtwache zu rufen!«
Er stockte. Sie überragte ihn um einen halben Kopf und starrte auf ihn herab. Die Locken, der Blick, die angespannten Schultern wie die einer Stadtwache. Sie war wild. Alles an ihr war wild. Sie schien sich zu fürchten, ja, aber die Furcht gab ihr Kraft. Hatte er sich getäuscht? Konnte das eine feine Handelsdame sein?
»Ihr habt nichts mit den Kindern der Oneia gemein?«, hakte sie nach und hob die Augenbraue. »Was habt Ihr dann an der Opfertruhe dieses heiligen Ortes zu schaffen?«
»Sie war leer, noch bevor ich sie öffnete«, entgegnete Lysos. Er klappte die Schatulle zu und stellte sie zurück an ihren Platz. Ihm blieb keine Zeit mehr. Er wischte sich die schweißnassen Finger an seiner Hose ab, während er sich umsah. Sein Kragen schnürte ihm den Hals ein. Würde er fliehen können? Wie zielsicher war sie? Könnte er sie überrumpeln, bevor sie den Abzug drückte? Die Frau war größer als er und ob er kräftiger war, konnte er bei all den Stofflagen ihres Nachtkleides nicht sagen. So oder so würde sie ihm den Vorsprung nehmen, den er bräuchte, um eine Chance auf Flucht zu haben. Die Wachen standen bereit und bei seinem Glück würde er die Hunde aus ihrem Schlaf wecken.
»Wenn Ihr kein Kind der Oneia seid …«, sagte die Frau und trat einen Schritt auf Lysos zu. Er wich zurück, doch sie erwischte seinen Kragen. »Weshalb seid ihr mit Oneias Hand gezeichnet?«
Fluchend presste Lysos die Hand auf die wulstige Brandnarbe. Mit einer Goldhand ging niemand gut um, aber ein Verbannter hatte erst recht kein Mitleid zu erwarten. Das Metall der Armbrust bohrte sich in seinen Brustkorb. Sein Herz raste. Sollte er vorgeben, diesen Kindern der Oneia anzugehören? Er hatte noch nie von ihnen gehört. Überhaupt könnte er sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand einen solchen Schandnamen geben würde. Egal, wer oder was sie waren: So wütend wie die Handelsfrau klang, wollte und sollte er das besser nicht wissen.
»Ich schwöre bei Ichrylis, dass ich nichts mit ihnen zu tun habe!«, widersprach Lysos und hob die Hände. »Ich bin eine einfache Goldhand, die sich … aus Versehen in diesen Garten verirrt hat und sofort verschwinden wird und nie wieder zurückkommt.«
»Ach ja? Wer soll mir das garantieren? Eine Goldhand bricht in mein Anwesen ein, betritt den Haustempel, öffnet die Opfergabe. Und nun stellt sich heraus, dass diese Goldhand ein Verbannter ist, der nicht einmal einen Fuß auf das Festland setzen dürfte. Für mich klingt das nach einem Fall für die Stadtwache.«
»Halt!«, rief er. »Lasst uns handeln! Ja, handeln! Legt die Armbrust nieder, bitte, ich bin unbewaffnet. Bestimmt können wir uns einigen, auch ohne Lanzen und Waffen!«
Die Frau verzog den Mund. »Ich bezweifle, dass Ihr in der Position seid, mir einen Handel anzubieten. Wenn Ihr versucht, mich anzugreifen, habt Ihr einen Bolzen im Fleisch. Ihr werdet meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten, ansonsten lasse ich Euch von der Wache abführen.«
Das war definitiv eine Handelsfrau. Sie blickte auf ihn herab und überlegte sicherlich, wie sie den Profit aus ihm herauswringen konnte. Wahrscheinlich wollte sie ihn zu Schufterei in ihrer Manufaktur ohne Lohn erpressen. Er mochte unvorsichtig gewesen sein, aber er würde sich nicht von einer verwöhnten Handelsprinzessin knechten lassen.
Er senkte den Blick in gespielter Demut und echter Furcht. »Was kann ich für Euch tun?«
»Welche Gabe besitzt Ihr?«
Lysos sah seine Chance gekommen. Er streckte die goldenen Hände zur Seite, um seine Ringe zu präsentieren. Sie zuckte bei der Bewegung und für einen Moment befürchtete er, sie würde den Abzug drücken. Er hielt den Atem an, sie starrten sich an. Erst jetzt sah er, dass auch sie zitterte. Es musste das erste Mal sein, dass sie mit der Armbrust auf einen Menschen zielte. Wusste sie überhaupt, wie sie sie zu betätigen hatte? Auf die kurze Entfernung wollte er es nicht herausfinden.
»Es ist eine ganz besondere und profitable Gabe«, log er. »Sie führte mich an diesen wunderbaren Ort! Ich habe die Gabe des Findens von außergewöhnlichen und wertvollen Gegenständen und Orten. All diese Schmuckstücke zum Beispiel habe ich gefunden!«
»Finden nennt ihr es, wenn Ihr stehlt?« Sie musterte seine Hände, doch Lysos zog sie schon zurück und verschränkte sie hinter seinem Rücken. Sein Atem ging flach, als er einen Blick auf den gespannten Bolzen warf. Ein Fingerzucken und sein Herz wäre durchbohrt. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, der Frau ins Gesicht zu sehen und die Waffe zu ignorieren, die auf seinen Brustkorb drückte.
»Das ist nicht wahr! Ich habe sie gefunden – am Strand, im Kanal, in einer Gasse. Die Leute achten schlecht auf ihre Besitztümer und verlieren sie andauernd! Soll ich diese Schätze ungefunden lassen, verschollen auf ewig?«
»Dann findet Ihr Gesuchtes?«, wiederholte sie.
»Natürlich! Mit genug Zeit finde ich alles.«
Dass seine Gabe nicht so zuverlässig war, wie er behauptete, verschwieg er lieber. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal, wie genau seine Gabe funktionierte. Meist führte sie ihn zu Gegenständen oder Orten, die andere übersahen. Die wenigsten waren nützlich, geschweige denn suchte er danach. Oft funkelten sie aber schön. Er bemühte sich um ein vertrauenswürdiges Lächeln, dessen Wirkung er des Öfteren erprobt hatte.
»Ihr sucht nach etwas«, stellte er fest. Seine Stimme wankte und er räusperte sich. »Dann lasst mich einen Handel vorschlagen: Ihr sagt, was Ihr sucht, und ich bringe es euch in einer Woche genau hierher. Was es auch ist, ich finde es! Was meint Ihr?«
Lysos’ Herz schlug unruhig in seiner Brust, doch er bemühte sich um Gelassenheit. Furchen durchzogen die Stirn der Handelsfrau, während sie ihn musterte. Obwohl er in all diese Stoffe eingewickelt war, um seine Identität zu verschleiern, schien es ihm, als stehe er entblößt vor ihr. Seine Handflächen waren feucht und seine Finger juckten.
