Pardona 3 - Herz der tausend Welten - Mháire Stritter - E-Book

Pardona 3 - Herz der tausend Welten E-Book

Mháire Stritter

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Beschreibung

Die Zeit der Hochelfen ist vorbei, ihre Kultur lange vergessen. Doch eine letzte Vertreterin dieses Volkes wandelt noch immer über Aventurien: Pardona hat ihr Werk so gut wie vollendet und ihre Geschwister ausgelöscht. Sie stürzt ganze Reiche ins Chaos, ihre Kreaturen jagen und ermorden Sterbliche und sogar göttliche Wesen. Jeden Tag kommt sie ihrem ultimativen Ziel näher und Acuriёn, ihr einstiger Diener und Widersacher, ist dazu verdammt, ihr tatenlos zuzusehen, denn seine körperlose Seele ist in einem Schmuckstück gefangen. Die Pardona-Trilogie erzählt über einen Zeitraum von 5.000 Jahren die Geschichte einer der bekanntesten bösen Figuren Aventuriens und enthüllt, dass alle ihre Taten einem höheren Ziel dienten. Die Reihe führt durch die aventurische Historie, während sich eine epische Geschichte entfaltet, und eignet sich deswegen auch sehr gut für Neulinge in der Welt des Schwarzen Auges.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25735Titelbild: Dagmara MatuszakAventurien-Karte: Daniel JödemannRedaktion: Nikolai HochLektorat: Frauke ForsterKorrektorat: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen:Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers

Administration: Christian Elsässer, Carsten Moos, Johanna Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz, Markus Plötz, Cora Elsässer Marketing: Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina Wagner, Wolfgang G. Wettach Ulisses Digital: Alina Conard, Nico Dreßen, Thomas Engelbert, Nele Klumpe, Julia Metzger, Phillip Nuss, Maximilian Thiele, Jan Wagner, Carina Wittrin, Kai Woitczyk Verlag: Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Timothy Brown, Simon Burandt, Carlos Dias, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Darrell Hayhurst, Markus Heinen, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Christian Lonsing, Matthias Lück, Susanne Majewski, Thomas Michalski, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Eric Simon, Alex Spohr, Anke Steinbacher, Ross Watson Vertrieb: Nils Herzmann, Jan Hulverscheidt, Anke Kühn, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert

Copyright © 2021 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Mháire Stritter & Nicolas Mendrek

Herz der tausend WeltenPardona III

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Mit Dank an Bernhard Hennen

Prolog

»Ich bin mir sicher.« Acuriën glitt in mehreren Hundert Schritt Höhe im schwindenden Licht der untergehenden Sonne durch die Luft. Die Augen des Falkenkörpers, den er nutzen musste, sahen noch klar, ihr Blick heftete sich auf eine kleine Gruppe von Gestalten.

»Ich bin mir sicher, dass sie keine Gefahr für Euch darstellen«, fügte er hinzu, gezwungen, wahrheitsgemäß Bericht zu erstatten. Die Worte klangen nur in dem formbaren, gestaltlosen Ich nach, das ihn noch ausmachte, aber er war nicht der Einzige, der seine Gedanken hören konnte.

Er spreizte die Flügel, kippte in eine Kurve und versuchte die Höhe zu halten, während er die Gestalten im Auge behielt. Er wusste lediglich, dass sie selbsternannte Helden waren, die die Taten von Pardona aufhalten wollten – einer Frau, deren Namen sie nicht recht sprechen konnten und von deren Leben oder Hintergrund sie nicht mehr wussten, als dass sie aufgehalten werden sollte. Sie würden scheitern, wie alle anderen vor ihnen.

Pardona – Amadena, Tochter des Goldenen Drachen Pyrdacor und der blinden Hochkönigin Orima und Trägerin vieler Namen – hatte Acuriëns Seele in den Körper eines Falken gesperrt, so wie ein Kriegsherr einen Ritter auf einen Hippogriffen setzte oder ein Schreiber Unterlagen in eine Mappe legte. Er war ein Werkzeug für sie, ein weiteres Paar Augen. Die erzwungene Dienstbarkeit in dem eisernen Griff, den sie um seinen Verstand und seine Seele gelegt hatte, amüsierte sie. Vielleicht gab sie ihr auch ein Gefühl von beständiger Überlegenheit. Anders konnte er sich nicht erklären, weswegen sie ihn nicht gehen ließ, zerstörte oder vergaß.

Jede versuchte Flucht – und in drei Jahrtausenden hatte er es oft, so oft versucht – endete am selben Punkt: in einer unscheinbaren Fibel, die in ihren Windungen aus Silber seine Seele festhielt, weil ein Teil von ihm einst hineingeschmiedet worden war und es Amadena gefiel, ihn als Schmuckstück zu tragen. Die hoffnungsvollen, entschlossenen Kämpfer und Gelehrten, die jetzt auf den Fuß des Turmes zuhielten, würden bald ein ähnliches Schicksal erleiden, dessen war Acuriën sich sicher. Niemand hatte Amadena je bezwungen.

Hatte er früher seine Erinnerungen verloren wie Spielsteine, die vom Tisch gefallen irgendwo verborgen ruhten, bis man durch Zufall oder lange Suche wieder auf sie stieß, erinnerte er sich jetzt an zu viel. Drei Jahrtausende wechselnder Eindrücke, auch wenn sie durch lange, gnädige Ruhepausen der Bewusstlosigkeit durchzogen waren, in denen Jahrhunderte verstrichen, füllten ihn an und überlagerten einander. Das Ufer des Sees, über dem er kreiste, flackerte und wandelte sich. Mal stand der Turm, zu dem ihn jetzt ein unsichtbarer Faden zurückzog, mal war er eine Ruine, mal war die Insel gänzlich unberührt von Bauten. Manches davon mochte real sein, anderes war einmal gewesen, aber er war zu müde, um es auseinanderzuhalten.

Er hob die Schwingen und glitt auf das hohe, einsame Bauwerk auf der Insel im See zu. Der Gestank nach Blut und Schwefel drang von dort aus in den Abendwind, erfüllte den Nebel über dem Wasser. Erinnerung legte sich, durchscheinenden Bildern aus Glas gleich, über Erinnerung: eine chaotische Vermischung von Bildern.

Da war eine Beschwörung im Himmelsturm, wo er auf Erkenntnis gehofft und Untergang erlebt hatte, als Amadena die einsamste Stadt der fenvar im ewigen Eis an sich riss. Eine Lichtung nahe Simyala, der Stadt aus Leben und Wald und Humus, wo sich Gestalt gewordenes Grauen aus einem Beschwörungskreis erhob, als Amadena es beim Namen rief. Dieselbe Lichtung, als der Nebel des Limbus, der Welt zwischen den Welten, sie freigab und sie zurückkehrte; sie, der Gestank nach Blut und Schwefel und ein sterbender Troll.

Drei Jahrtausende waren nun vergangen, seit Amadena wieder Fuß auf aventurischen Boden gesetzt hatte. Drei Jahrtausende, die Acuriën an sie gekettet gewesen war. Er dankte dem Schicksal dafür, dass er nicht die komplette Zeit bei Bewusstsein gewesen war. Wenn Amadena ihn nicht brauchte und ihn auch nicht mit neuen Erkenntnissen über den Niedergang seines Volkes quälen wollte, ließ sie seinen Geist oft jahrhundertelang in der alten Fibel schlummern. Manchmal vergaß sie auch schlicht, dass er da war. Wie für fast alle anderen fühlenden Wesen zeigte sie keinerlei emotionale Regung für ihn.

Doch heute hatte sie ihn doch gebraucht, zum ersten Mal seit Jahren. Sie hatte ihn in den Körper dieses Raubvogels gebannt, um als Späher zu dienen. Für diese Nacht hatte sie viele ihrer Werkzeuge bereit gemacht – sie hielt sie für eine der wichtigsten Nächte ihres Lebens, für einen Meilenstein auf ihrem Weg zu wahrer Macht. Heute würde sie einem gefallenen Halbgott einen Körper erschaffen.

Acuriën hatte seinen Bericht telepathisch an seine Herrin übermittelt. Sie wusste nun, dass sie bald gestört werden würde und befahl ihm, in den dunklen Nachtschattensturm zurückzukehren. Er konnte sich diesem Befehl nicht widersetzen und wenige Augenblicke später landete der Vogel im Turmfenster, berührte mit seinen Klauen die Fibel, die dort auf dem kalten Stein lag und Acuriëns Geist kehrte in sein Gefängnis zurück. Amadena ergriff die Fibel und schloss damit ihr Gewand. Der Vogel blieb benommen auf der Fensterbank sitzen. Was er in dem Turmzimmer gesehen hatte, verstörte selbst seinen simplen Geist.

Amadenas Arbeit war schon zur Hälfte getan.

Der Geist des Halbgottes weilte bereits wieder in der 3. Sphäre. Ein menschlicher Magier hatte die Grenzen seines Gefängnisses aufgebrochen, aber seinen eigenen Plan für die Wiederauferstehung nicht beenden können und mit dem Leben bezahlt. Um genug Lebenskraft aufzubringen, um dem Alveraniar des Verbotenen Wissens einen Körper zu schaffen, hatten Pardonas Handlanger – die von den Göttern verfluchten Vampire – das Herzogtum Weiden seit Monaten geplagt und den Menschen das Blut ausgesaugt.

