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Eine ermordete Frau, ein entführtes Mädchen und ein Kommissar, der nicht aufgeben wird … Auf Oslos dunklen Straßen ist die 18-jährige Therese auf dem Weg in ein nahegelegene Café. Doch sie wird nie dort ankommen … Brutal ermordet findet man sie zwei Tage später in einer zwielichtigen Ecke der Stadt. Der hartgesottene Kriminalkommissar Cato Isaksen stürzt sich in die Ermittlungen dieses grausamen Falles, doch Thereses Freundinnen und ihre Zwillingsschwester haben keine Anhaltspunkte, wer die unschuldige junge Frau umgebracht haben könnte. Während der Ermittler noch im Dunklen tappt, wird ein kleines Mädchen entführt – und Cato Isaksen gerät immer mehr unter Druck, den Mörder zu stellen, bevor er erneut zuschlagen kann … »Spannend von der ersten bis zur letzten Seite und durchweg sehr gut geschrieben. Empfehlenswert für alle Fans der nordischen Krimi-Literatur!« – Amazon-Rezensentin Fesselnde Scandi-Crime um einen abgebrühten Ermittler aus Norwegen – für Fans von Jo Nesbø und Anne Holt. Alle Bände der Reihe: Band 1: Das dreizehnte Sternbild Band 2: Pass auf, was du träumst Band 3: Der Trauermantel Band 4: Nachtschwester Band 5: Was als Spiel begann Band 6: Der Eismann Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 504
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Auf Oslos dunklen Straßen ist die 18-jährige Therese auf dem Weg in ein nahegelegene Café. Doch sie wird nie dort ankommen …
Brutal ermordet findet man sie zwei Tage später in einer zwielichtigen Ecke der Stadt. Der hartgesottene Kriminalkommissar Cato Isaksen stürzt sich in die Ermittlungen dieses grausamen Falles, doch Thereses Freundinnen und ihre Zwillingsschwester haben keine Anhaltspunkte, wer die unschuldige junge Frau umgebracht haben könnte. Während der Ermittler noch im Dunklen tappt, wird ein kleines Mädchen entführt – und Cato Isaksen gerät immer mehr unter Druck, den Mörder zu stellen, bevor er erneut zuschlagen kann …
eBook-Neuausgabe September 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Drømmefangeren« bei H. Aschehoug & Co., Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 1999 by Unni Lindell and H. Aschehoug & Co.
Copyright © der deutschen Erstausgabe Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-98952-875-8
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Unni Lindell
Ein Norwegen-Krimi
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Unser Leben wird daran gemessen,
wie wir im Verhältnis zur Ewigkeit leben.
Morris L. West
Wenn mich euer Anblick durch das Fenster nicht dermaßen provoziert hätte, dann wäre euch dieses Spiel erspart geblieben. Und mir auch. Und die Polizei hätte weniger zu tun gehabt.
Aber ich bin nicht klug genug, um euch in Ruhe zu lassen. So sehe ich das. Wir alle haben eine Wegscheide erreicht, an der wir uns begegnen und an der ich bestimme.
Ich sehe euch in der Stadt, im Keller und im Wald. Für mich spielt das keine Rolle. Ich beobachte euch, aber das wisst ihr nicht. Am Ende jedoch wird euch die Ehre zuteil werden, mir zu begegnen.
Ich will, dass du dir einen fremden Namen gibst. Dann kannst du dir nämlich auf eine andere Weise gegenübertreten.
Diese Methode, im Laufe vieler Jahre von mir entwickelt, hat zu sehr guten Ergebnissen geführt. Ich selbst habe mir den Namen Null Nale gegeben.
Ich will beweisen, dass die Welt nicht vorangeht, was das Menschliche betrifft. Und dass wir lernen müssen, so mit uns zu leben, wie wir sind.
Obwohl nur vierunddreißig von mehreren hundert Tempeln und anderen Gebäuden in Palenque, der heiligen Stadt der Maya, ausgegraben worden sind, übt diese Stadt eine gewaltige Anziehungskraft aus.
Sie kamen, erbauten ihre prachtvollen Städte mit all den Pyramiden und Palästen, dann verschwanden sie wieder. Niemand weiß, woher sie kamen, niemand weiß, wohin sie gingen. Das tausendjährige Mysterium ist absolut nicht gelöst. So geheimnisvoll wie die Herkunft ist auch das Verschwinden.
Angeblich lebten diese Menschen, die sich mit Astronomie glänzend auskannten, zwischen dreizehn Himmeln und neun Unterwelten. Im Himmel gab es Sonne, Mond, Sterne und Wolken. In der Unterwelt hausten entsetzliche Herrscher.
Das Jahr war eingeteilt in achtzehn Monate, von denen jeder aus zwanzig Tagen bestand, dazu kamen fünf verworfene Tage. Diese fünf Tage erheischten große Vorsicht und Bußübungen, unter anderem Fasten.
Die Welt stand unter der konstanten Bedrohung einer bevorstehenden Zerstörung. Vor ihr hatten bereits vier Welten existiert, sie lebten in der fünften.
Das erste Zeitalter wurde von jagenden Jaguaren zerstört, das zweite von Stürmen, das dritte von Vulkanausbrüchen und das vierte von Überschwemmungen. Auch das fünfte würde eines Tages zerstört werden, durch ein Erdbeben.
Die Welt war zyklisch und der stete Kreislauf von Tod und Wiedergeburt galt für Menschen wie für Gottheiten. Jeden Abend stürzte die Sonne in die Unterwelt und musste dort heftige Kämpfe bestehen, ehe sie einen neuen Tag gebären konnte.
Vor einigen Jahren begannen die Ausgrabungsarbeiten zu einer kleineren Pyramide in der Nähe von Pakals. Dort fand man das Skelett einer Frau. Ihr waren zehn Steintafeln mit ins Grab gegeben worden. Die Steintafeln erzählten, sie habe zehn Kinder gehabt, sei jedoch eine schlechte Mutter gewesen.
Worauf ich bei dieser Geschichte hinauswill, ist, dass es mit der Welt eigentlich nicht vorangegangen ist. Wir haben heute dieselben Probleme und Freuden wie die Menschen vergangener Zeiten. Und wenn wir nichts daran ändern, dann werden auch wir untergehen.
Ich will durch mein Vorgehen den Schmerz ans Licht bringen – und dessen Verarbeitung. Ich will dir zu verstehen geben, dass der Schmerz sich durch all deine privaten Welten hindurchlebt.
Du sollst den Schmerz nicht töten, sondern ihn dazu ermuntern, ans Licht zu kommen. Nur dann kannst du deine Träume fangen und positiv nutzen. Ich will, dass du mutig bist. Du sollst deine eigene Traumfängerin sein.
Dass du Abscheu empfindest, wenn du heute in der Küche stehst und Fleisch brätst, heißt nicht, dass es bis in alle Ewigkeit so weitergehen muss.
Dass du deinen Körper heute als Feind betrachtest, heißt nicht, dass du dich nie mit ihm versöhnen wirst.
Ich will, dass du dich Null Nale und seinen Erkenntnissen unterwirfst. Und seinem Wissen und seiner Freundlichkeit. Null Nale, alias der Schmerz, will in deine Seele eindringen. Will dir bei den Dingen helfen, die du nicht verstehen kannst. Er will, dass du deine Leere in ihn ausleerst. Denn nur auf diese Weise wirst du Stärke finden.
Februar, ein Jahr später
Er lehnte in der Dunkelheit am Baumstamm und beobachtete sie durch das große, helle Fenster.
Das Licht fiel wie ein viereckiger gelber Teppich über den weißen Schnee. Die Lampe auf der Außenwand ließ den Baum einen Schatten werfen. Der Schatten kroch über das gelbe Viereck und zeichnete einen neuen flachen Baum auf den Boden.
Die blattlosen Baumkronen rauschten leise. Ein scharfer Eiswind wehte. Es war Mittwoch, der siebzehnte Februar. Er hatte auch am Vortag hier gestanden. Und am Tag davor.
Bald würde alles vorbei sein. Und er meinte wirklich alles. Dann würde sie Zugang zu dem Traum haben. Zu dem Traum von einem Leben in Frieden.
Er zog die braune Lederjacke fester um sich zusammen. Sein Gesicht war ernst und konzentriert. Er stand nur fünfzehn Meter von ihr entfernt. Getrennt nur durch eine dünne Holzwand und eine schmale Tür. Vielleicht würde sie diese Tür bald öffnen, um frische Luft ins Haus zu lassen. Oder sie würde sie öffnen, um eine Katze aus dem Haus zu lassen. Er hatte Zeit. Sie wusste nicht, dass er hier auf sie wartete. Sie wusste auch nicht, dass er sie schon seit Tagen beobachtete. Sie wusste nicht einmal, wer er war. Der Eiswind fuhr ihm über das Gesicht. Und das Mobiltelefon in seiner Tasche klingelte.
Plötzlich stand Therese Geber oben auf der Treppe. Aus der Entfernung sah sie aus wie eine Marionette. Sie hatte etwas Steifes und Unechtes. Es war fast lächerlich, dass es so passierte, dass sie allein aus dem Haus kam, genau wie er sich das vorgestellt hatte. Genau wie er gehofft hatte.