Endlich ließ sie von ihm ab, trat einen Schritt zurück und senkte die Armbrust. Seine Schultern fielen mit einem erleichterten Seufzen herab. Der Boden wankte wie auf See.
»Verratet mir, wo Ihr zu finden seid. Ich suche Euch morgen auf und übermittle meine Bedingungen des Handels.«
»Das hättet Ihr wohl gern!«, platzte es aus ihm heraus. Er richtete seinen Kragen und stellte sicher, dass sein Verbannungsmal diesmal verborgen blieb. »Ihr führt die Stadtwache zu mir, sobald Ihr das habt, was Ihr wollt!«
»Ihr bevorzugt es, jetzt abgeführt zu werden?«
Diese Tebane war lästig.
»Ihr müsst es mir nicht sagen«, meinte die Frau und zuckte mit den Schultern. Lysos gefiel ihr Blick nicht. »Ihr tragt Oneias Hand als Verbannungsmal, demnach werdet ihr Euch auf einem der Schiffe im Hafen aufhalten. Wenn Ihr nicht unvernünftiger seid, als Ihr erscheint. Von allen Schiffen im Hafen wird nur eine Handvoll Goldhände in ihre Besatzung aufnehmen. Und unter diesen Goldhänden wird es eine Leichtigkeit sein, einen Verbannten aufzuspüren. Also: Erspart mir die Suche und Euch den unnötigen Ärger mit der Stadtwache. Welches Schiff ist es?«
Sie korrigierte ihren Griff um die Armbrust und hielt den Finger weiterhin am Abzug. Nun zitterte sie nicht mehr.
»Fontyas«, antwortete er. »Das Schiff segelt unter Käpt’n Xiafis. Wir liegen im Handelshafen an Pier zwölf im östlichen Hafenteil. Kommt zur Morgenstunde, kurz vor Sonnenaufgang.«
Die Frau lächelte, selbstzufrieden. »Erfahre ich noch den Namen meines Geschäftspartners?«
»Lysos«, murrte er.
»Zyria«, entgegnete sie und reichte ihm die Hand. Die Armbrust blieb zwischen ihnen. Widerwillig nahm er an.
»Der Handel sei hiermit in die wohlwollenden Hände von Ichrylis gelegt und stehe unter dem Schutz der Heiligen Eveia.«
Er schnaubte. »Auf ein gutes Geschäft.«
Die Dämmerung war Lysos’ liebste Tageszeit. Für einige Momente blieb die Welt in warme Farben und Nebel gehüllt und er ein trunkener Schatten von vielen. Auf die Reling gestützt beobachtete er die Arbeit am Hafen und stellte sich vor, wie er mitten durch das Getümmel streifte. Tagsüber, nicht nur zwischen den schlafenden Häusern mit ihren roten Dächern.
Jede Menge Holzkonstruktionen, Lastenaufzüge und Karren halfen bei der Löschung der Handelsschiffe und dem Weitertransport in den Stadtkern. Zugegeben, der Hafen war wenig prunkvoll, ziemlich hässlich sogar. Das täuschte Neuankömmlinge anfangs, aber wer sich über den großen Kanal in die Stadt wagte, wurde eines Besseren belehrt: Die Häuser standen dicht an dicht, in rot, grün, orange und gelb gestrichen. Sie drängten sich bis an die Kanäle heran, die sich durch die Stadt schlängelten und ihr Verkehr und Kühle brachten. Teba war ein Irrgarten aus Sackgassen, Brücken und Gassen so schmal, dass nicht einmal er hindurchpasste. Und er liebte dieses Durcheinander.
Er seufzte und betrachtete zwei Hafenarbeiterinnen, die Ladung in eine Gondel umluden. Wenn er dort zwischen den Menschen hindurch schlenderte, das Herz hämmernd in der Brust, überlegte er manchmal, was er alles tun könnte. So als Tebanos. Dem Duft nach frisch gebackenem Strudel folgen und in einer Bäckerei Pistazienkuchen essen. Auf dem Markt herumschlendern, das Theater besuchen. In einem von Tebas prächtigsten Häusern wohnen.
Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Die Handelsfrau. Lysos knirschte mit den Zähnen. Er hatte nicht mehr an sie denken wollen. Nach ihrem Handel hatte sie ihn über eine andere Mauer verschwinden lassen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, die Nacht über durch Teba zu streifen und in seiner Stammtaverne vorbeizuschauen. Diesmal war er direkt zum Schiff zurückgekehrt und hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was diese Handelsdame von ihm wollte. Schmuck? Einen Schatz? Je nachdem würde er ihr das erstbeste bringen, was er fand oder besaß. Wenn es zu schwierig werden würde, hielt er sie hin, bis die Fontyas ablegte.
»Bisschen früh für so’n langes Gesicht.«
Er hatte nicht bemerkt, dass Sarlis an Deck gekommen war. Die alte Frau war eigentlich nicht so alt, wie sie aussah. Sonne und Meerwasser hatten ihr Haar ausgeblichen, sodass es hell war wie das von Lysos. Ihre Haut war ledrig von den Jahren auf See und ihre Schlaflosigkeit bescherte ihr die beeindruckendsten Augenringe, die Lysos je gesehen hatte. In jungen Jahren war sie als Matrosin angeheuert worden, nun kommandierte sie als erste Offizierin die Besatzung herum.
Sie lehnte sich an die Reling und schloss die Augen, um die salzige Brise zu genießen. Er tat es ihr gleich und zumindest für diesen Moment konnte er den Ärger ziehen lassen.
»Hatte dich später erwartet. Bist heut Nacht früh in die Kajüte gepoltert.«
Er zuckte und spähte zu Sarlis. »Hab ich dich geweckt? Tut mir leid.«
Sie winkte ab und stützte das Kinn auf eine Hand. Lysos hatte sich in seinen zehn Jahren auf der Fontyas mit unterschiedlichsten Besatzungsmitgliedern die Kajüte geteilt. Die schlaflose Sarlis war die angenehmste von ihnen. Zumindest, wenn sie nicht gerade die ein oder andere Nacht in Käpt’n Xiafis’ Kajüte verbrachte. Sie schnarchte nicht, plauderte mit ihm über anderes als die Arbeit und verurteilte seine verbotenen Erkundungen nicht. Mit ihr hatte er Gesellschaft, wenn er sie wollte, und Ruhe, wenn er sie brauchte.
»Hat sonst noch wer mitbekommen, dass ich weg war?«
»Alle wissen, dass du weg warst, selbst wenn sie dich nicht gehört haben. Als ob du eine Nacht ohne Ärger auskommst, sobald wir hier sind.« Sarlis stieß ein Lachen aus, das in ein kratziges Husten überging. »Wo hast du dich rumgetrieben? Warum der kurze Ausflug?«
»Bin wem in die Arme gelaufen …«
»Den Lanzenschwingern oder den Wasserratten?«
Er seufzte. »Eveias rachsüchtigem Geist.«
Allmählich zeichneten sich dunklere Schatten ab und der Morgen kündigte sich an, aber er sah die Tebane nicht.