Nun bildete diese Lebenskraft vor ihr eine rohe, vibrierende Masse, die sich in einem archaischen Kessel von mehreren Schritt Durchmesser und auf dem im Boden eingelassenen Tridekagramm aufbäumte und zuckte. Der Beschwörungskreis war den zwölf herrschenden Häuptern der Niederhöllen und dem Namenlosen Gott in seiner Verbannung am Rand der Schöpfung gewidmet. Niemand sonst würde es wagen, diese Mächte zugleich anzurufen, aber Amadenas Stimme folgten sie, legten ihr die Macht in die Hand – überzeugt davon, dass sie ihnen allen dienen würde. Stille Beobachter in den Schatten, lose Verbündete und Interessierte, studierten die Symbole und Handlungen des Rituals.

Das Blut im Tridekagramm war den Menschen dieser Region über Monate geraubt worden, Männern, Frauen und Kindern. Ihr Leid war es, das diesem Prozess noch die nötige Würze verlieh. Die rote Substanz verdickte sich, begann zu kochen, während Amadena die Mächte des Bösen in einer Zunge anrief, die niemand außer ihr in Aventurien sprach, und sie bat, die Kräfte des Kessels zu wandeln, zu verzerren, in Chaos zu versetzen.

Aus dem Stockwerk unter ihnen vernahm Acuriën Kampfeslärm, noch immer über die Sinne des benommenen Vogels, denn die Verbindung war noch nicht völlig gekappt. Die Abenteurer waren hier und stürmten den Turm hinauf, um das Ritual doch noch zu verhindern. Natürlich würden sie scheitern.

Im Kessel verdickte sich die wabernde Masse zu Klumpen. Das Blut in den Rillen auf dem Boden floss schwerelos zur Decke und zu den Wänden, bildete einen roten Nebel im gesamten Raum. Die Tropfen strebten aufeinander zu, konzentrierten sich um den Kessel und verschmolzen langsam mit der Substanz im Inneren, als die Tür aufgestoßen wurde und mehrere Gestalten in den Raum drangen, die Waffen erhoben, aber überwältigt vom Anblick, der sich ihnen bot, und der rohen Magie, die in der Luft hing.

Dies war der Moment, in dem all die kosmischen und weltlichen Kräfte, die diese Szene beobachten mussten, abgelenkt waren. Der Moment, in dem niemand auf die Details des weltenerschütternden Rituals achtete, das Amadena hier durchführte. Im letzten Augenblick fügte sie dem organischen Gewimmel im Kessel noch eine Zutat hinzu. Der Einzige, der es wahrnahm, war Acuriën, durch die Augen des Falken, mit dem er nach wie vor schwach verbunden war. Verschwommen und unwirklich sah er etwas aus Amadenas Hand in den Kessel gleiten: einen schwarzen, glatten Wurm von der Größe eines Fingers. Für einen Moment wand sich die Kreatur an der Hand der Herrin, dann war sie auch schon in die brodelnde Masse gefallen. Es geschah so beiläufig, dass sich Acuriën unsicher war, ob er es sich nicht eingebildet hatte.

Schon verfestigten sich die Tropfen weiter zu roten, pulsierenden Strängen, die den Raum durchmaßen, Wände und Decke verbanden und dann auf den Kessel zustrebten. Acuriën konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden.

Mit kaltem Hass in den Augen schrie seine Herrin den Neuankömmlingen etwas entgegen. Die restlichen Beobachter zogen sich zurück, verschwanden unter geflüsterten Formeln in Nebel und Schatten.

Unfähig, etwas gegen die hier wirkenden Mächte auszurichten, waren die Neuankömmlinge dazu gezwungen, das Ritual mitanzusehen. Ein rhythmisches Dröhnen erfüllte den Raum, ausgehend von der sich weiter verfestigenden Masse über dem Kessel: ein dämonischer Herzschlag, der den Takt von allem dominierte, was in diesem Turmzimmer geschah.

Acuriën besaß kein Herz mehr, doch er konnte noch immer das des Falken spüren, das unter der Anspannung zu zerbersten drohte.

Die immer fester und größer werdenden Klumpen in und über dem Kessel quollen weiter aufeinander zu und wucherten zu einer Säule, begannen rasend schnell, Gliedmaßen auszuformen, bis dort eine Gestalt wie aus Blut stand, mit dampfender, glatter Haut, konturlos wie eine unfertige Statue. Um die Gestalt herum begann der Kessel in sich zusammenzufallen. Das äonenalte Artefakt schmolz in der Hitze der Göttlichkeit, die es hervorgebracht hatte und das flüssige Metall füllte die Rillen des Tridekagramms aus. Im Hintergrund tobte der Kampf weiter, doch Acuriëns Blick durch Vogelaugen blieb auf der nackten Gestalt haften, die unter der Hülle aus Blut nun Kontur angenommen hatte. Amadena hatte es vollendet, sie hatte einem Halbgott einen Körper geschaffen.

»Borbarad …«, hallte ihre Stimme durch den Raum und brachte damit auch die Angreifer zum Schweigen.

Das Wesen, das inmitten von Rauch, geschmolzenem Metall und Blut in der Mitte des Raumes stand, schaute sie nicht einmal an, auch wenn es inzwischen den Körper eines Mannes mit Augen wie ein Mensch besaß. Dann sprach es zum ersten Mal. Seine Stimme war dunkel, kultiviert und leise. Vor allem jedoch war sie gewöhnt, dass man ihren Befehlen folgte. Es lag eine ruhige, gelassene Dominanz darin, die selbst Acuriën dazu brachte, aufmerksam zu lauschen.

»Vergiss es, Pardona. Ich bin nicht interessiert. Du warst der Schlüssel zu einem Tor, das ich ohnehin binnen eines Jahres zerschlagen hätte.«

Statt sich Amadena weiter zu widmen, verschwand der Mann – Borbarad, der Alveraniar des Verbotenen Wissens – in einem gleißenden Schimmer aus dem Nachtschattensturm und ließ Acuriëns Herrin einfach so stehen. Niemand hatte es in diesen dreitausend Jahren gewagt, sie auf diese Art zu behandeln. In all dieser Zeit hatte sie an ihrem Unterfangen gearbeitet, einen Halbgott in diese Sphäre zu beschwören und zu ihrem Werkzeug zu machen. Nun hatte dieser sie keines einzigen weiteren Blickes gewürdigt, obwohl sie ihm zu seiner Rückkehr, zum Beginn der Prophezeiung seines Schicksals, verholfen hatte.

Amadena gab eine Kaskade von Worten in der Sprache der Menschen aus dem Mittelreich von sich, spie sie den selbst ernannten Abenteurern entgegen, die ihr Ritual gestört hatten und die Frechheit besaßen, noch immer am Leben zu sein. Die Beschwörung hatte Stunden gedauert, die Vorbereitung Monate. Borbarad war ihr ambitioniertestes Projekt seit langem und der Prozess hatte selbst sie ausgelaugt. Ob die wankenden Gestalten im Raum, die immer noch verwirrt vom Erscheinen des Halbgottes waren und sich in den Resten des blutigen Nebels zu orientieren versuchten, wirklich eine Bedrohung für die Herrin waren, konnte Acuriën unmöglich einschätzen. Es war aber offensichtlich, dass die Arbeit hier getan war, auch wenn das Ergebnis zunächst eher enttäuschend wirkte. Warum also bleiben und sich mit diesen Leuten messen, mit denen sie nichts zu schaffen hatten?

Mit einem Fingerschnippen sandte sie einen Dämon gegen die Abenteurer, ehe sie sich in einer fließenden Bewegung zum Fenster wandte. Mühelos sprang sie auf den Sims, löste die Fibel, Acuriëns Gefängnis, von ihrem Gewand, das flatternd zu Boden glitt. Nackt sprang sie ins Freie, drehte sich im Flug und schleuderte die Fibel auf den Sims. Im nächsten Moment hatte sie bereits eine andere Gestalt angenommen. Ihr im fahlen Neumondlicht schimmernder schlanker Körper zog sich in die Länge, überzog sich mit weißen Schuppen und gewaltige Schwingen brachen aus ihren Rücken. Neuschnee wurde ins Turmzimmer geweht und vermischte sich mit dem Blut auf dem Boden, als sie ihre Drachenflügel auf und ab schlug, um schnell an Höhe zu gewinnen und zurück in den Norden zu fliegen.

Die Fibel hingegen hielt auf den Stein des Turmsimses zu. Acuriëns Gefängnis war auf mannigfaltige Art verzaubert; das war ihm bewusst, und dieser Umstand machte seine Existenz in dem Kleinod noch unangenehmer. Er hatte sich immer wieder gefragt, was passieren würde, wenn diese Zauber ausgelöst werden würden. Würden sie ihn verzehren? Würde er Teil der Magie werden, die Amadena damit beschwor? Er hatte keine besonders große Lust, es herauszufinden, denn er witterte seine Gelegenheit, sich endlich zu befreien. Der Vorteil, körperlos in einem magischen Gefängnis zu sitzen, war die Tatsache, dass Zeit kaum eine Rolle spielte. Acuriën hatte genug Gelegenheiten gehabt, um Pläne zu schmieden – auch wenn er sie in seinem Dämmerschlaf regelmäßig wieder vergaß – und die Wahrnehmung des Kosmos war eine völlig andere als in physischer Gestalt. Unendlich langsam drehte sich die einst von Zwergenhand geschaffene Fibel in der Luft. Beim Aufprall auf den Stein würde sie zerbrechen und den Bruchteil eines Augenblicks später würden sich die Zauber entfalten. Acuriën rechnete damit, dass seine Herrin ein ganzes Pandämonium vorbereitet hatte, das den Turm und die Angreifer verschlingen sollte, doch er war in diesem Moment entschlossen wie seit Jahrhunderten nicht mehr, einem noch finstereren Schicksal zu entgehen. Vielleicht war es die Präsenz dieses Halbgottes, der Amadena getrotzt hatte, die etwas in ihm geweckt hatte.

