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Eine Anti-Mimik-Falten-Creme bringt den ureigensten Frust, den unser namenlose Hauptperson in sich trägt, zum Überschäumen. Er nutzt diese Energie für Veränderung, beginnt, sich auf den Weg zu machen und trifft auf Paul, unseren zweiten Hauptdrarsteller. Gemeinsam leben sie in den Bergen, ein jeder für sich und doch freundschaftlich verbunden. Jeder schleppt sein Lebenspaket, seine Vergangenheit, die Gegenwart und die unausweichliche Zukunft mit sich herum. Sie diskutieren, agieren, lachen, weinen, sind völlig durchgeknallt. Nach einem Jahr kommt es zu dramatischen Veränderungen, aber das Leben geht weiter.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2025
Matthias Beck
Paul schläft noch
Roman
© 2025 Matthias Beck
Umschlag, Illustration: Matthias Beck
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-91847-4
e-Book
978-3-347-91848-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Matthias Beck verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Zum Buch:
Zum Autor:
Realität
Intro, oder so
Der Morgen
Nein!
Magenschmerzen
Schnitt!
Bergauf
Mein altes Leben
Heimat?
Wo wir suchen!
Paul
Endlich!
Om-Fels würde man wohl sagen
Wiedersehen und mehr
Vater
Vorräte
Kindheit
Fortschritt?
Rotwein
Meine Zehn Gebote … oder weniger
Parasitenwanderung
Zentralgestirn
Gewitter
Samstagnacht
Spinat
Herzliche Begegnung
Keine Ahnung
Pubertät
Krank
Kunst
Frust
Resümee
Iglu
Weihnachtszeit
Stille
Schneechaos
Medial
Macht
VW-Bus
Hinter der Hütte
Schwarzer Vogel
Wirklich frei!?
Mein Bruder
Ende und Anfang
Outro – weil das jedes gute Stück braucht
Ein letzter Perspektivenwechsel
P.S.
Alben – der Sound des Romans
Literatur – die den Roman begleitete
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Zum Buch:
Literatur – die den Roman begleitete
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Zum Buch:
Ein irgendwie unzufriedener Mensch fasst, ausgelöst durch eine Tube „Anti-Mimik-Falten-Creme“, den Entschluss, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Einfacher gesagt als getan, aber er geht diesen Schritt und trifft Paul in der Abgeschiedenheit der Berge. Beide tragen sie seit Jahren ihr Päckchen, beide beginnen diese Päckchen aufzuschnüren und einen Blick hineinzuwerfen. Sie philosophieren, lachen, weinen, wandern, bauen, essen, trinken, singen … Bis ein jeder den Weg geht, den er gehen muss.
Zum Autor:
Matthias Beck wurde 1967 in Schweinfurt geboren, wohnt seit vielen Jahren in Bamberg, liebt in dieser Stadt das Leben, Basketball und Musik.
Der Autor schreibt hier in seinem Roman über die angenehmen und weniger angenehmen Unwägbarkeiten des Lebens, gepaart mit Humor, einem kritischen Blick, verfeinert durch ein Lächeln und garniert von der ein oder anderen Träne
Realität
Er wollte schreien. Ganz laut schreien. So laut, dass ihn alle hören konnten. Sogar er sich selbst. Kein Ton kam über seine Lippen. Mehr, als ein erschöpftes Röcheln, war nicht zu vernehmen. Ihm fehlte die Kraft. Und diese Kraftlosigkeit ließ ihn in eine matte, aber durchaus angenehme Ruhe hinübergleiten.
Da lag das kleine Tütchen mit dem weißen Pulver neben seinem Bett auf einem Holzstuhl, dessen Sitzfläche schon ganz abgenutzt wirkte. Vorne rechts an der Umrandung des Stuhls war vor einiger Zeit ein Stück abgebrochen und der obere Teil der Lehne erstrahlte von vielen Berührungen in speckigem Glanz. Trotzdem stand der Stuhl da, von unaufdringlichem Stolz getragen und von Würde. Die würde er sich nie nehmen lassen, nie! Egal, welcher Arsch auch auf ihm bereits Platz genommen hatte oder noch nehmen würde.