»Hat Käpt’n Xiafis gesagt, ob ein neuer Auftrag reinkam? Oder wie lang wir anliegen werden?«
»Wir sind gerade erst angekommen, Junge. Zwei, drei Monate werden das sicher.«
Er grunzte. Hoffentlich wäre die Sache mit der Händlerin in weniger als einer Woche erledigt. Die schönsten Monate in Teba wollte er nicht vergeuden. Seine Finger kribbelten und ein Funkeln in seinen Augenwinkeln zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Beim Gondelhafen legte gerade der schwimmende Schatz an, den Lysos am Vorabend bei Zyrias Anwesen entdeckt hatte. Zwei, drei … vier! Vier Wachen begleiteten einen älteren Herren in einem dunkelgrünen Mantel voller goldener Stickereien. Als Letztes halfen sie einer Frau aus der Gondel. Ihr Umhang umspielte sie wie flüssiges Gold, als sie mit weiten Schritten zielsicher zur Fontyas ging. Obwohl sich alle Köpfe in ihre Richtung reckten, wandte sie kein einziges Mal den Blick von dem Schiff ab. Zyria war gekommen, pünktlich kurz vor Sonnenaufgang.
Sarlis pfiff. »Will die hierher?«
»Zu mir«, korrigierte Lysos und verzog den Mund. »Ich erklär’s dir später. Lässt du uns einen Augenblick allein?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn. »Brauchst du Hilfe?«
Für einen Moment überlegte er, ob er annehmen sollte. Er betrachtete Sarlis’ sonnenbeflecktes Gesicht, den ernsten Zug um ihren Mund und das Grau ihrer Augen. Er bemühte sich um ein Grinsen. »Ich glaube nicht. Bin bewaffnet mit meinem Charme und ein, zwei Notlügen.«
Obwohl Sarlis ihn durchschauen musste, nickte sie. »Ich bin in Rufweite, wenn was ist, ja?«
Er winkte ab, längst nicht so gelassen, wie er tat. Zwar hielt Zyria ihm keine Armbrust mehr ans Herz, dafür eine Handvoll Lanzen, die sich in Reih und Glied vor dem Laufsteg postierten. Wer war der alte Mann, der ihr folgte? Als er nähertrat, erahnte Lysos, dass es zumindest nicht ihr Vater war. Er war größer als Zyria, obwohl er mit Buckel ging, und sein Gesicht war langgezogen, die Nase gerümpft und die Mundwinkel tief in den Falten vergraben. Er ähnelte einer Dogge und Lysos fände das sympathisch, würde er ihn nicht in Grund und Boden starren.
Zyria befahl allen, zu warten. Als sie an Deck kam, streifte sie ihre Kapuze ab. Vor ihm stand eine wohlerzogene Handelstochter, die jegliche Wildheit vom Vorabend gebändigt hatte. Sie hielt den Rücken gerade, die Hände vor dem Bauch gefaltet und das Kinn gereckt. Ihre Locken waren mit einem perlenbesetzten Turban hochgebunden. Die Frau im Haustempel und die vor ihm hätten unterschiedlicher nicht sein können.
»Lasst uns ein Stück gehen«, meinte Zyria, noch bevor er etwas sagen konnte. Sie schlenderte zum Schiffsbug und er eilte hinterher.
»Ich dachte du … Ihr kommt allein?«
Sie fuhr mit der Hand über die Reling, als inspiziere sie den Zustand der Fontyas. Lysos rümpfte die Nase.
»Was soll der ganze Aufzug? Und die Wachen? Und wer ist der alte Mann, den du – Ihr noch mitgebracht habt? So war das gestern nicht abgemacht!«
»Wir haben auf einen Handel eingeschlagen und diesen Handel möchte ich absichern«, erwiderte sie. Sie blickte ihn an und hinter all der adretten Kleidung erkannte er doch das Funkeln in ihren Augen. »Deshalb die Wachen. Falls Ihr Euch umentschieden hättet und nicht aufgetaucht wärt, oder anderweitig versucht, mich zu betrügen. Und der alte Mann«, sie hob die Augenbraue, »ist der Notar meiner Familie. Ich konnte ihn nicht umgehen. Er ist hier, um den Handelsvertrag schriftlich zu beglaubigen.«
»Was habt Ihr ihm erzählt?«, zischte Lysos, sein Herz raste. »Dass Ihr Euch zu einem Handel mit einer Goldhand aufmacht, die Ihr gestern in Eurem Garten erwischt habt? Dass Ihr von dieser Goldhand was finden lassen wollt, von dem es gestern wirkte, als sei das nichts für die Öffentlichkeit?«
»Ich erkläre mich gleich«, meinte sie und wandte sich ihm zu. »Vorher möchte ich einen Beweis für Eure Gabe. Einen handfesten Beweis.«
»Und wie soll der aussehen?«, murrte Lysos und rieb mit den Fingern über seine Ringe.
Zyria streifte den Goldumhang ab und hängte ihn über die Reling. »Ich trage ein Medaillon bei mir. Findet es. Ihr habt einen einzigen Versuch. Wenn Euch diese einfache Aufgabe nicht gelingt, lasse ich Euch als Einbrecher und verbannte Goldhand verhaften.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Antworten konnte. Seine Handflächen wurden schwitzig, dass ihm seine Ringe beinahe von den Fingern rutschten. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, schlimmer als jede Seekrankheit, die er je gehabt hatte. Mehr ein Hauch als ein Lachen entkam ihm. Sie beobachtete jede seiner Gesten wie ein Adler auf Beutejagd.
Obwohl er inzwischen sicher war, dass Ichrylis ihn bestrafen wollte, bat er um Beistand. Einmal würden seine vermaledeiten Goldhände doch nach seinem Willen handeln. Nicht?
Nachdem er jeden Finger hatte knacksen lassen, streckte er seine Hände aus und bewegte sie wie Wünschelruten von oben nach unten. Eilig wanderte er von ihrem strengen Gesicht zum Kleid. Um ihren Hals konnte er keine Kette ausmachen. Wobei der Rüschenkragen ihres Unterkleides sicherlich genug Versteckmöglichkeiten bot, genauso wie die fülligen Ärmel. Wieder waren da etliche Schichten, in denen dieses Medaillon sich verbergen konnte. Sein Nacken kribbelte und eine merkwürdige Anspannung lag in der Luft. Diese Nähe schien ihm plötzlich intimer als alles, was er mit der Besatzung teilte. Wer hatte ihn je aufgefordert, den Körper mit seinen Händen zu erkunden? Gleichzeitig war es ihm, als hielte Zyria die Armbrust an sein Herz. Am liebsten wollte er die Hände zurückziehen und möglichst viele Schritte zwischen sie bringen. Er atmete aus und zwang sich zur Konzentration. Schließlich stand seine Freiheit auf dem Spiel.
