Paranoia - Viktor Martinowitsch - E-Book

Paranoia E-Book

Viktor Martinowitsch

4,7

Beschreibung

Ein totalitäres Regime im Osten Europas. Der junge Schriftsteller Anatoli lebt relativ unbehelligt - bis die geheimnisvolle Jelisaweta in sein Leben tritt, mit der er eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Doch plötzlich ist Jelisaweta spurlos verschwunden und Anatoli wird vom allmächtigen Geheimdienst zum Gespräch gebeten. Einige Verhöre später löst sich die Grenze zwischen vermeintlicher Realität und Geheimdienstprosa auf. Die Paranoia schlägt zu. 'Paranoia', ein hochspannender politischer Thriller und eine tragische Geschichte von Liebe und Verrat, wirft nicht zuletzt ein Schlaglicht auf die Mechanismen eines totalitären Staates dreißig Jahre nach 1984. Mit einem Nachwort von Timothy Snyder.

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Sonar 14

Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Martinowitsch machte als russischsprachiger Autor von sich reden, mit seiner Erzählung »Tabu« und besonders mit dem Roman »Paranoia«, der in Belarus verboten wurde und 2013 auf Englisch erschienen ist. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis. Seine Räuberpistole »Sphagnum« stand auf der Longlist für den russischen National Bestseller Prize 2013.

Sonar 14

Originaltitel: Паранойя, erschienen bei AST, Moskau und Astrel’, St. Petersburg 2010

© Viktor Martinowitsch, 2009

»In Darkest Belarus« by Timothy Snyder

From The New York Review of Books

Copyright © 2010 by Timothy Snyder

Gekürzte Fassung auf Deutsch erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 24-26/2011

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflage 2014

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2014

© by Verlag Voland & Quist OHG

Umschlaggestaltung: HawaiiF3, Leipzig

Korrektorat: Jan Freunscht, Witten

Satz: Fred Uhde, Leipzig

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-104-1

www.voland-quist.de

Alle im Folgenden geschilderten Begebenheiten sind rein fiktiv, die Figuren haben zu keiner Zeit in einer Realität jenseits des vorliegenden Textes existiert. Jegliche illegitime Gleichsetzung mit historischen oder lebenden Personen erfüllt einen Straftatbestand und kann nach internationalem und nationalem Recht geahndet werden. Zur Vermeidung ungewollter Straftaten ruft der Autor dazu auf, von der Lektüre dieses Buches Abstand zu nehmen, wohl wissend, dass er es im Grunde besser gar nicht erst geschrieben hätte.

Den herrlichen Walküren in ihren Sternenkleidern, die hinter dem Lenkrad riesiger Geländewagen auf der Überholspur des Lebens dahinjagen, euch, die ihr mit einer Mischung aus Angst und Erregung in die aufblitzenden Lichter vor euren getönten Scheiben blickt, euch, die ihr die Flüchtigkeit des Augenblicks verlacht, ohne den Tod zu kennen, während die zielstrebig nahenden Schweinwerfer, gewaltige, grelle Lichtkegel, diese blendend weißen, schmerzlich schönen Scheinwerfer … Euch, euch ist dieses Buch gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: WirZweiter Teil: SieDritter Teil: IchNachwort Timothy Snyder

Ministerium für Staatssicherheit

Zentralstelle zur Bearbeitung von Schriftstücken Abteilung V

Perlustrationsprotokoll eingehende Korrespondenz

Objekt leerstehende Wohnung

Karl-Marx-Straße, Hs 14, Whg 54

Am 20. November erfolgte durch eine nicht identifizierte Person die Einbringung einer handelsüblichen Briefversandverpackung des Formats »DIN lang« ohne Angabe von Adressat und Absender in den Spalt unterhalb der Wohnungstür des observierten Objektes. Die Öffnung der Versandverpackung wurde mithilfe des mobilen Dampfentwicklers UfGM-8 durchgeführt. Sie enthielt ein doppelt in Querrichtung gefalztes Blatt des Formats »DIN A4« mit mittels Drucker aufgebrachtem Text. Durch 100-fache Vergrößerung konnte im linken Textfeld die Mikromarkierung des Druckers der Marke HP LaserJet, Seriennummer HOj-233440PU-3345431, registriert auf den Dienstleistungsbetrieb für Fotokopien und Drucke CopyPrint. Schnell & Gut, Skrygan-Straße 75 (Lizenz-Nr. 346734, Privatunternehmer P. D. Komonjuk) sichtbar gemacht werden. Die Operativgruppe Sicherung holt dort bereits Aussagen ein. Durch Lektüre des Textes konnte folgender Inhalt ermittelt werden:

»Sehr geehrte Bewohnerin der Wohnung 54 im Haus Karl-Marx-Straße 14, die Kommunalverwaltung Wohnen Sanierung Betrieb (KvWSB) des Zentralny Rayon bringt hiermit ihre aufrichtige Entschuldigung für die nicht zeitnah erfolgte Reaktion auf Ihre am 18. November in der Küche vorgebrachte Bedarfsanforderung zum Ausdruck. Die KvWSB des Zentralny Rayon legt Wert auf die Feststellung, dass die nicht zeitnah erfolgte Reaktion keineswegs durch Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ausführung ihrer Dienstpflicht verursacht wurde, sondern durch unser außerordentlich langsames Betriebssystem und die Begriffsstutzigkeit einzelner Verantwortlicher, die nahe daran sind, Hand an sich zu legen. Zum Zeichen unserer tief empfundenen Reue wollen Sie sich bitte morgen um 11.00 Uhr in unserem Kontor einfinden (zu erkennen an den Schachfiguren im Eingangsbereich), wo ein Wertpräsent auf Sie wartet.

Die KvWSB des Zentralny Rayon und mit ihr das gesamte Ministerium für kommunale Wohnungswirtschaft versichert Sie, verehrte Bewohnerin der Wohnung 54 im Haus Karl-Marx-Straße 14, bei dieser Gelegenheit ihrer aufrichtigen und ergebenen Liebe.«

Nach Analyse und Herstellung einer Ablichtung wurde das Schreiben instruktionsgemäß wieder in der Versandverpackung platziert, diese mithilfe der mobilen Presse ZuGM-8 versiegelt und in der ursprünglichen Position hinterlegt.

Kommentar Abt. Anal.: Bei der KvWSB des Zentralny Rayon sind am 18. November keinerlei zu bearbeitende Bedarfsanforderungen eingegangen. Urheber des vorliegenden Schreibens ist, wie aus der Machart seiner Herstellung ersichtlich, eine Privatperson.

Empfehlung: Ablichtung in die Abt. Dechiffr.

Ministerium für Staatssicherheit

Zentralstelle zur Bearbeitung von Schriftstücken Abteilung V

Perlustrationsprotokoll eingehende Korrespondenz

Objekt leerstehende Wohnung

Karl-Marx-Straße, Hs 14, Whg 54

Am 22. November wurde ein Umschlag durch die spaltförmige Öffnung zwischen Türunterkante und Schwelle geschoben. Aufgrund der geringen Spalthöhe verklemmte er sich unter der Tür und blieb dort mit einer Ecke hängen. Die Öffnung des Umschlags mithilfe des Dampfentwicklers UfGM-8 erbrachte ein Standardblatt des Formats »DIN A4« mit Textaufdruck. Bei der Analyse des Druckwerkes konnte keine Sicherheitsmikromarkierung ermittelt werden. Damit ist davon auszugehen, dass der Text mithilfe eines Druckers aufgebracht wurde, der nicht die vorschriftsgemäße Registrierung des Informationsministeriums durchlaufen hat. Vermutlich erfolgte der Ausdruck auf einem privaten Tintenstrahldrucker, welcher noch vor der Einführung der obligatorischen Registrierung zum privaten Gebrauch erworben wurde. Der eigentliche Text des Schreibens, welches nach der Lektüre wieder im Umschlag platziert und nach der Versiegelung zurückgelegt wurde, lautet:

»Ankere vor den Dardanellen. Liege am Poller morgen um 11.«

(Anführungszeichen d. Bearb.).

Überstellung der Ablichtung an die Dechiffrierer erscheint sinnvoll.

Ministerium für Staatssicherheit

Zentralstelle zur Bearbeitung von Schriftstücken Abteilung V

Perlustrationsprotokoll eingehende Korrespondenz

Objekt leerstehende Wohnung

Karl-Marx-Straße, Hs 14, Whg 54

Am 27. November wurde ein Umschlag des Formats »DIN lang« ohne Angabe von Adressat oder Absender durch eine nicht identifizierte Person vom Treppenabsatz aus in den Türspalt 15 cm unterhalb der Schlossfalle gezwängt. Die Durchsuchung erfolgte mithilfe des Dampfentwicklers UfGM-8, nach Beendigung der Untersuchung wurde das Schreiben wieder in der ursprünglichen Position platziert. Das Schreiben wurde im handschriftlichen Verfahren erstellt, die Handschrift ist fahrig, mit zahlreichen Durchstreichungen und Korrekturen. Der insgesamt sprunghafte Charakter des Schriftbildes lässt vermuten, dass die Person, welcher die Urheberschaft des Dokuments zuzurechnen ist, dieses in einem Zustand starker emotionaler Erregung verfasst hat, unter psychischer Belastung und einer Empfindung der Kategorie »Trauer«.