Die Fibel traf auf den groben Stein und zerbarst. Acuriëns Geist, noch immer schwach mit dem Leib des Falken verbunden, klammerte sich an diesen dünnen Faden aus Astralkraft. Der Raubvogel lag, von einer Schneewehe umgeworfen, benommen auf der Seite und zuckte mit den Flügeln. Vermutlich würde er die Nacht nicht überleben, aber er war Acuriëns einziger Weg aus dieser Lage. Seine Seele zerrte an dem astralen Band und zog sich unter Aufbringung aller Willenskraft aus dem explodierenden Gefängnis der Fibel.

Plötzlich sah Acuriën wieder deutlich aus den Augen des Vogels und die Zeit begann unglücklicherweise sofort wieder normal zu verlaufen. Von der Stelle, wo die Fibel explodiert war, breiteten sich rasend schnell wimmelnde Tentakel und verzerrte Mäuler aus. Sie platzten aus dem Gestein des Turms und dem Boden empor, sogar aus den Resten des geschmolzenen Kessels – und sie griffen und schnappten auch nach Acuriëns Falkenkörper.

Er rettete sein Bewusstsein in das kleine Gehirn des Vogels, zwang ihn, auf die Beine zu kommen, sich aus der nun schnell schmelzenden Schneewehe zu befreien. Schon reckte sich ein Maul an der Spitze eines Tentakels nach ihm, die Kiefer starrten vor langen Metallspitzen, von denen eine milchige Substanz tropfte. Durch die Ohren des Vogels konnte er dumpfen Kampfeslärm hören. Ob die Menschen den Vogel vor den Dämonenmäulern retten würden?

Irrsinn! Er konnte sich nur selbst retten und würde nicht zulassen, dass es nach all den Jahrtausenden, die das Schicksal ihn an Amadena gekettet hatte, nun so endete. Der Falke stemmte sich auf die Beine und schien dabei Tonnen zu wiegen. Sofort sank er im Schnee ein und fiel zur Seite, schlitterte dabei aber immerhin weg von den Tentakeln und auf den Rand des Simses zu. Doch auch dieser begann bereits, Blasen zu werfen und sich zu verformen. Weitere dämonische Klauen und Fratzen begannen sich zu bilden. Acuriën stemmte seine Vogelbeine gegen den Stein und schlug mit den Flügeln.

Mit einem Stoß war er über den Rand des Simses hinabgesprungen und stürzte in die Tiefe. Es fühlte sich an, als würde er allein das Eingangsportal des Himmelsturms öffnen, als er die Flügel des Falken spreizte, um den Fall in ein Gleiten und mit einem weiteren Kraftakt in eine Aufwärtsbewegung zu verwandeln. Der Flug war mühsam und unsicher, aber er brachte ihn fort vom einstürzenden Turm. Langsam gewann er die Kontrolle über den Vogel wieder.

Doch wohin jetzt? War er jetzt etwa frei, seine letzten Tage als Vogel zu verbringen?

Die Stimme Amadenas erklang erneut in seinem Kopf. »Ich dachte mir, dass du es schaffen würdest. Triff mich sieben Meilen nördlich des Turms, falls dein Gefäß das übersteht. Wir haben noch viel zu tun.«

Er konnte sich ihr nicht widersetzen.

Die Jahre sind vergänglichVerwehter Staub im WindUnd ewig unverändertRegiert das DrachenkindMit Wort und Tat und LügeBaut sie ein Haus aus ScheinErhebt die Diener mal emporReißt dann ihr Leben wieder ein.

Die Worte sickern goldenauch in starken GeistBis dieser sich verworrenSelbst die Wege weistZu Dingen unversprochenEin Lohn, der niemals giltSo wird kein Pakt, kein Eid gebrochenWenn dann der Tod die Treue stiehlt.

Nichts kann die Zeiten halten,

worin Pardona ein Schiff jagen lässt und von Verbündeten Treue und Opfer fordert, die niemals vergolten werden, und den ersten Schritt der letzten Reise tut.

Dreitausend Jahre zuvor.

Der Riss in den Welten entließ Eiseskälte und Sturmwinde in den Nebel. Hier endete, was die Schöpfung verband und zusammenhielt. Hier begann das Chaos. Auf ihrer Flucht hatte eine Gefangene des Jenseits eine Bresche geschlagen, die nur langsam heilte. Die Grenze, mit einem sterblichen Verstand betrachtet, erschien wie schwarzes Wasser in dunkler Leere, auf dem riesige, blass leuchtende Kugeln entlangwanderten.

Die Sternenlichter zogen grollend ihre Bahn entlang der Barriere; die Öffnung würde sich bald schließen, wenn diese Wächter ihre Aufgabe erfüllten und das Chaos der 7. Sphäre vom Rest der Schöpfung trennten, so gut es möglich war. Noch aber pulsierte die Wunde in der Barriere und Wesenheiten, die ein Gespür dafür besaßen, glitten lautlos und hungrig näher.

Ein goldener Kiel zerteilte den Nebel und die Aasfresser des Limbus huschten davon. Das Schiff hing im Nichts, reglos und einsam. Lange hatte niemand mehr ihre Decks betreten, keine Hand sich auf ihr Ruder gelegt. Da die Rilmandra von einer Frau erschaffen worden war, die schon zu Lebzeiten gottgleich gewesen war, war sie viel mehr als nur ein kunstvoll hergestellter Rumpf und seidenbestickte Segel. Sie war lebendig, eine Entdeckerin und Abenteurerin, und lange, lange schon allein.

Ihre Neugier, eine dienstbare Eigenschaft für jemanden, der unbekannte Wege in andere Welten suchen sollte, ließ sie einen vorsichtigen Blick durch den Riss werfen, während sie auf den Wellen der Sphärenbewegungen schwankte. Jenseits herrschte unbarmherzige Kälte und das Heulen einer Jagdmeute begrüßte sie, als ihre körperlosen Sinne die Umgebung zu erfassen versuchten – und nah, ganz nah am Riss, befanden sich Sterbliche.

Rilmandra war unschlüssig, was dies zu bedeuten hatte. Dies war kein Ort für Sterbliche. Er würde sie zermahlen und ihre Seelen fressen, sie in Chaos auflösen. Doch keiner von ihnen unternahm auch nur einen Handschlag, um sich zu retten. Der Riss war direkt bei ihnen, nur wenige Schritte entfernt. Zwei lagen reglos am Boden, einer stand stumm herum und der letzte rannte auf vier Beinen auf und ab und heulte traurig.

Der Übergang würde nicht mehr lange bestehen und Rilmandra wusste, dass sie den Riss nicht offenhalten durfte. Es widersprach den Wünschen, die ihre Schöpferin einst geäußert hatte, und ihrem eigenen Sinn für Ordnung. Zudem konnte der Riss Mächte herbeirufen, die selbst durch ihr fein gesponnenes Netz aus Schutz und Heimlichkeit dringen würden, um ihre Masten zu brechen und ihre Planken zu zerschlagen.

Vorsichtig versuchte sie, mit ihrer Seele die des Stehenden zu berühren, aber sie spürte keinen Widerstand. Sein Körper war leer, nichts weiter als eine atmende Hülle.

Ihre Unschlüssigkeit währte nur noch einen Augenblick, dann warf sie ihre Sinne vorwärts. Ihre geliehenen Hände flatterten ungeschickt, als sie das Gleichgewicht der zweibeinigen Form zu wahren versuchte. Ihr Blick, so beschränkt aus zwei Augen, fiel auf die Liegenden. Eis hatte sich ihrer bemächtigt und Statuen aus ihnen gemacht, blau und blass und sicher verwahrt.

»Ich denke, ich möchte euch mitnehmen«, sagte sie zu dem Vierbeinigen. »Ihr gehört nicht hierher.«

Der andere gab laute Rufe von sich und sprang aufgeregt hin und her.

»Ich verstehe dich nicht«, gab sie zu und manövrierte ihren geborgten Körper mühselig näher an die beiden Erstarrten. Sie lieh etwas Kraft an die Hände und Gliedmaßen, die sie mit aller Konzentration steuerte, und hob die Statuen an.

Zu ihrem Glück war die Strecke zum Riss so gering, dass sie sie die paar Schritte im Grunde einfach stolpern und dann vorwärts fallen konnte. Sobald der Nebel die kleine Gruppe umschloss, wurden Gewicht und Bewegung bedeutungslos. Erleichtert ließ sie ihren Schiffsrumpf näher herangleiten und zog die Sterblichen sanft in den Griff ihres Lichtes und ihrer eigenen Schwere.

Ein wütendes Heulen drang aus der Bresche in der Schöpfung, doch der Übergang schloss sich weiter. Mit ihren Sinnen, die Strömungen schmeckten und das Raunen der Sphären hörten, sowie mit den Augen des geliehenen Körpers beobachtete Rilmandra, wie die Wunde zu einer Narbe wurde.