Ihr Mantel war aus grüner Seide, wenn er sich nicht täuschte, mit eingewobenen Mustern und goldbestickten Säumen. Das Oberkleid war ebenso golden, Brokat vielleicht, der sicher mehr als Lysos’ Jahreslohn kostete. In die zwei Schnallen, die den Mantel zusammenhielten, war das Symbol der Opfertruhe eingraviert. Waagschalen mit einem Schiff und Handwerkszeug. Es juckte ihn in den Fingern, die Goldschnallen näher zu begutachten. Aber er fuhr fort, ging in die Knie und führte seine Hände bis zum Saum ihres Kleides. Als er am Boden angelangt war, ließ er die Schultern sinken.
»Nun?«
»Nun …« Lysos schickte ein letztes Gebet zu Ichrylis, schloss die Augen und streckte die Hände aus. Er würde ein Medaillon finden. Ohne Wissen darüber, wie es aussehen mochte. Ohne Wissen darüber, aus welchem Metall es gefertigt worden war. Ohne Wissen darüber, wie groß es wäre, ob oval, eckig oder rund. Die Ungewissheit bereitete ihm Sorge, doch sie machte ihm auch Mut. Er lauschte seinem Gefühl, bewegte die Finger, rieb an einzelnen Ringen, bis er ein Zwicken spürte. Der kleine Finger seiner linken Hand. Sein Kopf war mit einem Mal ruhig, allein sein Herzschlag hallte in seinen Ohren wider. Er folgte dem Gefühl, bewegte sich an Zyrias Seite. Zuerst glaubte er, seine Hände würden ihn zu ihrem Arm führen, doch das feine Ziehen in der Handfläche leitete ihn höher, zu Zyrias Kopf. Er zitterte, ob vor Aufregung oder Sorge war in diesem Moment einerlei. Ihre Locken kitzelten seine Finger, als er nach dem Turban griff und seine Finger darunter führte. Dann spürte er eine metallene Kette. Das Medaillon.
Wie nach einem langen Tauchgang schnappte er nach Luft und riss die Augen auf. Er taumelte und hielt das Schmuckstück in die Höhe.
»Es ist Euch gelungen«, murmelte sie und klang dabei längst nicht so überrascht wie sich er fühlte. Es war ihm gelungen. Seine Gabe hatte ihn zum Medaillon geführt. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte! Ein Glucksen entkam ihm.
Mit den Fingern fuhr er über das Silber. In die Vorderseite waren blasse Steine eingefasst, in denen sich das Sonnenlicht brach. Auf der Rückseite war ein verschnörkeltes Z eingraviert. Seine Finger führten ihn zum Verschluss, doch bevor er es öffnen konnte, zog Zyria ihm das Schmuckstück aus der Hand.
»Nachdem Ihr offensichtlich Wort halten könnt, werde ich meines halten und meine Bitte vortragen.«
»Bin gespannt.«
Mit verschränkten Armen lehnte er sich an die Reling. Ihr Blick glitt an ihm vorbei, hinaus aufs Meer.
»Ich möchte eine Person finden«, sagte sie. »Die Person, der dieses Medaillon rechtmäßig gehört. Sie brach zu einer Reise auf und kehrte nie zurück, obwohl sie es mir versprach. Könnt Ihr sie finden?«
Er rümpfte die Nase. All dieser Aufwand und es ging ihr nicht einmal um einen Schatz oder ein edles Metall, sondern einen … Menschen? Zyria presste die Lippen zusammen und sah ihn an. Plötzlich war da Schmerz in ihrem Blick, unter all der Würde und Strenge verborgen. Er wich ihr aus.
»Nun ja, ich habe noch nie einen Menschen gesucht. Ich weiß ehrlich gesprochen nicht, ob ich das kann. Ich habe Gegenstände gefunden. Manchmal geriet ich an Menschen, die mir halfen. Aber einen Menschen anhand eines Gegenstandes habe ich nie gesucht oder gefunden –«
»Ich habe etwa zwei Monate Zeit«, unterbrach sie ihn. »Offiziell rekrutiere ich für eine Handelsreise durch das Lyr’sche Meer. Das heißt, wir fahren allerlei Inseln ab. Ich weiß, wohin die Person zuerst gereist ist, danach brauche ich Hilfe, um Spuren zu finden.«
»Das ist selbst für die Fontyas kaum zu schaffen! Die Rundreise allein dauert über zwei Wochen und das bei gutem Wind! Jetzt zum Sommer hin sind die Winde träge, wir müssten mit einem Monat Reisezeit rechnen. Und wenn wir erst jede Insel absuchen müssen, um die Person zu finden …«
»Ich bitte Euch. Ich habe nur diese eine Chance.«
»Ich weiß nicht«, murmelte er und rieb sich den Nacken. Sein Hals juckte und er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Zyria nestelte an ihren Fingern, während ihr Blick Lysos durchbohrte.
»Ich kann Euch für Einbruch, versuchten Diebstahl und unerlaubtes Betreten der Insel verhaften lassen.«
Lysos lachte auf. Die Dreistigkeit dieser Handelsdame nahm kein Ende! Obwohl ihre Worte ihn beunruhigten, braute sich zischende Wut in seiner Brust zusammen. Seine Wangen glühten und er ballte die Fäuste.
»Erpresst Ihr mich etwa? Ich habe Euch nichts getan – und nichts gestohlen, wohlbemerkt – und Euch bewiesen, dass meine Gabe wirkt. Nun verlangt Ihr das Unmögliche von mir und denkt, mit einer Lanze am Hals würde ich es möglich machen können?« Er verzog das Gesicht und warf die Arme in die Luft. »Ihr seid genau wie all die anderen Handelsleute. Nur zu, lasst mich verhaften. Das wird Euch bei Eurer Suche auch nicht helfen! Aber geht, wenn Ihr es so wollt.«
Kaum merklich zuckte sie zurück. Doch sie war eine Handelsdame und hatte sich bald wieder gefasst. Furchen gruben sich über ihre Stirn, während sie ihre Hände rang.