»Du antwortest nicht auf meine Briefe und kommst nicht zu unseren Treffen. Du bist verschwunden, wie jene verschwunden sind, die gegen ihn aufbegehren wollten (gegen ihn aufbegehren heißt aufbegehren gegen den Luftdruck, gegen die Schneeschmelze im Frühjahr oder vielmehr gegen das Zufrieren der Flüsse im November. Das ist die richtige Metapher: unausweichliches, schleichendes, grässliches Zufrieren, und keiner, keine fünf, fünfhundert oder fünftausend sind in der Lage, mit ihrem Atem oder ihren Händen dagegen anzukommen – man kann nur mit einfrieren). Aber was tu ich da? Ich schreibe über ihn? Nein, nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht.

Ich weiß noch, wie vorsichtig du warst, als du dich letztes Mal bei mir gemeldet hast. Nachdem wir acht Wochen lang krampfhaft versucht hatten, zur Vernunft zu kommen (und wären wir damals der Gefahr ausgewichen, wärst du jetzt nicht verschwunden, aber – wir konnten nicht, wir waren unvernünftig!). Ja doch, ich weiß. Ich gebärde mich wie ein Trampeltier, wenn ich dir diese Nachrichten durch die Tür schiebe, sie ermitteln mich an meinen Spuren, am Geruch, an den Fingerabdrücken (ich kann dir nicht in Handschuhen schreiben), sie schnüffeln mich aus, und eines Nachts werde ich aufschrecken und in meinem Zimmer jede Menge Unbekannter erblicken, als schwarze, schweigende Figuren um mein Bett postiert – ich habe das schon geträumt, als ich einmal für ein, zwei Stunden weggedämmert war (ich kann nicht mehr vernünftig schlafen).

Du hast mit ihnen gespielt wie mit jungen Hunden, hast sie um den Finger gewickelt und dich unsichtbar gemacht für alle außer mir. Ich kann das nicht. Nein, nicht das ist entscheidend. Ich will das nicht. Ich habe kein Recht dazu. Als wir uns das letzte Mal getrennt hatten, war alles anders. Ich redete mit dir, und du gabst mir Antwort. Jetzt aber höre ich als Antwort nichts als Stille, die Stille der Leere, falls man die Leere überhaupt hören kann, ein Minus an Geräusch, die runde Null, ich rede also quasi mit mir selbst. Und Feigheit in Selbstgesprächen ist das Allerletzte. Ich sage ihnen, dass ich zu dir gekommen bin, sage das ganz ungeschützt und bete nur darum, dass du mich noch hören kannst.

Ich habe nicht das Recht, mich weiter zu verstecken, schließlich – seien wir ehrlich miteinander – lag deine Schuld nicht in deinem Aufbegehren. Wir beide, du und ich, haben nie gegen sie aufbegehrt. Du warst zu träge und zu verspielt, um überhaupt gegen irgendjemanden aufzubegehren. Deine Schuld lag auch nicht in unserem kleinen Geheimnis, das ich nicht – nicht einmal jetzt – zu Papier zu bringen wage. Nein – ich, ich bin deine Schuld. Ich. Meinetwegen, für mich bist du …

Unser Paradies war zu nah an ihrer Gemischtwarenhandlung, deshalb haben sie unsere Fabeltiere verschandelt in Zubrot zum Bier, sie aufgefressen hinter ihren getönten Scheiben.

Aber, weißt du, ich bin ihnen dankbar. Ja, genau. Dankbar. Für eine einzige Sache. Für die Spurlosigkeit. Dafür, dass niemals irgendwo auch nur einer seiner Feinde aufgefunden wurde. In welchem Zustand auch immer. Sie haben das ewige Leben – kein Mensch lebt so lange, wie man auf sie warten wird. Zunächst ihre Frauen. Dann ihre Kinder. Dann ihre Enkel. Ich bin dankbar dafür, dass ich jetzt meine Hände verschränken kann, mein Gesicht darin verbergen, die Augen zukneifen und mir sagen, dass du lebst. Dass du schweigst, weil ich, ich und nicht sie, dich gekränkt habe, und ich habe dich tatsächlich gekränkt und mich entschuldigt und gelacht, als ich diesen Quatsch über die KvWSB verzapft habe (damals, an den ersten Tagen, konnte ich noch lachen).

Ich habe noch Hoffnung. Es ist so gut, noch einmal von vorn anzufangen. ›Wo das Korn noch am Kolben sitzt‹, wie man so sagt. Da steigt einem gleich der aromatische Duft eines Maiskolbens mit seinen tausend kleinen Sonnen in die Nase, unberührt und jungfräulich, aber hast du die Harmonie einmal gestört, musst du weiternagen bis zum Schluss, um nicht diesen bloßgelegten, beschädigten Anfang vor Augen zu haben, um ihn schnell zu einem Ende zu bringen und wieder von vorn zu beginnen, bei null, beim Unberührten. Seine Feinde mögen jetzt – wer weiß das schon? – irgendwo weit weg an ihrem Lebensanfangskolben nagen, wohl wissend, dass es kein Zurück gibt, sie sind ja ›verschwunden‹ – ich glaube selbst schon fast an diesen Galimathias. Dass sie sich selbst entführt haben. Ich glaube das um deinetwillen, nein, um meinetwillen, um meiner Hoffnung Raum zu geben, in den sie wachsen kann. Ich glaube, dass du genau wie sie ohne Einwirkung von außen verschwunden bist, dass ihr eure Herzen für das Vergangene versiegelt habt und für immer von uns fortgeflogen seid. Ich glaube, ich glaube daran, dass du lebst. Dass du diese Zeilen liest, während du deinen Koffer packst hinter der undurchdringlichen Tür, die sich für mich nicht mehr auftun wird. Und dass du sie dann, im Taxi zum Flughafen, noch einmal liest. Dass irgendwo in der schwarzen, bitteren Wüste deiner Kränkung ein zarter Keim durchbricht (Alstroemeria? Strelitzie?), den du mit deinen Erinnerungen tränkst. Dann wirst du spüren, dass deine Sorge um ihn dich leben lässt, dein Dasein in dieser bitteren Wüste erträglich macht. Und, wer weiß, vielleicht lässt diese Blume der Vergebung – in sie setze ich jetzt all meine Hoffnung – deine Hand eines Tages noch einmal das Wort ›Bär‹ schreiben. Alles andere ist nicht für ihre Augen bestimmt. Ich flüstere es, bevor ich den Umschlag verschließe, und ich bin gewiss, du wirst es hören.«

Prüfen auf Eröffnung einer Strafsache nach den Paragraphen »Verleumdung«, »Verunglimpfung des Staates und seiner Repräsentanten«.

Ministerium für Staatssicherheit

Schlussvermerk Abteilung V

nach Auswertung der

Perlustrationsprotokolle eingehende Korrespondenz

Objekt leerstehende Wohnung

Karl-Marx-Straße, Hs 14, Whg 54

Alle vorliegenden Materialien in die Strafsache Nr. 12284\TE-12 (observierte Personen: »Gogol« und »Füchsin«) aufnehmen. Zugang beschränken.

Appendix 1

Anatoli Petrowitsch Newinski (Profil der privaten Internetseite)

Geboren unweit der Polarstation Arktitscheskaja jenseits des Polarkreises in einer Eisbärenfamilie (nach anderen Quellen: als Meteorit auf die Erde gefallen). In der Arktis mit der Muttermilch die Liebe zu liberalen Werten, schnurpsigen Gurken und den Arbeiten der Präraffaeliten eingesogen. Von einer Arktisexpedition entdeckt und in die BSSR überführt zum Zwecke eingehenderer Untersuchung am Institut für Kartoffelanbau der Akademie der Wissenschaften. Nach Stärkung durch die umliegenden Knollen die daumesdicken Gitterstäbe durchgebissen und ausgerissen. Unionsweit zur Fahndung ausgeschrieben, aber zügig herangereift (auch geistig), infolgedessen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Gab eine Untergrundzeitung heraus und bewirkte damit den Zerfall der Sowjetunion. Heute bekannt als Publizist, Prosaschriftsteller und Dramatiker. Ein bisschen auch als Meteorit, aber nur im engsten Bekanntenkreis.

Böse Zungen behaupten, er sei eigentlich unter ganz banalen Umständen in einer Intelligenzija-Familie zur Welt gekommen – also nach der Empfängnis gewöhnlicher Zweibeiner – und habe eine ganz gewöhnliche Schule besucht. Nach Beendigung der Schulzeit soll er mit dem Traum, ein gänzlich unbekannter Russisch- und Literaturlehrer zu werden, ein Studium an der Belarussischen Staatlichen Lenin-Universität aufgenommen haben. Nach seinem Abschluss mit Auszeichnung hat er tatsächlich einige Zeit als gänzlich unbekannter Russischlehrer gearbeitet. Doch dann wurde er zu seiner eigenen Überraschung zu einer auffälligen Erscheinung der russischsprachigen Literatur, was ihn die Lehrerstelle kostete. Veröffentlichung von fünf Erzähl- und Dramenbänden. Seine Prosa zeichnet sich aus durch Ironie und Aktualität gepaart mit sanften, lyrischen Tönen. Die größte Bekanntheit im Inland erreichte der Essayband Das B-Land, im Ausland seine Reflexionen Empfangen mit dem Sowjetspaten über die postsowjetischen Menschen und ihre Zeit. Mehrere Werke wurden verfilmt und übersetzt.