»So ist es besser«, sagte sie und sah zu dem Vierbeiner. Ihr Gastkörper lag auf dem Rücken, stellte sie fest, was ihn ziemlich nutzlos machte. »Bei mir seid ihr sicher.«

Der andere jammerte leise und presste sein Gesicht gegen die Schulter ihres Körpers. »Schon gut«, murmelte sie. »Ich verstehe dich aber immer noch nicht.«

Unter Aufbringung von etwas Konzentration rollte sie den Körper herum und schob ihn zusammen, bis sie erst die Knie und dann die Füße unter ihrem Schwerpunkt gebracht hatte und sich aufrichten konnte. Zugleich drehte sie ihren weitaus größeren eigentlichen Körper und fing eine Strömung aus Kraft ein, die ihre Segel füllte.

»Dies sind keine guten Gewässer«, erklärte sie, »und sie sind noch unruhiger als sonst. Große Räuber lauern hier, alte Schatten und vergessene Orte. Ziehen wir weiter.«

Sie machte in paar Schritte zur Reling und legte die schmalen, langen Finger des neuen Körpers darauf. Das fein polierte Holz fühlte sich seidig und warm an, und die Freude über diese neuen Sinne ließ sie lachen und die Glöckchen am Mast klingeln. Der Vierbeinige neigte den Kopf und sah sie an.

»Wir finden einen Weg, uns zu verständigen«, versprach sie ihm. »Wir haben alle Zeit, es zu lernen.«

Sie ließ den neuen Körper die Reling entlanggehen, bis sie ihren Bug erreichte. Sie streckte sich und berührte sacht den goldenen Vogel, der dort wachsam ins Nichts spähte. Dort hatte einst die Hand ihrer Schöpferin geruht und sie genoss den Moment der Erinnerung, der Nähe über Zeit und Welten hinweg.

»Nichts haben wir mehr als Zeit«, wisperte sie. Ungesehen und lautlos folgte sie den Bahnen aus Kraft, erkundete neue Wege und ließ Welten an sich vorbei ziehen. Ihre Besitzerin war fort und so gehörte sie nur sich. Freiheit, so fand sie, musste genutzt werden. Der einzig wache und beseelte ihrer neuen Begleiter widersprach nicht.

Zumindest nicht sofort.

Die Welt lag im Chaos und Amadena wusste es. Sie hatte es in ihren Träumen gesehen und in ihrem gemarterten Leib gespürt. Die eine Sache, die sie vor dem völligen Wahnsinn bewahrt hatte, war das Wissen darum, dass die 3. Sphäre in Flammen stehen würde – durch den Krieg Pyrdacors, durch seinen Fall … und vor allem durch ihre eigene Hand.

Als ihre Zehen zum ersten Mal seit fast eintausend Jahren wieder aventurischen Boden berührten, ging ein Zittern durch ihren Leib. Es war nicht ihr Zittern. Vielleicht war es die Vibration der Sphären nach dem Fall des Gottdrachen Pyrdacor, ihres Vaters, die sie spürte. Vielleicht war es das pulsierende Leben des Waldes oder schlicht ein Vorzeichen der Angst, die die Schöpfung vor ihr hegte.

Sie war an dem Ort wiedererschienen, an dem sie in die Niederhöllen gefahren war. Einst war es eine Lichtung am Rand der Stadt Simyala gewesen. Nun war alles überwuchert und roch nach frischem Leben, aber sie erkannte den Ort dennoch wieder. Sie atmete die laue Nachtluft ein und den leichten Verwesungsgeruch, der darin lag. Amadena hatte nichts bei sich, keine Waffen, kein Gewand. In ihrer Hand hielt sie lediglich die Fibel, die die verlorene kleine Gruppe von Helfern zu Acuriën gebracht hatte, mit einem Hauch seiner Seele darin. Inzwischen enthielt sie seine vollständige Seele, alles, was von ihm übrig war.

Sie öffnete die Hand und schaute auf das kleine Schmuckstück hinab, simpel und aus schlichtem Silber gefertigt. »Ich werde mich daran erinnern. Ich werde mich immer daran erinnern, wie nützlich du mir am Ende doch warst«, wisperte sie ihm zu. »Und auch du wirst es nie vergessen, denn du wirst mein Begleiter sein, wohin ich auch gehe.«

Sie steckte sich die Fibel ins Haar und sah sich um. Einige Schritt neben und hinter ihr, wie ein folgsamer Diener, stand der Troll – Kaschmallarun. Er schwankte noch immer und Blut lief ihm aus den Augenwinkeln und aus dem halb offenstehenden Mund. Er schien förmlich zu dampfen, seine Kleidung war zerrissen und versengt und er blutete aus zahlreichen Wunden. Dicke, purpurne Adern zeichneten sich unter seiner Haut ab. Als Amadena ihn musterte, senkte er den Kopf, ging langsam auf die Knie und gab einen langen, jammernden Laut von sich.

Sie ging langsam auf ihn zu, genoss dabei jeden Schritt ihrer nackten Füße auf dem Waldboden: echter, stofflicher Boden, Humus und Steine und Texturen, die für ihre Sinne erschlossen werden konnten. Sie betrachtete den Troll aus der Nähe, zog seine Lippen auseinander, um seine leeren, blutigen Kiefer zu betrachten, wo ihm alle Zähne ausgefallen waren.

»Du hast viel von der Macht des Güldenen gekostet«, sagte sie sanft zu ihm, strich ihm über die graue, aufgerissene Haut in seinem Gesicht, »zu viel. In ein paar Stunden wirst du tot sein, Schrat, und du wirst völlig umsonst gestorben sein.«

Er hob den Kopf und starrte ihr in die Augen. Sie kannte den bernsteinfarbenen Blick der Trolle, aus dem Weisheit von Äonen sprach. Er hatte sie noch nie beeindruckt. In diesem Blick hier sah sie vor allem den zum Scheitern verurteilten Kampf gegen die Macht des dhaza. Sie hatte diesen Troll innerlich aufgefressen, wie es sonst keine Macht auf der Welt vermochte, seine Lebenskraft aufgezehrt und seinen Atem und seine Knochen vergiftet. Das war das Glorreiche und das Gnadenlose an ihrem wahren Schöpfer: Man musste sich ihm nicht willentlich unterwerfen, um von ihm aufgezehrt zu werden. Seine Macht war unsichtbar, schleichend und tödlich.

»Natürlich könnten wir das noch ändern«, sagte sie ruhig, bot ihm nur die Möglichkeiten an. »Stell dir vor: Du verschreibst dich dem Goldenen Gott und seine Macht wird dich nicht mehr weiter verzehren. Dann hast du vielleicht eines Tages die Gelegenheit, dich und deine toten Freunde zu rächen. Vielleicht wirst du mich sogar erschlagen. Du wirst natürlich den Willen dazu verlieren und in meinem Namen weitere Gräueltaten vollbringen, aber wer weiß das schon genau … Vielleicht wirst du einen Weg finden. Und bis dieser Tag kommt, dienst du mir.«

Kaschmallarun war auf alle viere gesunken und hatte begonnen, Blut zu erbrechen. Er versuchte, von Amadena weg zu kriechen. Sie ging unbeeindruckt hinter ihm her und berührte ihn sanft mit der Hand an der Stirn, löschte gnädig für eine Weile seinen wachen Geist aus. Der Troll sank augenblicklich zusammen wie ein gewaltiger Sack und blieb regungslos auf dem Waldboden liegen. Sie selbst ließ sich nieder, um zu denken, zu meditieren. Sie sang zu ihrem eigenen Körper und der Welt und schützte sich vor Unbill und Wetter. Ihre Knochen erinnerten sich, den Dämon Maruk-Methai in sich getragen zu haben, dessen immense Macht sie hierhin zurück gebracht hatte. Er war gewichen, kaum dass sie die 3. Sphäre betreten hatte, aber sie schmeckte seinen Namen auf ihrer Zunge und wusste, wenn sie rief, würde er eilen.

Sie versenkte sich in langsame, planvolle Gedanken, ordnete das, was sie in Agonie und ohne eine Möglichkeit, es festzuhalten, in ihren Geist eingeschrieben hatte: Geheimnisse und Namen, Chaos und die darin verborgenen, erzwungenen Regeln.

Ihre Zeit in den Niederhöllen hatte sie nicht wie Acuriën in einer Zwischenwelt verbracht, an einem Un-Ort, an dem der fenvar als Fremdkörper in der 7. Sphäre gefangen war und die Grauen und den Wahnsinn zwar erleben musste, aber immer wieder vergessen und übersehen werden konnte. Nein, sie war direkt mit den stärksten Kräften der Niederhöllen in Kontakt geraten. Die Dämonen der Niederhöllen verzehrten sich nach ihrer Seele. Sie hatte die Elemente verdorben, die Schöpfung nach ihrem Willen verändert, Liebe und Zuneigung geheuchelt und die anderer ausgenutzt, Rache geübt und das Blut Ahnungsloser und Unschuldiger vergossen, verbotenes Wissen gesammelt und ihren Hort an Macht gemehrt – sie hatte in den Augen der Schöpfung jede Sünde begangen und die Wesenheiten der Niederhöllen, die Inbegriffe von Sünde, besaßen alle einen Anspruch, ein Verlangen, nach ihrer Seele.