Er hatte auf sie gewartet. Er hatte schon lange davon geträumt. Geräumt davon, ihr zu begegnen, sie zerbrechen zu sehen. Therese hatte ihr Leben nicht im Griff und daran wollte er etwas ändern. Er wollte sie zerstören.
Und jetzt kam sie tatsächlich auf ihn zu. Sie breitete sich in seinen Augen aus. Sie füllte seinen Kopf und seinen Brustkorb und seinen Bauch. Ihr Bild wurde zu einem einzigen großen Theater.
Im bleichen Licht der Straßenlaternen tanzte ein leichter Nieselregen. Vom Herbst gefärbte Blätter wirbelten vor ihm durch die Luft.
Ihre Füße trippelten eilig über die Steintreppe. Ihre Bewegungen waren zum letzten Mal Bewegungen. Sie würde nie mehr eine Treppe hinunterlaufen. Innerhalb weniger Sekunden war sie unten angekommen. Sie trug keinen Mantel. Sie hatte die Pulloverärmel über die Hände gezogen, um die Wärme zu halten.
Auf dem nassen Asphalt fuhren Autos vorüber. Er hatte sich hinter den parkenden Wagen versteckt und empfand im Grunde nichts. Er stand nur reglos da und wartete. Es galt: jetzt oder nie.
Sie schaute nach links und nach rechts, dann überquerte sie die Straße. Die Haare tanzten ihr um die Schultern.
Er hatte sich alles bis in die letzte Kleinigkeit ausgemalt. Er hatte schon mehrere Male so gestanden, an verschiedenen Orten, und auf sie gewartet. Aber eine Gelegenheit hatte sich nicht geboten. Bis jetzt nicht.
Er schaute kurz zum Café Arcimboldo hinüber. Durch das große Fenster sah er die Freundinnen, er sah, wie eine aufstand und zum Tresen ging. Dann drehte er sich um und musterte die Straße. Kein Mensch zu sehen. Er hoffte, dass es ihm gelingen würde, Ruhe zu bewahren, das war jetzt von entscheidender Bedeutung.
In kurzen Sequenzen stellte er sich vor, wie sie nachher aussehen würde. Ihr Körper, leblos. Ihr Gesicht, ohne Atem. Die Totenmaske würde vielleicht einen harten Ausdruck von Angst aufweisen. Er beschloss, dass dies ihr letzter Gesichtsausdruck sein sollte.
Er zog die Hände aus den Taschen und machte sich bereit.
Therese Geber schlüpfte zwischen die parkenden Autos. Sie fuhr zusammen, als sie den Mann bemerkte. Sie hatte ihn sofort erkannt.
Er stand ganz still und der Schlosspark, große Lehmhaufen, ein Bagger und ein LKW ragten schwer und düster hinter seinem Rücken auf. Er lehnte sich gewissermaßen an die Dunkelheit an. Wusste, dass sie auf seiner Seite stand.
Zuerst war Therese Geber überrascht, dann riss sie sich zusammen, versuchte, ihn zu ignorieren und sich nichts anmerken zu lassen.
Er sah, dass sie nichts sagen wollte. Er sah den Autoschlüssel zwischen ihren Fingern aufblitzen. Das Metall hatte das Licht der Straßenlaterne eingefangen.
»Hallo«, sagte er leise.
Sie schwieg, lächelte nur kurz, überlegte sich die Sache dann anders und sagte doch »Hallo.«
Eilig schaute er sich ein weiteres Mal um. Niemand zu sehen, nur die vorübersausenden Autos, in deren Lack das Licht der Straßenlaternen funkelte.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Autotür. Sie wollte sich ins Wageninnere bücken. Machte einfach so weiter, als könne ihr nichts passieren.
»Moment noch«, sagte er und trat ruhig auf sie zu. Sie richtete sich auf und sah ihn fragend an.
Eigentlich ging es leichter, als er erwartet hatte. Weil er schnell war und weil er sie überrumpelte.
Der Zufall stand wirklich auf seiner Seite. Es war immer noch kein Mensch zu sehen.
Er war von sich selbst überrascht. In seinem hellen Zimmer herumzufantasieren, war das eine. Etwas ganz anderes war, tatsächlich zuzulangen.
Seine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Er hatte jetzt das Labyrinth betreten. Etwas in ihm entschied, was er zu tun hatte. Und sagte es dann dem zweiten. Das zweite und dritte teilten es dem fünften mit und das brüllte es an das sechste weiter.
Er warf sie zu Boden und schloss die Wagentür mit einem Fußtritt. Eine ihrer Haarsträhnen geriet ihm in den Mund. Noch ihre kleinste Bewegung wurde von keuchendem Atem begleitet. Er registrierte, dass sie von kalter Klarsicht erfüllt war. Er drückte ihr den Unterarm auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich vor Angst und Unglauben. Er zog sie an den Haaren. Riss ein dickes Büschel ab und steckte es sich in die Tasche. Er schlug ihr ins Gesicht. Er setzte sich rittlings auf sie, schloss mit aller Kraft die Hände um ihre Kehle und schlug dabei mehrmals ihren Hinterkopf auf den Asphalt. Bei jedem Aufprall war ein dumpfes Dröhnen zu hören. Er schlug so hart, dass er sie fast sterben hören konnte.
Er war anderswo. Er tanzte. Die Kräfte kamen von innen und verliehen ihm immer neue Kräfte. Er hörte das Brüllen des näherkommenden Verkehrs. Es war gelb, dann grün geworden. Die parkenden Autos boten ihnen Schutz. Er schaute auf sie hinab. Er sah sofort, dass sie vor Angst völlig gelähmt war. »Du kannst also auch Angst haben«, fauchte er sie an.
Er fing an, sie aus seinem Bewusstsein zu wischen. Er liebte das Gefühl, sie zu hassen.
Sein Spiel nahm einen Hauch von Kunst an. Er wollte sie wegzaubern. Anfangs versuchte sie noch, sich loszureißen. Legte ihm die Arme um den Rücken wie Flügel, die sie befreien wollte.
Sie versuchte zu schreien, aber das übertönte er durch sein ruhiges Zureden.
Ihre Schreie erinnerten an Luft. Sie waren dünn und hellgrün, wie der Regen, und sie waren ihr im Hals stecken geblieben.
Er achtete nicht auf seine Umgebung. Wieder versuchte sie, sich aufzurichten. Sie wollte nicht in den Himmel. Sie hatte dem Tod offenbar einen hässlichen Namen gegeben.
Nach und nach merkte er, dass auch er sich danach sehnte, aus diesem Elend befreit zu werden. Er war erschöpft. Und schlimmer noch, er fing an, seine eigene Angst zu durchschauen. Das hier war kein Totentanz, es war ein Marathonlauf.
Und er war dabei zu verlieren, denn in einiger Entfernung sah er eine alte Dame auf sich zustapfen.
Die Zeit stand still. Er zog und schob sie ein Stück über den Rasen. Brutal zerrte er sie in die Dunkelheit zwischen schwarzen Baumstämmen und Schatten, einem großen Bagger, Lehmhaufen und einer verdreckten Plane, die über eine Mulde im Boden gespannt war.
Die Straßenlaternen malten gelbe Flecken ins Gras, zeigten auf die halb verfaulten Blätter, konnten sie mit ihren langen Fingern aber doch nicht erreichen. Hinter einem Lehmhaufen zwang er sie noch einmal zu Boden.
Er kniete nieder und schloss erneut die Hände um ihren Hals. Ihr Hinterkopf lag im warmen Schlamm. Unter seinen Händen wurde sie gelb.
Später, als er aufstand und sich die Kleider abwischte, war er außer Atem und hatte Angst. Das Rauschen der Straße dämpfte alle anderen Geräusche. Er registrierte, dass ein Taxi und ein Motorrad vorüberfuhren. Dann einige PKWs. Danach war wieder alles still. Die Ampel hinten bei der Kreuzung war rot.
Die alte Dame war in ihrem langsamen Takt ein ziemliches Stück nähergekommen.
Er fuhr sich kurz mit der Hand übers Gesicht, merkte nicht, dass er sich die Wange dabei mit braunem Lehm verschmierte. Er bückte sich und hob sie halbwegs hoch. Er legte ihr den Arm um die Taille und schleppte sie noch ein kurzes Stück durch den Schlosspark, zu einem kleineren Lehmhaufen, der halbwegs von einem provisorischen Drahtzaun umgeben war. Hier wollte er sie begraben, hier in der Erde, oder sie mit der Plane bedecken.
Er erhob sich und sah auf dem Bürgersteig einen Mann und einen Hund. Der Hund schnüffelte und schnüffelte und schnüffelte, aber er war zu dumm, um seinem Herrchen etwas anzudeuten, und am Ende ließ er sich weiterziehen.
Vor dem Künstlercafé lachte jemand laut. Er hörte leise Musik und das gleichmäßige Brummen eines Entlüftungsventils in der Mauer des alten Hauses auf der anderen Straßenseite.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Wirklichkeit war dabei, ihn einzuholen. Plötzlich fiel sein Blick auf den Wagenschlüssel. Der lag auf dem Boden und funkelte. Er war durch seinen Tritt wohl aus der Tür gefallen.