Erster Teil: Wir

1

Und es war Licht, und es ward finster. Der Monitor erlosch gleichzeitig mit der Schreibtischlampe, und der riesige, sonnendurchflutete Saal, in dem das von mir erdachte Menschlein mit Pullover, Krawatte und dieser rührenden Brille händeringend auf und ab ging, schmolz dahin. Die Welt meiner Fantasie hing offenbar am Strom, oder vielmehr an einer Leitung, an Sicherungen, Schaltern. Sobald etwas im Schaltkreis unseres Hauseingangs durcheinandergeriet, kamen gänzlich unbeteiligte, von mir vor der Fläche des Monitors noch nicht einmal zu Ende gedachte Menschen zu Schaden. Besonders erstaunlich war die Tatsache, dass mit dem heimelig warmen Licht der Schreibtischlampe auf meiner Schulter auch das grelle Sommerlicht ausging, das doch auf keinerlei Elektrizität angewiesen war. Gott hatte dieses Licht in einer Welt erschaffen, die nur in meiner Fantasie existierte, und nun erlosch dieses zerbrechliche Gebilde, seine ganze Herrlichkeit, wegen irgendwelcher Schalter, Leitungen und Sicherungen hier.

Mein kleiner Mensch stand noch kurze Zeit mitten im Hörsaal, im Selbstgespräch, wie es schien, und wiederholte fortwährend »mein Lieblingsstudent«, »mein liebster«, doch dann konnte auch er nicht mehr sein ohne den Schatten, den er ohne die erloschene Sonne nicht mehr warf, und ich war ganz allein in den kalten, altmodischen Wänden meiner Stalin-Wohnung. Die Stille war so herrlich, dass ich nicht weiterschreiben wollte. Es war wohl an der Zeit, eine Fackel anzustecken, also steckte ich die Fackel an, die mir zur Verfügung stand – einen Kerzenstummel in den besten Jahren.

Ich spiegelte mich im Küchenfenster und fand mein Spiegelbild attraktiv – ein Mensch mit Stern in der Hand; vielleicht steht ja hinter jedem da oben am Himmel ein Hausherr, der das Himmelsgewölbe nach einem Messer absucht. Ja, ich brauchte ein Messer, denn es gab nur eine einzige Möglichkeit, wieder zu Licht zu kommen: Den Schaltkasten öffnen und mit den Schaltern klicken. Oder den Sicherungen. Oder dem Schaltkreis. Oder den Elektronen. Oder der Welle, die Elektrizität ja wohl ist. Da sind jedenfalls drei Ebonitschalter, einer für jeden Raum, und allen muss man den Hals umdrehen, dann schwappt die Welle wieder, leitet die Leitung, und mein armes Menschlein und ich haben wieder Licht. Ich elektrisches, er Sonne.

Der Schaltkasten ist zu, den Griff hat die Hausverwaltung abgebrochen, damit die windigen Hausbewohner nicht an den Zählern herumfummeln, sie rückwärtslaufen lassen und die Zeit umkehren. Sie machten sich ständig Gedanken um das Zeitproblem, dort bei der Hausverwaltung. Der Schlitz ist nur schmal und der Schnapper dahinter so tief verborgen wie die Erinnerungen des Psychopathen an sein erlittenes Kindheitstrauma, dass es eines Werkzeugs von besonderer Güte bedurfte, gehärtet wie Sigmund Freud. Gewöhnliches Neusilbergeschirr wurde in dem Schlitz verbogen wie die Gegenstände auf den Bildern Salvador Dalis, deshalb musste das von Vater aus einem zwei Millimeter starken Stück Stahl geschmiedete Messer ran, dessen Holzgriff seine und später meine Hände poliert hatten. Ein Messer, das ohne Weiteres diesem Kasten den Bauch aufschlitzte und darin den Schnapper ertastete. Na, wo ist er denn nun?

Schließlich sprang der Kasten auf, die Schalter klickten schwerfällig, aus dem Türrahmen flammte Licht. Ich blies den Kerzenstummel aus und kehrte zum Schreibtisch zurück, an dem ich meine Wunder der Schöpfung vollbrachte. Man konnte dort so gar nichts ausrichten ohne Licht, in dieser Zwei-Zimmer-Miniaturwelt mit dem zitternden Spiel des Kerzenscheins an den Wänden. Wir gehören doch alle zur Gattung Homo electricus, schade, dass McLuhan nicht mehr lebt! Als ich mich wieder an den Schreibtisch setzte, musste ich feststellen, dass ich hier, zu Hause, auch mit Licht nichts auszurichten wusste. Der Strom spülte mich mit Macht in die Nacht, die Stimmung verschob sich auf die Moll-Seite eines einsam verbrachten Frühlingsabends. Weder der sonnendurchflutete Hörsaal noch mein Menschlein im Pullover (oder besser mit Fliege? Nein, Professoren tragen hier keine Fliege) konnten mich noch von mir ablenken. Mein Menschlein war ja nur traurig, weil ich traurig war, und Frühlingsabende sind so traurig, und vor eins ist an Schlaf nicht zu denken, und hier, in diesen Wänden, ist der wohl einzig denkbare Gedanke, dass der Tee, den du alleine trinkst, gänzlich anders schmeckt als der Tee, den du mit jemandem teilst.

In meinem Notizheft gab es mehrere Instant-Rezepte gegen Einsamkeit, bestehend aus Name und Zahlenkombination, Rezepte von der Sorte, die mit hastigem Anziehen enden. Hastig, weil sie zu Hause bereits erwartet wird, weil man dort vielleicht schon im Ausziehen begriffen ist (der Gedanke daran ist besonders schmerzlich). Mich erwartete und erwartet zu Hause niemand. Ich kann in aller Ruhe gehen und muss mich noch lange nicht anziehen. Ich weiß schon, ich habe es mir oft gesagt: Man bekommt immer, was man will, was man wirklich anstrebt und nicht nur so daherredet, also bitte sehr: Zu Hause erwarten mich nur meine Helden und ungeschriebene Worte, die mich als ihren Gott benötigen, und alles ist gut, weil der Frühling da ist; und der Hof, in den mein Hauseingang unmerklich übergeht, begrüßt mich mit April, der für mich unmerklich in Mai übergegangen ist, und dort, rechts, steht meine Lady an ihrem Platz, die einen Frühjahrsputz verdient hätte, ich habe also gelogen, als ich sagte, dass niemand wartet, da ist ja noch meine Lady, die mich immerhin braucht, damit jemand sie wäscht, betankt, sie in der Stadt ausfährt und beim Aussteigen einen Blick auf den Ausschnitt bayerischen Himmels in ihrem runden Logo wirft.

Ich weiß nicht, wohin ich ging und weshalb, aber es war ein trauriges Gehen. Die Traurigkeit, die ich dem Menschlein im sonnendurchfluteten Hörsaal hatte mitgeben wollen, war in mir geblieben, war nicht übergelaufen, hatte nicht Erleichterung und Ausweg gefunden, aber halb so wild das Ganze, halb so wild, es war ja Mai. Der schmale Korridor des Gässchens von meiner Wohnung zum Prospekt der Unabhängigkeit – dem zentralen Prospekt des Landes, der durch ein offenkundiges Missverständnis immer noch nicht nach ihm benannt ist – war zu Ende. Ich fand mich inmitten schicker, gleichgültiger Menschen wieder und spürte jetzt ganz deutlich, was ich suchte, was mich auf die Straße getrieben hatte. Augen suchte ich, natürlich! Ich brauchte menschliche Augen, die mich ansahen, nicht einmal mit Interesse, die mich einfach ansahen, nicht meine Kleidung, meinen hoffnungslosen Mantel oder meine Frisur (freaking genius), nicht diesen – kaum dass ich darüber nachdachte – allzu mechanischen Gang. Nein – mich. Das lebendige Wesen, das hier zwischen anderen lebendigen Wesen seiner Wege ging, bereit sie zu lieben, sie anzusehen, sie wahrhaftig, biblisch, wahrzunehmen. Ich weiß, ich weiß, ich verlange zu viel. Ist bald wieder vorbei.