Im Laufe der Zeit lernte Amadena die verschiedenen Domänen kennen. Während andere Wesen schon nach Augenblicken am Wahnsinn zerbrochen wären, hielt Amadena stand und entwickelte ein kühles, distanziertes Interesse an den Foltermethoden und den Myriaden Ungeschaffener, deren Blick auf sie fiel. In den Erinnerungen, die Acuriën von Amadena erhielt, waren es am Ende sogar die Dämonen, die sich vor ihr fürchteten und die sie immer weiter zum nächsten Erzdämon reichten, in der Hoffnung, dieser könnte sie endlich brechen oder – noch besser – sie würde diesen stürzen und somit die Gelegenheit für eine Ausweitung der eigenen Macht schaffen.

Nach all diesen Jahren war Amadena zu einer Expertin für das Chaos der Niederhöllen geworden, sofern dies einem fleischlichen Wesen überhaupt möglich war. Nicht nur hatte sie in ihrem Geist eine Bibliothek aller ihr bekannter Dämonen, ihrer Stärken, Vorlieben und Schwächen hinterlegt, sie hatte auch Wissen von diesen Dämonen erlangt, das diese seit Äonen über die Schöpfung gesammelt hatten, Wissen über die Natur der Sphären, die Wunden, die ihnen von den Dämonen beigebracht worden waren und über das unerreichbare Herz all dieser Welten. Ihre Zeit in den Niederhöllen hatte sie nicht nur stärker gemacht, sondern auch gefährlicher und mitleidloser.

All diese Erinnerungen teilte sie mit Acuriën. Ob sie echt waren oder eine Wahnvorstellung, das konnte er nicht sagen. Ihre neue Perspektive war Amadena jedoch dienlich bei dem, was sie nun vorhatte.

In ihrer langen Meditation stimmte sie sich auf die 3. Sphäre ein, die sie nun in ihrer Gesamtheit erfasste. Es gab gewaltige Reiche jenseits Aventuriens, aber sie hatte sich bisher ganz im Sinne ihres Gottes auf diesen Kontinent konzentriert – mit dem Ziel, die fey zu verderben und zu verführen, nach deren Vorbild sie erschaffen worden war. Nun rückten die anderen Länder in ihren Blick. Myranor im fernen Westen, das Land der Riesen im Osten, das vor Leben strotzende Uthuria im Süden und mehr. Über all diese Orte hatte sie unermessliches Wissen erlangt. Bis zum letzten Augenblick in den Niederhöllen hatte sie die ankommenden Seelen der Verdammten beobachtet und erfahren, woher sie gekommen und an was sie zugrunde gegangen waren. Nun griff sie mit ihrem Geist hinaus in die Welt, um die Lücken in ihrem Bild zu vervollständigen. Ihre Seele schwebte über den Wolken, zwischen den Wogen und unter den Wurzeln, um alte Werkzeuge, Verbündete und Schöpfungen aufzusuchen und zu erfahren, was seit ihrem bedauernswerten Verschwinden geschehen war – und sie war zufrieden.

Ihr Vater, der Gottdrache Pyrdacor, war gefallen. Er war das wichtigste Werkzeug des Namenlosen in dieser Welt gewesen, doch seine Hybris hatte ihn irgendwann nutzlos gemacht. Die Götter in Alveran hatten ihren Kettenhund losgeschickt, um Pyrdacors Herrschaft zu beenden. Der Gott ohne Namen brauchte einen neuen Legaten, ein Werkzeug, das in der Lage war, subtiler vorzugehen, das treuer war, intelligenter, ausdauernder, verführerischer. Amadena war all das und mehr.

Ihr altes Werk war tatsächlich vollbracht. Die Kultur der fenvar, jener fey, die Städte bauten und die Welt erforschten, war untergegangen. Zwei ihrer sechs elementaren Städte hatte sie damals eigenhändig zerstört, andere waren von ihren Bewohnern aus Feigheit von dieser Welt entrückt worden. In ihrer Abwesenheit waren zuerst Isiriel und schließlich Tie’Shianna, der Sitz des Hochkönigs Fenvarien, den Horden des Namenlosen zum Opfer gefallen, dem sich Pyrdacor am Ende seines Lebens offen verschrieben hatte. Doch dann war auch er gefallen und hatte viele seiner Drachen mit in den Tod gerissen. Sein Reich war von Aventurien entrückt worden, die Narbe war noch frisch. Dieses epochale Ereignis hatte ein Sphärenbeben ausgelöst, das die Schöpfung für immer durcheinandergewirbelt hatte, das sie selbst in ihrem Gefängnis am Rand der Welt gespürt hatte und das letztlich ihren Befreiern den Weg zu ihr bahnte. Der Strom der Zeit floss hier in der 3. Sphäre anders als in den Welten, die dort draußen durch den Limbus taumelten. Für Amadena und Acuriën war all das nur Tage her. In Aventurien waren seit dem Fall der Hochelfen und der Drachen über achtzig Jahre vergangen. Doch für Wesen wie sie war das keine lange Zeit.

Ein Machtvakuum war entstanden, und eine neue Art Kreatur machte sich bereits daran, es zu füllen. Die Menschen, jene plumpen, hässlichen Gestalten, mit denen sie immer wieder experimentiert hatte, wähnten sich bereits die neuen Herren Aventuriens. Sie nannten sich Tulamiden und wagten Vorstöße gegen die Echsen, die in den Ruinen von Pyrdacors Reich zu überleben versuchten. Nur weit im Norden waren die Erben der fey noch mächtig und hielten die Traditionen Ometheons aufrecht.

Doch dort war Amadenas Macht nach wie vor am stärksten. Ihre Kinder, die Shakagra, beantworteten ihren geistigen Ruf mit Feuereifer. Seit Langem warteten sie auf die verheißene Rückkehr ihrer Schöpferin, wagten kleine Vorstöße gegen die fey, aber waren niemals geeint genug gewesen, um einen neuen Feldzug zu starten. Sie lebten noch immer im Schatten des Himmelsturms und in den Anlagen tief darunter, die Amadenas Weisung zufolge errichtet worden waren, um ihre mit dämonischer Essenz verbundenen Armeen vor dem brennenden Licht des Sonnengottes zu schützen. Mit den Shakagra würde ihr neuer Feldzug beginnen. Zuerst würde sie Rache an den überlebenden fey nehmen, und danach sollte der Rest der 3. Sphäre die Macht Amadenas kennenlernen.

Kaschmallarun und Acuriën folgten Amadena in den Norden. Beide hatten keine Wahl. Der Weg begann langsam, der Troll trug die Fibel mit Acuriëns Seele und Amadena flog in Gestalt eines kleinen Vogels, eines Neuntöters, voraus. Schließlich gelang es ihr nach einem kurzem Kampf, den Geist eines alten Purpurdrachen zu unterwerfen, der fortan beide Körper und die Fibel trug. Der Drache war nach dem Ende des Krieges aus dem Süden in den Forst in der Mitte des Kontinents geflohen. Von ihm konnte Amadena noch mehr über den Untergangs Pyrdacors lernen. Je weiter sie sich dem eisigen Norden näherten, desto schweigsamer wurde ihre Reitkreatur, wagte es aber nicht, sich aufzulehnen. Als das Feuer im Inneren des Drachen aus den Südlanden ob der Kälte und der Folter durch seine neue Herrin verlosch, brachte Amadena den Leichnam dazu, im Tode noch zu Boden zu gleiten, nur wenige Hundert Schritt vom Eingang des Himmelsturms entfernt.

Sie hatte keine Intention, den Turm zu betreten. Ihre Diener warteten bereits zu dessen Füßen. Gut einhundert Schwarzalben in dunklen Rüstungen standen in Reih und Glied, und als Amadena absaß, fielen sie alle gleichzeitig mit militärischer Präzision auf die Knie. Niemand wagte, den Blick zu heben, als sie durch ihre Reihen schritt und auf eine Öffnung im Eis hinter den Truppen zuging. Erst als sie die Eishöhle betreten hatte, erhoben sich die Krieger der Shakagra Reihe für Reihe, folgten ihr in den Untergrund und hinter den letzten schlossen sich Eis und Fels.

Kaschmallarun hatte während der gesamten Reise kein Wort gesagt, sondern nur in die Ferne gestarrt und gelegentlich ein tiefes, brummendes Wimmern von sich gegeben. Nun wurde er von zehn Shakagra in einen Seitentunnel eskortiert und nahm auch dieses Schicksal schweigend an. Es drohte ihm keine Gefahr, Amadena hatte ihren Kindern lediglich stumm befohlen, ihn zu reinigen und auszurüsten.

Amadena selbst schritt einen anderen Korridor entlang. Sie kannte dieses Höhlensystem, immerhin hatte sie es in einem anderen Leben selbst angelegt. Ihre Schritte fanden einen Raum, den sie als Rückzugsort für sich selbst geschaffen hatte, und ihre Diener hatten dort bereits alles für ihre Bedürfnisse vorbereitet. Es erwarteten sie ein heißes Bad, ein Mahl aus Fisch, Algen und dem roten Fleisch der Eisrobben sowie ein seidenbedecktes Nachtlager. Die Einrichtung war aus ihren Gemächern im Himmelsturm hierher geschafft worden. Es war die erste Mahlzeit und die erste Nacht in einem Bett seit Langem.

Sie ließ sich auf das Bett nieder, nahm die Fibel aus ihrem Haar und drehte sie zwischen den Fingern hin und her. »Tausend Jahre lang musste ich auf all dies verzichten«, sagte sie zu der Seele darin, »deinetwegen. Aber ich bin nicht kleinlich. Immerhin warst du auch mein Portal, mein Ausweg und meine Rettung.« Sie strich sanft über das einfach bearbeitete Metall.

