Revolution - Viktor Martinowitsch - E-Book

Revolution E-Book

Viktor Martinowitsch

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Beschreibung

Dies ist die Beichte von Michail German. Den Namen Victor Martinowitsch benutzt er nur als beliebiges Pseudonym. Vor Jahren beendete er, aufstrebender Dozent an einer Moskauer Privatuniversität, von einem Tag auf den anderen die Beziehung zu einer Kellnerin. die er eigentlich innig liebte. Was steckt hinter seinem plötzliche Verschwinden? In diesem Buch offenbart er sein Geheimnis. Martinowitsch erzählt in einem klugen Spiel mit der Fiktion von der skrupellosen Manipulation fragwürdiger Freunde und fragt nach dem Wesen der Macht, nach der menschlichen Tendenz zu Feigheit und Fügung.

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Sonar 31

Viktor Martinowitsch (auch: Victor Martinovich), 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Er schreibt regelmäßig für ZEIT online. Martinowitsch wurde bekannt mit dem Roman Paranoia (Voland & Quist 2014), der in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten wurde und 2013 auch auf Englisch erschienen ist. 2016 erschien sein Roman MOVA bei Voland & Quist, wie schon Paranoia in der Übersetzung von Thomas Weiler. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis. Von Dezember 2016 bis Mai 2017 war er Gast des Literaturhauses Zürich.

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.

Auf der Seite fussnoten.eu hat er seine Übersetzung von Revolution ausführlich kommentiert.

Originaltitel: Революция, übersetzt aus dem Manuskript

© Viktor Martinowitsch, 2017

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

Deutsche Erstausgabe

© by Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2021

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

ISBN 978-3-86391-280-2

eISBN 978-3-86391-298-7

www.voland-quist.de

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Schluss

Anmerkungen des Übersetzers

Erstes Kapitel,

in dem ich erkläre, dass dieses Buch eine Fälschung ist, und dich dir vorstelle

Nihao.

Bist du gerade zusammengezuckt bei diesem Wort, mit dem ich meine SMS immer anfing? Hast du für einen Moment geglaubt, dieses Wort aus einem zufällig gekauften Buch könnte direkt an dich gerichtet sein? Genügen dir diese beiden Fragen, den Tonfall zu erkennen und hinter dem kaum bekannten Autorennamen, der mein Geschreibsel tarnt, auch mich?

Du hast dieses Buch zur Hand genommen, weil ein Detail auf dem Buchrücken deine Aufmerksamkeit erregt hat. Ein Atlantisartefakt. Ein Objekt unserer romantisch versunkenen Zweierwelt. Ich habe dir die Angewohnheit mitgegeben, in allen Dingen Zeichen zu sehen und ihnen zu folgen. Und sie zu interpretieren, aber unbedingt verkehrt!

Wieso ein Buch? Nun, erstens wollte ich dich ausfindig machen. Zweitens wäre es mir ganz lieb, wenn sie davon nichts mitbekämen. Mein Kalkül ist simpel: Ernst zu nehmende Menschen lesen keine Bücher.

Das geschriebene Wort ist als Kommunikationsmittel überholt. Außer dreihundert zufälligen Lesern mit der Angewohnheit, die Stände mit dem verstaubten Altpapier zu durchstöbern, wird niemand meine Stimme hören.

Irgendwie muss ich durchdringen zu dir, meiner einzigen wahren Zuhörerin. Für alle anderen ist dieser Roman Fiction. Für dich ist er Doku-Theater. Ich glaube nicht, dass ich diesen dreihundert detailgeilen Fremden deinen Namen verraten will. Schon gar nicht im Zusammenhang mit den schweren Verbrechen, die noch kommen. Beim Verlassen des Labyrinths sollte der rote Faden wieder aufgewickelt werden, damit sich kein Minotauros mit Dienstausweis der Abteilung Tötungsdelikte an Ariadne heranmacht.

Deshalb will ich dich spaßeshalber »Olja« nennen. Dabei wissen wir ja beide, dass du unmöglich eine Olja sein kannst. Ausgerechnet Olja hieß ja das Objekt unserer Spötteleien, das Plüschpony von nebenan, das jeden Morgen in seinem flauschigen Anzug vor unserem Fenster seine Morgengymnastik absolvierte. Es begleitete mich mit seinen kranken Augen regelmäßig bis zur Haustür. Ich hatte dir versprochen, ich würde dich lieben wie Olja.

Noch ein paar Wendungen, damit die Erinnerung wieder erwacht.

»Frohsine.«

»Marmorküchlein« – so habe ich dich genannt.

Das Denkmal für die ruhmreichen Klempner, das du mir nach dem Sieg über den Wasserhahn errichtet hast.

Wish you were here.

Versand schafft Leiden.

Die spanischen Galeonen auf dem Teich im Ostankino-Park. Das Quartier im Vierten des Fünferwürfels. Die Gastherme mit ihren rostigen Rohren bis in die Kessel der Hölle. Einen Millimeter am Ventil geschraubt, schon warst du bei Alighieri zu Gast. Wir krochen verbrüht aus dem Bad, aber wir lebten auch wie verbrüht.

Erinnerst du dich noch an den Fernsehturm vor dem Fenster, den du ausreißen, rösten und zum Abendessen servieren wolltest? Bis dann ein neuer nachgewachsen wäre, würde es ein paar Jahre dauern. Geschmacklich dürfte der Ostankino-Turm einem geschmurgelten Pilz am nächsten kommen. Bei den Moskauern heißen diese Pilze »Schirmchen«, in meiner Heimat haben sie einen anderen Namen: »Henne«. So ein Fladen auf einem langen Ostankino-Bein. Weißt du noch, wie wir uns einig waren, dass der Eiffelturm ungenießbar ist? Gerösteter Eiffelturm schmeckt nach Spinne. Weißt du noch? Weißt du das noch?

Aber ich darf nicht vergessen, dass dieses Buch sich als Roman ausgibt. Also habe ich mich als »Held« dieses »Romans« ordentlich vorzustellen.

Ich bin Moskauer. Das heißt, ich bin vor sechzehn Jahren aus meiner kleinen Heimat, die aus Angst vor dem Hypnoseblick des polessischen Zauberers durchgedreht ist, nach Moskau gezogen.

Ich weiß noch, wie ich die ersten Monate durch Moskau ging und diese Englishman-in-New-York-Gefühl nicht mehr los wurde:

If manners maketh man as someone said

He’s the hero of the day

It takes a man to suffer ignorance and smile

Be yourself no matter what they say

Es fühlte sich an, als wäre ich aus einer kompakten europäischen Hauptstadt, in der die Autofahrer für Fußgänger bremsen und die Menschen die Buchstaben des russischen Alphabets sorgfältig aussprechen, in eine platte, wüste, fluchende Zehn-Millionen-Steppe geraten. Das Provinzielle und Zweitklassige an Moskau verblüffte mich in allen Bereichen: in der Art, sich zu kleiden, in diesem besonderen Verständnis von Luxus, das im Rest der Welt augenblicklich als kitschig erkannt wird, in den vorgestrigen Markenartikeln, die hier als Ausweise der Erfolgreichen gelten. In diesem sich für originell haltenden Epigonentum, diesem besonderen Snobismus, wie er nur unter Sultansdienern anzutreffen ist. Darin, wie die Bedienungen keine Eile haben, Tische abzuräumen, für die die nächsten Gäste anstehen, sodass man sich hier manchmal setzen muss, damit sie die Überreste eines fremden Croissants endlich auf den Boden fegen. Mit Ingrimm.

Und noch einmal: mit Ingrimm.

Pariž – pas riche. Moskwa, qua qua.

Ich murmelte eine Paraphrase des Warhol-Satzes vor mich hin: dass jeder in seinem nichtswürdigen Leben seine fünfzehn Minuten Moskau wert sei. Wenn du deine fünfzehn Minuten bekommst, halt dich ran. Schließlich gibt es, wo viel Übel ist (und in Moskau ist viel Übel!), immer auch viel Gutes.

Das Böse sticht in Moskau sofort ins Auge, erschreckt und stößt ab – bloß weg, nach Hause, zum Teufel! Das Gute erschließt sich dagegen nur dem Geduldigen.

Es erschließt sich, wenn du dich auf das Moskau-Tempo eingestellt hast, auf die Boxerhaltung mit den erhobenen Fäusten vorm Gesicht.

Wäre ja auch seltsam, wenn all diese unglaublichen menschlichen Millionen in einer Stadt lebten, die nichts Gutes zu bieten hat außer Geld, das dir diese Stadt schneller wieder wegfrisst, als du es aus ihr herausquetschen kannst.

Allmählich schleicht sich dann das andere Moskau in dich ein, ohne Prada, Mongolen, Pferdestärken und folkloristischen Firlefanz. Mit diesem Sonderling in der Metro, der dich inmitten der menschlichen Schutthalde plötzlich anlächelt, noch dazu so aufmunternd, dass du den Tag überstehen kannst.

Moskau ist mehrdimensional. Wer es geschickt anstellt, kann sein gesamtes Leben in der Dimension verbringen, die ihm am angenehmsten ist. Und doch leben alle jahrein, jahraus ausgerechnet in der ungemütlichsten. Dabei, Olja, ist der größte Vorzug der Stadt diese besondere Spielart von Einsamkeit in einer Zehn-Millionen-Metropole, die dermaßen voll ist von komplett gleichgültigen Menschen, dass du auf der Straße das Gefühl haben kannst, du hättest aufgehört zu existieren.

Hier allein zu sein, fühlt sich zehn Millionen mal so kalt an wie in jeder anderen Stadt der Erde. Weggehen kann ich ja nicht. Wer einen Krieg gewonnen hat, geht nicht weg.