Auf der Höhe des Stoffgeschäfts Ljanok hielt mich eine Chinesin an und bat mich, sie zu fotografieren, ich schaute durch den Sucher nach der passenden Einstellung, und sie sah mich ruhig und direkt an, genau wie es sein sollte, wie ich es gesucht hatte! Da ließ ich die Kamera sinken, ein einziges Lächeln würde mir schon genügen. Dann wüsste ich, dass ich in dieser Stadt nicht allein bin, dass du hier bist, wer immer du auch sein magst, selbst wenn du kein Wort von meinem Englisch verstehst, einfach ein gegenseitiges Lächeln: Zwei lebendige Wesen teilen einander mit, dass sie sich verstanden haben. Und es wäre sogar verständlich, weshalb sie mich so ansieht, sie ist ja alleine hier, in dieser Stadt der hellhäutigen Hünen, die denken, sie wüssten alles über die Menschen, und ich würde ihr nur mit den Augen zulächeln, ihr die Kamera reichen, ihr zunicken und mich in meine Wohnung zurückziehen, mir einen Tee aufgießen, an ihre Einsamkeit denken und mich mit dem Gedanken trösten, dass sie an die meine denkt … Aber ihr Blick, den ich eben auf mich bezogen hatte, senkte sich mit der gesenkten Kamera, sie sah nicht mich an, sondern die Kamera, sich selbst. Oder denjenigen, für den die Aufnahme bestimmt war. Und kein Tropfen ihrer Seele fiel ab für den Menschen, der sich erboten hatte, das richtige Knöpfchen zu drücken und ihr das digitale Abbild ihrer für einen Dritten bestimmten Innigkeit wiederzugeben, und ich drückte und gab. Da war diese Situation an der Haltestelle – unsichtbare Augen, nur angedeutet, nur als Halbschatten unter schwarz gerundeten Brauen, unter koketten Ponyfransen, sahen mich an, und ich beschloss, sie müssten unbedingt katzengrün sein, und ich müsste dem Trolleybus nachlaufen, der gerade die Türen schloss, um diesen Brauen an der nächsten Haltestelle meinen Dank auszusprechen. Mehr brauchte ich gar nicht. Wirklich nicht. Rezepte für den ganzen Rest habe ich im Notizheft, jedes einzelne garantiert mir, dass die Hauptsache fehlt – dieser Blick! Der Bus fuhr an, und der verschwimmende Blick haftete an einem Punkt im Raum hinter mir, ich wandte mich um und entdeckte dort denjenigen, dem er galt, und ich empfand mich als Dieb und ging verwirrt weiter. Das Café Brigantina war schon mit seiner Sommerterrasse auf das Trottoir herausgeplatzt, es war aber noch zu kalt, und die Gäste saßen in Deckenkokons da, zwei Damen, mit Rotweingläsern bestückt, verschossen feurige Blicke, die aber zu professionell daherkamen, als dass sie mir hätten schmeicheln können. Meine Erkältung war noch nicht ganz abgeklungen, immer wieder überliefen scheue Schüttelfrostgewitter meinen Rücken, als würde mein Innerstes frösteln. Die Pärchen und Menschenhorden, die mir entgegenkamen, wirkten wie Fische auf mich, ich mochte ihnen wiederum so fremd erscheinen wie exotische Aquariumsfische dem menschlichen Betrachter vor der Glasscheibe, ein Zauber, der in zwei Richtungen wirkt, und du konntest natürlich nichts von mir wissen oder erahnen, aber ich hatte dein Signal empfangen. Die Schüttelfrostantarktis auf meinem Rücken breitete sich zusehends aus, ich konnte keinen Blick erhaschen, der das Eis hätte schmelzen können. Wahrscheinlich hätte ich nach Hause gehen sollen, Tee trinken, mit einer guten Portion träger Himbeerkonfitüre, mich einmummeln, ausschwitzen. Aber ich ging immer weiter, als folgte ich einem Ruf – inzwischen weiß ich natürlich, dass du mich gerufen hattest, damals irrte ich nur herum. Auf dem Oktoberplatz schenkten die Menschen vor dem Koloss des antiutopischen Palastes der Republik ihre Blicke einem riesigen Bildschirm, auf dem er etwas von inneren und äußeren Feinden erzählte, aber ganz ruhig und auf eine Weise begütigend, dass deutlich wurde: Im Lande herrscht Stabilität. So musste ich mich einige Zeit zwischen zahllosen Rücken hindurchschlängeln, die schmeichelnde Stimme im Ohr, den väterlichen Blick auf mich gerichtet, nur war dies ein Blick, in den ich mich eindeutig nicht vertiefen wollte.

Ich machte mir Gedanken über die Augen der Fahrzeuge auf dem Prospekt, die natürlich mehrheitlich dreist glotzten. Da gab es lüsterne Blicke, bösartige (das Haifischprofil meiner Lady könnte auch auf einen Raubtiercharakter schließen lassen, dabei ist sie lieb, so lieb), leidenschaftliche, zielstrebige, klägliche und ausgesprochen schiefe Blicke, etwa bei den sowjetischen Zhiguli, die zudem noch durch dicke, altmodische Hornbrillen auf die Stadt zu schauen schienen. Es gab auch fürchterliche Blicke aus halb geschlossenen, vergitterten Augen mit zusätzlichen Strahlern – so waren seine Leute unterwegs.

Ich war fast alleine auf dem Trottoir und verstand auch schnell, weshalb: Nachdem ich das von seinen fruchtlosen Versuchen zur Wiederbelebung des Sozialismus erschöpfte GUM-Gebäude passiert hatte, war ich in einer Gegend gelandet, in die man sich besser nicht verirrte, dorthin besser nicht. Unmittelbar vor mir thronte dröhnend wie Beethovens Fünfte das Ministerium für Staatssicherheit, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, deren schmucke Seite dem Prospekt zugewandt war, während die grausigen Fassaden auf die Quergassen blickten, in die noch nie ein Bus mit ausländischen Touristen eingebogen ist. Stalin-Barock: Säulenhallen, Pilaster, Basreliefs mit Hämmern und Sicheln, korinthische Säulenordnungen mit zusätzlichen, üppig hängenden Zierblättern, Stein gewordener Triumph des Sozialismus. Das in sämtlichen Stadtplänen schraffierte Quartier, die Residenz, seine Residenz, rund um die Uhr von Beamten in Zivil bewacht, bloß nicht langsamer laufen hier oder gar, Gott behüte, zur Kamera greifen. Zwischen den Säulen, genau im Zentrum, befand sich als krönender Abschluss der aufsteigenden Stufen eine monumentale Tür, die auf ewig verschlossen war – hier kam niemand durch den Haupteingang hinein, niemand.

Rasch wechselte ich die Straßenseite und registrierte, dass das in einem etwas eleganteren Stil gehaltene Türmchen (Stalin-Rokoko?) auf dem rechten Flügel des Gebäudes von einem sanften Licht erfüllt wurde. Unsere Legenden, geboren aus nächtlicher Paranoia, dem Verschwinden von Nachbarn, den wenigen Erzählungen rehabilitierter Feinde, die von Verhören zurückgekehrt sind – diese Legenden besagen, das Türmchen habe seinerzeit der allmächtige Vorsitzende des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit Zanawa anbauen lassen. In den friedlichen Sowjetzeiten hieß es dann auch das Zanawa-Türmchen. Danach kam er, einigte das Land, fasste sämtliche Sicherheitsbehörden im Ministerium für Staatssicherheit zusammen, und seither steht außer Frage, wem das Türmchen gehört. Ja, er sitzt dort. Und weil er nie schläft, brennt im Türmchen immer Licht. Ich weiß nicht einmal, welche Bezeichnung die schlimmere ist – das abstrakte Pronomen »er«, das zum Gattungsnamen erhobene »Murawjow« oder die geballte Ladung seiner Regalien: Staatsoberhaupt, Oberkommandierender der Streitkräfte, Minister für Staatssicherheit Nikolai Michailowitsch Murawjow. Was bedeuten Worte wie »Militärputsch«, »Usurpation«, »Verhaftungen« neben diesem schlichten, alles erklärenden »Murawjow«? Murawjow! Ja. Murawjow. Der Minister, der Präsidenten ernennt.

Eigentlich soll man das MSS nicht fürchten. Wenn im Türmchen das Licht brennt, sollen die Bürger auf der Straße spazieren gehen, seinen Eifer und seine Sorgfalt sehen und rühmen, aber was wäre denn, wenn man mit dem Granatwerfer auf das Türmchen … Hier hörte ich plötzlich dermaßen charakteristische Schritte in meinem Rücken, dass ich automatisch schneller lief und mich, durchzuckt von der panischen Überlegung, sie könnten nun auch Gedanken lesen, in den Hof des Stalin-Baus unter der alten Turmuhr flüchtete, in die Marx-Straße einbog, um nur möglichst schnell aus diesem Quartier zu verschwinden. Die Schritte hinter mir stammten von einem einfachen Passanten, Idiot!

Ich ging brav am Kasino vorbei, entbot der ehrwürdigen PhilFak meinen patriarchalen Gruß, auf deren Mauern ein noch nicht übermaltes »I feel fuck« prangte – ein missglückter Kalauer wider die Grammatik, ein Kalauer vom Niveau eines durchgefallenen Berufsschulabsolventen, aber das Scheusal hatte mich schon geschnappt und spielte die verschiedenen Kombinationen des Zauberwürfels durch: »Filled fuck«, »Fill f.a.q.«, »Filmed fuck« ‒ genug, es reicht. Ich ging die Karl-Marx-Straße entlang, nein, die Marx-Straße heißt ja jetzt nach Marx & Spencer, so hatte sich hier der funkelnde, grelle, selbstverliebte Kapitalismus breitgemacht, der sich offenbar anstandslos mit dem MSS vereinbaren ließ und es sogar vorteilhaft zu ergänzen verstand. Aber auch das spielte keine Rolle – ich war bereit, fröhlich die Marx & Spencer-Straße entlangzuflanieren, aber nur als existentes Wesen, das seine Existenz auch spüren und begreifen konnte, als lebendiges Wesen und nicht als Marionette unter Marionetten.

Du hattest schon zwei Zuckertütchen aufgerissen, als ich am erhabenen Portal des MSS-Verfassungsgerichts vorbeiging. Du hattest ihren Inhalt schon in dein hohes, schlankes Glas mit dem Schwanenhalslöffel geschüttet. Du warst bestens vorbereitet und wartetest wie eine Theaterbesucherin auf mich, den Verwirrten, von unbestimmtem Verlangen nach dir Getriebenen, und du machtest es dir bequem und wurdest ganz Auge. Ich registrierte gewohnheitsmäßig das Schild über dem Café Schachmaty, die großzügige Fensterfront, hinter der die schwarz-weiße Einrichtung zu erkennen ist; altmodisch gewandete Kellner, die weniger an Lushins Verteidigung von Nabokov als an die Hollywoodverfilmung mit Repin-Garderobe erinnern; Cafégäste, die tatsächlich im abgelegeneren Teil bei gedämpftem Licht Schach spielten; du, ein paar eindeutig gekleidete Jugendliche, die hinter ihrem zitronenfarbigen Laptop über irgendetwas kicherten, ein paar ältere, kahlköpfige Herren, die krampfhaft nach einem Grund suchten, mit den jungen Damen zu lachen, und die spürten, dass diese für sie lachten, aber nein – du! Du! Als ich … Ich sah … Du hast mich durch diese Glasscheibe direkt angesehen, offen und eine Spur ironisch, mit einem Ausdruck von »Wo hast du dich so lange rumgetrieben?«. Meine Suche war zu Ende, ja, genau, diese Augen hatte ich gesucht.