Er konnte sehen, wie die klatschsüchtige Straßenlaterne sich im Schlüsselbund spiegelte. Und Therese Geber bewegte sich vorsichtig und stöhnte leise.
Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er fuhr herum, versetzte ihr einen Tritt und fiel wütend auf die Knie. Kannst du nicht endlich sterben, verdammt noch mal? Er schloss zum letzten Mal die Hände um ihren Hals und drückte aus Leibeskräften zu. Er machte weiter, bis ihm die Oberarmmuskeln schmerzten. Er aktivierte Kräfte, die er eigentlich gar nicht besaß. Er aktivierte sie noch einmal. Und ein weiteres Mal. Plötzlich hatte die Wirklichkeit ihn verstanden. Und endlich hörte er Therese Geber sterben.
Die alte Dame ging in Gedanken versunken den Wergelandsvei entlang.
Sie hatte bei einer Schulfreundin deren einundachtzigsten Geburtstag gefeiert. Bei Sandkuchen und Tee hatten sie über alte Zeiten geplaudert. Sie ging langsam, ein wenig vornübergebeugt, und warf ab und zu einen Blick auf die parkenden Autos. Sie hatte einen fünfjährigen Urenkel, der schon den vollen Überblick über alle Automarken hatte. »Volvo«, murmelte sie vor sich hin, »Saab und Mercedes.« Sie lächelte resigniert beim Anblick zweier Autos, deren Marken sie nicht kannte. Sie dachte an das Buch, das sie ihrer Freundin geschenkt hatte, und hoffte, ihm wäre nicht anzusehen, dass sie es vorher gelesen hatte. Ihre Tasche hing ihr über der Schulter.
Plötzlich tauchte unmittelbar vor ihr ein Mann auf. Sie fuhr zusammen und spürte, wie eine Welle der Angst durch ihren Leib zog. Der Mann sah wütend aus und eine seiner Wangen war mit Lehm verschmiert. Die Haare hingen ihm triefnass in die Stirn. Automatisch umklammerte die alte Dame ihre Schultertasche mit beiden Händen.
Doch der Mann kehrte ihr den Rücken zu, bückte sich eilig und hob etwas vom Boden auf.
Die alte Frau ging im selben Tempo weiter, als sei nichts geschehen. Sie wagte nicht stehen zu bleiben. Als sie den Mann erreicht hatte, drehte er sich zu ihr um. »Meine Wagenschlüssel«, sagte er leise. »Sie sind mir aus der Hand gerutscht.«
Die alte Frau nickte und spürte ihr Herz gegen die Rippen hämmern. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hatte mich so erschrocken.«
Der Mann lächelte sie voller Nervosität an. »Wirklich nicht nötig«, sagte er.
»Schon verstanden«, sagte sie und lächelte vorsichtig zurück.
Der Mann öffnete die Wagentür, fiel mehr oder weniger in das braune Auto hinein und ließ den Motor an. Er verließ den Parkplatz und fuhr in Richtung Innenstadt davon.
Die alte Frau war wütend auf sich selbst. Sie blieb einen Moment lang stehen, um zur Ruhe zu kommen. Wie blödsinnig von ihr, sich dermaßen zu fürchten! Rasch schaute sie zum Schlosspark hinüber, wo die Bagger den Boden aufgebrochen und die schöne Rasenfläche zerwühlt hatten. Die Schatten der Lehmhaufen fielen in langen grauen Streifen über den Bürgersteig. Ob die mit dieser scheußlichen Buddelei denn nie mehr fertig wurden? Das Schloss lag wie ein düsterer Koloss im Hintergrund.
Der Regen schmeckte süß auf ihren Lippen. Sie zog den Mantelkragen fester zusammen und wiederholte in Gedanken, dass sie sich zusammenreißen sollte. Sie registrierte eine junge Frau, die die breite Treppe des Künstlerhauses heruntergelaufen kam. Ihr fiel auf, dass die Haare der jungen Frau sich im Wind bewegten und dass ihr der Pony tief ins Gesicht hing.
Die alte Frau ging weiter. Sie hatte das Unbehagen abschütteln können. Jetzt dachte sie an eine kleine Nippesfigur, die sie im Warenhaus Glasmagasinet gesehen hatte. Vielleicht wäre die ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihre Freundin?
Mit leichten Schritten lief Tanja Geber die Treppe hinunter. Das Lärmen der Stadt lag wie ein tiefer, beunruhigender Unterton hinter der dichten Septemberdunkelheit. Die Neunzehnjährige trug keinen Mantel und lief so unbeschwert über die Treppenstufen wie zehn Minuten zuvor ihre Zwillingsschwester. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wie um sich vor Regen und Kälte zu schützen.
Sie sah sich kurz auf der Straße um und blieb verwundert stehen. Der Wagen war verschwunden. Der alte braune Opel stand nicht mehr dort. Das konnte doch gar nicht sein. Sie starrte die leere Parklücke an, trat zwei Schritte vor und blickte sich auf dem Wergelandsvei um. Doch Schwester und Auto blieben verschwunden. Eine leise Furcht meldete sich in ihrem Bauch, aber sie war auch ziemlich gereizt. Sie merkte, wie kalt es war. Die Regentropfen hatten ihre Haare schon verklebt und die Fasern ihres weichen Angorapullovers durchtränkt. Sie sah sich noch einmal um, dann machte sie kehrt und rannte wieder die Treppen hoch, die Arme noch immer zu einem harten Knoten verschränkt.
Es war Mittwoch, der 16. September, 21.09 Uhr. Ein tiefer, dunkler Herbstabend. Ein ganz besonders trauriger Tag, den Tanja Geber nie mehr vergessen sollte.
Um genau 22.07 Uhr klingelte bei Berit und Rolf Geber in Asker das Telefon. Die Mutter der Mädchen meldete sich.
»Mama«, sagte Tanja aufgeregt. Sie rief von einem Fernsprecher in einem Restaurant aus an.
»Ja?«
»Wir sind in der Stadt, im Arcimboldo.«
»Wo?«
»Im Arcimboldo, dem Café im Künstlerhaus.«
»Ach so. Und was macht ihr da?«
»Nur ein bisschen quatschen.«
»Trinkt ihr etwa?«
»Nein, Mama, lass den Unsinn.«
Berit Geber seufzte am anderen Ende der Leitung. »Und, amüsiert ihr euch?«, fragte sie.
»Ja ... oder nein, ich weiß nicht. Verstehst du, Therese wollte nur schnell zum Auto, um Sie zu holen. Sie wollte uns etwas zeigen. «
»Welche Sie?«
»Die Zeitschrift Sie.«
»Ach.«
»Wir ... Ida und Hanne und ich warteten im Lokal. Aber sie ist nicht zurückgekommen.«
Berit Gebers Stimme klang jetzt ängstlich. »Ist etwas passiert, versuchst du, mir das zu sagen?«
»Nein, ich weiß nicht, aber ihr Auto ist verschwunden.« Ihre Tochter war um einiges lauter geworden. Die Antwort der Mutter war nur schwer zu verstehen, denn dauernd klirrten Gläser oder gingen lachende Gäste vorbei.
»Ist das Auto gestohlen worden, meinst du das?« Berit Geber hatte sich auf den Stuhl neben dem Telefontisch gesetzt. Tanja konnte hören, dass ihre jüngere Schwester jetzt im Hintergrund stand und kommentierte und fragte. Sie hörte die Mutter sagen, das Auto sei gestohlen worden.
»Nein«, rief Tanja in den Hörer. »Das Auto ist verschwunden und Therese auch. Sie war bestimmt aus irgendeinem Grund sauer. Du kennst ja Therese«, fügte sie hinzu. »Aber ich kapier das nicht, sie wirkte überhaupt nicht sauer. Kein bisschen.«
Die Mutter schwieg.
»Kannst du nicht Papa bitten, im Fredboes Vei vorbeizufahren und nachzusehen, ob Therese nach Hause gefahren ist und der Wagen in der Garage steht? Wir haben schon versucht anzurufen, aber es geht niemand ran. «
»Ja, aber er ist nicht zu Hause, Tanja, er ist beim Lions-Treffen«, antwortete Berit Geber resigniert. »Und ich kann nicht gerade behaupten, dass dieser Ausflug mir verlockend vorkäme. Ich bringe das einfach nicht mehr über mich. Ich wollte heute früh ins Bett gehen. Könnt ihr nicht noch ein bisschen warten, vielleicht taucht sie ja wieder auf. Und wenn nicht, dann müsst ihr eben mit der Bahn nach Hause fahren«, sagte Berit Geber.
»Na gut«, sagte Tanja genervt. »Das werden wir wohl müssen«, fügte sie hinzu, legte auf und kehrte zu ihren neugierigen Freundinnen zurück.
Kommissar Cato Isaksen von der Osloer Mordkommission wurde einen Moment lang von einem Sonnenflecken gestört, der über die vor ihm liegenden Unterlagen tanzte, als er gerade zwei Ordner von dem hohen Stapel Unterlagen auf seinem Schreibtisch entfernte. Er merkte, dass sich eine Erkältung anbahnte. Gerade in diesem Moment fraß sie sich durch seinen Kopf. Er ließ den Blick hinter dem Sonnenflecken herwandern. Der Fleck tanzte zwei-, dreimal hin und her, dann glitt er die Wand hoch und war verschwunden.