Wieso ich dich ausfindig machen wollte? Weil ich glaube, dass ich dich zurückholen kann. Unser schlichtes Quartier im Vierten des Fünfers zurückholen, die Gastherme, unseren immer noch ungerösteten Ostankino-Turm. Mit meinen jetzigen Möglichkeiten wäre es mir ein Leichtes, dich aus jeder Versenkung zu holen, und wenn du als Aussteigerin irgendwo in Chiang Mai verschwindest. Aber ich möchte meine quirligen Heerscharen lieber nicht einschalten. Einmal aufgescheuchte Fledermäuse bekommt man mitunter nur mühsam zurück unters Dach.

Du hast Ostankino verlassen, und bei unserer Gastherme wohnt jetzt ein Mann mit fortgeschrittener Glatze und derart verschrecktem Blick, dass ich sofort sehe, er sagt die Wahrheit, wenn er behauptet, er wisse nicht, wo du hin seist und wer das überhaupt wäre, dieses »Du«.

Und es wäre ja nicht damit getan, dich zu finden.

Du bräuchtest ja auch noch eine Erklärung für alles. Meine Geschichte passt nicht in ein einziges Gespräch. Seit unserer letzten Begegnung sind aus den Nullerjahren die Zehner geworden. Angesichts dieses Abstandes (auch die Zeit kennt Distanzen), der zwischen uns getreten ist, darf ich von dir höchstens eine kurze Unterredung zwischen Tür und Angel erwarten.

Vielleicht würde uns eine bloße Umarmung schon genügen. Aber da ist noch eine Sache: Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich noch richtig umarmen kann. Wie du meiner Beichte entnehmen wirst, bin ich ein gänzlich anderer Mensch geworden. Falls überhaupt noch Mensch. Was von mir übrig ist, hat nicht nur so seine Schwierigkeiten damit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sondern, überhaupt welche zu haben.

Ich kann nur mutmaßen, wie du unsere plötzliche und rätselhafte Trennung aufgefasst haben magst. Wahrscheinlich hat es so ausgesehen: Schon einige Monate vorher hast du auf einmal die klassischen Symptome wahrgenommen. Die Symptome aus dem Seitensprung-Witz. Ich wurde schmallippig. Roch nach Angst. Kam abends später nach Hause. Keine freie Minute mehr. Das ist ja das erste Anzeichen für Fremdgehen, auch wenn du das Wort nicht ein einziges Mal in den Mund genommen hast. Dann fiel dir die rasante Veränderung meines Wesens auf, für die du keine Worte hattest, und du erklärtest lediglich, ich würde dir allmählich »richtig Angst einjagen«. Du wirst sehen, dass ich mir selbst »Angst einzujagen« begann.

Später kam ich plötzlich zu Geld und legte alle Merkmale einer selbst für die Moskauer Nullerjahre übersteigerten Großspurigkeit an den Tag. Schließlich, nach komplett vollzogener Mutation, nahm ich dich mit ins Café und eröffnete dir zu Björk-Gesängen, deinen Blicken ausweichend, wir müssten uns trennen, aber ich würde mich bald wieder bei dir melden.

Ich habe mich nicht bei dir gemeldet. Nicht ein Jahr danach, auch nicht fünf. Für mich hätte das verdächtig nach Tod gerochen. Warum nicht für dich? Warum hast du geglaubt, dass ich dich verlassen habe?

Eine Beichte erleichtert die Seele, ein Geständnis aus freien Stücken mindert das Strafmaß. Mein Anliegen ist es, so rauszukommen, dass ich dich nach diesem Text wieder vernünftig umarmen kann.

Deshalb will ich den Einsatz erhöhen und spaßeshalber von meinem ursprünglichen Vorhaben absehen, mich bis zuletzt hinter einem Pseudonym zu verstecken. Du weißt ohnehin, dass der Autor auf dem Einband meine Erfindung ist. Und nicht umgekehrt.

Für die anderen bin ich eine »Erfindung« ebenjenes Autors. Ja, was ich hier zusammenschreiben will, wird für mehrfach »Höchststrafe« reichen. Auch wenn das in Moskau heute nicht mehr Erschießung bedeutet (Erschießung wäre in meinen Augen eine höchst halbseidene Strafe, weil sie dem Opfer unterm Strich auch nichts mehr bringt). Am Ende ist es doch ganz nett, damit zu protzen, dass mir auch nach der vollumfänglichen Verlautbarung keiner was können wird.

Also (Trommelwirbel), ich heiße Michail Alexejewitsch German, und ich werde euch erzählen, was Macht ist.

Nicht die kalorienarme Machtbrühe, mit der sie euch im Fernsehen vor der Wettervorhersage abspeisen. Nicht die Handvoll Zwerge mit den Schlitzohrgesichtern, die ständig irgendwen bekämpfen, etwas verbieten oder aber gegen Verbote protestieren. Diese öffentliche Unterhaltungsversion von Macht wurde nur erfunden, damit ihr nicht hinterfragt, wieso der Ort, in dem ihr lebt, wo ihr eure Steuern zahlt und euch den gesetzlichen Forderungen der Polizei unterwerft, sich »Staat« nennt.

Nein, ich werde euch von der Macht erzählen, die euch längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, die euch aus euren Reflexen heraus regiert. Von der Macht, die der Code hinter unserer Welt ist, die hinter jedem einzelnen Schritt steht, vom Krieg bis zu eurem Gang zum Geldautomaten.

Die Lektorin hat darum gebeten, hier einzufügen, wie und wo du und ich uns kennengelernt haben. Das geht euch aber wirklich nichts an, liebe Leser. Bei aller Liebe. Das ist zu intim. Bei unserer Bekanntschaft spielte ein Satz in Richtung der Bedienung des Cafés, in dem ich an meinem altersschwachen Laptop den Lehrplan tippte, eine Rolle. Die Bedienung hatte aufgelacht und auch danach noch sehr häufig gelacht, ich hatte mir dieses fröhliche Lachen gezähmt und in ihm bis zu zehn verschiedene Schattierungen entdeckt, von begeisterter Zustimmung bis hin zu rumpeliger Zärtlichkeit.

Ja, Olja arbeitete als Bedienung in einem Café. Mehr will ich zu diesem Thema nicht sagen. Und ich will nichts mehr hören, das geht euch nichts an. Ja, ich habe in Architekturgeschichte promoviert. Und sie serviert Essen und nimmt Bestellungen auf.

Lieber erzähle ich euch etwas von den Kurilen. Sie hat in einem Laden in der Bolschaja Ordynka gearbeitet (jetzt nicht mehr, wo sie hin ist, weiß kein Mensch, versteht sich), im »Restaurant für russische und japanische Küche Kurilen«. Russische und japanische Küche waren auf der Speisekarte zu gleichen Teilen enthalten, aber der Wechsel von einer geografischen Phase zur anderen war eng an die Tageszeit gekoppelt. Tagsüber war hier eine manierliche, ruhige Sushi-Bar, Büroangestellte malten auf die Servietten Summen, auf die sie nach der Beförderung zum stellvertretenden Abteilungsleiter spekulierten, ertränkten zitternde Shrimps in schwarzer Soße, verschlangen California Rolls und nestelten an lauwarmen Feuchttüchern herum.

Abends spülte es diese Kundschaft in gesichtslose Clubs mit weißen Wänden, wo sie weiter Summen auf Servietten malten, diesmal aber jene, die sie dem Dealer für das Gramm Kokain bezahlen wollten, während in den Kurilen auf ihren Rappen die »Goldene Horde« aus allen Teilen der Stadt einfiel, überwiegend schwarz gekleidet, jede Menge Metallschmuck, unbelehrbar, gedrungen, hauteng, fahrig, kroch sie jetzt, im Zeitalter der Aufklärung, erst in den dunklen Stunden heraus und nur an die »eigenen«, fürs Besoffen-auf-dem-Tisch-Tanzen prädestinierten Orte.

Ungefähr von einundzwanzig Uhr bis früh um halb sieben waren die Kurilen in der Gewalt des russischen Gaunerchansons, Karaoke singender Mädels, saftiger Flüche und »hundertfuffzig und ’n Glas Saft«. Die komplette Tatarengeschichte dieses Stadtviertels lebte im Tabakrauch wieder auf: Da fraßen kahl geschorene Männer mit runden Gesichtern fettiges Fleisch, und es lief übers Gesicht, und es lief über den Schnauz, und es lief auf die Plauz und traf in den Mund und traf auf den Kiefer und wohl auch mit dem Fuß in die Nieren zuweilen. Häufig kam die Ambulanz, nie jedoch die Polizei, weil die Kurilen in der Macht der Russen waren, nicht dieser mittäglichen Japano-Manager, die schon bei einem Rechtschreibfehler im »Teriyaki« auf der Speisekarte die Polizei gerufen hätten. Gegen Morgen erleuchtete das nüchterne Licht des Landes der aufgehenden Sonne das Lokal, die Chansons liefen aus, die Tataren schliefen ein, Leiber wurden fortgetragen, Tische gewischt, Vasen mit Schilfschösslingen tauchten auf, und du gingst nach Hause, dich ausschlafen. Du arbeitetest dort jeden dritten Tag und warst bald Japanerin, bald Tatarin, und dein Haar war golden wie im Spinnennetz gefangenes Morgenlicht.