»Ist es wirklich unmöglich, was ich von Euch verlange? Oder ist es nur ein hoher Aufwand?«
Lysos schnaubte und wich ihrem Blick aus. Die Wut blieb, aber das Schaukeln der See besänftigte ihn. Er zuckte mit den Schultern. »Unmöglich vielleicht nicht. Ihr verlangt ja nicht, dass ich Euch zu Ichrylis führe. Trotzdem ist eine Rundreise in zwei Monaten für die gesamte Besatzung ein immenser Kraftakt und für die Fontyas ebenso. Und wie ich sagte, ich kann Euch nicht versprechen, dass ich Hinweise auf Eure gesuchte Person finde. Auf diese Weise habe ich meine Gabe nie genutzt.«
»Wärt ihr bereit, diesen hohen Aufwand für eine hohe Entlohnung auf Euch zu nehmen?«
»Wie hoch?«
»Wenn Ihr mir helft, bringe ich Euch eine Goldhand, die Oneias Hand an Eurem Hals entfernen kann.«
Er riss die Augen auf. »Ist das … ist das möglich?«
»Ich kenne eine Goldhand, die das könnte.«
Wenn sie log, dann verbarg sie es meisterhaft. Sie erwiderte seinen Blick, ihre Hände waren ruhig und die Schultern nicht angespannter als zuvor. Allerdings war sie eine Händlerin, die des Öfteren sicher die ein oder andere Halbwahrheit erzählte. Wollte er sich darauf einlassen?
Das war eine hohe Entlohnung. Ohne Oneias Hand wäre er endlich frei, an Land zu gehen, anzukommen. Allein bei dem Gedanken daran pulsierte sein Herzschlag vom Scheitel zu den Zehen. Wollte er sich diese Hoffnung auf ein besseres Leben entgehen lassen? Seine Finger kribbelten und er sagte: »Gut. Wir haben einen Handel. Unter einer Bedingung.«
»Herrin Zyria!«, bellte mit einem Mal eine Stimme übers Deck. Der Notar stapfte rotwangig auf sie zu und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Herrin Zyria! Was braucht Ihr so lang? Ich dachte, Ihr wolltet nur einen Burschen befragen.«
Lysos bemerkte die Veränderung in Zyrias Haltung sofort. Sie griff nach ihrem Umhang und band ihn sich um, als kümmere der eindeutig unhöfliche Tonfall des Notars sie nicht.
»Darum ging es gerade. Dieser Bursche heißt Lysos, er –«
»Ich bin Navigator«, unterbrach er sie. »Ich bin Lysos, langjähriger Navigator der Fontyas. Eure Herrin lag ganz richtig damit, nach meiner Einschätzung für die Route zu fragen. Es ist eine sehr ambitionierte Reise, die unsere erfahrene Besatzung mühelos bewältigen wird. Vorausgesetzt, Ihr leistet eine angemessene Wartung. Das ist aber an Käpt’n Xiafis zu verhandeln.«
Ihre Augenbraue zuckte, als sie ihn bestimmt einer Lüge verdächtigte. Oh, er würde ihr ihre unhöflichen Worte heimzahlen und ihr beweisen, dass sie sich in ihrer Voreingenommenheit einer diebischen Goldhand gegenüber getäuscht hatte. Zyria räusperte sich, die Mundwinkel verzogen.
»Ich danke für Eure Einschätzung. Ich darf vorstellen? Lysos, das ist unser Familiennotar Rydatis.«
»Ich fühle mich geehrt«, erwiderte Lysos und grinste.
Rydatis schnaufte – auf eine Art, die Lysos vertraut wirkte. Er musterte das doggenhafte Gesicht des Notars und versuchte, sich zu erinnern, ob sie sich schon einmal begegnet waren. Beim Würfelspiel? Im Freudenviertel?
»Ja, worauf wartest du, Bursche?« Der Notar gestikulierte in Richtung des hinteren Decks. »Führ uns zum Kopf dieses Schiffes!«
»Sofort?«
»Ja, was glaubst du, warum wir hier sind, Bursche?«
Ein unangenehmer Geselle, dieser Notar. Lysos drehte seine Ringe. Aber nicht so unangenehm wie Käpt’n Xiafis vor Mittag. Ob Xiafis überhaupt wach war?
Ehe er sie vertrösten oder anderweitig Zeit schinden konnte, sagte – oder befahl – Zyria: »Lysos wollte mich gerade zu ihm führen, Notar Rydatis.«
Sie lief voraus, als gehöre ihr das Schiff. Lysos fluchte und eilte neben sie.
»Nicht jetzt«, zischte er, während sich der Notar schnaufend bemühte, aufzuholen. »Wir waren noch nicht fertig.«
»Ihr wolltet mir Bedingungen nennen. Dabei ist es, wie Ihr soeben zu Recht sagtet, die Aufgabe Eures Kapitäns, dies zu tun.«
Dachte sie etwa, sie habe ihn ausgetrickst? Er rümpfte die Nase. Genau deswegen hasste er die Handelsleute.
* * *
Unter Deck wartete Sarlis und unterhielt sich mit zwei verschlafenen Besatzungsmitgliedern. Sie hielt inne und musterte erst Zyria und ihren Notar, dann sah sie zu ihm.
»Ist Käpt’n Xiafis wach?«, fragte Lysos.
Der Ärger über Zyria klang angesichts des weitaus schlimmeren Gesprächs mit Xiafis ab. Sarlis’ Kopfschütteln machte ihm nicht gerade Mut. So früh am Morgen war die Luft unter Deck abgestanden und zäh wie Honig. Er spürte die drängenden Blicke des Notars wie eine Schweißperle seinen Rücken entlangwandern. Als sie vor der Tür zu Xiafis’ Kabine standen, klopfte er. Ein weiteres Mal. Ein letzter Versuch, dann rief er: »Käpt’n? Ich muss mit dir sprechen. Es ist dringend. Bist du … wach?«
Etwas schlug so hart von innen gegen die Tür, dass er vor Schreck zurück stolperte. Offensichtlich war Xiafis da – und mies gelaunt.
Er räusperte sich. »Hier ist eine Handelsdame, die die Fontyas anheuern möchte. Eine große Reise mit viel Lohn!«
»Bei Ichrylis, Lysos, die Sonne ist nicht mal auf!«
Er hielt den Mund. Selbst als Rydatis ihn anstieß und aufforderte, nochmals nach Xiafis zu verlangen. Der Notar wäre wohl allein in die Kabine gestürmt, hätte sich die Tür in dem Moment nicht geöffnet. Xiafis streckte den Kopf raus. Das ergrauende Haar war in Eile mit einem Turban zurückgebunden worden.
Xiafis musterte erst Zyria, dann den Notar und rümpfte die Nase. »Kommt herein.«
Zu einer anderen Tageszeit hätte Lysos Käpt’n Xiafis’ Kajüte als gemütlich beschrieben. Der Raum war nicht sonderlich groß und vollgestellt, aber imposant genug für die wichtigste Person auf der Fontyas. Die Koje verbarg sich hinter einem edel bestickten Vorhang, damit es zumindest den Anschein hatte, dass Käpt’n Xiafis nicht erst aus den Laken gestiegen war.
Xiafis ließ sich hinter den massiven Schreibtisch auf den Sessel fallen. Lysos war sicher, dass er ähnlich wie Zyrias Gondel ein reiner Ausdruck von Handwerkskunst und Vermögen war. Bequem war der Sessel allerdings nicht, das hatte er heimlich ausprobiert. Zyria und der Notar nahmen auf der Sitzbank gegenüber Platz, zwischen bunt gemusterten Kissen.