Cato Isaksen ließ sich im Sessel zurücksinken und entdeckte plötzlich sein verzerrtes und zerlaufenes Spiegelbild in der Stahllampe vor ihm. Der Stahl fungierte wie ein Zerrspiegel. Cato Isaksen starrte sich an. Ein erschöpfter Mann von Mitte vierzig mit schütterem blondem Haar sah ihm entgegen. Auf der einen Seite dehnte sein Gesicht sich auf groteske Weise aus und endete in einem dünnen, fleischfarbenen Strich.
Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war fünf vor zehn, Freitagvormittag. Der Kalender an der Wand zeigte den 18. September.
Er riss sich zusammen und stand auf. Um zehn sollte die Besprechung beginnen.
Hinter den rußfarbenen Fensterscheiben der Wache auf Grønland hatte die Herbstsonne bereits eine schwere, stickige Hitze verursacht. Eine Art Resignation lag in der Luft. Die Stapel mit den Unterlagen wuchsen und wuchsen. Während der letzten Tage waren zwei Morde dazugekommen. Eine Messerstecherei. Ein Junge hatte einen Klassenkameraden umgebracht. Und ein frustrierter Ehemann hatte sein Haus abgefackelt.
Sie würden wohl nie ein Ende nehmen, die Verbrechen. Natürlich würden sie das nicht. Es ging nicht voran mit der Welt. Jedenfalls nicht, was Brutalität und Bosheit betraf.
Cato Isaksen bedachte seine Chefin, Hauptkommissarin Ingeborg Myklebust, mit einem kurzen Nicken. Sie war einundfünfzig Jahre alt und fast eins achtzig groß. Eigentlich eine gutaussehende Frau, mit rötlichen Haaren, die sich an den Wurzeln grau verfärbten. Zumeist trug sie Röcke oder Kleider. Cato Isaksens Verhältnis zu ihr war ein wenig angespannt. Eine lange Zeit hindurch war es besser gewesen, jetzt hatte es sich wieder spürbar verschlechtert. Er wusste nicht so recht, was der Grund dafür sein konnte. Er wollte glauben, dass es an der Chemie lag. Aber er musste zugeben, dass ihn die natürliche Autorität seiner Chefin provozierte. Er zog einen Stuhl hervor, setzte sich und nieste energisch. »Entschuldigung«, sagte er dann und durchwühlte seine Taschen nach einem Taschentuch.
Einer nach dem anderen trudelten die Kollegen im Büro der Hauptkommissarin ein. Zuerst Preben Ulriksen, ein junger, ein wenig arroganter Mann, der noch immer bei seinen Eltern in Stabekk wohnte. Er schrappte mit dem Stuhl über den Boden und nickte Cato Isaksen munter zu. Dann kamen der Reihe nach: Oberwachtmeister Roger Høibakk, Cato Isaksens engster Mitarbeiter, Asle Tengs, ein jovialer grauhaariger Fahnder mit unglaublich viel Erfahrung, schließlich Thorsen und Billington, die fast immer zusammenarbeiteten und eigentlich schon ein eigenes kleines Team bildeten.
Ingeborg Myklebust hatte ihre Leute zu einer Eilbesprechung zusammengerufen. Sie sah erschöpft und ein wenig resigniert aus, trotz ihrer Freude über die Tatsache, dass sie die Brandstiftung in Sagene schon aufgeklärt hatten.
»Aber«, sagte sie und blätterte heftig in den vor ihr liegenden Papieren. »Ihr habt sicher bereits gehört, dass wir leider schon wieder einen sehr dringenden Fall haben.« Sie lachte kurz. »Ich hatte eigentlich auf ein paar Tage Ruhe gehofft. Die hätten wir alle gut brauchen können. Aber nein.« Die Hauptkommissarin fuhr sich durch die rötlichen Haare und berichtete dann: »Heute Morgen gegen neun wurde bei Aker Brygge die im Wasser treibende Leiche einer jungen Frau gefunden.«
Cato Isaksen starrte resigniert vor sich hin. Das Wattegefühl in seinem Kopf hatte sich verstärkt und dämpfte alle Geräusche.
»Ja, ja«, sagte Asle Tengs. »Dann legen wir eben wieder los.«
Roger Høibakk beugte sich ein wenig vor und zog seinen Kamm aus der Hosentasche. Ingeborg Myklebust warf einen kurzen Blick auf ihre Papiere. »Mord«, sagte sie. »Die Frau weist Würgemale am Hals und Kopfverletzungen auf. Ellen Grue hat angerufen. Auf einer Seite sind fast alle Haare ausgerissen.«
»Himmel«, Preben Ulriksen schnitt eine Grimasse. »Widerlich«, sagte er.
Roger Høibakk zog sich in aller Eile den Kamm durch die Haare.
Ingeborg Myklebust sah einen nach dem anderen an. Cato Isaksen machte sich ein paar Notizen.
Da kam Wachtmeisterin Randi Johansen hereingestürzt. Die braunen Locken tanzten ihr um den Kopf. »Tut mir leid«, sagte sie und lächelte Roger kurz an. »Heute komme ich mal zu spät«, fügte sie leise hinzu und versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter.
Ingeborg Myklebust winkte gereizt ab. »Bitte«, sagte sie.
Randi Johansen suchte sich einen Stuhl und nahm eilig Platz.
Die Hauptkommissarin schaute Cato Isaksen gelassen an. »Der Fall gehört dir«, sagte sie.
Cato Isaksen schloss für einen Moment die Augen und spürte, wie die Erkältung sich immer weiter festbiss. Sein Hals juckte und tat weh.
»Danke«, sagte er sarkastisch.
Roger Høibakk schnappte hörbar nach Luft.
»Wir hatten sogar schon die Presse an der Strippe«, sagte Ingeborg Myklebust. »Aber wir haben die Identität der Toten noch nicht bekannt gegeben. Wir versuchen noch, die Eltern zu erreichen. Sie hatte ihren Führerschein in der Tasche.«
»Eine Frau aus Oslo?«, fragte Randi Johansen und nahm sich einen Apfel aus der Tonschale, die mitten auf dem ovalen Eichenholztisch stand.
»Aus Asker.« Ingeborg Myklebust blätterte in den Unterlagen. »Eben ist dieses Fax gekommen«, sagte sie. »Der Führerschein steckte zusammen mit zwei Hunderter in ihrer Tasche. Die Ermordete heißt Therese Geber und hat im Fredboes Vei 57 in Asker gewohnt.«
Ingeborg Myklebust schaute zu Cato Isaksen hinüber, der im Ortsteil Frydendal in Asker ein Reihenhaus bewohnte. »Weißt du etwas über sie?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nie von ihr gehört. Aber Asker ist groß«, fügte er hinzu. »Immerhin weiß ich, wo der Fredboes Vei liegt. Die Ecke dort heißt Hagaløkka.«
»Also, ich weiß nicht«, sagte Ingeborg Myklebust mit Betonung auf dem »ich«. Sie strich ihre weiße Bluse glatt. »Ich kenne mich da draußen nicht aus«, sagte sie dann. »Aber ihr müsst nach Aker Brygge fahren und mit der Spurensicherung reden. Die Leiche ist schon zur Gerichtsmedizin gebracht worden. Die Spurensicherung ist da unten am Werk. Die Ladenbesitzer sind offenbar außer sich vor Wut, weil die ganze Gegend abgesperrt worden ist. «
»Ganz Aker Brygge?« Roger Høibakk grinste und fischte wieder den schwarzen Kamm aus seiner Hosentasche.
»Lass um Himmels willen die Finger von dem Kamm, Roger«, sagte Ingeborg Myklebust verzweifelt und fügte hinzu, selbstverständlich sei nicht ganz Aker Brygge abgesperrt worden, aber eben doch ein recht großer Teil.
Cato Isaksen musste wieder niesen und Randi musterte mitleidig seine glänzenden Augen. »Du bist aber nicht so ganz in Form«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte Cato Isaksen. »Das kannst du laut sagen. «
»Aber du kannst jetzt nicht nach Hause gehen«, erklärte Ingeborg Myklebust mit strenger Stimme.
»Ich habe nicht mal mit dem Gedanken gespielt.« Cato Isaksen bedachte sie mit einem gereizten Blick und erhob sich. Kein Wunder, dass sie den Spitznamen Margaret Thatcher hat, dachte er.
»Ich fahr mit Roger und Randi mal zum Tatort«, sagte er kurz.
»Ich komme mit«, sagte Preben Ulriksen und sprang auf.
»Ist nicht nötig«, sagte Cato Isaksen rasch. »Schreib lieber die Berichte fertig, die ich dir heute Morgen gegeben habe«, fügte er hinzu und erteilte dann Asle Tengs und Thorsen und Billington weitere Instruktionen. Dann lief er aus dem Zimmer. Preben Ulriksen starrte ihm verärgert nach.
Cato Isaksen nieste zweimal, als sie zum Fahrstuhl gingen.