»Du wirst tausend Jahre und mehr abgelten, was du noch schuldest«, versprach sie.

Sie trat noch am selben Tag vor die versammelten Shakagra in der großen Halle ihrer unterirdischen Stadt, um zu ihnen zu sprechen und ihnen ihre Aufgaben zuzuweisen.

»Eure Göttin ist zurückgekehrt!«, hallten ihre Worte von den Wänden der lichtlosen Kaverne wider, »und sie wird euch in dieses neue Zeitalter führen! Die Zeit der fey ist vorbei! Sie haben sich verloren in ihrer Dekadenz und ihrem Hochmut. Die Zeit der Echsen ist vorbei! Sie waren nicht in der Lage, sich an die neue Welt anzupassen! Diese neue Welt sind wir! Die Shakagra und ihre Verbündeten! Mit der Macht des dhaza wird uns die Welt gehören!«

Die Krieger vor ihr jubelten nicht, aber jeder und jede einzelne murmelte leise »Für die Göttin und das dhaza.« Es war für Acuriën beängstigender als die Kriegsschreie tausender Barbaren.

Amadena verlor keine Zeit mit weiteren großen Reden. Vielleicht war die Drohung zu Beginn ihrer Ansprachen sogar nur an Acuriën und Kaschmallarun gerichtet gewesen. Der Troll stand, bewacht von vier weiteren Kriegern, am anderen Ende der Halle und starrte weiter ins Nichts. Er hatte immer noch kein Wort gesagt. Acuriën wusste nicht, als die Scharen der Shakagra ihre Hingabe zeigten und ihre Treue erneuerten, in welchem Verhältnis er zu Israni und Kilgan gestanden hatte und warum er seine Seele riskiert und verloren hatte, nur um ihn zu retten. Amadena ließ ihn darüber bewusst im Dunkeln, verbarg alle Gedanken und alles Wissen dazu vor ihm.

Doch ihre Pläne konnte er klar und deutlich vernehmen. Sie waren weltumspannend, blickten Jahrhunderte in die Zukunft. Offenbarten ein Wissen über die Schöpfung und die Politik der Reiche dieser Welt, das sonst niemand besitzen konnte. Amadena hatte gegenwärtig keine großen Pläne für Aventurien, wo Menschen aus dem Süden und Einwanderer aus Myranor sich bald gegenseitig zerfleischen würden.

Der Norden jedoch wurde noch von zahlreichen Nachkommen der Hochelfen Ometheons besiedelt. Diese galt es auszurotten. Kein feysollte künftig mehr auf Dere wandeln, der nicht vom dhazaberührt war. Sie gab ihren Truppen konkrete Anweisungen, wie sie einen Feldzug gegen die letzten fey des Nordens anlegen sollte, um ihren Feind trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit auszulöschen.

Dann wandte sie sich den anderen Reichen der Welt zu. Das Land der Riesen war dem Namenlosen bereits zu großen Teilen verfallen. Myranor im Westen stand unter der Kontrolle mächtiger Zaubererfamilien, die den verschiedensten Mächten anhingen. Manche huldigten Dämonen, andere vielleicht demdhaza, doch einige auch göttlichen Kräften. Ihnen allen war gemein, dass sie über Artefakte verfügten, die halb Aventurien in Schutt und Asche legen konnten, denn ihre Zauberei war fremdartig und durch große Weisheit und langfristige Studien perfektioniert. Myranor sollte also das Hauptaugenmerk gelten. Dort wollte Amadena ihren neuen Stützpunkt errichten.

Schon vor über tausend Jahren hatte Amadena den Shakagra befohlen, Tunnel zum Westkontinent anzulegen. Eine Vorhut war damals auf Wolkenschiffen nach Myranor gereist, um dort eine Kolonie zu gründen. Anschließend sollte der Bau der unterseeischen Anlage von beiden Seiten vonstattengehen. Acuriën konnte sich ein solches Bauwerk nicht vorstellen. Es müsste gewaltige Entfernungen überspannen und wäre unglaublichen Kräften ausgesetzt. Müsste man nicht undenkbar tief graben, bis man sicher unter den Wassermassen des Meeres war, und würde man dort nicht auf die Glut aus den Tiefen Deres stoßen?

Erst, als Amadena mit der Fibel im Haar den Tunnel betrat, um ihn zu begutachten, und ihre Gedanken an ihren Gefangenen sandte, konnte Acuriën es erfassen. Es war eine Röhre aus dickem Glas, die von der westlichsten Kaverne zunächst steil hinab zum Grund des Meeres führte. Amadenas Augen konnten die Schwärze des Ozeans nicht weit durchdringen, aber zuweilen huschten blasse Wesen nahe genug heran, um im Licht der Lampen, die die Shakagra bei sich trugen, zu schillern. Ihre Körper waren weiß oder durchsichtig, formlos und ohne Augen. Dumpf tasteten sie den gläsernen Tunnel ab, aber selbst die größten unter ihnen, Kalmare mit Armen von vielen Schritt Länge, konnten dem Glas keinen Schaden zufügen.

Die Röhre war breit genug, damit fünf Shakagra nebeneinander gehen konnten, und das Glas auf die gleiche Weise geformt wie die Behälter im Himmelsturm. Es musste Jahrhunderte gedauert haben, all dies zu erschaffen, aber Amadenas Kinder hatten ja auch genug Zeit gehabt.

»Sie sind alle geschult im Umgang mit Dämonen und dem Formen von Erzen mit dämonischer Macht«, wisperte Amadena Acuriën zu. »Sie haben diesen Tunnel viel schneller gebaut, als du es dir ausmalst. Und noch viele weitere, ein wahres Netzwerk unter den Meeren, Tore zu verlorenen Orten voll vergessener Macht. Wir werden sie bald bereisen. Schon morgen brechen wir auf.«

Amadena hatte erneut nicht gelogen. Bereits am Folgetag wurden sie und Kaschmallarun von einem kleinen Trupp Shakagra in den Tunnel eskortiert. Der Troll ging schleppend, vier der Dunkelelfen trugen Amadena in einer Sänfte. Die Dunkelheit des tiefen Meeres zog an ihnen vorbei, durchbrochen nur vom Tanzen weißer Quallen und einzelnen siedenden Quellen, die kochendes Wasser und Asche ausstießen, die noch finsterer waren als das lichtlose Wasser. An ihnen hafteten Gärten von abstrusen Wesen, die mit fiedrigen Armen um sich griffen und grelle, prächtige Farben zeigten, die nur für wenige Augenblicke im Lampenschein sichtbar wurden, bevor sie wieder für lange, lange Zeiten in der Dunkelheit versanken.

Natürlich legten sie so nicht die Tausenden von Meilen bis zur Küste Myranors, des Kontinents im Westen, zurück. Nach einigen Wegstunden erreichten sie eine gewaltige Glaskuppel, die am Meeresboden verankert war. Von ihr zweigten weitere Röhren nach Süden, Westen und Südwesten ab. Hier war ein weiteres Dutzend Shakagra mit Vorräten und Ausrüstung stationiert und sie alle fielen wortlos vor Amadena auf die Knie. Der Tunnel, der von hier aus nach Westen führte, war etwas schmaler als der bisherige und beherbergte eine Plattform aus einem fremdartigen Metall, auf der Amadena und ihre Begleiter jetzt Platz nahmen. Amadena legte eine Hand auf die Plattform und Runen begannen zu leuchten. Mit einem disharmonischen Summen setzte sich der Schlitten in Bewegung und wurde dabei immer schneller und schneller. Amadena sandte weitere Gedankenbilder an Acuriën und beschrieb ihm die Konstruktion, auf der sie saßen. Ein Transport-Dämon war in die Plattform gebunden und trieb sie voran, während er gleichzeitig ein Kissen aus Luft um ihre Basis erzeugte. Diese Art der Forschung, die Amadena schon vor zweitausend Jahren im Himmelsturm vorangetrieben hatte, machte sich die Kräfte der äußersten Sphäre dienstbar und war von den Ältesten abgelehnt worden. Nun diente sie dazu, sie in wenigen Tagen an die Küste Myranors zu tragen.

Sie passierten noch weitere Knotenpunkte auf ihrem Weg, tauschten die Bedeckung aus und erneuerten ihre Vorräte. Kaschmallarun starrte die gesamte Fahrt über teilnahmslos in die Schwärze der tiefen See. Er aß nichts und trank nichts. Amadena schien das zunächst völlig gleichgültig zu sein, aber nach einigen Tagen, die sie stumm nebeneinander gesessen hatten, sprach sie ihn beim Umladen auf eine neue Plattform in einer der Glaskuppeln doch wieder an: »Ich weiß, deine Art ist zäh. Aber wenn du nichts trinkst, wirst du verdorren und sterben. Dann muss ich deine Knochen am Ende noch als untoten Troll wiedererheben lassen, damit ich dich nicht völlig umsonst mitgeschleppt habe. Ist es das, was du willst?«

Der Troll wandte bloß seinen Blick ab. Da traf ihn eine unsichtbare Faust mit einer solchen Wucht, dass er gegen die Wand der Kuppel geschleudert wurde, und drückte sein Gesicht mit einem knirschenden Geräusch gegen das Glas.

»Ich habe dich etwas gefragt. Antworte mir oder ich mache meine Drohung wahr.«

Kaschmallarun grunzte vor Schmerz.