Er fokussierte sich wieder auf die kleinen, runden, körnigen weißen Erlösungsversprechen. Das Quellwasser im Glas daneben schien klarer als je zuvor. Er riss das Tütchen auf, streute die weißen Krümel ins Glas und rührte mit sanfter Hand, so dass sich ein leichter Sog an der Wasseroberfläche bildete. Ein kaum wahrnehmbarer Schleier wirbelte gemächlich durch die Flüssigkeit, die Klarheit blieb. Der Raum wirkte jetzt kühl, aber nicht abstoßend. Die Dielen des Fußbodens von unzähligen Schritten uneben. Jedes Knarzen erzählte hunderte Geschichten. Um den Kamin lagerten sich Natursteine, mit der festen Absicht, der Glut Einhalt zu gebieten. Das viele Holz in diesem Raum war schon da, bevor er als Mensch existierte, es hatte ihn ein Stück seines Weges begleitet und das Holz wird nach ihm auch noch hier sein, so, als wenn nichts gewesen wäre. Es lebte, obwohl es eigentlich tot war.
Er atme tief ein und ganz tief aus. Seine Blicke glitten umher und blieben in Erinnerungen hängen. Hier spielte sich ein Großteil seines Lebens ab, seines Lebens in Einsamkeit. Eine Einsamkeit, mit der er sich lange in Watte gepackt hatte. Er konnte nicht sagen, dass er unglücklich gewesen wäre. Es hatte wundervolle Glücksmomente in seinem Leben gegeben. Trotz großer Trauer. Falsch war es nicht. Was er sich hier geschaffen hatte, konnte aber unmöglich die Realität sein. Uns Menschen gelingt es meist sehr gut, das Unzulängliche als optimal anzusehen.
Inwiefern die letzte Aussage auf ihn zutraf, konnte er beim besten Willen nicht beantworten. Vielleicht würde er sich damit der Überheblichkeit hingeben. Sind wir überhaupt fähig, das wahrzunehmen, was ist? Ist das überhaupt, was wir wahrnehmen?
Surreal!
Genau, so könnte man seine Situation mit einem einzigen Wort beschreiben. Wobei Worte immer nur der Versuch bleiben werden, etwas klar darzustellen, ohne zu wissen, ob sie es tatsächlich tun. Eine grundsätzlich bessere Möglichkeit ist uns Menschen aber nicht gegeben. Er befand sich in einer surrealen Welt, die für ihn Schritt für Schritt zur Realität geworden war. Er hätte auch sagen können, die surreale Realität hätte ihn mit großen Schritten eingeholt. Auch deshalb, weil er immer langsamer geworden war. Vielleicht wollte er sich einholen lassen, vielleicht wurde er einfach nur alt. Und die Schmerzen ließen sich nicht mehr wegdenken. Er lebte also in den vergangenen Zeiten in einer seiner Realitäten und hatte es sich dort ganz nett eingerichtet. Er hatte seine vermeintliche Selbstzufriedenheit akzeptiert.
Individuell wollte er sein, etwas Besonderes, auf keinen Fall so, wie die anderen. Das tun, was nur sehr wenige taten.
Es war hart für ihn zu erkennen, dass er hier einer völlig wahnwitzigen Idee aufgesessen war. Er hatte letztendlich feststellen müssen, nichts Besonderes zu sein.
Er stellte sich vor, vor einem Spiegel zustehen und sich enthusiastisch auf die Schulter zu klopfen. Aber der Spiegel war blind. Seine Hände waren knochig, angegriffen und mit Narben verziert. Alte Hände, denen in den letzten Jahren jeglicher menschlicher Kontakt vorenthalten worden war.
Es gab keine Gelegenheit, Wärme und Zu-neigung zu erfahren oder auszudrücken. Wie gerne hätte er seine Frau gestreichelt, seine Tochter geherzt. Er tastete über sein Gesicht, folgte den tiefen Falten und streichelte zitternd die eigenen Wangenknochen.
Er hatte aus reinem Selbstmitleid und mit konsequenter Borniertheit auf die anderen verzichtet. Sie aus seinem Leben heraus-gedrängt! Auch die, die er geliebt hatte und immer noch liebte! Er hatte die anderen nicht mehr. Es warf sich für ihn die Frage nach seiner ganz persönlichen Lebensberechtigung auf. Unzufriedenheit machte sich in ihm breit, gepaart mit der glückselig machenden Gewissheit, es bald hinter sich zu haben.
Dort stand das Glas, unscheinbar durchschaubar, unschuldig und nur durch sein Zutun dazu in der Lage, seiner Realität hier und seinen Schmerzen ein Ende zu bereiten. Seine Einsamkeit wird im Nichts enden. Aus den zerstampften Tabletten war eine todbringende Substanz geworden, die nicht zu sehen war, trotzdem waren sie da.