»Ja, zum Teufel, Mann«, sagte Oberwachtmeister Roger Høibakk grinsend. »Du legst aber los.«
Cato Isaksen putzte sich lautstark die Nase. »Das ist keine normale Erkältung, das kann ich dir sagen«, sagte er.
»Du bist doch hoffentlich nicht allergisch?« Roger Høibakk blickte ihn fragend an und zwinkerte Randi zu. »Du hast dir doch eine Katze zugelegt. Ist die etwa schuld?«
Cato Isaksen schüttelte den Kopf. »Nein, an der liegt es nicht«, sagte er.
Er wollte sich während der Herbstferien seiner Söhne, die in einer Woche beginnen würden, freinehmen. Bekannte hatten ihnen ihr Ferienhaus oben im Norefjell angeboten. Bente hatte bereits zugesagt. Sie freute sich sehr über diese Möglichkeit. Die Frage war nur, ob er Urlaub bekommen würde. Er ahnte schon, dass es nicht leicht sein würde.
Er dachte daran, dass sie am Vorabend überlegt hatten, ob sie den dreijährigen Georg mitnehmen sollten oder nicht. Bente hatte ehrlich gesagt, dass sie sich das lieber ersparen würde. Georg war Catos Sohn aus einer kurzfristigen Beziehung zu einer anderen Frau. Obwohl Bente mit der Sache inzwischen recht gut umgehen konnte, kam es doch immer wieder zu Diskussionen. Sie waren einen langen Weg gegangen. Es war eine schwere Zeit für Bente gewesen, als Cato vier Jahre zuvor sie und die beiden halbwüchsigen Söhne verlassen hatte, um mit der zehn Jahre jüngeren Sigrid Velde zusammenzuziehen. Nun lebte er seit zwei Jahren wieder bei Bente und den Jungen. Für ihn waren das zwei sehr verwirrte Jahre gewesen. Er hatte wohl gehofft, alles werde so sein wie früher. Und das war ja auch fast der Fall, aber etwas war trotzdem für immer zerstört worden.
»Bitte sehr, Frau Johansen«, sagte Roger Høibakk und öffnete für Randi die Tür des Opel Corsa – eines Zivilfahrzeugs. »Wie läufts denn so mit der Ehe?«, fragte er.
»Danke, sehr gut«, antwortete die frisch verheiratete Randi nur knapp und kletterte auf den Rücksitz.
Cato Isaksen nieste wieder.
»Aber was ist mit der Katze?« Roger Høibakk sprang auf den Beifahrersitz und musterte seinen Chef gespannt. Cato Isaksen ließ den Motor an und fuhr aus der Tiefgarage. Randi lächelte auf dem Rücksitz und zog ihre Lederjacke fester zusammen.
Cato putzte sich die Nase und schüttelte den Kopf. »Daran liegt es nicht, habe ich doch schon gesagt. «
»Hat sie denn jetzt einen Namen?« Roger Høibakk zog einen Schokoriegel aus der Tasche und entfernte das Papier.
»Ja«, sagte Cato Isaksen kurz.
»Und, wie heißt sie?«
Cato Isaksen gab keine Antwort. Er konzentrierte sich aufs Fahren. Doch Roger Høibakk ließ nicht locker. Er knüllte das Papier zusammen und wiederholte seine Frage. »Wie heißt das Vieh?«, wollte er wissen und versetzte seinem Chef einen leichten Rippenstoß.
Cato Isaksen schaute ihn kurz an und lächelte ein wenig. »Marmelade«, sagte er nach einer kleinen Pause.
»Marmelade?« Roger Høibakk stopfte sich den Schokoriegel in den Mund, ließ sich im Sitz zurücksinken und lachte laut. »Marmelade.« Er grinste. »Guter Name.«
Als sie in das Parkhaus auf Aker Brygge fuhren, fiel Cato Isaksen ein, dass ihm ein Georg-Wochenende bevorstand. »O verdammt«, murmelte er leise.
»Was ist denn los?« Randi beugte sich ein wenig vor.
»Ach, nichts.« Cato Isaksen hielt an. Er hoffte, die Tote im Wasser werde ihn nicht daran hindern, seinen Sohn zur verabredeten Zeit abzuholen. Er schaute auf die Uhr. Er würde den Kleinen in fünf Stunden sehen, so gegen vier.
Die Hälfte des gepflasterten Platzes war abgesperrt. Schon längst war das vorgeschriebene rotweiße Band ausgespannt worden. Die Spurensicherung war in vollem Gange. Cato Isaksen schlüpfte unter dem Band durch und ging zu den Kollegen hinüber. Roger und Randi folgten ihm.
Eine große Schar von Gaffern drängte sich hinter dem Band zusammen. Uniformierte Kollegen versuchten, die Neugierigen zurückzudrängen. »Bitte«, sagten sie. »Hier gibt es nichts zu sehen.«
»Aber was ist denn eigentlich passiert?«, fragte ein neugieriger Junge von vielleicht fünfzehn.
»Wir können jetzt noch nichts sagen«, wiegelte ein junger Polizist ab und bat die Leute noch einmal, sich zu verziehen. Eine Polizistin filmte die Gaffer mit einer Videokamera. Das machten sie seit einiger Zeit. Vor allem bei Brandstiftung konnte dieses Verfahren sich lohnen, weil der Täter oft an den Tatort zurückkehrte. Doch auch in Mordfällen konnte es wichtig sein, so genannte »Aufsuchende« im Blick zu haben.
Die Herbstsonne spiegelte sich in den Glasflächen der Häuser. Vor den Restaurants waren die Stühle aufeinandergestapelt. Zehn bis fünfzehn Meter vom La Piazza entfernt hockten drei Kollegen von der Spurensicherung und waren in irgendeine Untersuchung vertieft. Cato Isaksen ging zu ihnen hinüber. »Könnt ihr was finden?«, fragte er und nickte zu ihnen hinüber.
Die Techniker erhoben sich. »Halli, hallo«, riefen sie, begrüßten den Ermittlungsleiter und schüttelten dann den Kopf. »Bisher noch nicht«, sagte der eine. »Die Leiche wurde da hinten aus dem Kanal gefischt. Wir haben einfach den ganzen Bereich abgesperrt, wo es Blutflecken auf dem Boden gibt«, sagte er. »Aber wir wissen ja nicht, ob die etwas mit dem Fall zu tun haben. Wir sichern erst mal alle möglichen Spuren.«
»Natürlich«, sagte Cato Isaksen, den gleichzeitig ein Kälteschauer überlief. Obwohl die Luft noch warm war, lag der Herbst schon in den Sonnenstreifen auf dem Asphalt auf der Lauer. Cato fuhr sich mit einer müden Handbewegung durchs Gesicht. Sein Blick fiel auf einen kleinen Haufen feuchter Asche, jemand schien eine Zeitung oder andere Papiere verbrannt zu haben.
Ellen Grue, eine Kollegin von der Spurensicherung, kam auf ihn zu. Sie war klein und dunkelhaarig und hatte ein attraktives, ungeschminktes Gesicht. »Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme hatte wie immer einen leicht scharfen Unterton. Cato Isaksen war sie immer als unnahbar erschienen. Anfangs hatte er noch versucht, freundlich zu sein und ein Gespräch anzufangen, wenn sie sich begegnet waren. Während des vergangenen Jahres hatte er bei der gemeinsamen Arbeit nur noch das Allernötigste geredet.
»Hol mal ein Paar Plastiksocken«, rief sie einem anderen Techniker zu.
»Habt ihr schon was gefunden?«, Cato Isaksen blickte auf sie hinunter.
»Bisher noch nicht«, antwortete Ellen Grue. »Wir nehmen Proben von dem Blut und saugen die ganze Gegend ab.« Plötzlich hob sie eine Hand und legte sie ihm auf die Stirn. »Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte sie.
Rasch schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er kurz.
»Du bist ein bisschen heiß«, sagte sie.
Er lächelte kurz. »Ja«, sagte er.
Sie musterte ihn einen Moment lang mit ernster Miene, dann lächelte sie. »Du Armer«, sagte sie.
Cato Isaksen sah sie überrascht an. Noch immer spürte er an seiner Stirn die leichte Berührung ihrer Hand.
Ein Kollege von der Ordnungsabteilung kam herüber und reichte ihm ein Paar blaue Plastiksocken. Cato Isaksen dankte ihm zerstreut, bückte sich und streifte die Socken über seine Schuhe. Dann nickte er Ellen Grue kurz zu und ging zu Randi und Roger, die zusammen mit zwei Technikern am Kanal standen. Vier leere Fahnenmasten ragten wie Speerspitzen in den Himmel. Die grüne, gewölbte Brücke über dem Kanal erinnerte ihn an Venedig. Zwei Jachten waren auf der linken Seite der Brücke vertäut. Die Boote wurden von mehreren Fahndern durchsucht.
Cato Isaksen drehte sich zu Roger und Randi um. »Wir wissen noch gar nicht, ob sie überhaupt hier ins Wasser geworfen worden ist«, sagte er.
Roger Høibakk schüttelte den Kopf. Der hoch gewachsene, dunkelhaarige Junggeselle sah ernst aus. »Sie kann hier auch angeschwemmt worden sein. Soll ich die Umgebung absuchen lassen?«
»Ja«, sagte Cato Isaksen. »Tu das.«
Roger Høibakk trat einen Schritt beiseite und zog sein Mobiltelefon aus der Tasche.