Ich werde mich nicht darüber verbreiten, wie schön du warst, keine Sorge. Ich habe mir nicht einmal gemerkt, was du anhattest, wohl etwas Dunkles, das Figur, Hals und Pianistenhände betont, aber es diente ohnehin dem alleinigen Zweck, diesen offenen, menschlichen Blick abzutönen, der mich anzulachen schien; ein Blick, der für jeden anderen streng, nüchtern und ernst geblieben wäre, der mir jedoch alles offenbarte – du hattest mit diesem Blick meine Blicke geführt und mir schließlich direkt in die Seele geschaut, in ihre violetten Tiefen, deren Existenz ich bis dahin nicht einmal erahnt hatte. Aber du hattest unter deinen belustigten Brauen, die gegen dein helles Haar besonders dunkel wirkten, nicht nur in mich hineingeschaut, du hattest dich dort festgesetzt. Ohne den Blick abzuwenden, hobst du dein Glas mit seiner in Ocker und Weiß geschichteten Flüssigkeit (Latte macchiato) an den Mund und nahmst einen Schluck, und die Schichten wurden durcheinandergewirbelt – eine Metapher für das, was gerade in mir vorging –, und ich stand dir direkt gegenüber, in einem Meter Abstand, vielleicht zwei, unmittelbar vor der Scheibe und betrachtete dich wie eine Fotografie, und deine Brauen wanderten in die Stirn, um mich für meine Indiskretion zu tadeln. Sie schienen zu sagen: Jetzt glotz doch nicht so dumm, was machst du denn, du bringst mich in Verlegenheit, und auf den Lippen lag ein ockerfarbener Schleier aus dem langstieligen Glas, aber ich erkannte ein Lächeln dahinter, dein Lächeln für mich. Ich wusste, ich bin ein Mensch, ein lebendiges Wesen, keine Marionette, und in dieser Stadt gibt es dich, du fühlst genau wie ich und schaust hierher, in mein Herz, und die Straße in meinem Rücken geriet in Bewegung, rauschte nach Monte Carlo, Las Vegas, Syracuse, New York. Wir waren allein, nur deine Augen und ich und jede Menge Statisten, die mich im Vorübergehen streiften, nicht aber meinen Blick, der die Glasscheibe schon nicht mehr wahrnahm. Ja, ich war wohl bereit, den Schritt zu dir zu tun, den Schritt durch diese zerbrechliche, durchsichtige Wand (ich wusste, dass dieses Glas dünner war als die Wände des Aquariums, das mich von allen trennte, mit denen ich mich bisher an- oder ausgezogen hatte), und ich hätte den Schritt getan, wäre dein Gesicht nicht plötzlich von einem Beben erschüttert worden und dein Blick auf die Tischplatte gewandert. Dort lag ein Mobiltelefon, ein ganz normales Gerät offenbar, ausgesprochen normal, dir unangenehm und deshalb schmucklos, einfach ein Telefon, ein Fernmeldemittel. Dieses Telefon kroch nun über den Tisch wie ein auf dem Rücken liegender Käfer – jemand rief dich an, jemand, der so etwas in deinem Gesicht anrichten konnte. Du nahmst das Telefon ans Ohr, und ich verlor deine Augen, du wandtest dich ab und, nein, du verbargst dein Profil in der hohlen Hand, verstecktest deine Lippen vor mir, es ging auf das Ende zu, du standest überstürzt auf und liefst – ohne mich anzusehen! – zum Ausgang, der gleich nebenan war, zwei Schritte entfernt, da musste man sich einfach in die Augen schauen, aber du wandtest dich ab, und ich sah nur noch deinen Rücken unterm Mantel, dein im Nacken zusammengestecktes Haar, und du gingst eilig fort von mir, das Telefon – noch immer aufgeklappt, aber inzwischen leblos – in der Hand. Wer hatte dich da angerufen? Was war passiert?

Und du brauchtest nur fünf Schritte, weil in sechs Schritt Entfernung ein ordnungswidrig auf dem Trottoir geparkter Geländewagen stand, ein riesiger Lexus RX 470, dessen Metall so schneeweiß schimmerte wie dein Gesicht. Er ließ erbarmungslos sein Entriegelungssignal aufheulen, du öffnetest die Fahrertür und setztest dich ans Lenkrad! Du wolltest dieses Monsterfahrzeug lenken, aber du … Wie konnte das angehen, das warst doch du – du hattest mich doch eben noch mit dem Blick angesehen, den ich gesucht hatte, und meine Beine bewegten sich mechanisch auf das Monstrum zu, ich tat einen Schritt, zwei, drei und blieb stehen, weil das weiße Gesicht des Lexus schwarz getönte Brillengläser trug. Dein Auto trug die schwarze Brille, das durfte nicht sein, nein! Nimm sie ab, du brauchst sie nicht! Aber du hattest schon den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, und mit grummelndem Flugzeugmotor sprang der Riese an, die Scheinwerfer flammten auf, und aus dem Wageninneren tönte ein wilder Rap, der gleichsam aus dem Erdinneren drang, als hätte man irgendwo in Los Angeles bei einer Megaparty den Sound dermaßen hochgedreht, dass das Wummern sich einmal quer durch die Erdkugel wühlen konnte. Du ließt die Reifen quietschen und sprangst mit einem kehlig gurgelnden Aufschrei vom Trottoir, so dass sich ein altes Weiblein, das sich dort aufgewärmt hatte, nur mit knapper Not retten konnte. Als du schon eine Geschwindigkeit erreicht hattest, die einen in dieser Stadt den Führerschein kostet, als du dreist ein Auto, das die Hauptstraße überqueren wollte, anhuptest – nicht mit einer gewöhnlichen Hupe, sondern mit einer Spezialsirene – da begriff ich. Ich begriff, was meine Augen gesehen hatten, noch als du auf dem Weg zur Fahrertür warst. Ja, ja. Nummer 2165 KE-7. Der Marker KE stand nur für das Eine: Diese Nummer und dieses Auto gehören dem Ministerium für Staatssicherheit. Eindeutig. Den Beweis hattest du ja schon durch deinen Parkplatz erbracht, durch deinen Fahrstil und durch die entsetzliche schwarze Brille im weißen Gesicht deines Autos. Wer bist du? Wer? Und warum bist du bei ihnen? Wie bist du an dieses Auto geraten? Warum fährst du es, weißt du denn nicht, dass das – nicht geht? Mit deinem Gesicht, deinen Augen und deinen Händen!

Ich tappte nach Hause, mir war alles klar geworden. Logisch. Sie war die Tochter irgendeines MSS-Generals. Sie hasste ihren Drecksvater von ganzem Herzen, aber was konnte sie schon tun, war ja nicht ihre Schuld, was der Papa da trieb. Aber weshalb war sie nach diesem Anruf so abrupt aufgebrochen? Weshalb hatte sie mir keinen Augenaufschlag zum Abschied geschenkt? Hatte ich sie gekränkt? Habe ich wirklich so schlimm geglotzt? Oder lag es an dem Anruf? Ich redete mit ihr, redete und lief in der Küche auf und ab und sah ein, dass nur noch Dan mir helfen konnte. Natürlich, Dan würde mir mit ihrer Nummer helfen, ich rufe sie an, morgen, so spät kann ich sie nicht mehr anrufen, bei Dan ist das etwas anderes, Dan schläft scheinbar nie. Ich rufe sie an und bedanke mich für ihren Blick, wir freunden uns an, sie sagt sich von ihrem Vater los, der besinnt sich, geht in Rente und wässert auf der Datscha seine Tomaten, wir stehen auf seinem Schlauch und lachen über ihn, und er sagt uns, was ärgert ihr einen alten Mann?

Dan ist einer von uns, der in ihrer Informationsabteilung gelandet ist. Er ist eigentlich überhaupt kein Geheimdienstler sondern ein Visual-Genie, ein PR-Mann vor dem Herrn. Sie haben ihn über seine Fotomontagen im Netz entdeckt, die nicht mal das MSS torpediert haben, sondern andere Werbekampagnen. Das Plakat »Lada. Geht auf allen Wegen« hat er mit einem eleganten Eingriff in eine Karikatur verwandelt. Sein Slogan, der die ganze Kampagne hierzulande ruinierte, lautete: »Geht auf allen Wegen mit uns ein.« Das Bild – der ganze Stolz der russischen Auto-PR mit den Reifen eingegraben in den rissigen Lehm eines Feldweges – blieb unangetastet. Als das MSS sein schöpferisches Potenzial erkannt hatte und die Verzweiflung über die Geistesleistungen der hiesigen Kreativen groß genug geworden war, hatten sie Dan natürlich ein Verfahren wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen auf der Schultreppe angehängt, ihn aus der Schweiz ausliefern lassen, wo er als Programmierer in der chemischen Forschung seine Brötchen verdiente, und ihn vor die Wahl gestellt: Entweder brav seine zehn Jährchen absitzen (bzw. eher abstehen, denn nach dem, was mit Kinderschändern im Knast gemacht wird, sitzt es sich nicht mehr so gut) oder den rechten Weg einschlagen und das Image des MSS aufpolieren. Das war jedenfalls seine Version. So ist denn auch jenes berühmte Plakat, das die Haltung zu den Geheimdienstlern von abschätziger in respektvolle Angst gedreht hat, Dans Maus entsprungen. Davor waren alle Propaganda-Versuche des MSS auf das Bild des bösen Feindes hinausgelaufen (als Feind musste ein Geheimdienstler herhalten, weil sich in der Zivilbevölkerung einfach keine hinreichend feindselige Visage auftreiben ließ), flankiert von zwei grinsenden Typen in Lederjacken. Die beiden brachen dem Feind den Arm, dem Feind tat das weh. Dazu ein Slogan der Kategorie:

Feinde werden gefasst.