Manchmal warst du zu müde zum Einschlafen, dann erzähltest du mir, wie heute einer von ihnen plötzlich auf Französisch »Salut, c’est encore moi« gesungen hatte, aber so, dass die Leute feuchte Augen kriegten (besser noch: die Feudel Leuchteaugen) und dass er direkt danach voll über den Fernseher gekotzt hatte und umgekippt war, du wolltest ihn wieder aufwecken, weil er dir leidtat, aber dann haben sie ein Taxi gerufen und ihn mit ihren Taxifahrer-Antialko-NLP-Methoden wiederbelebt, um zu erfahren, dass er nirgends hinkonnte, dass ihm irgendwas passiert war, dass er in dieser Stadt überhaupt nirgends mehr hinkonnte.

Und ich erzählte dir, warum alle Lokale hier auf ihre Weise Kurilen sind (du nanntest sie Skurilen). Warum aus historischen Gründen jedes Restaurant hier zu Verka Serduchka, Fleischsalat, Umpa-umpa, Suff und Prügelei tendiert. Drüben, in Europa, ist das Café der Treffpunkt für die aufgeklärte Bourgeoisie, die Konzentration des weltlichen Lebens, in Russland dagegen ein Ort, an dem der Staat daran verdient, Alkohol an seine betrunkenen Sklavenkinder zu verticken. An dieser Stelle warst du natürlich schon am Einschlafen. Meine soziologischen Randnotizen wirkten immer einschläfernd auf dich. Dein plötzlich zuckendes Bein verriet mir, dass du schon die Leinen losgemacht hattest, und ich nahm dich in meine Arme, glitt unter den weißen Segeln deines Atems in den Schlaf, um zehn Minuten später vom Wecker wieder herausgeklingelt zu werden und zu meiner Architektursemiotik-Vorlesung zu fahren, die auf meine Studierenden dieselbe einschläfernde Wirkung erkennen ließ wie auf dich.

So sah es aus, unser leinenes Glück, das ich in meinen Träumen auf das gesamte mir zugemessene Leben ausdehnen wollte, doch plötzlich klaffte ein Riss in der Leinwand mit dem Bild des gemütlichen heimischen Herds, und dort, jenseits des abgebildeten Feuerholzes, des Feuers, jenseits von Kessel und Suppe, zeigte sich eine Tür, die hinausführte aus der Stube. Und in meiner Hand ein Schlüssel, und eine Stimme, die nachdrücklich verlangte: »Schließ auf!« Und meine ganze Welt mit ihren Vorstellungen von Gut und Böse, von dir und den anderen, prasselte zu Boden wie die Mosaiksteinchen bei einem Erdbeben von der Wand. Anschließend stürzten auch die Wände ein.

Begonnen hatte alles an einem verregneten Aprilabend, an dem ich erstmals Geheimnisse vor dir bekam, und zu ebenjenem Abend wollen wir zurückkehren, die Geheimnisse eins ums andere zu lüften.

Zweites Kapitel,

in dem ich mit den Sitten auf Moskaus Straßen heftiger aneinandergerate, als mir lieb ist

Normalerweise kann ein in Bewegung befindliches Objekt A eine Strecke B in einem bestimmten Zeitintervall C zurücklegen. Zwischen achtzehn und zwanzig Uhr kann sich in Moskau dieses Intervall jedoch verzwei-, verdrei- und sogar verfünffachen, aufgrund einer in mathematischen Textaufgaben nicht anzutreffenden Variable namens »Stau«. Und da noch niemand die Subjektivität des Zeitempfindens abgeschafft hat und jede Minute im Stau mit ausgeschaltetem Motor zwei-, drei- oder fünfmal so lang dauert wie die Minute bei einer Tasse Kaffee, kommt für einen Teil der Moskauer die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr vollkommen zum Stillstand, während sie sich für einen anderen Teil, den mit dem Kaffee und der sanften Hintergrundmusik, sogar beschleunigt bis zum Ohrensausen.

Die Universität, in der ich die Studierenden mit meinen Architekturvorlesungen quälte, hatte der Philanthrop (heute klingt dieses Wort hier fast so schräg wie »Entrepreneur« oder, sogar noch schräger, wie »Resident« oder »Ombudsmann«) George Soros in einer Zeit erbaut, da der Name Soros in Russland noch kein Schimpfwort war. Er hatte das vielgeschossige Gebäude mit Schwimmbecken und Bibliothek mitten auf den Nowy Arbat geklatscht.

Soros war überzeugt, der Grund dafür, dass »Demokratie« in Russland ein Schimpfwort ist, sei die mangelnde Bildung der Russen. Aus Unwissenheit hätten sie keinen Respekt vor den Werten, an die er glaubte, wenn er Hunderte von Millionen für Grundstück, Bau und Beamtenbestechung ausgab. Wenn man nur jedem Russen von Isaiah Berlin und Jürgen Habermas erzählte, würden sie schon aufhören zu saufen, sie würden sich vom Schlaf befrein, den Schein des wunderbaren Glücksterns schauen und in der Willkür Trümmer …, na ja, und so weiter.

Der Bau wurde hingestellt, Russland befreite sich nicht vom Schlaf. Mehrfach sollte die Uni geschlossen werden, sie wurde zwangsweise umbenannt, aber immer wieder lenkten sie unter dem Geheul der Botschafter ein, da sie verstanden, dass weder Berlin noch Habermas von Übel waren, eher trauerten sie um das Grundstück, auf dem man so schön einen Autosalon oder eine Spielhölle hätte hochziehen können. Die Eigentümer würden regelmäßig etwas springen lassen, und alles wäre in Butter. Stattdessen stand hier die »Moskauer Europa-Universität«, kurz MEU, die wir Entrepreneure westlichen humanistischen Denkens, Residenten halb legalen sozialen Wissens und Ombudsmänner der Kritischen Theorie und der Culture Studies unter uns nur MIAU nannten. Wäre die MIAU dichtgemacht und nach außerhalb der Ringautobahn verlegt worden, um Platz für im modernen Moskau zeitgemäßere Bauten zu schaffen, hätte mich das nur gefreut. Umso leichter hätte ich Raum und Zeit in Einklang bringen können auf dem Weg von meinem Arbeitsplatz zu unserer Küche im bläulichen Schein der Gastherme.

Aber gleich schläfere ich dich noch gänzlich ein mit meinen langweiligen Überlegungen, wichtig ist doch nur, dass ich an jenem Aprilabend in unserer Uni-Bar die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr totschlug, damit nicht sie mich in meinem Auto erwischte, eingezwängt im Strom irgendwo bei der Auffahrt zum Prospekt Mira. Du warst als Japanerin in den Kurilen, deine Wiedergeburt als Tatarin konnte nicht mehr weit sein, wenn es nach dem Wiehern der Pferde und dem Hufgetrappel im Hintergrund ging, als wir telefonierten, um in den Hörer zu schnurren.

Die Zeit ist so ein mieses, sprunghaftes Vieh, dass man sie am besten mindestens zu zweit totschlägt, sonst schlägt sie einen raffinierten Haken, schlüpft aus deinem Blickfeld, und du lässt Kimme und Korn deines Blickes hilflos über die Wände gleiten, rührst mit dem Löffel das Sumpfgebiet aus kaffeegetränktem Zucker am Boden deiner Tasse durch und langweilst dich.

Ich lungerte mit Phäno-Andrjuscha, einem Husserl- und Merleau-Ponty-Spezialisten und entsprechend mit den Spitznamen »Monty«, »Andrjusserl« oder »das Phänomen« bedacht, an unserem Lieblingstischchen herum. Wir schnatterten wie zwei alte Segel im Gedankenwind. Dabei war von einem Gedankenwind nicht mal so viel zu spüren, wir schnatterten einfach, ohne Wind, wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche.

Ich, gerupft von den Studierenden, er, zermürbt von der Übersetzung eines französischen Aufsatzes mit lauter Wörtern, für die es im Russischen keine begrifflichen Äquivalente gab, er musste sie alle erfinden und immer gleich erläutern. Darüber beklagte er sich nicht zum ersten Mal bei mir. Aber darum geht es ja gerade beim Schnattern, dass man sich wieder und wieder beklagen kann.

Andrej war mein bester Kumpel, und unsere Sitzungen in der Bar hatten für ihn manchmal etwas Tragisches, weil er sich bei jedem meiner Kaffees einen Whisky holte, aber ich habe dir ja viel von ihm erzählt, weißt du noch? Und weißt du noch, dass ich irgendwann plötzlich aufgehört habe, Andrjuscha in unseren Gesprächen zu erwähnen?

Die Bar, in der wir die verbleibende Zeit totzuschlagen versuchten, nannte sich Barthes. Das Barthes lag im obersten Stockwerk unserer MIAU, und die Bewohner der umliegenden Betonfelsen gönnten sich ab und zu ein Mittagessen im Kreise der tschilpenden Philosophen.

Beim Betreten der Bar durch den handtuchbreiten Alkoven vor den Aufzugtüren fand sich der nach dem Intellektuellen in sich forschende Besucher in einem großzügigen Raum mit etwa fünfzig Tischen wieder, dessen vollverglaste Stirnseite einen Ausblick auf die Hochhäuser am Arbat gewährte. Der Barmann, aus dem die harte Hand des Namefinders einen »Barthesmann« gemacht hatte, sah aus wie Einstein, dem die Flucht aus dem Reich nicht geglückt war. In einem ausführlichen Gespräch mit ihm über zweifelhafte Thesen in Lossews Interpretation der frühbyzantinischen Ästhetik hatte er sich einmal sorgsam des Slangs eines höheren Akademikers bedient. Wenn ich mit Andrjuscha noch eine halbe Stunde länger geblieben wäre, hätte ich den Barthesmann bitten müssen, ihm ein Taxi zu rufen, und er hätte mir hundertprozentig widersprochen. Andrjuscha steckte in weiser Voraussicht nie Taxigeld ein (er wollte sich auf dem Heimweg mit mir unterhalten).