Amadena presst seinen Kopf fester gegen die Scheibe, die nun Risse zu zeigen begann. Die Shakagra, die damit beschäftigt waren, die Ausrüstung auf die neue Plattform zu verladen, wichen langsam einige Schritt zurück.

»Nein …« murmelte der Troll schließlich. »Nein, das will ich nicht.«

Amadena lockerte den magischen Griff und Kaschmallarun sank langsam zu Boden. »Es kann ja doch sprechen. Ich dachte, du wärst nicht mehr als ein großer, nutzloser Hund.«

Sie setzte sich auf die neue Plattform, während Kaschmallarun sich schwer atmend erhob. Er blickte noch einmal hinaus in die Schwärze und murmelte etwas, das Acuriën nicht verstand. Es klang wie »Hond«.

Der Vorposten der Shakagra im Norden des myranischen Imperiums war in den letzten Jahrhunderten bereits beträchtlich gewachsen und seine Population übertraf die im Himmelsturm. Von hier aus waren Amadenas Kinder weiter ins Landesinnere und das Ewige Eis gezogen, um mehr Stützpunkte anzulegen. Ähnlich wie in Aventurien hielten sich die Dunkelelfen hier unter der Erde verborgen und wagten nur hin und wieder Überfälle auf vorbeikommende Reisende oder Siedlungen. Amadena wollte, dass sich dies nun änderte. Sie und ihr kleiner Trupp waren nur der Anfang. Mehr Krieger aus Ometheon sollten folgen und weitere Shakagra-Siedlungen auf dem neuen Kontinent anlegen.

Ähnlich wie in Aventurien herrschte in Myranor ein Machtvakuum, das Amadena auszunutzen gedachte. Das Imperium hatte sich in einem großen Erbfolgekrieg unter den verschiedenen Optimatenhäusern gegenseitig zerfleischt. Die magiebegabten Geschlechter schickten Monstren und Chimären in die Schlacht, die in den letzten Jahrhunderten, die der Konflikt jetzt schon tobte, ganze Landstriche verwüstet hatten.

Ausgelöst worden war der Krieg durch den plötzlichen Tod der sogenannten Archäer, den Begründern der verschiedenen Häuser. Sie nannten sich selbst Kinder der Mondgöttin Mada, hielten sich für Geschöpfe der Magie und waren für die Wesen in Myranor so fremdartig gewesen wie die fey in Aventurien. Sie hatte den Menschen einen Pakt angeboten und den Großteil des Kontinents so unter ihrer Herrschaft geeint, sich dabei aber auch mit den Menschen vermischt und ihre magische Macht weitergegeben. Vor einigen Jahren waren die reinblütigen Archäer alle von einer mysteriösen Seuche dahingerafft worden und mit ihnen war auch die Einigkeit der Häuser verloren. Das myranische Imperium lag in Trümmern, versunken in einem endlosen Bürgerkrieg. Es war genau der richtige Zeitpunkt für Amadena, um zuzuschlagen.

Es dauerte tatsächlich nur ein paar Jahre, bis Amadena geheime Stützpunkte im gesamten Norden des Kontinents errichtet hatte, jeder besetzt mit Hunderten von Shakagra und ausgestattet mit Chimärenlabors, um neue Monstrositäten zu erschaffen. In der Feste Serrakhaszmazar weit im Norden richtete sie ihren persönlichen Herrschaftssitz ein. Mit jedem neuen Trupp von Shakagra und anderen Dienern wucherten die Türme empor, wurden von Dämonen und magischer Kraft geformte Treppen und Galerien übereinander gehäuft, bis die Zitadelle wie ein vielleibiges Monstrum an einem schwarzen Berg über Gletschern hing.

Mit den Jahren fand auch Kaschmallarun so etwas wie einen Lebenswillen. Die Lethargie, die seine Verwandlung ausgelöst hatte, fiel nach und nach, je länger er Amadenas Gefangener war, von ihm ab. Stattdessen entwickelte er eine stets leise kochende Wut, eine misstrauische Wachsamkeit und Appetit für das Leid anderer. Vielleicht hatte der Einfluss desdhaza aber auch einfach länger gebraucht, den Troll zu korrumpieren, als Amadena dies vorausgesehen hatte. Sie setzte ihn zunächst als Anführer kleiner Überfalltrupps ein und schickte ihn gegen die Barbarenstämme des Nordens.

Sieben Jahre nach der Rückkehr Amadenas aus den Niederhöllen tobten die Kriege unter den myranischen Häusern noch immer – und ihre neue Armee war bereit. Immer tiefer drangen ihre Truppen in das Gebiet des zersplitterten Imperiums vor, sorgten für Chaos in den Grenzsiedlungen, terrorisierten die Garnisonen und zermürbten die bereits stark dezimierten Truppen der streitenden Häuser. Gleichzeitig suchte Amadena die Anführer der imperialen Fraktionen in vielerlei Gestalten auf. Meist trat sie als Gesandte eines der anderen Häuser auf, bot einen Pakt oder überbrachte eine Provokation. So hielt sie nicht nur den als Chimärenkrieg in die Geschichte eingegangenen Konflikt am Laufen, sie lenkte auch von ihren eigenen Vorstößen ab. Die streitenden Reiche der Menschen wurden täglich schwächer, während sich ihre Armeen und Magier gegenseitig zerfleischten und immer neue Terrormaschinen aufeinanderhetzten, deren Geheimnisse die mysteriöse Albin ihnen verraten hatte.

So gelang es Amadena und ihren Truppen nach nur wenigen Jahren, als Sieger aus einem vorher schier endlos wirkenden Konflikt hervorzugehen. Sie eroberte den Berg Baan-Bashur, den einstigen Sitz des Imperiums und seines Herrschers, des Thearchen. Dieser Thron war es, um den die Häuser seit Jahrzehnten stritten und in ihrem Hass und ihrem Eifer hatten sie zunächst nicht bemerkt, dass sich Amadena auf ihm niedergelassen hatte.

In nur sieben Jahren war die Tochter Pyrdacors wieder zur Herrscherin eines Reiches geworden. Zwar erkannte sie niemand als neue Thearchin an und es gab auch kein geeintes Imperium, über das sie hätte regieren können, doch ihre Schwarzalben hielten im nördlichen Teils des Kontinents weite Landstriche besetzt und hatten einen Keil bis in sein Zentrum getrieben. Die Herzen der Menschen waren leicht zu kaufen gewesen und eine Vielzahl entbehrlicher Söldner hatte sich Amadenas Feldzug angeschlossen, um die wenigen tausend Shakagra zu unterstützen. Wer sich ihr nicht anschloss, lernte schon bald die volle Grausamkeit der Schwarzalben kennen, deren dunkle Rüstungen schnell überall im ehemaligen Imperium zu einem Synonym für Tod und Zerstörung wurden. Ihre fahlen, toten Gesichter mit den schwarzen Augen und spitzen Ohren zu erblicken, kam dem Urteil eines langsamen Todes gleich.

Söldnertrupps, immer angeführt von Shakagra, marodierten in den Randgebieten von Amadenas Reich und beschäftigen den Widerstand der Optimatenhäuser lange genug, damit ihre Herrscherin selbst den Anführern neue Lügen in die Ohren flüstern konnte – und sie davon überzeugen, dass nicht die fremde Macht aus dem Norden die eigentliche Gefahr war, sondern dies nach wie vor eine Finte der konkurrierenden Häuser sei. Mehr als eines der Häuser Myranors war den Verlockungen des Goldenen Gottes bereits ohne ihr Zutun verfallen und somit fielen auch Amadenas Worte auf fruchtbareren Boden, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte wenig Mühe, den extremeren Anhängern ihres Gottes immer höhere Posten in der Hierarchie des mächtigen und arroganten Hauses Chrysotheos zu verschaffen und letztlich half sie auch, eine unheilige Allianz zu besiegeln. Weit im Westen des Kontinents lag ein Land, so sehr dem Blut und dem Leid verschrieben, dass selbst die lasterhaften Imperialen es mieden. Das Land der Draydal, die die dunklen Kräfte des dhaza anbeteten und als Werkzeuge benutzten, um Armeen von Untoten zu erschaffen. Sie wurden zu Verbündeten der gewissenlosen Herrscherhäuser des Imperiums – und damit war eine neue Front entstanden, die Amadenas Aufstieg diente.

So wurde Amadena unter einem weiteren ihrer vielen Namen zur Imperatorin über ein in Flammen stehendes Reich, doch darum ging es ihr in diesem Fall nicht einmal. Es waren die Geheimnisse des Berges Baan-Bashur, wegen derer sie diesen Feldzug unternommen hatte. Als sie ihren Thron vom eisigen Norden ins Zentrum des Imperiums verlagerte, machte sie Kaschmallarun zu ihrem Statthalter in Serrakhaszmazar. Zunächst lehnte er ab.

»Herrin, Ihr könnt nicht von Euren Truppen verlangen, dass sie mir folgen, wie sie Euch folgen. Ich bin nur euer einfacher Leibwächter.« Der Troll hatte jetzt zwar seit Jahren verbissen auf Seiten der Shakagra gekämpft, die Verantwortung schien er aber zu scheuen. Zu Amadenas Unbill.

»Du hast die äußeren Sphären bereist, dem direkten Kontakt mit dem Nichts des dhaza getrotzt und die Niederhöllen gesehen. Du weißt mehr über die Schöpfung als jeder hier und meine Kinder wissen, dass es nichts mehr gibt, was dich einschüchtern kann. Sie werden dir folgen, so als würde dir der Thron im Eis gehören.«

Er trat das Amt an, denn er hatte keine andere Wahl.