Sie tun ihren Dienst im MSS.

Diese Anzeige ließ nur eine Lesart zu: Zwei Ganoven haben den dritten geschnappt und befragen ihn gleich mit dem glühenden Bügeleisen, wo die Gemeinschaftskasse abgeblieben ist.

Dan näherte sich der MSS-Werbung über den Intellekt – er warf das gesamte Talent eines Mannes in die Waagschale, dem zehn Jahre Knast blühen. Als ich die Frucht seiner Arbeit auf einem riesigen Plakat in der Nähe meiner Wohnung das erste Mal sah, geriet etwas in mir in Bewegung, und ich musste den ganzen Tag darüber nachdenken, dass die Arbeit der Staatssicherheit nicht so widerwärtig und schmutzig war, wie ich bisher irrigerweise angenommen hatte. Menschen, die ein Verbrechen verhindern konnten, noch bevor es begangen wurde, Menschen, die rund um die Uhr Dienst taten, sich allen erdenklichen Gefahren aussetzten – solche Menschen brauchte es doch. Und so weiter. Dans Baby zeigte das symbolische Gesicht des durchschnittlichen MSS-»Mitarbeiters« auf himmelblauem Grund. Dan hatte das Gesicht so perfekt gewählt wie seinen Ausdruck – ein Mann mit flachsfarbenem Haarkranz sah einen so offen, vertrauensvoll und gleichzeitig mit einer Miene an, als wüsste er genau, wo du als Jugendlicher über welchen Zeitschriften onaniert hast. In den Augenwinkeln blitzten die leninschen Sonnenstrahlen. Die Lippen waren leicht geschürzt zu einem halben Lächeln, eher Vermeer als Mona Lisa. Der Kopf war von hinten sanft angestrahlt, das Leuchten konnte als Nimbus durchgehen. Der Mann trug einen dunkelblauen Anzug mit edlem Bordeaux-Binder und einem in seiner Weißheit fast schutzlos wirkenden Hemd. Man meinte, eine Vaterfigur vor sich zu haben. Jesus Christus. Batman. An dieses Plakat wollte man herantreten, die Sakramente empfangen und beichten. Und der Slogan, der Slogan!

Ministerium für Staatssicherheit.

Wir sehen. Wir hören. Wir wissen.

»Dan?«

»Yo!« Eine kratzige Stimme, als hätte er eben geraucht. Hat er wohl auch. Dan darf das. Dan darf alles. Er arbeitet für das MSS.

»Dan, kannst du grad sprechen?«, fragte ich zur Sicherheit noch einmal, und diese Frage brachte ihn auf Touren.

Nach einer kurzen Denkpause antwortetet er:

»Ich kann grad sprechen, Tol, in dem Maße, Tol, wie ich, Tol, grundsätzlich am Telefon sprechen kann. Hast du verstanden, Tol?«

»Verstanden, Dan.«

»Was gibt’s denn?«, lebte er wieder auf.

»Du müsstest mal eben eine Nummer durch eure Datenbank jagen. Durch ihre, meine ich. Sicher vom MSS, endet auf KE …«

»MSS, klarer Fall. Wozu dann durchjagen?«

»Dan, Dan! Pass auf! Ich muss unbedingt wissen, wem das Auto gehört. Wie er heißt, auf wen es läuft und, wenn’s geht, die Telefonnummer. Ich muss denjenigen unbedingt ausfindig machen. Die Nummer ist 2165 KE-7.«

»Dein Bruder?«, krächzte Dan vorsichtig.

»Eher Schwester.«

Zu einem Singsang, der vor allem aus Afrika, Rastaman, Jamaika und Babylon bestand, hackte er etwas in die Tasten. Das Warten zog sich.

»Tol, Toljan, hör zu«, sagte er. »Tol, ich bin überall durch. Die Karre gibt es nicht. Null. Nicht bei den Bullen, nicht bei den Spezialeinheiten wie ›Vektor‹ und so, auch nicht bei den VIPs. Die Nummer gibt es nicht. Hast du geträumt, deine Schwester.«

»Dan, ich …«

»Tol!«

»Dan, ich hab die Nummer gesehen, das war eine Nobelkarosse, die übersieht man nicht, ein Lexus RX 470, davon gibt es hier höchstens eine Handvoll.«

»Tol!«

»Geträumt! So ein Quatsch!«

»Tol!!! Ich sag dir doch: Die Karre ist in keiner Datenbank drin. Ich hab drei Stufen durchgescannt, die letzten beiden sind eigentlich für mich gesperrt, das kann mich übrigens den Arsch kosten hier. Deine Nummer ist weder in der ersten (Fahrzeuge Operative Mitarbeiter), noch in der zweiten (Privatwagen Leitungsebene und Dienstwagen Sondereinheiten), noch in der dritten, ganz geheimen, von der du überhaupt nichts wissen sollst. Das Auto gibt es nicht, klar? Nach 2164 KE-7 kommt gleich 2166 KE-7. Deine Kombination fehlt. Nachdenken, Tol. Diese Nummer fehlt in der MSS-Datenbank. Nachdenken, Tol.«

Dan hatte plötzlich aufgelegt. Als ich ihn zurückrufen wollte, musste ich feststellen, dass er sein Telefon ausgeschaltet hatte. Ich hatte schon verstanden, logisch. Dein Papa war so eine Granate, dass er deine Nummer sogar aus den geschlossenen Datenbanken gelöscht hatte, auf die außerhalb des MSS niemand zugreifen kann. Bestimmt war er mindestens Abteilungsleiter in einer der wichtigen Behörden, der Fünften vielleicht. Nein, lieber nicht der Fünften. Die Fünfte brauchen wir nicht. Nie. Es gibt diese Nummer nicht. Es gibt dieses Dich nicht. Ich habe dich geträumt, erfunden, in meinem Schüttelfrost zusammengefiebert, dich in meiner Antarktis angesiedelt und die Pinguine verschreckt. Ich habe dich geträumt.

Ich hatte menschliche Augen gebraucht, und du warst mir aus einer Welt erschienen, in der nur unseresgleichen lebt, Marmorgeschöpfe, ja, du bist aus einem Marmorblock gehauen, du bist durchscheinend, und ich bin es jetzt ebenfalls. Du hast mich nicht als Statue gesehen, sondern als Texturenspiel in der Tiefe des Steins. Marmor ist durchsichtiges Gestein, das wussten die großen Italiener, die noch die kleinsten Risse im Innern des Blocks erahnten. Ich habe dich geträumt und träume dich immer noch, es zieht mich mit all meinen Rissen zu dir, meinen unauflöslichen Einschlüssen, Äderchen und Verhärtungen. Du hast gelächelt, und das Eis der Antarktis, in der ich dich ansiedelte, ist geschmolzen. Du hast einen Lichtpunkt auf meinen Block geworfen, hast mich mir selbst erleuchtet, bist aufgeblitzt und abgetaucht. Jetzt muss ich dich mir nur noch aus dem Kopf schlagen, nein, nicht schlagen, dich auf Händen hinaustragen und dich auffliegen lassen, dein Licht noch einmal spüren, ein letztes Mal mich am Kristall entflammen, die Augen zukneifen: Leb wohl! Und bläst auch der Nordwind über meiner Eiswüste, gibt es nur Pinguine dort, Pinguine und weiße, unberührte Stille – so ist es besser für dich und für mich. Flieg fort und sieh dich ni…

2

Anatoli erwachte auf der Seite – seine Hand, eben noch voller Schnee, der ihm wie Sand durch die Finger geronnen war und dort, im Traum, etwas Zeitliches, etwas mit Fließen, Rinnen, Tempo und Endgültigkeit hatte symbolisieren sollen, war eingeschlafen. Mit der anderen Hand befühlte er die tauben Finger, unter denen gerade noch die Zeit zerflossen war, und der ganze Arm meldete bis hinauf zur Schulter feine Nadelstiche, er musste ihn neben sich ablegen und durfte ihn vorerst nicht berühren, damit statt der Zeit wieder Blut durch seine Adern strömen konnte.

Sein Zimmer, in dessen vergessenem Hinterhof das Sofa parkte, erinnerte weder an eine gotische Halle noch an eine Höhle, das Morgenlicht ließ es in seiner ganzen prosaischen Gemütlichkeit erstrahlen, und er dachte zum wiederholten Mal, das Wort »Renovierung« hätte schon etwas für sich, etwas Frisches, Kerniges, das einen mit der Tapete an die Wände des Lebens kleistert. Seine Tapeten hatten sich jedoch an den Stoßfugen gelöst und eingerollt, die Zugluft ließ am Lüster ein zartes Fädchen baumeln, an dem eine wagemutige Spinne surfte, und wegen dieser eingerollten Tapeten und der Spinne am Lüster, die seinen gesamten Bezug zur Wirklichkeit ausmachten, musste er die Fernsehleute zum Interview immer ins Café bitten. Denn wenn das Publikum erfuhr, in welchem Umfeld seine Texte geboren wurden, wäre es von ihnen enttäuscht. Sein Nachdenken über den Spinnfaden und die hässlichen Tapeten in Zusammenhang mit seinem Bezug zur Wirklichkeit resultierte natürlich aus der Aufregung des vorigen Tages.