Die gesamte Wand hinter der Bar zierte ein Porträt des großen B. höchstselbst, allerdings nicht desjenigen, den man in einem Hochschulcafé erwartet hätte, sondern eines von Bart Simpson, der auf der Tafel den immer gleichen Satz schrieb, in Spalten, vielfach wiederholt, wie jedes Mal im Vorspann der Simpsons: »Am Nullpunkt der Literatur … Am Nullpunkt der Literatur …«

Ich riss mich von diesem Bart los und sagte, manchmal sei es das Wichtigste, rechtzeitig aufzuhören, aber Andrjuscha wollte nicht, konnte nicht aufhören, er fing zum dritten Mal von seinen Vorbehalten gegenüber der Semiotik an (in einen Konflikt verwickeln, Versöhnung feiern und dann zur Festigung der emotionalen Bindung einen gemeinsamen Heimweg vorschlagen, alter Schluckspecht).

Er hoffte immer noch, mich an der Bar festhalten und sich in mein Auto einladen zu können, damit ich ihn nach Hause fuhr, wo er mich zum »Aquarium gucken« nötigen würde und, falls ich so töricht sein sollte, ihm keine Abfuhr zu erteilen, mich mit einem Segelflosser-Blick von Kopf bis Fuß messen und mir, unsystematisch mit seinen Flossen segelnd, vorschlagen würde, zu zweit abzustürzen, weil »das Sofa für dich ist ja da«.

Schon mehrfach war ich dieser Logik (sich besaufen, weil da ein Sofa ist, auf dem man den Rausch ausschlafen kann) phänomenologisch verkatert zum Opfer gefallen, aber dieser Aprilabend kam dann doch allzu klar daher. Wie der erste Regen seit einem Jahr auf verrunzelte, geschwärzte Schneewehen. Allzu verführerisch funkelten dort unten die Lichter der inzwischen weniger gewordenen Autos. Allzu verlockend leuchteten die Schaufenster der Nachtclubs – das Leben erschien, wie so häufig im beginnenden Frühjahr, viel attraktiver und geheimnisvoller, als es eigentlich war. Der Alkohol drohte alles einzuebnen und die denkbar banalsten Erklärungen für diese Geheimnisse zu liefern, sodass man sich der Geheimnisse selbst, vielmehr der Empfindung ihres Daseins im Leben, hinterher nur noch peinlich berührt erinnern könnte.

Ich klopfte Andrjuscha auf die Schulter und gab zum Abschied das Übliche über die Zeit von mir: »Jeder weiß, was das ist. Aber niemand kann es den anderen erklären.« Die alkoholzentrierte Conclusio aus Augustinus hörte ich mir nicht mehr bis zum Ende an, sondern beeilte mich, zum Aufzug zu kommen.

Es passierte, als ich unseren Rosenbaum aus der Tiefgarage fuhr, und jetzt muss ich den anderen erklären, was der »Rosenbaum« ist. Nach einem Jahr in Moskau ohne meinen schnittigen Mazda, den ich bei der überstürzten Abreise aus meiner Heimat nicht hatte mitnehmen können, hatte ich mir endlich wieder ein Auto zulegen wollen. Im vollen Bewusstsein, wie selbstmörderisch diese Idee unter Moskauer Bedingungen war.

In dieser Stadt gibt es drei Kategorien von Fahrzeugen:

Die WAZ-Fraktion, getunt, mit Schalldämpfer oder ohne (Sound identisch).

Dann die GAZellen, plattschnäuzige Monster, die eher an Weißwale erinnern als an springende, zierliche Gazellen. GAZellen reiten Viehzüchter, die hinterm Steuer leben, deshalb ist es trotz der schwachen Motoren und dem extremen Gewicht dieser menschenbepackten Blechbüchsen sinnlos, sich mit ihnen in Sachen Geschwindigkeit oder Dreistigkeit messen zu wollen. Sie werden dich sowieso bedrängen, überholen, abdrängen und dann auch noch beschimpfen.

Die dritte große Gruppe Moskauer Fahrzeuge bilden die ausländischen Fabrikate, kreditfinanziert und deshalb weniger aggressiv unterwegs. Die einzelnen Ordnungen (Nager, Paarhufer, Erectus) lassen sich in Unterklassen aufgliedern, es gibt Mutanten wie den Niva-Chevrolet, aber wer sich erstmals ans Steuer setzt, findet sich unweigerlich auf einer der Sprossen dieser Evolutionsleiter wieder. Mein Rang als Hochschullektor (ich war ja nicht mal Dozent, ungeachtet einer vor langer Zeit und in einem anderen Land erfolgreich verteidigten Doktorarbeit – wenigstens kein Fliesenleger!) berechtigte mich höchstens zu der Hoffnung, mich in die WAZiaten-Armee einzureihen. Blieb nur noch zu klären, welches der drei in den vergangenen zwanzig Jahren auf dem Markt befindlichen Modelle es sein sollte.

Als Mechaniker war ich nicht zu gebrauchen, also gab ich dem WAZ 2105 den Vorzug, den ein Datschenbesitzer aus dem Treppenaufgang nebenan fuhr. Ausschlaggebend für meine Entscheidung war, dass er sein Auto manchmal erfolgreich startete und zum Fahren brachte. Er wollte dafür so wenig haben, dass man sogar mit meinem Gehalt von dieser Art Erzeugnissen der Automobilindustrie gleich drei Exemplare zur Probe hätte kaufen können.

Die Begutachtung von Karosserie, Innenraum, Stutzen und Verbindungen unter der Kühlerhaube half mir nicht, die Frage zu klären, wann dieser WAZ zugelassen worden war. Rost war kaum zu finden, er konnte also aus dem Vorjahr stammen oder von Anfang der 1980er. Die Hauptsache aber war das vorsintflutliche Autoradio mit Kassettendeck.

Sobald man den Motor anließ, krächzte das Radio los, durch das weiße Rauschen drang eine kratzige Stimme: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm«, du klatschtest in die Hände und sagtest: »Ja, Wahnsinn! Das ist doch Rosenbaum!« Nachdem wir Alexander Rosenbaum dreimal beidseitig angehört hatten (Autoreverse funktionierte bei diesem Wunder sowjetischer Technik nicht), wollten wir den Chansonnier aus dem Kassettenfach befreien.

Aber Pustekuchen! Offenbar steckte Rosenbaum schon seit Jahrhunderten hier fest, so gründlich verklemmt, dass sich die Kassette nur noch herauszerren ließ, wenn man den Tonkopf gleich mit ruinierte. Weiterhin offenbarte sich, dass sich das Gerät mit Rosenbaum automatisch einschaltete, sobald man den Zündschlüssel umdrehte, dass es sich nicht mehr abschalten ließ, die Luft mit dieser Reibeisenstimme vermengte und nicht einmal leiser gestellt werden konnte – der Lautstärkeregler drehte durch. Vielleicht war auch gar keine Lautstärkeregelung vorgesehen, der Sowjetmensch hatte Musik so zu hören, wie es Partei und Institut für Fahrzeugbau festgelegt hatten.

Wir gaben uns natürlich nicht geschlagen. An einem schwülen Sommerabend, als wir Ruhe brauchten wie die Luft zum Atmen, zogst du eine Spange aus deinem Haar und versetztest dem rechten Lautsprecher einen schnellen Stich, in der Hoffnung, den rasselnden Opa ruhigzustellen. Aber der Sänger verstummte nicht. Sein Timbre wurde penetrant, unerträglich. Am Abend flog die rechte Achswelle raus. Und wir hatten gelernt, dass wir besser nicht versuchen sollten, die Seele des Wagens abzuwürgen.

Ich fuhr auf den Nowy Arbat, aus den Lautsprechern kam es wie Zugluft an den Füßen: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm, wolosss byl tscherneje smoli – stal sedymmmm«. Ich sang mit, weil ich guter Laune war und Rosenbaum nicht nervte, und der Rosenbaum hatte ordentlich Zug, die Gänge kamen beim Schalten auf Anhieb.

»Bei einem phänomenologischen Zugang zur Musik«, sagte ich mir heiter, »geht es wohl im Wesentlichen darum, dass gar nicht entscheidend ist, was da aus den Lautsprechern tönt. Wahre Musik kann sowieso nirgends entstehen. Sie ist eine Erfindung deines Bewusstseins, das Töne hört. In deinem Inneren entsteht aufgrund des Gehörten die Empfindung von Schönheit oder eben von Genervtheit. Deshalb kann der Weise, solange er will, mit derselben Kassette herumfahren und bei den längst auswendig gelernten Liedern bald glücklich sein, bald genervt.«

Bei diesem Gedanken bemerkte ich, dass sich ein winziger Jaguar Sport vor mich gesetzt hatte, Baujahr zwischen 1945 und 1970. Wie jeder teure Oldtimer sah er nach einer Perle aus dem Antiquitätenladen und nicht nach einer peinlichen Rostlaube vom Gebrauchtwagenhändler aus. Ich sehe seine Farbe noch vor mir, ein dunkles Kirschrot, sehe noch das Veloursverdeck, wie straff er nach den Ampeln beschleunigte. Ich wollte mich dahinterklemmen, aber der Rosenbaum packte es nicht, japste und griff sich an sein 1,2-Liter-Herz. Das Anhimmeln eines fremden Spielzeugs, dieses Raubtiers aus einer anderen Klasse, in die ich niemals aufsteigen würde, war keine grauen Rauchwolken aus einem zur Überdrehung genötigten Motor wert.