»Ich glaube, ihr solltet sofort nach Asker fahren«, sagte Cato Isaksen und schaute Randi an. Vergeblich versuchte er, einen Hustenanfall zu unterdrücken. »Ihr müsst die Angehörigen informieren«, würgte er heraus. »Sie war doch erst neunzehn, deshalb sind das wohl in erster Linie ihre Eltern«, fügte er hinzu und wandte sich ab.
»Alles klar«, sagte Randi und nickte zu Roger hinüber, der sein Gespräch inzwischen beendet hatte.
Sie fragten, ob er nachkommen würde.
»Ja«, sagte Cato Isaksen. »Sobald ich mich hier freimachen kann.«
Seewind wehte über den Platz und Cato wurde von der tieforangen Sonne geblendet.
»Heute Nacht so gegen fünf hat es heftig geregnet«, sagte einer der Fahnder. »Dabei kann allerlei weggespült worden sein. «
»Ja, ein Vorteil ist das nicht gerade«, sagte Cato Isaksen und richtete sich auf. Hinten beim Restaurant Beach Club waren mehrere Beamte damit beschäftigt, die Angestellten zu verhören.
»Ich glaube, ich schau noch mal kurz im Büro vorbei«, sagte er zu den Spurensicherern, die sofort in die Hocke gingen und sich wieder in ihre Arbeit vertieften. »Ich muss versuchen, die eingehenden Informationen zu koordinieren«, murmelte er, während er langsam den breiten Platz überquerte. Er dachte an Ellen Grues leichte Berührung. Er schaute zu ihr hinüber. Sie hockte neben einem der Kollegen. Cato Isaksen lächelte kurz und ging weiter.
Als er gerade unter der Absperrung hindurchtauchen wollte, klingelte sein Mobiltelefon. Ein Rundfunkjournalist bat um ein Interview. Cato Isaksen registrierte, dass eine seiner Plastiksocken gleich reißen würde. »Ich weiß nicht, ob ich schon viel sagen kann«, erwiderte er. »Im Moment weiß ich nicht mehr als Sie.«
Ein Kollege von der Spurensicherung rief ihn. Er drehte sich um und beendete das Gespräch mit dem Journalisten. Und wieder ging sein Mobiltelefon.
Bente Isaksen hatte bereits gegen Mittag auf der Wache angerufen und von dem Mord gehört. Ihr Mann sei nicht zu sprechen, weil im Hafenbecken eine Leiche gefunden worden war. Er halte sich gerade am Tatort auf und werde danach wohl die Familie der Ermordeten aufsuchen. Außerdem müsse er dann seinen vorläufigen Bericht schreiben.
Bente Isaksen versuchte, ganz stark zu sein. Sie wusste alles über die Arbeit ihres Mannes. Wusste, wie unvorhersagbar es dabei zuging. Sie hatte gelernt, die ständigen Enttäuschungen wegzustecken.
Sie kochte sich eine Tasse Tee und setzte sich an den Küchentisch. Sie hatte Nachtdienst im Pflegeheim, musste aber erst gegen zehn Uhr losgehen. Die Waden taten ihr weh, weil sie in der vergangenen Nacht dauernd hin und her gelaufen war.
Zerstreut blätterte sie in einer Illustrierten. In einem Artikel ging es um eine sogenannte wahre Geschichte, um eine Stiefmutter. Bente las. Die Moral von der Geschicht’ war, dass immer die Kinder auf der Strecke bleiben, wenn die Eltern sich trennen.
Draußen lief der rote Kater über den Gartenweg. Bente stand auf, ging zum Windfang, öffnete die Tür und rief das Tier. Sofort war der Kater zur Stelle. Er hatte den Schwanz gewissermaßen triumphierend erhoben. Als er ins Haus kam, schnurrte er. »Hast du Hunger?« Bente ließ ihre Stimme fein und hell klingen. Sie bückte sich und kraulte das Tier hinter dem Ohr. Der Kater schmiegte sich an ihr Bein, rieb sich ausgiebig an ihrer kräftigen Wade und miaute laut. »Was bist du für ein feiner Kerl«, sagte Bente freundlich.
Der Kater hatte wirklich Wunder gewirkt. Der vierzehnjährige Vetle war vielleicht sein glühendster Verehrer. Er war viel ruhiger geworden, seit das Tier im Haus war. Sie hatten den Verdacht, dass der Junge sich in der Schule nicht wohl fühlte. Er sagte zwar nichts, aber er hatte kaum Freunde. Immerhin war er im Fußballverein sehr aktiv.
Bente hatte außerdem registriert, dass der Kater auch auf den siebzehnjährigen Gard einen positiven Einfluss ausübte. Er sprach mit dem Tier und schmuste mit ihm, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Gard war nur selten zu Hause. Er war nervös und schien oft müde zu sein, befasste sich aber nie mit den Schulaufgaben, obwohl das vorletzte Jahr am Gymnasium sehr arbeitsintensiv war. Jeden Nachmittag und Abend trieb er sich mit seinen Freunden herum. Bente hatte ihn mehrere Male im Zentrum von Asker gesehen. Sie machte sich Sorgen um ihren älteren Sohn. Sie waren zum Elternabend eingeladen worden. Bente hatte vergessen, Cato Bescheid zu sagen. Und nicht Gard hatte sie informiert, sondern die Nachbarin, deren Tochter in Gards Klasse ging.
Nachdem sie den Artikel über die böse Stiefmutter gelesen hatte, beschloss Bente Isaksen, Georg abzuholen. Es fiel ihr noch immer schwer, Catos Sohn zu akzeptieren, und Sigrid wollte sie erst recht nicht begegnen. Aber der Artikel hatte sie an einem wunden Punkt getroffen und ihr ein schlechtes Gewissen gemacht.
Der bloße Gedanke daran, dass Cato damals sie und die Jungen verlassen hatte, sorgte dafür, dass sich in ihr alles verkrampfte. Der Schmerz saß tief und war schwarz. Er war verwandt mit der Angst, die sie ab und zu um den Schlaf brachte. Sie versuchte, sich zu sagen, wichtig sei allein, dass Cato zurückgekehrt war. Sie hatte einen ganzen Krötenschwarm geschluckt, aber sie schaffte es doch nicht, ihm ganz zu verzeihen. Obwohl er wieder bei ihr war, waren sie offiziell noch immer geschieden. Das machte ihr zu schaffen, aber sie wollte ihm nicht mit ihrer Forderung nach einer erneuten Heirat auf die Nerven gehen. Das Ganze kam ihr dann doch zu absurd vor. Und die Jungen hatten sowieso nicht richtig begriffen, dass nicht alles wieder so war wie vorher. Sie wussten nichts von der Scheidung ihrer Eltern.
Bente stellte die Teetasse in die Spülmaschine und ging in den ersten Stock hinauf, um sich umzuziehen. Sie streifte den Pullover über den Kopf. Ihr Bauch zeigte einige kleine silbrige Schwangerschaftsstreifen. Sie zog eine blaue Bluse und Jeans an. Die Luft im Schlafzimmer war kühl, fast zu kühl. Sie schaute zu dem frisch gemachten Doppelbett hinüber. Am liebsten wäre sie wieder unter die Decke geschlüpft. Der Nachtdienst raubte ihr jegliche Tatkraft.
Der Wagen stand ganz am Ende des Parkplatzes vor der Mauer. Feuchte Herbstblätter klebten auf der Windschutzscheibe. Bente schob sie zusammen und ließ sie dann auf den Boden fallen. Die Garage war für Catos Zivilwagen reserviert. Es war wichtig, dass er im Notfall sofort losjagen konnte. Bente setzte sich in den alten roten Polo und fuhr in Richtung Oslo los.
Sie wollte es nicht so, aber sie war noch immer unsicher, wenn es um Sigrid ging. Cato hatte immer wieder beteuert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Er werde sie nie wieder verlassen. Und sie glaubte ihm. Er war tatsächlich wieder bei ihr. Anfangs war alles sehr leidenschaftlich zugegangen. Fast so wie in ihrer ersten Zeit. Aber dann hatte der Alltag sie wieder eingeholt. Jetzt war alles so wie früher. Oder fast so wie früher. Arbeit und Familie füllten die Tage. Aber der Schmerz von damals hatte ihr Selbstvertrauen doch ganz schön angekratzt. Und Georg würde immer ein lebendiger Beweis für Catos Fehltritt bleiben. Bente hasste den Kleinen aber nicht. Er war niedlich und ungeschickt und lieb. Der Dreijährige war vielleicht ein wenig wild, aber das waren ihre eigenen Söhne auch gewesen.
Die Eltern der Ermordeten, Berit und Rolf Geber, wohnten in einem ziemlich großen Einfamilienhaus gleich beim Skizentrum Vardåsen in Asker. Das Haus hatte eine wunderbare Lage mit Blick auf den Fjord und auf Oslo in der Ferne.
Randi Johansen und Roger Høibakk stellten den Zivilwagen am Straßenrand ab und traten zusammen durch das offene Tor. In der Auffahrt stand ein grüner Golf.