Die Archäer hatten sich die Kinder Madas genannt. Sie waren von der Göttin der Magie berührt gewesen, ein Volk von Freizauberern mit einem dritten Auge auf der Stirn, das in der Lage war, die Welt des Arkanen zu sehen. Ihr Ziel war es gewesen, ganz im Sinne ihrer verlorenen Göttin, den Völkern Deres die Magie zu bringen. Sie waren Wesen von fast göttlicher Macht gewesen. Unter ihnen sollen sogar wahre Halbgötter gewesen sein, Diener der Kräfte, die in Alveran über die Welt herrschten. Baan-Bashur galt manchen als Zentrum der derischen Schöpfung.

All das war in Myranor allgemein bekannt, für Acuriën war es jedoch völlig neu. Amadena teilte ihr erlangtes Wissen mit ihm, als wollte sie seinen Horizont erweitern, jedoch immer mit Lücken, immer ohne den letzten Schlüssel für das Verständnis ihres Vorgehens, ihrer Pläne. Sie ließ es in seinen Geist sickern und lächelte still und bitter, wenn sein Geist zu rasen begann und er die Fragen hin und her wälzte, warum sie etwas tat, warum sie ihm dieses Wissen gab, warum sie nach dem Erbe einer verlorenen Spezies suchte, warum sie sich in diesem Kontinent festsetzte wie eine giftige Wurzel, die in alle Winkel kroch.

Während der Krieg um Baan-Bashur weiter tobte, nutzte Amadena die Zeit, die immensen Tunnelsysteme unter ihrem Palast zu erforschen und nach den Geheimnissen der Archäer zu suchen, von denen sie sich so viel versprach. Anfangs nahm sie Shakagra und menschliche Söldner mit auf diese Expeditionen. Doch nach einigen Monaten ging sie dazu über, Acuriëns Geist von der Fibel in ein Metallkonstrukt zu übertragen und dieses als Leibwache mitzunehmen. Das Konstrukt stakste auf sechs Beinen durch die Korridore und folgte dabei Amadenas Willen. Sechs Arme endeten in Schwertlanzen und Schilden. Auf all das war ein metallener Kopf geschraubt, der über eine Reihe von dünnen Metallplatten Geräusche erzeugen konnte. Darüber war es Acuriën möglich, sich zu verständigen, wenn auch mit einer scheppernden, seelenlosen Stimme.

»Kein schöner Anblick«, meinte Amadena zu dem Konstrukt, nachdem sie seine Seele das erste Mal hineingefüllt hatte und er verloren und ohne klares Verständnis des neuen Körpers umhertastete. »Ein Jammer. Im Himmelsturm warst du immer einer meiner Lieblinge. Doch dein Leib verrottet in den Niederhöllen bei deinen Freunden. Immerhin bist du dennoch hier und kannst als der letzte der fenvar Momente wie diese mit mir teilen.«

Kein Wort davon verriet aufrechtes oder auch nur glaubhaft geheucheltes Mitleid. Amadena hätte sicher auch ein eleganteres Konstrukt für Acuriën entwerfen können. Dieser Metallkörper war rostig und quietschte bei jedem Schritt. Für Acuriën, der keinen Schmerz mehr spürte, war es aber einerlei, ob er in einer Fibel oder einem Metallskelett eingesperrt war. Zunächst wagte er es, die neue Freiheit der Bewegung zu genießen. Er begann zu verstehen, warum Amadena ihn bei sich behielt. Alle anderen Wesen, mit denen sie sich umgab, waren ihre Diener oder gar Geschöpfe. Unterwürfige Kreaturen, seelenlose Dunkelalben, geldgierige Menschen, deren Lebensspanne lächerlich kurz war. Es gab wenig sinnvolle Worte, die man mit ihnen hätte wechseln können. Amadenas altes Leben war von der Zeit hinfort gespült worden und nachdem sie beide die tausend Jahre in den Höllen geteilt hatten, waren sie für den jeweils anderen das Einzige, was davon noch geblieben war. Sie wollte jemanden auf Augenhöhe, oder wenigstens jemanden, der nicht völlig unter ihrer Würde war, bei sich wissen.

So durchschritten sie zu zweit die Katakomben unter Baan-Bashur, natürlich nach wie vor mit einer Bedeckung aus Shakagra, die vorausging, um die offensichtlichsten Gefahren auszumerzen und mit all den magischen Annehmlichkeiten, die Amadena für solche Expeditionen vorbereitet hatte. Mindere Dämonen lösten uralte Fallen aus. Schutzzauber lagen auf den beiden fenvar. Ein stetes Licht ging von einer glosenden Kugel über Acuriëns Metallkopf aus.

»Gewöhn dich nicht zu sehr an deinen neuen Körper«, meinte Amadena beiläufig, nachdem Acuriëns Klingen eine Chimäre zerschnitten hatten, die sich aus einer Öffnung in der Decke auf sie gestürzt hatte. »Heute Nacht wirst du wieder zurück in der Fibel sein. Aber falls du dich als nützlich erweist … dies ist die 16. Ebene, die wir bisher durchsucht haben. Angeblich warten noch hundertmal mehr unter uns. Du könntest sie alle mit mir erforschen. Es ist eine Arbeit, die Jahre dauern wird. Unter uns liegen nicht nur Tunnel wie dieser, Baan-Bashur war einst viel mehr als nur ein Berg mit einem Palast darauf.«

Acuriën hatte bereits gelernt, dass er nicht antworten sollte, wenn er nicht direkt gefragt worden war und dass seine Metallstimme Amadena nicht behagte. Also hörte er weiter zu.

»Hier haben die Himmlischen vor Äonen einige wenige Kreaturen jeder Art vor dem Zorn anderer Gottheiten gerettet. Wäre es nach diesen gegangen, hätten sie alles, was lebte, ausgerottet, um neues Leben zu schaffen. Es war ihre Antwort auf das Wirken des dhaza, dem damals fast alle Kreaturen Deres verfallen waren. Verstehst du, was ich sage? Die Götter waren bereit, alles und jeden umzubringen, nur weil sich die Wesen damals den Lehren des Namenlosen zugewandt hatten. Klingt das für dich, als stünden sie auf der richtigen Seite?«

»Nein, tut es nicht«, antwortete Acuriën pflichtbewusst. Er hätte es auch ironisch meinen können, die Metallstimme ließ keine Nuancen erkennen.

»Nur einige wenige Götter, darunter Mada, die Herrin der Magie, rebellierten gegen diese Entscheidung. Sie versteckten eine Handvoll Sterblicher jeder Spezies hier und schufen ihnen ein Heim, in dem sie die Katastrophe überdauern konnten, die alles andere auslöschte. Der Berg wurde damit später zum Ursprung fast allen intelligenten Lebens in dieser Sphäre … Mit Ausnahme der fey und somit der fenvar, die von außerhalb gekommen waren, und den Wesen, deren Ursprung das dhaza war. Mit besonderer Ausnahme also von uns beiden. Wir sind nicht wie gesuchte Strauchdiebe verborgen worden, um dann aus dem Schlamm zu kriechen. Aber jede andere Kultur hat ihre Wurzeln genau hier. Was wir nicht wissen, ist, welche Rolle die Archäer dabei genau gespielt haben. Waren sie wirklich die Kinder Madas, die den Sterblichen angeblich so wohlgesonnen war, dann mögen sie auch die Verwalter dieser Brutstätte des Lebens gewesen sein.«

Acuriën wurde klar, dass es die Archäer selbst waren, für die Amadena eine besondere Faszination empfand. Man sagte, sie seien wohlmeinend gegenüber der Schöpfung gewesen, aber rebellisch gegenüber den Göttern. Sah sich Amadena selbst in diesem Bild? Hielt sie sich für eine Wohltäterin an den Sterblichen?

»Die Archäer sollen das Geheimnis der Theurgie gekannt haben«, fuhr sie fort, »die Fähigkeit, Götter zu beschwören und sie ihrem Willen zu unterwerfen.«

Es klang absurd und Acuriën stockte kurz in seinen Bewegungen. Die Götter waren so gut wie allmächtig und nur andere Götter oder Erzdämonen, vielleicht noch Giganten, konnten ihnen etwas anhaben. Jemand, der einem Gott gebietet, wäre der nicht selbst ein Gott?

Amadena wusste, dass es kein Ding der Unmöglichkeit war, und teilte noch mehr Wissen mit ihrem alten Weggefährten, während sie in den folgenden Jahren die unteren Ebenen erkundeten. Sie hatte diese Geschichten von einem der Archäer direkt gehört, als seine Seele in ihre Einzelteile zerlegt worden war. Das Wesen hatte behauptet, dass es unter seinem Volk solche gab, die selbst die Essenz der Göttlichkeit in sich trugen, auch wenn sie wie Sterbliche über Dere wandelten.

Bisher war Amadena nur das Werkzeug eines gefesselten Gottes gewesen. Doch damit würde sie sich künftig nicht mehr begnügen. Sie kannte den Platz, der ihr zustand, und sie hatte eine klare Vision, wie sie ihn erreichen könnte. Die uralten Artefakte, die sie in Baan-Bashur bergen wollte, waren die ersten Schritte auf diesem Weg.

In der untersten Ebene des Berges fand sie schließlich das, was sie am dringlichsten gesucht hatte.