In diesem Augenblick, als ich die Verfolgung der kirschroten Schönheit, bei der noch die Bremsleuchten ihren eigenen, auf die Karosserie abgestimmten Ton hatten, gerade resigniert abbrechen wollte, tauchte hinter mir plötzlich ein überdimensionierter silberner Mitsubishi Pajero auf, mit Seilwinde, auf dem Dach eine Batterie Scheinwerfer. Als wäre er auf dem Sprung ins Walhall mit einem Zwischenstopp in deinen Kurilen, Olja. Der Jeep schubste mich an, fuhr so dicht auf, dass die Seilwinde die hintere Stoßstange meines kaum noch atmenden Rosenbaums touchierte. Ich drückte aufs Gas, wollte weg, hatte aber zu wenig Dampf. Der hinter mir ließ sein Fernlicht aufflammen: Bahn frei! In seiner Monstrosität ließ der japanische Transformer in mir nicht das Bedürfnis aufkommen, ihm durchs geöffnete Fenster den Mittelfinger meiner Linken zu zeigen (dabei hatten sie, wie ich jetzt weiß, genau darauf spekuliert).

Ich setzte den rechten Blinker und verzog mich auf die Außenbahn zu den Pflanzenfressern. Dort ging ich vom Gas, aber hinter mir strahlte es immer noch, als wäre der Rosenbaum ein Fußballstadion. Jetzt verstand ich nicht mehr so richtig, was da vor sich ging. Ich fuhr doch schon auf der »lahmen« rechten Spur, was denn noch? Der Jaguar war auch hier, er fuhr dasselbe Tempo wie der Pajero, sie gehörten zur selben Kolonne, und ich hatte mich wohl zwischen den Kaiser und die Samurai gedrängt, die folglich ihre Strahler leuchten ließen. Unverzüglich ordnete ich mich klaglos wieder auf der mittleren Spur ein.

Doch da schwenkten in einem synchronen Doppelmanöver auch Jaguar und Pajero auf die mittlere Spur um, einer vorn, einer hinten. Der Pajero beschleunigte wieder, drängelte mit seiner Seilwinde und schob mich förmlich vor sich her, dass auch ich Gas geben musste, und so schossen wir dahin: hinten der Jeep, vorne das Cabrio, dazwischen ich. Die anderen Spuren waren leer, wir waren ganz unter uns (was ging hier vor?).

Ich schwenkte wieder nach rechts, die beiden mir nach, wie die Ansaugerfische. Das Profil des Jaguarpiloten hatte etwas von einem Raubvogel. Offenbar hatte er sich nur deshalb kein Blaulicht aufs Dach gepappt, weil bei dem weichen Gewebe seines Cabrios unweigerlich die Schönheit des Wagens gelitten hätte.

Ich wedelte von Spur zu Spur, sie klebten weiterhin an mir, der Vordere hielt meine Geschwindigkeit, der Pajero schob, damit ich beschleunigte. Wir jagten den gesamten Nowy Arbat hinab, von der Moskwa bis zur Wosdwishenka, dort bog ich in eine Seitenstraße ab, in der Hoffnung, sie loszuwerden, aber sie kamen beide mit, zuerst nur der hinter mir, dann, nach einem Ritt über die Parallelstraße und einem Satz über die Gegenfahrbahn (was ging hier vor?), auch der Jaguar. Ich wollte unbedingt die Polizei rufen, aber dafür hätte ich anhalten müssen, schließlich flogen wir gerade mit neunzig Sachen über eine zweispurige, kurvenreiche, zugeparkte Straße. Ich versuchte zu bremsen, aber der hinter mir ließ seine Sirene aufheulen und stellte auf Dauerfernlicht. Von wegen anhalten, weiter geht’s!

Ich war wild entschlossen, rechts ranzufahren, sobald die Straße breiter würde, notfalls auch auf den Gehweg, und den Motor abzustellen, sollen sie doch zu zweit ihre Rennen fahren. Wir querten die Twerskaja, hier hätte ich einbiegen sollen, aber bei dem Tempo schaffte ich es einfach nicht, sondern hüpfte von einer Röhre in die nächste.

Ihr Genossen, die ihr die UdSSR lobpreist! Ihr mit eurer Verklärung von Pachmutowa-Melodien, Billigwurst, der Freiwilligen Gesellschaft zur Unterstützung von Armee, Luftstreitkräften und Flotte, von Stabilität und was ihr sonst noch so üblicherweise verklärt … Also, meine Lieben, ein Tipp: Versucht mal wieder, mit einem WAZ 2105 zu fahren! Steigt um von eurem SUV auf dieses Wunderkind der späten Sowjetunion und dreht eine Runde durch die Nachbarschaft. Versucht, den dritten Gang einzulegen. Versucht, auf über sechzig zu beschleunigen. Dann habt ihr ein für alle Mal diese UdSSR-Sache verstanden und empfunden. Dann kehrt ihr unverklärt ans Steuer eures SUV zurück.

Wieder diese Enge, das Entsetzen beim Blick auf den Tacho, Rosenbaum schwieg, nur das Klackern des kaputten Autoreverse, aber keine Zeit, den Knopf zu drücken.

Von hinten ein Leuchten wie bei einer Atombombenexplosion, sogar das Flutlicht hatte er zugeschaltet, der Nomade. Weiter vorn, noch vor dem Jaguar, weitete sich das Unterholz der Häuser zu einer rettenden Lichtung, dort war irgendein Platz, ich bereitete mein Manöver vor, aber da verschwand der Jaguar vor mir in einer Wolke aus Rauch und Tröpfchen (die Pfützen auf dem Asphalt); das kam daher, dass, wie ich fünf oder zehn Meter weiter erkennen sollte, ja, es kam daher, dass er hart auf die Bremse gestiegen war und die Fahrbahn blockierte, so hart, dass er sogar mit seinem sportlichen ABS und den Scheibenbremsen ins Schwimmen gekommen war. Den Jaguar hatte es leicht zur Seite gedreht, das Heck nach links, sodass er mir seine appetitliche Beifahrerseite zuwandte.

In diese Seite nun (fast ungebremst, da ich erst im letzten Moment aufs Pedal latschte, es bis zum Anschlag durchtrat, sodass ich spüren konnte, wie es sich in die Gummimatte presste, sie zusammenstauchte), in dieses lackierte Museumsmetall von dunklem Kirschrot – Metall aus einem Jahr, in dem ich, möglicherweise, noch gar nicht auf der Welt war … Alles in meinem Rosenbaum bremste, um den letalen Zusammenprall abzuwenden. Greisenhaft krallte er sich mit dem kahlen Gummi in den Asphalt, ächzte, brach sich die Nägel ab, ich glaubte, längst den Boden durchgetreten zu haben, nun mit dem Fuß zu bremsen und mir die Schuhsohle abzuschleifen … Komischerweise kam der Rosenbaum überhaupt nicht ins Schleudern. Er schleuderte nicht, weil er auch nicht ordentlich bremste – mit blockierten Rädern rutschte er wie auf Kufen geradewegs auf die kirschrote Vintage-Schönheit zu und semmelte mit Karacho mitten hinein. Ich nahm noch so einiges wahr, bevor der Sicherheitsgurt anzog und es mich dermaßen zurückriss, dass in meinem Hals etwas knackte (tot oder querschnittsgelähmt, dachte ich. Aber im nächsten Augenblick stieß ich mit den Ellbogen gegen das Armaturenbrett und wurde von einem stechenden Schmerz durchzuckt, der nur bedeuten konnte, die Halswirbel waren noch ganz, was mich freute). Folgendes hatte ich wahrgenommen: die zu Berge stehende Kühlerhaube, die, aufgeworfen, gegen die Windschutzscheibe schlug, zurückfederte und wieder runterrauschte, um zuzuklappen. Nur leider war da, wo sich vor Sekundenbruchteilen noch mein Motorraum befunden hatte, nun ein fremder Jaguar, und meine Kühlerhaube hieb gierig ins Veloursverdeck. Vor allem aber setzte der Stoß den Kassettenrekorder wieder in Gang, und es tönte: »Kak tschasto wishu ja son, moi udiwitelny son, w kotorom ossen mne tanzujet wals-boston«.

In der nächsten Sekunde bemerkte ich, dass von dem Zusammenprall die Fahrertür des Jaguars aufgesprungen war, der Airbag (offenbar nachträglich eingebaut, beim Tuning) sich aufgeblasen hatte und der Fahrer, der darauf lag, sich noch rührte – er war okay, lebte noch, Gott sei Dank.

Als ich gerade erleichtert durchatmen wollte, da ich glaubte, nun sei es vorbei (das alles hatte kaum anderthalb/zwei Sekunden gedauert), wuchs sich das Atombombengleißen hinter mir zur Druckwelle aus – der Pajero hatte mich erwischt. Der Stoß war heftiger als der Zusammenprall mit dem Jaguar – hatte es mich da nur nach vorn geworfen, hob es jetzt den ganzen Rosenbaum aus und bog ihn auseinander. Sein Boden hob sich und stand schief in der Luft, mein Gleichgewichtssinn drehte durch, als wäre ich zu lange Karussell gefahren. Wo der Asphalt gewesen war, stand jetzt eine Hauswand, wo die Hauswand gestanden hatte, waren Nachthimmel und Straßenlaterne. Der Gurt straffte sich und hielt mich, ich schwebte nämlich über dem Lenkrad. Der Mitsubishi hatte noch bremsen können und dabei ordentlich Tempo gelassen, das half aber nichts. Mit der ins Heck gegrabenen Seilwinde hob er den Rosenbaum hoch, um ihn anschließend plattzumachen und ihn noch weiter in den lädierten Jaguar hineinzudrücken. Meine zerknitterte Kühlerhaube hing jetzt auf dessen Fahrerseite, der Fahrer selbst hing im Gurt.