Noch ehe sie sie sahen, hörten sie die Kratzgeräusche der Harke. Randi Johansen steckte nervös die Hände in die Taschen ihrer schwarzen Lederjacke und ging langsam die Steintreppen an der Querseite des Hauses hinauf. Das war das Schlimmste an ihrer Arbeit: den Angehörigen mitteilen zu müssen, dass jemand aus ihrer Familie nicht mehr lebte.
Berit Geber war hinter dem Haus beschäftigt, auf der kleinen Rasenfläche, die sich wie ein kleines Plateau von der Hausmauer bis zum Wald hinzog.
Sie harkte das Laub auf der feuchten Rasenfläche zusammen. Sie war in ihrer eigenen Welt versunken. Allerlei Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Die Angst um ihre seit anderthalb Tagen vermisste Tochter hatte ihr Gehirn lahmgelegt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor solche Angst gehabt zu haben.
Der Herbst hatte gerade erst begonnen und die meisten Blätter hingen noch an den Bäumen, doch sie hatte das Bedürfnis nach Arbeit. Sie war die ganze Nacht auf gewesen, bis sie dann um sechs Uhr morgens für zwei Stunden in einen tiefen, unruhigen Schlaf versunken war. Als sie danach noch immer nichts von ihrem Mann und den anderen hörte, die im Wald nach Therese suchten, hatte sie einfach in den Garten gehen und sich beschäftigen müssen. Sie hatte nichts essen können. Ihr Magen kam ihr vor wie ein schwarzes Loch.
Randi Johansen blieb für einige kurze Sekunden stehen, um die Mutter der Toten zu betrachten. Berit Geber hatte sich ein schottisch kariertes Kopftuch umgebunden. An den Füßen trug sie weiße Seglerstiefel.
Die Polizeibeamtin holte tief Luft und ging auf Berit Geber zu, um deren Leben in Stücke zu fetzen.
Berit Geber fuhr zusammen und sah auf. Sie ließ die Harke fallen und blickte die mit Lederjacke und Jeans bekleidete Polizistin fragend an, die langsam und mit ernster Miene auf sie zukam. Hinter der Polizistin stieg ein gutaussehender dunkler Mann die Treppe hoch. Und Berit wusste Bescheid. Dass jetzt der Moment gekommen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte. Die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht. Die Luft war tot und windstill. Sie stand im Garten und war doch nicht da. Plötzlich war sie nirgendwo. Seit sie ihre Kinder geboren hatte, hatte sie an diesen Augenblick gedacht. Sie hatte daran gedacht, hatte ihn verdrängt und war in ihren Albträumen immer wieder von ihm eingeholt worden. Und sie hatte ihn sich ausgemalt, um sich an das zu erinnern, was kommen würde. Doch im Innern ihres Herzens hatte sie nie geglaubt, es je erleben zu müssen. Hatte geglaubt, es könne nur anderen passieren. Das glaubten sicher alle. Aber jetzt war er hier. Der Augenblick. Er bohrte sich in sie hinein und steckte hinter ihrem Schrei. Und das Loch in ihrem Bauch wurde noch größer und noch schwärzer.
»Wir sind von der Polizei«, sagte Randi Johansen leise und streckte die Hand aus.
Berit Geber spürte, wie eine glühendrote Welle sie durchfuhr. Diese heiße Welle war wie ein Anflug von Frost, der sich einfach nicht aufhalten ließ.
Randi Johansen sah, wie das Gesicht der Frau langsam zerbrach. Sie wusste, dass diese Mutter von jetzt an bis in alle Ewigkeit zerstört sein würde.
Danach saß sie zusammengekrümmt auf dem schönen Sofa im hellen Wohnzimmer und erzählte ihren Gästen mit leiser Stimme, dass ihr Mann den Wagen der Tochter am Vorabend auf dem Parkplatz oben beim Semsvann gefunden habe. Das Auto war abgeschlossen, der Schlüssel verschwunden. »Wir haben sofort die Polizei verständigt«, weinte sie, »und Thereses Verschwinden gemeldet. Die Polizei wollte wissen, ob sie suizidgefährdet wäre, aber das war sie doch nicht. Das haben wir auch gesagt, aber sie wollten uns nicht glauben.« Berit Geber schlug die Hände vors Gesicht. Sie dachte an den Regen, der am frühen Morgen aufs Dach getrommelt hatte. Im Grunde hatte sie es da schon gewusst.
Plötzlich ging ihr auf, welche gewaltige Aufgabe vor ihr lag. Erst in vielen Monaten oder vielleicht Jahren würde sie wieder kleine Freuden empfinden können. Sie riss sich zusammen, um sich von diesen Gedanken zu befreien. Sie konnte doch jetzt nicht berechnen, wie lange es dauern würde, bis sie wieder leben könnte. Besser, sie konzentrierte sich und dachte an Gott. Dieser Gedanke war gelb und stark, doch gleich darauf war er wieder erloschen. Sie konnte den Gedanken an Ihn, der ihr Licht und ihr Leben sein sollte, nicht ertragen. An Ihn, der sie durch die tiefste Finsternis leiten sollte. Mit einem Hauch von schlechtem Gewissen wandte sie sich auch von Ihm ab und ließ die Hände sinken. Sie sah ihre Gäste an, sprang auf und bot ihnen Kaffee an.
»Ja, gerne«, sagte Roger Høibakk schnell. Doch Randi Johansen schüttelte den Kopf. »Den Kaffee mache ich«, sagte sie.
Berit Geber brach in heftiges Weinen aus. Randi setzte sich neben sie auf das Sofa und legte den Arm um sie.
Roger Høibakk ging zum Fenster. Er zog den Kamm aus der Hosentasche und fuhr sich damit zwei- oder dreimal durch die dunklen Haare. »Scheiße«, murmelte er mit steifen Lippen vor sich hin. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit.
»Mein Mann und einige junge Leute sind noch immer auf der Suche«, weinte Berit Geber. »Das hatte ich ganz vergessen. Tanja auch«, fügte sie hinzu. »Thereses Zwillingsschwester. Sie waren die ganze Nacht unterwegs.«
»Die Polizei hat sich an der Suche also nicht beteiligt?«, fragte Randi mit leiser, ruhiger Stimme.
Berit Geber schüttelte den Kopf. »Sie haben gesagt, sie hätten nicht genug Leute, und Therese würde ganz bestimmt bald wieder auftauchen. Aber im Grunde haben sie wohl geglaubt, sie hätte da oben Selbstmord begangen. Mein Mann musste alles selbst in die Wege leiten. Er weiß noch gar nichts«, sagte sie. »Himmel, er weiß nichts.« Sie sprang auf und lief hektisch im Zimmer hin und her.
Das hohe Gras war welk und gelb. Nach dem Regenguss klebte es platt am Boden. Sie hatten die ganze Nacht gesucht. Sie waren völlig durchnässt und froren. Der Regen hatte gegen fünf Uhr eingesetzt. Er hatte zwar nicht lange angehalten, war aber sehr heftig gewesen. Rolf Geber spürte, wie seine Angst wuchs, je länger er suchte. Der gelbe Lichtkegel seiner Taschenlampe sah aus wie eine böse Sonne.
Die Luft war sehr feucht. Sie waren kreuz und quer, allerdings absolut willkürlich, durch den Wald gelaufen. Rolf Geber war von der Polizei enttäuscht. So durfte man verängstigte Angehörige einfach nicht abfertigen. Doch die Polizei hatte nun mal nicht genug Kapazität für die Suche nach suizidgefährdeten Personen, wie sie sich ausdrückten. Therese Geber war neunzehn Jahre alt und erst seit einem Tag verschwunden. In der Regel tauchten Leute wie sie wieder auf. Der Polizist hatte versucht, ihn zu beruhigen. »In neunundneunzig Prozent der Fälle finden sie sich wieder ein«, hatte er gesagt. Und hinzugefügt, sie sei vielleicht Bekannten begegnet.
Rolf Geber war ein untersetzter Mann von sympathischem Äußeren. Die Angst, seine Tochter tot aufzufinden, vielleicht schon halb im Moor versunken, wurde von der allerschlimmsten Gewissheit abgelöst, als sein Mobiltelefon läutete. Therese war, wie der Polizist von der Wache Asker und Bærum gesagt hatte, jemandem begegnet. Und zwar ihrem Mörder. Sie war tot. Therese war gefunden worden und sie war tot.
Er brachte es nicht über sich, den Polizisten, der sich als Roger Høibakk vorstellte, zu fragen, wo Therese gefunden worden war. Er musste diese Tragödie erst einmal erfassen. Aber er konnte das alles nicht verstehen. Angeblich war Therese in der Osloer Innenstadt gefunden worden. Er wollte es nicht verstehen. Aber der Mann hatte gesagt, sie sei gefunden worden und sie sei tot.
Rolf Geber setzte sich auf einen Stein, der nur ein Stein war. Er hörte das leise Rauschen der Bäume. Er hörte das Plätschern eines kleinen Baches, er hörte Tiere, die im Unterholz scharrten. Seine Umgebung trug die Bilder zu ihm hin. Flüsterte, der Tod sei ein gewaltiger Rachen. Von der Erde bist du gekommen. Zur Erde wirst du zurückkehren.