Die Erinnerung an ihren Blick stimmte ihn traurig. Als hätte sich seiner Atmung neben dem üblichen Ein und Aus eine weitere Bewegung hinzugesellt, die nun Ameisen der Ungeduld über seinen ganzen Körper krabbeln ließ, Ameisen der Änderungswut, und wenn er nur stärker in der Wirklichkeit verankert wäre, hätte es unweigerlich mit einer Renovierung geendet. Doch so wanderte mit jedem geistigen Atemzug, der nicht mit seiner physischen Atmung übereinstimmen wollte, der Text, gestern noch bloß Motiv, ein Stück weiter den Hals hinauf.

Das war natürlich wunderbar, denn gestern hatte Anatoli, da noch kein fertiger Text im Posteingang des Übersetzers lag, ein langes englisches Telefonat mit dem Redakteur des amerikanischen Hochglanzblattes führen müssen, das diesen Text nach vier Sätzen Inhaltsangabe eingekauft hatte. Dabei war beiden klar, dass der willkürliche Aufbau der Marke Anatoli Newinski, der den bescheidenen Ruhm in seiner Heimat weit übertreffen würde, nichts mit einem besonderen Interesse an Anatolis durch die Übersetzung ohnehin gezauster Prosa zu tun hatte, sondern allein mit dem weltweiten Interesse an der Marke Murawjow und dem Status des Landes, das dieser als »letzter Diktator Europas« regierte. Wie der deutsche Literaturagent, der sich um seine Texte kümmerte, gesagt hatte: »Die heutige Zeit ist insofern besonders, als Antiutopien nach ganz realen Stoffen geschrieben werden können. Man braucht sich kein 1984 mehr auszudenken, man muss bloß die Augen aufmachen.« Hier fanden sich nach wie vor Motive, die Westeuropa oder den USA schon im 16. Jahrhundert ausgegangen waren. Das gemäßigte, satte Leben hatte keinen Sinn für shakespearsche Leidenschaften. Hierzulande berichteten die Zeitungen noch täglich von Verrat und Edelsinn, von Heldenmut und Niedertracht, und die Leser wollten wissen, was die Menschen am Leben hielt, was sie empfanden, wie sie liebten und was sie beim Blick in den nächtlichen Himmel dachten, aber die Beantwortung dieser Fragen überstieg die Möglichkeiten der Zeitungen, und hier kam nun Anatoli ins Spiel. Da er noch nie an einem MSS-Verhör beteiligt war, dürften seine Blicke in den Nachthimmel im Großen und Ganzen mit den Nachthimmel-Ansichten des MSS übereinstimmen.

Doch in seinem Kopf kreisten und waberten bereits die Worte, das verwirrte Menschlein im sonnendurchfluteten Saal wollte sich von einer Tintenklecksfigur auf gelblichem Hintergrund in Substantive, Adjektive und Verben verwandeln, wollte in ihnen Form annehmen, das musste jetzt nur noch alles korrekt und ohne zu kleckern den Tasten verklickert werden – erst einen Flaum wirrer Haare zeichnen, dann das lächerliche Gestell der Brille, die die Augen auf das Dreifache vergrößert, die gefalteten Greifhände mit den schmerzlich verkrümmten Fingern. Die Verben wollten in der richtigen Reihenfolge angeordnet sein: er setzte sich, sprang auf, hub an, wischte, zitterte, es hämmerte, erstarb, hüpfte, knarrte. Die aus dem Vorabend erwachsene Trauer half Anatoli, das rechte Maß zwischen korrekt und inkorrekt zu finden, sie beließ die Sprache lebendig, asymmetrisch und offen, so dass sich die Bedeutung des Gesagten erst im Leser selbst ausformte.

Er trat an die Bank, von der aus sein Lieblingsstudent mit ihm diskutiert hatte, er setzte sich auf seinen Platz, taxierte die Perspektive und versetzte sich in ihn hinein, er erinnerte sich an ihren letzten Disput über Brutus und Caesar im voll besetzten Hörsaal – der Student war gut vorbereitet gewesen und hatte sich neben dem obligatorischen Plutarch eigenmächtig noch wer weiß was angelesen und ständig auf Sueton verwiesen, aber Sueton hatte dem Menschlein im Professorenpullover nicht gefallen. Sueton hatte nämlich die Dinge allzu oft beim Namen genannt, dabei ging das doch nicht in Historienfragen. Das ging insgesamt nicht. Nein, es ging nicht. So bitte nicht. Bitte wie Plutarch. Und sie hatten gestritten, und der Hörsaal war natürlich aufseiten des vorlauten Jungen gewesen, der sich über die Autoritäten hinwegsetzte, und schnell und unvermeidlich kamen sie von Brutus und Caesar zum Ministerium für Staatssicherheit, und der Student sagte »Murawjow«, und er sagte noch einmal »Murawjow«, und allein das konnte den Professor seinen Lehrstuhl kosten – im Hörsaal saßen natürlich ein paar »Zivile«, schon am Ende der Pause würde der Prorektor für Ideologie Bescheid wissen, und der Professor wusste, dass der Prorektor es wissen würde, und er wollte den Studenten laut zurechtweisen, er solle es nicht auf die Spitze treiben, und in der Pause, als die Stunde um war, schauten sie beide durch die riesigen Hörsaalfenster in den Hof, durch die Fenster mit den angetrockneten, schräg verlaufenden Schlieren, und der Tonfall war jetzt ein anderer, wie zwischen Vater und Sohn, niemand hörte mit, und der Professor pflichtete ihm wieder und wieder bei, flehte ihn jedoch an, sich öffentlich von diesen abenteuerlichen Vergleichen mit der blutigen Antike zu distanzieren, das täte der Wahrheit keinen Abbruch, und er könnte weiterstudieren, doch der Student erklärte, die Infamie beginne bereits mit dem ersten und einzigen Verrat, und natürlich hatte er recht. Und der Professor legte ihm die Hand auf die Schulter und dachte, wenn er einen erwachsenen Sohn hätte, dann wäre der wie sein Lieblingsstudent. Oder genauer, wenn er je einen Sohn gehabt hätte und dieser dank seiner Erziehung derart physisch resistent gegen jegliche Niedertracht geworden wäre, dann wäre er stolz auf ihn, und fast hätte er ihm gesagt, dass er ja recht habe und ihn mit Stolz erfülle, aber aussprechen konnte er es dann doch nicht, das nicht.