Von Büchern über teure Stoffe, Kunstwerke aus Vea und getrocknete Pflanzen aus Maga. Wer in diese Kajüte trat, wusste, dass die Fontyas ein erfahrenes Handelsschiff war. Es erfüllte Lysos mit Stolz und Genugtuung zu sehen, wie Zyria ihre herablassende Art in diesem Zimmer ablegen musste.
»Nun?« Xiafis verschränkte die Arme vor der Brust.
»Käpt’n, darf ich vorstellen? Das ist … Herrin Zyria und ihr Notar Rydatis. Herrin Zyria, das ist Käpt’n Xiafis.«
Zyria deutete eine Verbeugung an und ihr Notar folgte.
»Sehr erfreut, Herr –« Sie stockte und Lysos bemerkte, wie sie Käpt’n Xiafis eindringlicher musterte. »Entschuldigt. Frau …?«
»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte Käpt’n Xiafis und winkte ab. »Käpt’n ist die richtige Anrede. Xiafis mein Name. Und nach Eurem Aussehen habt Ihr einen Familiennamen oder trügt das ganze Gold?«
Daran hatte Lysos nicht gedacht, natürlich! Er hatte zwar das Familienwappen und die prunkvolle Villa gesehen, aber vor lauter Ärger mit Zyria hatte er sich nie gefragt, ob sie nicht zu einer der Gründungsfamilien gehörte.
»Yplois. Meine Familie betreibt die älteste Werft und Schmiede Tebas und beliefert das gesamte Lyr’sche Meer.«
Xiafis und Lysos tauschten einen Blick aus, wobei Xiafis’ Augenbraue weit nach oben wanderte wie zur Frage: Was hast du angestellt? Sein Mund war ausgetrocknet. Alle kannten die Familie Yplois, ja, die halbe Insel arbeitete in ihren Werften, Schmieden und Manufakturen. Tatsächlich hatten Lysos’ Hände ihn zu einem wahren Schatz geführt.
»Ich möchte die Handelsbeziehungen meiner Familie erweitern und eine Rundreise unternehmen. Allerdings kann ich nicht lang fortbleiben von meinem Schreibtisch, weshalb ich ein schnelles und erfahrenes Schiff benötige. Wie Euer«, Zyria spähte zu Lysos, »Navigator meinte, mache die Besatzung der Fontyas ihrem Ruf alle Ehre.«
Xiafis verbarg es gut, doch ihm entging das Zucken der Augenbraue nicht, das sonst den Anfang der Schimpftirade markierte, die Lysos nach seinen nächtlichen Erkundungen erhielt. Xiafis lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Wann möchtet Ihr abreisen?«
»So bald als möglich. In jedem Fall vor Ende des Monats.«
»Das geht nicht«, entgegnete Xiafis und rümpfte die Nase. »Wir haben vor wenigen Tagen angelegt, mein Schiff ist noch mit Ware beladen. Die Besatzung hat gerade ihren Lohn erhalten und ist bei ihren Familien. Wir brauchen eine anständige Wartung und erwarten eine Lieferung neuen Tauwerks. Beides soll nicht vor Ende des Monats geschehen.«
»Ich sehe darin kein Hindernis.«
Wenn es nicht ausgerechnet aus ihrem Mund käme, hätte er Bewunderung für eine solche Macht empfunden.
Xiafis verzog den Mund. »Mit Verlaub, ich müsste meine Ware schnell und deswegen unter Wert verkaufen. Das wäre ein Verlustgeschäft von rund zweihundert Sigion. Dazu kommt die Entschädigung für meine Besatzung, vorausgesetzt, ich kann alle von ihnen anheuern. Wenn nicht, bräuchte ich zusätzliche Seeleute. Ich müsste Aufpreis für Werft und Taue zahlen und –«
»Ich verstehe und ich entschädige Euch für diesen Aufwand«, unterbrach Zyria Xiafis. »Ich fürchte, Ihr unterschätzt sowohl den Namen Yplois als auch Euren Ruf und meinen Entschluss, Euch zu beauftragen. Die Fontyas verzeichnete in den letzten Jahren die geringsten Verluste an Waren und Menschen. Außerdem seid Ihr das einzige Schiff in Tebas Hafen, das keiner Reederei untersteht. Und Eure Neutralität ist mir viel wert. Ich habe wenig Interesse daran, konkurrierenden Familien Einblicke in unsere neue Handelsstrategie zu ermöglichen.«
Zyria streckte die Hand aus und der Notar gab ihr sichtlich widerwillig eine Ledermappe. »Meine Entscheidung steht, Käpt’n. Fällt Eure. Ich reiche Euch mein Angebot.«
Sie öffnete die Mappe und Lysos bemerkte, wie dabei ein kleinerer Zettel aus ihrem Ärmel rutschte und sie ihn versteckt mit den anderen Dokumenten an Käpt’n Xiafis übergab.
»Besteht Verhandlungsbasis?«, hakte Xiafis nach und der Notar stieß hörbar die Luft aus. Zyria hob eine Hand, um ihn zurückzuhalten.
»Lest es euch durch. Findet Ihr etwas zu Eurer Unzufriedenheit, bin ich gewillt, einen Gegenvorschlag anzuhören.«
Käpt’n Xiafis nahm sich Zeit, das Dokument zu studieren. Unterdessen drehte Lysos an seinen Ringen und betrachtete Zyria und ihren Notar. Wer war diese Person, die sie derart dringend suchte, dass sie Verlustgeschäfte in Kauf nahm? Oder war diese Person wertvoller als mehrere hundert Sigion? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er war Navigator und Goldhand, aber sicherlich würde niemand so viel Geld für ihn aufwenden. Genauso wenig würde er das tun, wobei er auch keine hundert Sigion besaß.
»Ich nehme an«, verkündete Xiafis schließlich. »Unter der Bedingung, wie wir sie mündlich vereinbart haben. Ihr gleicht mein Verlustgeschäft aus, zahlt meiner Besatzung eine Entschädigung und kümmert Euch um eine schnelle und hochwertige Wartung meines Schiffs.«
»Selbstredend. Lasst uns den Handel unverzüglich nach den Richtlinien der Heiligen Eveia geltend machen.«
Der Notar schwitzte fürchterlich, seine Wangen waren von roten Flecken überzogen, als koche all der Widerspruch ihn von innen. Aber vor seiner Herrin schwieg er und machte seinem Ärger anderweitig Luft. Geräuschvoll kramte Rydatis in einem Beutel, zog eine Schatulle hervor und reichte Zyria den Siegelring darin.