Seine Gesichtsmuskeln zogen die Mundwinkel nach unten. Verzweifelt kämpfte er gegen die Tränen an. In seinem Hals hatte sich ein schreckliches Gefühl von Übelkeit festgesetzt.
Er hörte Stimmen näher kommen, schaute aber nicht auf. Er sah ihre Füße mit Gummistiefeln und Turnschuhen, die von Wasser und Schlamm grau gefärbt waren. Die Jugendlichen, die bei der Suche geholfen hatten, blieben vor ihm stehen.
Der dichte Wald in seinem Kopf öffnete sich wieder und wieder. Der dichte Wald mit spitzen Zweigen und düsteren Bäumen und Seen und hohem Gras.
Die Nachricht, die er soeben erhalten hatte, fuhr wie ein scharfer physischer Schmerz durch seinen Leib.
»Papa?« Tanja trat vorsichtig vor ihn hin, beugte sich ein wenig vor und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Er hörte ihre Angst, konnte aber trotzdem nicht antworten.
»Was ist denn los, Papa?« Sie sah das Mobiltelefon in seiner Hand und wusste, dass er es erfahren hatte.
Tanja Geber starrte ihren Vater entsetzt an, dann machte sie kehrt und drängte sich durch die anderen hindurch. Sie achtete nicht auf sie. Sie ging ruhig über die Lichtung, stieg über einen tiefen verschlammten Graben und folgte dann dem schmalen Weg zum Wagen. Sie weinte nicht. Ihr waren ein Jogger und eine Frau mit einem Hund und einem Baby im Tragesitz begegnet.
Sie ging einfach weiter und konzentrierte sich aufs Atmen. In kurzen, fragmentarischen Stößen machte sich die Schwere ihres Verlusts dennoch zwischen den einzelnen Herzschlägen in ihr breit und gab sich alle Mühe, ihr Gehirn davon zu überzeugen, dass die Wahrheit tatsächlich wahr war. Therese war tot. Tanja hob die Hand zum Gesicht und merkte, dass ihr die Tränen nur so aus den Augen liefen. Dann rannte sie los.
Bente Isaksen fand eine Parklücke und stieg aus dem Auto. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Zwei Jahre zuvor hatte sie spätabends Sigrid durch ein Fenster im Treppenhaus des Nachbarblocks beobachtet. Die Eifersucht hatte in ihr gebrannt wie eine lodernde Flamme. Sie war völlig aus dem Gleichgewicht geraten und hatte nicht mehr gewusst, wozu sie überhaupt fähig war. Aber das dominierende Gefühl war Traurigkeit gewesen. Jetzt spürte sie, wie sich diese kummervolle Stimmung wieder einstellte.
Im Nachhinein hatte sie begriffen, dass der Besuch bei der Geliebten ihres Mannes eine Art Selbstquälversuch gewesen war. Und es hatte funktioniert. Sie hatte dabei ihre tiefsten Tiefen ausgelotet.
Cato hatte ihr erzählt, dass Sigrid einen neuen Freund hatte, einen Lehrer, der offenbar an derselben Grundschule unterrichtete wie sie. Bente freute sich darüber. Es machte alles viel leichter. Das Wissen um diesen Freund dämpfte die Angst, Cato könne sie noch einmal verlassen.
Sie ging zu einer Telefonzelle und wählte seine Mobilnummer. Er meldete sich sofort und sie sagte, sie werde Georg abholen. Und sei schon in der Stadt. Sie hörte, wie überrascht er war. »Wunderbar, Bente«, sagte er mit warmer Stimme. »Vielen Dank. Ich komme natürlich, so schnell ich kann. Aber du weißt ja, wie das ist«, fügte er hinzu.
Sie drückte die braune Haustür mit dem in Blei eingefassten Buckelglasfenster auf und ging hinein. Vor den Briefkästen standen ein Dreirad und ein Kinderwagen. In einer Ecke lag ein Haufen unerwünschter Reklamesendungen.
Es roch nach Essen. Nach gekochtem Fisch vielleicht. Den Wänden war ihr Alter anzusehen. An mehreren Stellen war der Verputz abgebröckelt.
Sie legte die Hand aufs Geländer und erlebte noch einmal das Gefühl von Schmerz. Alles war wieder da. Der Geruch und das trübe Licht lösten die bösen Erinnerungen aus. Das verzweifelte Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit, das ihr wie eine unheilbare Krankheit vorkam. Plötzlich machte es sich wieder in ihrem Zwerchfell breit. Sie blieb noch eine Weile so stehen, dann riss sie sich zusammen und ging die Treppe hoch.
Sie begriff nicht so recht, warum Sigrid noch immer in der Stadt wohnte. Sie hatte doch immer wieder betont, dass der Kleine es anderswo besser haben würde. In einer Gegend mit frischer Luft, einer Gegend, wo er allein draußen spielen könnte.
Vor der noch immer grünangestrichenen Tür im vierten Stock hielt sie inne und sammelte sich ein wenig, ehe sie klingelte. Das Türschild mit der Aufschrift Cato und Sigrid war natürlich längst entfernt worden. Jetzt waren nur noch zwei kleine Löcher für die Schrauben zu sehen. Ihr Herz hämmerte im Takt der Schritte, die sich hinter der Tür näherten. Als Sigrid Velde öffnete, sorgte das leise Klicken, das von den Mauern als Echo zurückgeworfen wurde, dann doch dafür, dass Bente zusammenfuhr. Automatisch trat sie einen halben Meter zurück.
»Hallo«, sagte sie hastig und versuchte ein Lächeln.
Sigrid riss die Tür auf und musterte Bente überrascht. »Ach, du bist das«, sagte sie und strich sich eine Locke, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelockert hatte, aus der Stirn.
»Du kommst aber früh«, sagte sie.
Bente nickte. »Cato hat einen neuen Fall«, sagte sie. »Wie üblich«, fügte sie hinzu und lächelte ganz schnell noch einmal.
Sigrid musterte sie forschend. Ihr blasses Gesicht war ungeschminkt. »Damit kennen wir uns ja beide aus«, sagte sie ernst.
Bente bemerkte sofort, dass Sigrid schwanger war. Ihr Bauch wölbte sich schon recht stark vor. Sie konnte gut im fünften Monat sein. An ihrem hellen Kittel prangte unten links ein Marmeladenfleck. Schwerer Essensgeruch strömte aus der Wohnung. Der Fisch war einwandfrei hier gekocht worden.
Georg kam in Unterhemd und Strumpfhose angestapft. Er hielt ein großes Auto in den Armen, sein Mund war mit Marmelade verschmiert.
»Er mag keinen Fisch«, sagte Sigrid. »Deshalb hat er Marmeladenbrötchen bekommen.« Sie zuckte kurz mit den Schultern. »Ich kann im Moment keinen Streit vertragen«, sagte sie, wie um sich zu entschuldigen.
»Er kann bei uns ja noch mal essen«, sagte Bente, beugte sich über den Jungen und sagte munter: »Hallo.«
Aber der Kleine ließ sich nicht kaufen. Er gab keine Antwort, sondern schaute nur seine Mutter an, drehte sich dann um und stellte das Auto auf den Boden. Er stieß einige laute Brummgeräusche aus und schob das Auto energisch auf dem braunen Boden hin und her.
»Komm doch rein.« Sigrid trat zwei Schritte zurück und Bente betrat den schmalen Flur.
»Ich hoffe, es macht nichts, dass ich ihn abhole«, sagte sie und steckte die Hände in die Manteltaschen. »Aber Cato hätte erst heute Abend spät kommen können.«
Sigrid schüttelte den Kopf. »Nicht doch«, sagte sie müde.
»Aber er kommt doch nach Hause, ehe Georg ins Bett muss? Er soll seinen Vater schließlich so viel wie möglich sehen. «
»Ist doch klar«, sagte Bente.
Sigrid blickte sie an. Ein müdes kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. »Du hast es doch gesehen?« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Und vielleicht hat Cato es ja auch erzählt?«
Bente nickte. »Ja«, sagte sie rasch, obwohl es nicht stimmte. Cato hatte Sigrids Schwangerschaft mit keinem Wort erwähnt. »Im wievielten Monat bist du denn?«
»Gerade im sechsten angekommen.«
»Wie nett«, sagte Bente und merkte sofort, wie blödsinnig sich das anhörte. »Ich meine, wie nett, dass Georg kein Einzelkind bleibt. «
Sigrid wandte sich halbwegs ab. Bente begriff zu spät, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. »Ja, er hat ja auch noch Gard und Vetle«, sagte sie rasch. »Aber sie sind so groß, Gard ist doch schon siebzehn.«
Sigrid wandte ihr noch immer den Rücken zu. Sie zog die oberste Schublade einer alten, abgebeizten Kommode auf und nahm eine Jacke und einen gefütterten Overall heraus. »Er wird hier einziehen«, sagte sie und drehte sich wieder zu Bente um.
Für einen kurzen Moment wurde Bente wieder von der schrecklichen alten Angst durchspült. Sie riss sich energisch zusammen.
»Dein Freund?«, fragte sie.
Sigrid nickte. »Ein Kollege«, sagte sie dann.