Das Problem war eben, dass – ja, sein Lieblingsstudent aus der dritten Bank von oben links hatte völlig recht, und der Professor konnte dem Lehrstuhl all die Jahre nur vorstehen, weil er Verrat übte, weil er schwieg und denen, die reden wollten, das Maul stopfte mit der Phrase: »Politik hat im Hörsaal nichts verloren«, dabei ging es nicht um Politik, sondern um die Antike und die Parallelen, die sich ganz zwangsläufig ergaben, wenn man über Caligula und Nero las und wusste, wie Murawjow … – aber so geht das nicht, nein. Man sollte die Geschichte der Antike aus dem Lehrplan streichen und alle anderen Geschichten gleich mit, dann wäre alles klar und logisch, dann müsste er nicht diese grausamen Entscheidungen fällen, müsste kein Verräter mehr sein. Er berührte die Fensterscheibe, vor der er damals mit seinem Studenten gesprochen hatte – ein trübes Abbild seiner Stirnfalten und ein netzartiges Haarlabyrinth blieben darauf zurück –, so ans Fenster gelehnt, stand der Professor nach seiner Vorladung ins Rektorat und dieser kurzen, zynisch ausgesprochenen Bedingung: Am Abend des nächsten Tages musste einer der beiden, der Student oder der Professor, dieses Gebäude endgültig verlassen haben, endgültig und ohne Aussicht auf Rehabilitierung, und der Prorektor mit dem aufgeschwemmten Gesicht und den maßlosen, zum Platzen prallen violetten Lippen, hatte ihm noch verraten, der beste Exmatrikulationsgrund sei ein versäumter Unterrichtsbesuch. Sein Lieblingsstudent hatte für das Wort »Murawjow« in einem noch peinlicheren Disput bereits im vergangenen Winter fünfzehn Tage abgesessen, nun aber war klar, dass er nicht willens war, »das Studium mit dem nötigen Ernst zu betreiben« (klar war eigentlich, dass er auch weiterhin das Wort »Murawjow« aussprechen würde und ihn nichts davon würde abhalten können), die versäumten Vorlesungen zur Geschichte der Antike konnten nicht kompensiert werden, folglich sah sich die Universität außer Stande, ihn sein Studium fortsetzen zu lassen. Das hatte nichts mit Politik zu tun. Es war eine reine Leistungsfrage – er weiß nicht mehr, ob der Prorektor oder er selber im nächtlichen Selbstgespräch in der ewigen Einsamkeit (seine Frau war vor sieben Jahren gestorben) seiner winzigen Küche sich diese Formulierung ausgedacht hatte. Er hatte sich ja selbst eingeredet, dass bei dieser Exmatrikulation keinerlei Politik im Spiel war, es war eine reine Leistungsfrage, deshalb war er auch unerbittlich geblieben, als der Student nach dem Telefonanruf zu ihm gestürmt kam, um sich zu verabschieden und seine Bücher abzugeben, er hatte sich abgewandt und darauf beharrt, dass der Universität nichts vorzuwerfen sei, und er hatte säuerlich die Mundwinkel herabgezogen, als das Jüngelchen ihm ins Gesicht warf, die Universität sei genauso Bestandteil des Systems wie seinerzeit der Volkstribun Gaius Helvius Cinna, der für Caligula ein Gesetz erarbeitet hatte, das diesem die Verfügungsgewalt über alle Frauen zusprach, um ihm möglichst viele Nachkommen zu sichern. Der Professor hatte das Gespräch wieder auf die Versäumnisse des Studenten gebracht und war in verstaubte Kanzleifloskeln verfallen (»Es hat Ihnen an Strebsamkeit gemangelt, junger Mann«, »Voraussicht wäre angezeigt gewesen«), rückblickend erkannte er, wie jämmerlich er geklungen hatte, und der Student hatte ihn verflucht, freiheraus, hatte ihn mitten in sein bebendes Gesichts hinein einen Feigling genannt, und er rührte in seiner Küche eine halbe Ewigkeit in seinem Tee, und das Geräusch schien ihm ein erbauliches, wachsendes Echo zu erzeugen. Der Student wurde ohne Aussicht auf Rehabilitation exmatrikuliert und sofort zum Wehrdienst eingezogen, und das hatte auch sein Gutes. Diese Tatsache garantierte dem Professor, dass sie sich für längere Zeit nicht sehen würden, dass ihn das Gesicht des Studenten in der Menge nicht an den Vorfall erinnern würde, und das war doch beruhigend. In anderthalb Jahren wäre die willkürliche Fügung »Vernachlässigung universitärer Pflichten« zum unbestreitbaren, schicksalhaften Monolithen erstarrt, so dass niemand mehr an diese Vorkommnisse zurückdenken oder gar darüber diskutieren würde. Vielleicht würden sie sich sogar treffen und heimlich anfreunden, der Student würde ihm wohl verzeihen, der verständige Junge würde einsehen, dass ihm, dem Professor, keine andere Wahl geblieben war. Aber nun musste er, unmittelbar bevor er diesen sonnendurchfluteten Hörsaal betrat, erfahren, dass sein Lieblingsstudent … Seine Mutter hatte es ihm gesagt, sie hatte im Dekanat angerufen und ihn, den Professor zu sprechen verlangt, also wusste sie noch nicht, dass er es war, der ihn exmatrikuliert hatte, sie wusste es nicht, weil sein Student ihm nicht mehr böse war, ihm schon vergeben hatte, wer hätte das gedacht. Die Mutter rief an und verlangte ihn zu sprechen, niemanden sonst, und er nahm den Hörer, und sie heulte ihm vor, was geschehen war, als gäbe es auf der großen, weiten Welt nur noch sie beide – den Professor und sie. Zwei Kugeln. Die eine hat ihm die Wirbelsäule zerschmettert, die andere die Lunge perforiert. Sie hatten es nicht einmal mehr bis ins Krankenhaus geschafft. In seiner Einheit hieß es, der Vorfall habe sich bei der Vorbereitung zu einer Schießübung mit Maschinenpistolen ereignet, aber was denn für Maschinenpistolen, Herrgott, er war doch noch nicht einmal vereidigt – sie haben ihn umgebracht, einfach umgebracht, sie haben ihn eingezogen, um ihn umzubringen, und haben ihn exmatrikuliert, um ihn einzuziehen und umzubringen, ihn zu erschießen oder totzuschlagen, und sie haben einen Sarg geschickt, zugeschweißt, aus Metall, und darin »rumpelt etwas«, als hätten sie ihm den Kopf abgetrennt. Und er ist leichter als ihr Sohn, vielleicht ist gar nicht ihr Sohn drin, und der Professor sagte alles, was sie hören wollte, dass das Rumpeln von seiner Schirmmütze oder sonst etwas stammen könne und dass sie sich nur einbilde, der Sarg sei leichter, und sie fiel ihm ins Wort und stammelte, offenbar ganz außer sich, der Sarg sei aus schwerem Stahl, sie hätte bereits versucht, ihn mit dem Dosenöffner aufzubekommen, sie wolle ihren Sohn sehen, sie könne ihn nicht beerdigen, ohne ihm die Augen geschlossen zu haben, und daraus sprach ein so unmittelbarer, urtümlicher Horror, dass er auch nicht mehr weiterwusste, und jemand, der offenbar neben ihr stand, schritt ein und suchte sie zu beruhigen, und sie beruhigte sich, Gott sei Dank, sie hörte auf damit. Er wusste nicht mehr, wer von ihnen aufgelegt hatte, er wusste nur mehr, dass die Beerdigung morgen war, um 12 Uhr, und dass er nicht zu dieser Beerdigung gehen konnte, weil dort mit Sicherheit das Wort »Murawjow« fallen würde und Menschen dort wären, die eigens kommen würden, um es fallen zu hören. Und dass er doch zu dieser Beerdigung gehen musste, denn wenn er sich nicht von ihm verabschiedete … Wenn sein Student ihm nicht verzieh … Dabei war ihm nicht mehr zu verzeihen, er würde sich selbst nie verzeihen, dass man seinen Jungen umgebracht, ihm einfach das Leben genommen hatte, statt Diskussionen, Überredungsversuchen und Geschrei ein beendetes Leben, und jetzt musste er beerdigt werden, und die Mutter will den Sarg öffnen, aber man lässt das nicht zu, das ist doch ein Sakrileg, Vandalismus, man müsste sie anrufen und sagen, sie soll aufhören damit, es ist doch ohnehin klar, wenn sie ihn in einer Metallkiste bringen, ist nichts mehr zu sehen, nicht doch, aber so kann er nicht über ihn reden, über seinen Studenten, in diesen Kategorien, er hat doch hier gesessen, in dieser Bank, die dritte von oben links, und hat gelächelt wie sein Sohn, als der Professor diesen Scherz über Neros Mutter machte, den er seit siebzehn Jahren regelmäßig erzählte, das ist doch ein gruseliges Remake einer Geschichte aus dem Neuen Testament, in der der Schüler der wahre Lehrer ist, während er, der Professor, durch die Prüfung fällt. Und jetzt musste er auf jeden Fall zu dieser Beerdigung. Er konnte auf keinen Fall zu dieser Beerdigung. Er schaut zur Tafel, die mit Wörtern und Linien übersät ist (»Vernachlässigung universitärer Pflichten«, »unliebsame Vergleiche«, »ich habe versucht, ihn davon abzubringen«, »keinerlei Politik«, »nicht kompensierbar«), und begreift, dass ihn, trotz allem, keine Schuld trifft und dass er tatsächlich machtlos war. Die angetrockneten Schlieren am Fenster sind noch genau so, wie sie sie gemeinsam gesehen haben, und jetzt muss er die Brille absetzen, weil alles verschwimmt und er nichts mehr sieht, und draußen auf dem Hof spielen Kinder – Anatoli spürt, wie sich Substantive, Adjektive und Verben in Bilder zurückverwandeln, die schwieriger zu fassen sind, und die Bilder in ein Motiv, das am Leben zu halten immer schwieriger wird. Er würde es besser ein anderes Mal zu Ende bringen, noch drei bis vier Sätze, rund und klar, und die kurze Floskel, die die Zeitschrift unweigerlich hineinredigieren würde – er wollte sie weglassen, aber sie würden sie einbauen und noch aufs Titelblatt setzen, und wegen dieser fünf Worte, based on a true story, verkaufte sich dann die Zeitschrift besser. Diese true story war eine Datei auf seinem Desktop, zusammengeklaubt aus den Online-Nachrichten des vergangenen Monats, ohne die Schlüsselbegriffe zu verändern: »Hochschule«, »Hörsaal«, »Diskussion über Murawjow«, »Exmatrikulation«, »Wehrdienst«, »ungeklärter Todesfall«. Ein Leben, literarischer als die Literatur.

Sein Körper vibrierte noch vor Erregung, die eben getippten Wörter und Wendungen huschten wie kleine elektrische Entladungen über ihn hin, die in ihrer Vagheit besonders klaren Ausdrücke ließen ihn erzittern, sie bestätigten die Annahme, Literatur sei mehr als Geschichtenschreiben, nämlich ein energetischer Vorgang.

Er musste sich die Beine vertreten, frische Luft schnappen, außerdem – und das begriff er erst, nachdem er sich von der Tastatur losgerissen hatte – war sein Motiv über sie gestolpert, über den Traum, dass sie beide … Nein, nicht das Pronomen »sie«, nur die Erinnerung an ihre Augen, ohne die Annahme, diese Augen könnten in ein erkennbares, erreichbares Feld des Gemeinsamen übergehen. Zitternd warf er sich rasch etwas über. Jetzt musste er sich aus den Fängen der Worte befreien, sich distanzieren, umso erfüllter würde später die Rückkehr zu seinem Motiv sein. Seine Erregung ging vom geschriebenen Wort auf die gestrigen Erlebnisse über, die Erzählung mündete ins Leben, wie tags zuvor das Leben in die Erzählung gemündet war und sie stellenweise besonders eindringlich hatte werden lassen.

Draußen funkelte, floss und krächzte alles. Die Krähen waren zurück. Anatoli huschte zur Hofeinfahrt und spürte den Sawrassow in sich, bereit, die Leinwand über und über in die leuchtenden, transparenten Farben des Frühlings zu tauchen, und er dachte, dass das Bild besonders viel Azur aufweisen müsste – im Himmel oben, im Himmel, der in den kahlen Bäumen hing, im Himmel in den Pfützen, im Himmel der vom Tauwasser blank geputzten Fensterscheiben. Eine der Birken schien ihm ganz à la Sawrassow zu sein, es fehlte nur noch die kleine Kirche im Hintergrund, aber deren Part könnte genauso gut diese …