Und was für einer! Lysos drehte an seinen eigenen Ringen. Der Schatz war bestimmt schwerer als all sein Schmuck. Sie steckte sich ihn an, ehe der Notar ein kleines Gefäß aus seinem Beutel an sie weiterreichte.
Üblicherweise nahm Sarlis als erste Offizierin an Handelsabschlüssen teil. Lysos hatte eine Handvoll dieser Prozedere verfolgt und so war er trotz Wut auf Zyria fasziniert von der Art, wie sie sich gebärdete. Es schien wie ein Ritual, heiliger als zu Ichrylis’ Ehren – schließlich ging es um mehrere Truhen voll Geld.
Zyria nahm ein Gläschen an und tunkte ihren kleinen Finger hinein. Sie bedeckte ihre Lippen mit dem flüssigen Gold und für einen Augenblick sah Lysos in ihr die Heilige Eveia aus den zahlreichen Ikonen, die sie am Straßenrand und in den Tempeln verkauften. Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn, als wäre das ganze Gold in Turban, auf den Lippen und in den Stickereien ihrer Kleider nicht einschüchternd genug.
Der Notar räusperte sich: »Ich, Notar Rydatis, beglaubige im Dienste der Familie Yplois die Handelsmächtigkeit der hier anwesenden Zyria, einzige Tochter der Familie Yplois.«
Die Ledermappe mit zwei identischen Vertragsblättern zwischen ihnen streifte sich Xiafis den Siegelring über und erhob sich. »Mein Zeuge wird Lysos sein, Navigator und Mitglied der Fontyas.«
Das Gold auf Zyrias Lippen glänzte, als sie sprach: »Ich schwöre bei der Heiligen Eveia, dass dieser Handel ehrbar und ehrlich ist. Und dass dieser Handel weder dem Wohlstand Tebas noch dem seiner Bewohnerinnen und Bewohner schadet. Ich beauftrage hiermit die Besatzung der Fontyas, mich auf einer Handelsreise zu begleiten und ihr Schiff für den Transport der Ware zur Verfügung zu stellen. Dafür garantiere ich eine angemessene Entschädigung und Versorgung vor, während und nach der Fahrt.«
Sie nahm eine Feder von ihrem Notar entgegen und unterzeichnete die Dokumente. Dann träufelte Rydatis Wachs darunter und sie drückte ihren Siegelring hinein.
»Im Namen der Besatzung der Fontyas nehme ich diesen Handel an«, erwiderte Xiafis. »Und als Käpt’n garantiere ich, dass sich die Besatzung einer ehrbaren und ehrlichen Durchführung des Handels verpflichtet. Insofern die mündlich versprochenen Leistungen gegeben sind, verzichte ich auf weitere Forderungen.«
Nach der Unterschrift drückte Xiafis den Ring in das Wachs. Zuletzt unterschieb der Notar auf Zyrias Seite und Xiafis forderte Lysos auf, ebenfalls zu unterzeichnen. Er drehte die Feder und beobachtete, wie sich der Tropfen Tinte an der Spitze sammelte, darauf wartend, dass er das Papier berührte. Er hatte sein Recht auf Widerspruch verwirkt, das war ihm bewusst. Nicht zu unterschreiben würde nicht nur den Zorn des Notars beschwören, sondern Xiafis bloßstellen. Im schlimmsten Falle würde Zyria die Lanzen rufen und ihn verhaften lassen.
Er spähte zu ihr und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. In ihren Augen spiegelte sich Kerzenschein, die ihn an eine glühende Lunte auf ihrem Weg zum Pulverfass erinnerte. Wenn er dieses Dokument unterschrieb, musste er Wort halten und finden, was sie verlangte. Konnte er das? Was drohte ihm, wenn nicht? Was erwartete ihn, wenn doch? Ein Leben in Freiheit, ohne Oneias Hand am Hals. Ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz, das nicht zu seinen Gunsten stand. Aber hatte ihn das jemals davon abgehalten, die Würfel trotzdem zu werfen?
Lysos hinterließ einen Fleck neben dem ersten Schwung seines Namens. Er spürte Xiafis’ Augen auf, während er die Feder abwischte.
Zyria streckte die Hand aus. »Der Handel sei hiermit in die wohlwollenden Hände von Ichrylis gelegt und stehe unter dem Schutz der Heiligen Eveia.«
Xiafis nahm die Hand an. »So sei es.«
Nachdem der Handel abgeschlossen war, machte sich der Notar daran, die Mappe einzusammeln. Xiafis nahm die eigene Vertragsabschrift an sich.
»Seht zu, dass Ihr mit Euren Warenkisten kein Aufsehen erregt und denkt nicht daran, günstige Arbeitskräfte vom Hafen anzuheuern, sonst ist all Eure Geheimniskrämerei umsonst. Ich kümmere mich um vertrauenswürdige Leute für den Transport, wir wollen ja keine Piraterie oder Sabotage riskieren. Und«, Xiafis tippte sich auf die Lippen, »wischt das weg, bevor ihr dieses Schiff verlasst. Ich erwarte Euch erst zur Abreise. Das Datum erfahrt Ihr von meiner Korrespondenz.«
»Ich vertraue auf Euren Rat.« Zyria und ihr Notar deuteten eine Verbeugung an und Lysos wollte sie an Deck begleiten.
Da hielt Xiafis ihn auf: »Die Gäste finden selbst vom Schiff.«
»Natürlich, Käpt’n«, seufzte er.
Der Höflichkeit halber neigte er auch vor Zyria den Kopf, nicht tiefer als nötig.
»Nicht einmal ein Dank«, brach es aus ihm heraus, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich bin Navigator, verdammt, ein bisschen Respekt kann ich verlangen! Tebane durch und durch!«
»Und woher in Ichrylis’ Namen kennst du diese Tebane?«
Käpt’n Xiafis verzog den Mund und beugte sich über den Schreibtisch. Als er schwieg, schnellte Xiafis’ Faust herab und donnerte mit so einer Wucht auf das Pult, dass ein Tintenfass wankte. Er zuckte, den Kopf gesenkt. Bei jeder Standpauke entdeckte er neue Details in den geschnitzten Verzierungen des Schreibpultes: mal einen Delfin zwischen den Wellen, eine Figur am Steuerrad eines Schiffs oder Ichrylis’ Hände aus dem Himmel ragend.
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass dich deine Eskapaden eines Tages deinen Kopf kosten werden? Treib dich meinetwegen in den Hafenspelunken herum, da kümmert sich niemand um einen verlorenen Streuner wie dich! Was fällt dir ein, in dieses Viertel zu gehen?«
»Es tut mir leid, Käpt’n.«
Er spürte, wie sich die Röte bis in seine Ohrenspitzen ausbreitete. Er war ein Erwachsener, mehr als zwanzig Jahre alt, die Hälfte seines Lebens auf dem Schiff, inzwischen Navigator – und trotzdem wurde er ausgeschimpft wie der Bengel von damals. Er wollte wütend werden, aber das traute er sich nicht. Und Käpt’n Xiafis hatte ja recht, das wusste er. Nur … was blieb ihm anderes übrig?