Von meiner Stirn troff heißer Schweiß, tiefrot gefärbt. Der in diesem verzerrten Raum diensteifrig unter mein Gesicht getauchte gesprungene Rückspiegel zeigte mir, dass ich ein Auge verloren hatte. In der schwarzen Höhle steckte eine Glasscherbe, ach nein, das war nur das Lid, das geschlossene Lid, und auf ihm, kaum einen Kratzer hinterlassend, tatsächlich eine Scherbe, aber nicht Glas, sondern Spiegel. Ich pflückte sie ab, stellte fest, dass alles heil war, Auge und Lid, und die Beine bewegten sich, und die Arme schmerzten, und Rosenbaum sang.

Der Fahrer des Jaguars klickte seinen Gurt auf, kroch aus den Trümmern, richtete sich schwankend auf und schüttelte den Kopf. Ich bedachte ihn mit einem warmen Blick – nach allem, was wir soeben durchgemacht hatten, kam es mir vor, als kennte ich ihn schon mein Leben lang.

Ich langte nach dem Türgriff, und der komplette Mechanismus, das Schloss, die ganze Verriegelung, fiel einfach heraus wie die Zahnprothese aus einem Totenschädel. Die Tür hatte es dermaßen verzogen, dass unten ein zentimeterbreiter Spalt klaffte und die Angeln nur noch ein Klumpen gestauchten Metalls waren – die bekam man jetzt höchstens noch mit dem Schneidbrenner auf. Die Frontscheibe war weg, aber das Seitenfenster noch da, und eben dort wollte ich hinaus, weil es über den Motorraum direkt in den üppig mit meinem Glas bestreuten und mit einer Mischung von Säure aus der zerquetschten Batterie, siedend heißem Öl und weiß der Teufel was benetzten Jaguar ging.

Ich griff nach der Fensterkurbel und machte ein paar Umdrehungen, die Scheibe senkte sich knirschend in die platt gedrückte Tür und blieb nach zwei Dritteln stecken. Ich kroch durch die Lücke und lernte dabei, dass ein von Blut und Schweiß überströmter Körper viel besser durch enge Spalten rutscht als ein trockener. Kopf, Schultern und die obere Hälfte meines Rumpfes hatte ich schon befreit, nur der Fuß klemmte immer noch irgendwo, wollte einfach nicht aus den Pedalen heraus, und so hing ich strampelnd fest. Der Fahrer des Jaguars umrundete, nachdem er sein Jackett ausgeklopft und glatt gestrichen hatte, rasch sein zusammengestauchtes Vintage-Raubtier, kam auf mich zu – ich legte den Kopf in den Nacken und schaffte es wohl auch noch zu sagen: »Hab’s überlebt.«

Statt der erwartbaren Frage, ob bei mir noch alles ganz sei, holte der kurz gewachsene Mann im dunklen Jackett mit weißem Hemd und schwarzen, gelockten Haaren über der hohen Stirn aus und knallte mir einfach so, mit Schwung, seine Faust gegen den Kiefer. Kein harter Schlag, aber sein Ring zerkratzte mir die Wange. Und sogleich sah ich das sonderbare Rennen in allen Einzelheiten wieder vor mir. Ich wollte schreien: »Was war denn das für eine Scheiße?« Aber halb aus dem Seitenfenster eines WAZ 2105 hängend Hühnchen rupfen zu wollen, ist so ziemlich das Dümmste, was einem einfallen kann.

Unterdessen war aus dem Pajero hinter mir ein bulliger Typ in Anzug und dunklem Hemd ausgestiegen, eine Art Sumoringer, der sich nach zehn Jahren in Russland assimiliert hatte. Geschäftstüchtig kam er auf mich zu und stellte mir mit einem kurzen Nicken den Schläger vor: »Pjotr Wikentjewitsch.«

Der Sumotori nahm vor ihm Haltung an.

Offenbar wurde von mir erwartet, dass ich, aus dem Fenster hängend wie Pu der Bär aus dem Kaninchenbau, mich nun meinerseits mit Pjotr Wikentjewitsch bekannt machte und ein gepflegtes Gespräch über die Vorzüge moderner japanischer und britischer Fahrzeuge gegenüber den moralisch veralteten Hervorbringungen der vaterländischen Automobilindustrie anknüpfte. Stattdessen fuhrwerkte ich weiter strampelnd im Fahrgastraum herum, um mich aus dem vernichtend geschlagenen Greis zu befreien. Nicht zu vergessen über dieser wortlosen Szene das lyrische »Kak tschasto wishu ja son, moi udiwitelny son, w kotorom ossen mne tanzujet wals-boston.«

Mir schweigend den Rücken zugewandt, schaute Pjotr Wikentjewitsch zu dem Sumotori auf und sagte knapp: »Fünfzigtausend.«

»Sind Sie sicher?«, fragte der ironisch zurück. »Günstiger geht’s wohl nicht?«

»Fünfzigtausend«, wiederholte er und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden, mit schnellen Schritten zur nächsten Gasse, bog darin ein, verschwand aus meinem Gesichtsfeld und ließ nur Vor- und Vatersnamen zurück, die sich mir bis an mein Lebensende einprägen sollten.

Kaum hatte sich der Fahrer entfernt, war auch das Ironische aus den Zügen des Sumotori verschwunden. Er kam mit einem eher erschöpften Ausdruck auf mich zu. Wieder rechnete ich mit der Frage, ob ich mir nichts gebrochen hätte, aber stattdessen packte er mich am Kragen. Nicht wie eine Katzenmutter ihr Junges, sondern wie ein Löwe das Lamm, das er schon gerissen hat und jetzt zum Fressplatz schleppt, an Nacken, Jackett und Hemd zugleich. Er packte mich, als hätte ich unter meiner Kleidung einen Tragegriff, riss mich mit einem kräftigen Ruck aus dem Autofenster und trug mich, ohne auch nur daran zu denken, mich loszulassen, einfach so zu seinem Jeep. Das Blut schoss mir in den Kopf, ich brüllte, wollte mich empören, streckte Arme und Beine von mir, um mich loszureißen oder wenigstens abzufangen, sollte er mich einfach auf den Asphalt stürzen lassen. Aber der Sumotori hatte einen festen Griff, er hatte nicht vor, mich freizugeben oder fallen zu lassen. Er öffnete die Tür, warf mich auf die Rückbank, und ich flog tatsächlich im Bogen durch die Luft, flog wie ein Hündchen, halb erstickend an meiner Erregung, das Wort »Miliz« rufend, als könnte die Miliz in dieser Stadt in solchen Situationen auch nur irgendetwas ausrichten. Er umrundete den Jeep, der meinen Rosenbaum zusammengefaltet hatte, ohne selbst Schaden genommen zu haben, von etwaigen Kratzern an der Seilwinde einmal abgesehen, startete und drehte die Musik lauter, in der ich einen mir bekannten Elektroniksound erkannte (Prodigy?). Dann setzte er scharf zurück, dass das angehobene Hinterteil meines Rosenbaums scheppernd auf die Erde schlug. Ich fürchtete schon, er würde beim Aufprall einfach auseinanderfallen. Ist er vielleicht auch.

Ich rief, das wäre quasi eine Entführung. Dass wir den Unfallort nicht verlassen dürften. Ich fing wieder von der Miliz an. Ich packte ihn sogar an der Schulter, wollte ihn am Fahren hindern. Aber er griff seinerseits, ohne sich umzusehen, meine Finger und bog sie einfach nach hinten, dass ich von einer kochenden Schmerzwelle überrollt wurde, vom Sitz auf die Knie rutschte und, als er wieder losließ, zurückkroch, die Beine unterschlug, sie mit den Armen umfasste, die Hose blutbefleckt, und verstummte, nicht mehr schrie, es half ja nichts, hier nicht, niemand konnte es hören, nur der Sado-Sumotori würde wieder böse.

Wir rasten durch Moskau, verstießen gegen alle möglichen Geschwindigkeitsbegrenzungen, bogen in Prospekte ein, überquerten Brücken, passierten lange Garagenreihen, fuhren an Betonwänden voller Graffiti entlang, die eher Aggressivität als Ästhetik verrieten. Ich hatte Schwierigkeiten zu folgen, mein Kopf war so schwer, als wären unter den Brauen dunkle Gewitterwolken aufgezogen, irgendwo im Hinterkopf grummelte es auch schon, und ich war kurz davor, mich hier mitten in den Innenraum zu übergeben (nicht auszudenken, was der Bulle dann mit mir anstellen würde).