Ähnlich schnell wie die Ebbe zog sich Xiafis’ anfängliche Wut zurück. Mit verschränkten Armen lehnte sich Xiafis in den Sessel und deutete nickend in seine Richtung. »Du hast dich also davongeschlichen.«
Keine Frage, keine Feststellung, sondern der Anfang der Geschichte, die er weiterführen sollte. Er versuchte gar nicht erst, sich herauszureden, das würde den brodelnden Ärger nur wieder hervorrufen. Also erzählte er: »Ich habe in einem Garten Schutz vor den Lanzen und Wasserratten gesucht. Ich wusste nicht, wem dieser Garten gehörte.«
»Es soll Zufall gewesen sein, dass du dich ausgerechnet im Garten einer der reichsten und vor allem einflussreichsten Familien versteckt hast?« Xiafis hob eine Augenbraue. »Du hast das weder gewusst noch bemerkt oder anderweitige Hintergedanken gehabt?«
»Es war Zufall! Allzu oft bin ich nicht in diesen Vierteln. Ich kam nicht am Hauseingang vorbei, sondern von einer Seitengasse. Dort schien es mir wie jedes andere wohlhabende Anwesen. Meine Hände haben mich geführt. Als ich gehen wollte, stand sie da. Im Nachtgewand mit einer Armbrust, stell dir vor!«
Er senkte den Kopf, in Erwartung, angeschrien zu werden. Aber Xiafis nahm einen Atemzug, dann einen zweiten und fragte: »Wieso hat sie dich gehen lassen?«
»Sie wollte von meiner Gabe wissen. Ich erzählte ihr davon und sie meinte, sie suche etwas. Wenn ich es für sie fände, würde sie mich nicht bei den Lanzen melden, behauptete sie.«
»Sie sucht etwas?« Xiafis furchte die Stirn.
»Jemanden«, korrigierte Lysos. »Sie hat mir ein Medaillon gezeigt, nicht mehr gesagt. Ihr Notar weiß wohl nichts davon und dieser ganze Handel hier soll die Suche verheimlichen.«
»Deshalb also diese Notiz.«
»Was stand denn drauf?« Er wagte sich einen Schritt näher.
»Nur, dass sie nicht frei reden kann und der eigentliche Vertrag vertraulich ausgehandelt werden soll.«
Xiafis ließ den Nacken kreisen, bis es knackste und erhob sich aus dem Sessel.
»Nun gut, wir haben einen neuen lukrativen Auftrag und eindeutig die Oberhand in der Aushandlung um die Suche.«
»Dann …«, setzte Lysos vorsichtig an. »Dann profitieren wir hiervon? Meine Goldhände haben uns zu einem kleinen Schatz geführt.«
Sein Lächeln verblasste, sobald Käpt’n Xiafis seinen Blick erwiderte. »Du schrubbst bis zu unserer Abfahrt das gesamte Deck, die Latrinen und kümmerst dich um die Dreckwäsche. Und wenn ich dich auch nur einmal von Bord schleichen sehe, schrubbst du die ganze Reise über. Haben wir uns verstanden?«
Lysos verzog den Mund und salutierte. »Aye, Käpt’n.«
Lysos’ Finger waren so aufgequollen und wund, dass er bezweifelte, jemals wieder einen Kompass halten zu können. Das hatte Käpt’n Xiafis davon, ihn tagein, tagaus putzen zu lassen als wäre er Matrose. Seine Schultern und Knie schmerzten und seine Haut brannte von der Sonne. Seit zwei Wochen tat er nichts anderes mehr: schrubben, Latrine reinigen, Wäsche waschen, schrubben, reinigen, waschen.
Er legte sich auf das Deck und starrte in den tintenblauen Abendhimmel. Ichrylis’ Licht strahlte am Nordhimmel hell wie der Mond. Für einen Moment waren Ärger und Schmerzen vergessen. Die Sterne waren das Einzige, von dem er auf See nie genug bekam. Sie begleiteten ihn, leiteten zuverlässig den Weg und veränderten sich gleichzeitig jedes Mal. Ein plötzlicher Sternenschauer. Ein Stern, der eines Nachts aufleuchtete und in der Nächsten verschwand.
Lysos streckte die geschundene Hand aus und reckte sie, dass er mit Daumen und Zeigefinger zwei Seiten des Lyr’schen Dreiecks umfasste. Die Sternkonstellation östlich von Ichrylis’ Licht lag tief und noch nicht so hell wie andere Sterne zu dieser Jahreszeit. Das Dreieck war nicht sein liebstes Sternbild, doch für die Navigation essenziell. Deshalb prüfte er jede Nacht, ob er die Sterne wiederfand. Es mochte ein Aberglaube sein, aber er wollte nicht riskieren, dass ihre nächste Reise zu einer Irrfahrt wurde. Er hatte ja nicht einmal einen genauen Plan davon, wohin es gehen sollte. Eine verschollene Person im Lyr’schen Meer suchen … wie sollte er das anstellen?
Zyria hatte erste Kisten mit Waren und Proviant liefern lassen und Handwerksleute geschickt, die kleinere Mängel ausbesserten. Selbst neues Tauwerk für die Takelage hatte sie spendiert. Wer konnte einer Tebane wie ihr, einer kaltherzigen Löwin so wichtig sein, dass sie einen Handel mit einer Goldhand einging und sich auf eine unbestimmte Reise machte? Waren es Schulden, die sie eintreiben wollte? Diese Arbeit verrichtete sie sicher nicht selbst. Dann … war es die Liebe? Die Handelsleute, die er bisher getroffen hatte, hatten nicht mehr Emotionen gezeigt als die Porträts und Büsten, die sie von sich hatten anfertigen lassen. Aber in Zyrias Augen, da war etwas gewesen … etwas anderes, etwas Lebendigeres. Ein Funke.
Lysos stieß einen tiefen Seufzer aus und rieb sich das Gesicht. Er dachte viel zu viel über sie nach. Er war dem Galgen entkommen und das war die Hauptsache. Wen auch immer sie suchte, es hatte nichts mit ihm zu tun. Zwei Monate, dann wäre er frei. Ein wahrhaftig freier Mann! Wenn sie ihr Versprechen hielt und ihn von Oneias Hand erlöste …
Der Gedanke daran füllte ihn mit einer ungemeinen Vorfreude. Seine Fingerspitzen kribbelten und für einen Moment verklang die Müdigkeit. Was er alles anstellen würde! Die übrigen Abende war er zu müde gewesen, um sich in die Stadt zu wagen. Manchmal hatte er darüber nachgedacht und als habe er sie damit heraufbeschworen, waren Xiafis oder Sarlis aufgetaucht, um ihm eine Aufgabe zu übertragen.