Der Jeep bremste langsam ab, während er an einem stacheldrahtbewehrten Dreimeterzaun entlangfuhr. Es sah ganz danach aus, als würde ich direkt ins Untersuchungsgefängnis gesteckt, wo ich wegen Verschandelung des Jaguars einer wichtigen Persönlichkeit mit Blaulicht über beiden Ohren für vierzehn Tage in einer Zelle verschwinden sollte. Aber von wegen – das Tor, an dem wir hielten, sah eher wie die Zufahrt zum Lager eines Handelskonzerns aus, ja selbst das orangefarbene Blinklicht, das die bevorstehende Öffnung des Tores anzuzeigen hat, war da, es blinkte, und das Tor öffnete sich. Hinter dem Tor tauchten mehrere unbeleuchtete Plattenbauten auf, deren triste Anmutung keinen Zweifel daran ließ, dass sie mitten in den besonders stahlbetonhaltigen Jahren der sowjetischen Architekturgeschichte errichtet (oder bei diesem Gebäudetypus eher »hingestellt«) worden waren, in den 1970ern. Hier, vor einem eingeschossigen Flachbau bei der Einfahrt, gleich hinter dem Tor, würgte der Sumotori den Motor ab. Ich suchte mit den Augen irgendein Täfelchen über der Tür mit Adresse oder Name des Betriebs, befingerte mein Telefon, das schon den Miliz-Notruf wählte – ich hoffte immer noch auf Schutz. Und aus dem Hörer antwortete es mir schon streng und ernsthaft, ich wäre an der richtigen Stelle gelandet, warten Sie auf die Antwort des diensthabenden Beamten, als der Fahrer die Tür zuschlug, um den Wagen herumging und meine Tür öffnete. Ich streckte, in den Sitz gekrallt, die Beine vor, bereit zuzutreten, ihn wegzutreten, wenn er mir zu nahe kommen sollte.

Aber er sagte ungerührt und eine Spur verächtlich: »Jetzt kriech schon raus, dir tut keiner was. Und leg auf, dass du nachher nicht den Fehlalarm zahlen musst.«

Und er sagte das irgendwie so, dass ich auf »Abbrechen« drückte, da ich meinte, diese kurze Nummer könnte ich jederzeit wieder wählen, sogar mit dem Telefon in der Tasche, einfach wählen, damit sie dort, am anderen Ende der Leitung hörten, was hier vor sich ging.

Und ich wagte mich ein Stückchen vor, als ich rief: »Was geht hier eigentlich vor? Spinnt ihr, oder was?«

Aber ich stieg schon aus, leistete schon Gehorsam. Kaum war ich draußen, schon drehte er mir mit einer geübten Bewegung das Telefon aus der Hand, um mich anschließend so zügig und professionell, dass mir das Aufmucken sofort verging, von Fuß (erst rechts, dann links) bis Kopf abzutasten, als suche er nach Waffen, doch das, was er tatsächlich suchte, befand sich in meiner rechten Hemdtasche – ein Lederetui mit meinen Papieren: Fahrzeugbrief, Führerschein, Versicherung, Prüfbericht der Technikinspektion. Er angelte alles aus dem Hemd, schlug sogleich das Heftchen auf, hielt es unter die Taschenlampe und studierte es mit dem Ausdruck eines Beamten der Verkehrsmiliz.

Nachdem er sich durchgeblättert und alles gelesen hatte (die Lippen bewegten sich mit und offenbarten den Wenigleser, der so selten las, dass seine Lesefertigkeit nicht über das kindliche Mitbuchstabierenmüssen hinausging), meinte er nickend: »Alles da. Immer mir nach.«

Er schloss die Tür auf, und wir standen in einem hell erleuchteten Kasten mit mehreren Reihen ausgeschalteter Monitore – offenbar war hier die Stube des Wachmanns. Er schob mich in den Nachbarraum, nachdem er am Schlüsselbund endlich den passenden Schlüssel für die Stahltür ausfindig gemacht hatte. Kaum war ich über die Schwelle getreten, hinein ins Dunkel (das Licht war noch aus), schlug er resolut und professionell wie ein Knastschließer die Tür hinter mir zu und nahm mir damit die einzige Lichtquelle. In der totalen Finsternis war ich so perplex, dass ich nicht sofort gegen die Tür hämmerte, meine unverzügliche Freilassung forderte, den FSB anzurufen drohte, das Amt für Terrorismusbekämpfung, meinen Freund Alik, der allen Entführern die Köpfe abreißt (das alles war natürlich, wie du weißt, Olja, völliger Schwachsinn, ich hatte keine Alik-Freunde, aber dort, in diesem muffigen Zimmerchen, in totaler Finsternis, hinter der Stahltür, hatte ich die blanke Kindergartenangst). Ich tastete die Wand entlang, fürchtete schon, mit der Hand in den aufgerissenen Mund eines weiteren Opfers zu geraten, das hier vor ein paar Tagen ums Leben gekommen war, ertastete natürlich auf Augenhöhe einen Schalter, knipste ihn an und musste angesichts der neuerlichen Atomexplosion die Augen zusammenkneifen, so grell, so unerträglich grell knallten die Leuchtstofflampen von oben.

Als die Augen aufhörten, dem Gehirn das Weiß eines belichteten Films zu melden, und sich hinter dem unerträglichen Schleier Tisch, Schrank, Safe und Gitterfenster abzeichneten, erkannte ich, dass ich mich in einem winzigen Zimmerchen befand, zwei mal drei Meter, in dem dennoch irgendwie Tisch, Schrank, Safe und sogar ein breites Fensterbrett unter dem Gitterfenster (Zeichnung »Sonnenaufgang über dem Gefängnis«) Platz fanden. Als Semiotiker ging ich natürlich zuerst zum Schrank, einem Bücherschrank, in dem Bücher standen. Ich wollte wissen, was das für Bücher waren, ich spürte, dass ich verstehen könnte, an was für einem Ort ich hier war, nur anhand der Buchrücken, der Titel (dabei wäre die einzig richtige Entscheidung gewesen, sich den Tisch genauer anzusehen – in der Schublade hätten irgendwelche Papiere sein können, aber ich hatte anders entschieden). Also, in diesem Schrank, einem tschechoslowakischen Schrank aus goldfarbenen Spanplatten, standen weiße Taschenbücher in Reih und Glied, ohne Titel auf dem Rücken, eigentlich überhaupt ohne Rücken. Es waren eher Broschüren, hemdsärmelig geheftet, mit Klammern oder Kunststoffspiralen. Die Bücher waren unterschiedlich dick und machten einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Ich drückte gegen die Glasscheibe, schob die eine Hälfte beiseite, griff mir willkürlich ein Buch heraus, und ich fand einen Titel, nach dem ich mich sofort setzen musste, auf den Tisch, die Kante, da stand nämlich: Die Makarow PM im Gefechtseinsatz. Aber das allein war es noch nicht einmal, was bringen findige Verleger zur Befriedigung der von einer krankhaften Leidenschaft für Mordwaffen befallenen Psychopathen nicht alles heraus? Ein Stückchen oberhalb, in der Kopfzeile stand: »Ministerium des Inneren der Russischen Föderation«. Und das ganze Layout war dermaßen holprig, und dann die dämlichen Illustrationen, wie gewollt und nicht gekonnt, Konturzeichnungen, in denen Milizionäre mit aufmerksamen Gesichtern, ein Auge zugekniffen, Verbrecher umnieteten, die vor ihnen Reißaus nahmen, gebückt nach Räuberart (wieso lehrte dieses Lehrwerk eigentlich, auf Unbewaffnete zu feuern? Hätte man den Bösewichtern nicht wenigstens eine abgesägte Schrotflinte in die Hand drücken können? Oder ein Stück Heizungsrohr? Aber das hier war alles dermaßen »für den Dienstgebrauch«, dermaßen hausintern, dass diese Fragen unweigerlich ins Leere laufen mussten).

Ich schob die Broschüre schnell wieder zwischen ihresgleichen und wurde dabei auf eine weitere gleich daneben aufmerksam, etwas über die psychologische Grundierung von Ermittlungsmaßnahmen, wiederum mit MdI-Signet, und ich schloss, sicher ist sicher, die Glasfront und sah ein, dass es tatsächlich denkbar unsinnig gewesen war, die Polizei anrufen zu wollen, und ich schaute in das Spiegelbild mit meiner erschrockenen Visage und der gespaltenen Stirn und versuchte, mich mit einem Lächeln aufzumuntern.

Aber ich wollte dann doch noch wissen, was im Safe war. Er wäre natürlich zu. Bei einem Zahlenschloss könnte ich die ganze Nacht hindurch nach dem sechsstelligen Code suchen, bis sie mich dann am Morgen holten, sich entschuldigten und mir erklärten, ihr Untergebener hätte es übertrieben und überzogen. Aber das Schloss war ganz simpel, ein schamhaft verdeckter Schnapper, überstrichen in der Farbe des Safes (der in der Farbe der Wände gestrichen war), ein Schlüsselloch. Und ich streckte die Hand nach dem Griff, mir freilich keinerlei Hoffnung machend, der Safe könnte nicht verschlossen sein, lag doch in den Geschichten mit einem hinter vergitterten Fenstern eingesperrten Helden der Schlüssel zur Flucht immer im Safe, nur krieg den mal auf! Die Nuss wird immer geknackt, der Safe springt auf, darin liegt der Türschlüssel oder die Feile für das Gitter vor dem Fenster, Happy End eben!

Aber der Griff gab nach, der Schnapper klackte, die zentimeterdicke Stahltür schwang auf, und drinnen, im Safe, lag nur ein Revolver, mit einem »Iss mich, Alice«-Aufkleber auf dem Griff. Nein, das mit dem Aufkleber war natürlich nur ein Witz. Da war kein Aufkleber auf dem Griff, aber der Revolver war da. Wahrhaftig, schwer und kalt wie ein Fossil aus dem Paläozoikum. Und ich ergriff ihn sogleich, griff nicht nach ihm, sondern ergriff ihn tatsächlich, wie einen Rettungsring, der mich natürlich retten würde.

Und ich fand die Sicherung unter meinem linken Daumen, ganz primitiv, zur Arretierung der Trommel, ich spannte den Hahn vor, jetzt konnte ich mich locker erschießen, ha ha. Mich überkam ein leichtes Zittern. Mir war klar, dass sie in einem Raum, der mit MdI-Broschüren zum Waffengebrauch vollgestellt war, kaum eine Schreckschusspistole oder Gummigeschosse aufbewahren würden, außerdem ließ der Umstand, dass jemand vergessen hatte, den Waffenschrank abzuschließen, auf einen äußerst sorglosen Umgang der Hausherren mit diesen tödlichen Spielzeugen schließen. Ich hielt die Mündung nach oben und schaute in den Lauf – da war keine Laufsperre drin, blieb nur noch zu klären, ob das Ding geladen war. Bei eingelegter Sicherung betätigte ich sämtliche Hebel, dass es ein paarmal klickte, ein bisschen wie Russisch Roulette, wobei der Gewinn am Ende unklar blieb – ich würde ja nicht auf den Mann schießen, der mit all meinen Papieren irgendwohin verschwunden war. Des rätselhaften Trommelzugangs Lösung lag in dem Stift unterm Griff, den ich zunächst für einen Putzstock gehalten hatte. Als ich daran zog, klappte die Pistole klirrend auseinander wie ein Jagdgewehr. Die Trommel war leer: nichts. Natürlich gab es noch die vage Möglichkeit, dass derjenige, der mich hier wieder einsammeln würde, das nicht wusste, doch das Knirschen des Schlüssels im Schloss hinderte mich daran, handfeste Pläne rund um die Pistole zu schmieden, und schon schwang die Stahltür weit auf. Dahinter stand der nämliche Sumotori, der umstandslos hereinkam (sofort wurde die Luft dünner), den Revolver in meiner Hand registrierte, ignorierte und Platz nahm.

Moment mal. Ich wedelte mit dem Lauf, um deutlich zu machen, dass ich gewissermaßen bewaffnet war, wedelte allerdings, ohne recht an meine eigene Stärke, meine Bewaffnung zu glauben, und er brummte: »Pack das Spielzeug zurück in den Safe!«

Das Ganze mit einer Beiläufigkeit, die mir verdeutlichte, dass ich selbst mit Panzerpatronen in der Trommel keine Bedrohung für ihn darstellen könnte. Und sollte ich es dennoch versuchen, bekäme er keinen Schreck, sondern bestenfalls einen Lachanfall. Also schob ich die Pistole schnellstens wieder in den Safe und machte mich mit dem Ausdruck eines braven Bürgers, den die Drogenaufsicht zu Hause beim Abpacken von hundert Gramm Marihuana erwischt hat, daran, ihm zuzuhören.

»In den finsteren Neunzigern«, fing er an und verlieh seinem runden Gesicht mit den schmalen Augenschlitzen einen Anschein von Weisheit, »hätten wir dich für so eine Nummer achtkantig aus der Wohnung gekickt, du Pisser. Hast du gesehen, was du aus Pjotr Wikentjewitschs Sammlerstück gemacht hast?«

»Was ich gemacht habe?«, blaffte ich zurück. Ich versuchte, mich zu ereifern. »Was habt ihr denn selber gemacht? Sie sind mir doch hinten drauf, was sollte denn der Scheiß? Und der … Selber schuld, wenn er so scharf bremst!«

Er hörte mich an, als wäre er der Arzt in einer psychiatrischen Klinik und ich der frisch eingelieferte große Lyriker Iwan Besdomny.

»Sicherheitsabstand einhalten, Genosse Fahrer. Hast du die Plakate nicht ordentlich gelesen, du Flachpfeife?«, fragte er gutmütig.

Ich verschluckte mich an meinen Gegenargumenten, während er stur seine Linie weiterfuhr.

»Also. Zwei Probleme: Erstens hast du keine Wohnung. Zweitens haben wir nicht mehr die finsteren Neunziger.«

Meine Gesäßmuskulatur entspannte sich leicht. Anscheinend sah alles doch nicht ganz so düster aus, wie ich gedacht hatte.

»Heute werden die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft und …« Er hatte Mühe, das Format unserer Beziehung in Worte zu fassen, seinen Status und meinen, und brachte den Gedanken nach einer kurzen Pause folgendermaßen zu Ende: »… und zwischen der Wirtschaft und dem Rest der Welt ausschließlich auf der Grundlage von Recht und Gesetz geklärt.«

Bei seiner Formulierung »Recht und Gesetz« kam mir sofort meine Haftpflicht in den Sinn, und ich beruhigte mich vollends. Aber er meinte etwas anderes.

»Dir ist schon klar, dass keine Police den Schaden abdecken kann, den du Vollpenner angerichtet hast. Da ist bei hunderttausend Riesen Schicht im Schacht, und du hast hier locker für zweihundertfünfzig abgeliefert. Oder noch mehr, weiß gar nicht genau, was die Karre grad kostet. Und was man beim Flohmarkt noch für die zwei Räder kriegt, die du übrig gelassen hast. Aber die Leute haben entschieden, mit dir, Ficker, menschlich umzugehen. Keine Ahnung, wieso, ist nicht mein Bier. Du hast es gehört: Du schuldest uns nur fünfzigtausend. Ganz ehrlich, ich hätte bei dir dreimal so viel rausgeholt. Und wär immer noch für mich im Recht. Aber wenn es fünfzig heißt, dann eben fünfzig. Und wenn du Pfeife das Geld nicht in drei, ach egal, in fünf … ja, normal gibt es fünf … Also, wenn du uns diese fünfzigtausend in fünf Tagen nicht abgeliefert hast, weißt du, was wir dann mit dir machen?«

Da orgelte sein Telefon eine ausgesprochene Schmachtmelodie, und eine klebrige Frauenstimme sang »A tyyyyyy …«, aber schon hatte sie der Sumotori wieder abgewürgt, kurz und knapp wie ein Ringrichter beim Boxkampf.

»Ah, der Genosse Oberst!« Diese Begrüßung klang bei ihm nicht kriecherisch, eher kumpelhaft, es war zu spüren, dass er mit dem »Genossen Oberst« schon seit Jahrzehnten per Du war. »Wir wollen grade drüber sprechen. Ich stell mal auf laut, kann er mithören.«

Und er drückte auf den Freisprechknopf und gleichzeitig noch auf drei unwillig maunzende Knöpfe, bei seinen Pranken hätte er Tasten von einem halben Meter gebraucht.

Aus seinem Telefon war unter leichtem Störgeblubber zu hören: »Welche Personendaten denn noch? Meldeadresse weißt du schon. Liiert mit einer Kellnerin. Arbeitet richtig in der Universität. Nach seinem Sozio- und Psychogramm, bei seinem Einkommen, passt am besten Entwendung von Kommunikationsmitteln. Und laufende Verfahren haben wir wahrscheinlich auch. Da hängt noch eine Anzeige der Bürgerin M. S. Wolobujewa, gemeldet in Sokolniki, komplett durch und bearbeitet. Zeugenaussagen sind da, nur der Tatverdächtige muss noch eingetragen werden, der passt doch genau. Entwendung eines Mobiltelefons mit einem Schätzwert von siebenhundert Tacken, setzen wir im Gutachten noch hoch, dass ihr zufrieden seid, also, ohne strafverschärfende Umstände läuft das auf fünfe im allgemeinen Vollzug raus. Passt das?«

»Ist doch pillepalle fürs Erste. Wenn er dann rauskommt, geben wir ihm noch mal fünf Tage zum Geldeintreiben. Danach drücken wir ihm sieben rein, wenn er’s wieder nicht packt«, antwortete der Sumotori gut gelaunt.

»Am Eingang kommt er gleich ins Auto, das regeln wir«, erklärte sein Gesprächspartner.

»Verstanden, Genosse Oberst! Danke für die Hilfe! Dann geben wir ihm fünf Tage, und ihr macht schon mal die Zelle klar.«

Das Mondgesicht unterbrach die Verbindung und grinste mich hämisch an. »So, du hast alles gehört, Professor. Da bei euch in den Universitäten haben sie dir wohl beigebracht, was fünf Tage sind. Du kannst natürlich versuchen, aus Moskau abzuhauen, aber wir finden dich sowieso, und dann reden wir nicht mehr nach Recht und Gesetz, bestimmt nicht. Fünfzigtausend in fünf Tagen, ganz simpel. Heute ist Dienstagabend. Sonntag Punkt achtzehn Uhr hast du die Kohle. Also ich. Klar?«

Die ganze Zeit, seit diese Zahl gefallen war, saß ich völlig perplex da, unfähig, auf ihr Hin und Her zu reagieren. Die Summe war jenseits von Gut und Böse, selbst ein Zehntel davon wäre das noch gewesen. Ich hatte keine fünfzig- und auch keine fünftausend, auch dreitausend hätte ich erst in einem halben Jahr zusammengekratzt. Und ich überlegte, ob ich nicht gleich sagen sollte, es gibt kein Geld und wird auch keins geben, ich bekomme das nicht zusammen, ob ich nicht gleich in die Zelle gehen sollte. Aber dann musste ich an dich denken, Olja, ganz fest. Ich musste daran denken, dass fünf gemeinsame Tage … dass das sehr viel ist, weißt du?

Das Mondgesicht schubste mich schon aus dem Gebäude, schob mich schon zum Tor.

»Dann mal los, geh Flaschen sammeln, oder wie ihr Professoren euch sonst eure Brötchen verdient. Wir haben dich im Blick. Wenn du das Geld früher zusammenhast, kriegen wir das mit und gehen aktiv an dich ran. Du siehst schon, wir haben dich schön in der Hand. Aber mach hin, klar? Sonst packst du’s nicht bis Sonntag! Die Kolonie ist für die einen trautes Heim, Glück allein, den anderen, Typen wie dir, bricht sie gern mal das Genick. Weißt schon, was sie da mit solchen Gerippen … Also los, auf geht’s!«