Allerdings kam ihm hier oben eine unvorhersehbare Freundschaft dazwischen, ein Mensch. Es tat ihm wahnsinnig leid, diesen Menschen zurücklassen zu müssen, aber er konnte nicht anderes handeln, ja, er musste so handeln. Ganz klar, wie das Wasser seines Brunnens vor dem Haus, lag diese Gewissheit vor ihm, dass dieser Entschluss der einzig richtige war. Dieser Mensch war ein wichtiges Stück seines Lebens mit ihm gegangen, völlig überraschend, aber umso intensiver. Er begleitete ihn und ihm bot sich damit die Gelegenheit, das Gleiche zu tun.
Mit einem Menschen mitgehen, da sein, wichtig sein, angenommen sein.
Einfach so.
Bedingungsfrei.
Das Wasserglas wog auf einmal schwer in seiner Hand. Er strich das Bettlaken über sich glatt, blickte um sich und alles entsprach seiner Vorstellung. Aufgeräumt war alles, auch er. Langsam floss die Erlösung durch seine Lippen auf die Zunge und dann den Hals hinunter. Eine Träne rann ihm über die Wange. Er hielt das Glas Wasser behutsam, um nichts zu verschütten. Ordentlich sollte alles von Statten gehen. Das Schlucken ging ganz leicht, das kühle Brunnenwasser breitete sich im ganzen Brustraum aus. Kühl. Frisch.
Sachte stellte er das Glas neben sich auf den Nachttisch und richtete seine Arme parallel neben sich aus. Er wartete. Seine Atmung wurde flacher. Die Augenlider wurden unheimlich schwer und ihm wurde ganz leicht. Ein Moment noch, dann würde alles vorbei sein. Ein kurzer Moment der Angst verglühte mit der Erleichterung.
Die Gegenwart hörte auf und es gab keine Zukunft mehr.
Die Vergangenheit war nur mehr Geschichte.
Über ein Jahr zuvor…
Intro, oder so
Sie kennen das! Das Leben rennt schon eine ganze Weile – Sie haben aber keine Ahnung wohin! Also rennen Sie einfach mit! So, wie Sie das immer getan haben. Ein Jahr ist vorüber und Sie haben den Eindruck, die Zeit irgendwo verloren zu haben, so sehr Sie auch danach suchen, sie ist einfach weg, gerade so, als hätte sie nie existiert.
Tja, jetzt habe ich über Sie gesprochen und doch mich gemeint. Ein glücklich zerrissener Mensch, der in seinem Leben schwimmt, wie Fettaugen in einer leckeren klaren Fleischbrühe, die zu erkalten beginnt. Ich mag Suppe, schwimmen nicht so gerne.
So vegetierte ich in einer sanft säuselnden schmeichlerischen Agonie dahin. Ich wusste es, spürte es aber noch nicht, wollte es sicher auch nicht.
Zwei Söhne aus meiner inzwischen zur aller Zufriedenheit geschiedenen Ehe, eine Exfrau, die sich mir nur noch selten näherte, was wohl auch meiner geradezu überbordenden Fröhlichkeit zugeschrieben werden kann und hin und wieder eine meist sehr kurzfristige weibliche Bekanntschaft.
Ich hätte es mit mir auch nicht länger ausgehalten.
Mehr war da momentan nicht, selbst wenn ich darüber nachdachte.
Ich war an dem Punkt angelangt, an dem ich mir die Frage gefallen lassen musste, was ich mir überhaupt unter Leben vorstelle. Ich hatte oft, fast ohne Ausnahme, diesen Joker namens Schwarzen Peter freudig erregt aufgegriffen, meinen Karten beigefügt und mich vom Spiel des Lebens durch die Jahre treiben lassen, als Getriebener. Ich mochte auf jeden Fall nicht mehr!
Nein!
Der Morgen
Jedenfalls begab ich mich, wie unzählige Morgen vorher, auch diese beständig wiederholt anbrechenden Tage waren in der Erinnerung nirgends mehr zu finden - in mein Badzimmer, ausgestattet mit all den Dingen, die ein nachhaltiger Mensch so braucht.
Eine Dusche mit Wassersparfunktion inclusive Stopptaste, keine Badewanne mehr und ein Design-Waschbecken, an dem man sich einfach nur waschen. So ´ne richtig sparsame Wellness-Oase. Ich schlich über die warmen Fliesen, wohltemperierte durch die Fußbodenheizung, nahm meine Zahnbürste vom baumarktgefließten Steinzeug, griff mir die Zahnbürste aus dem Plastikbecher, vielleicht der einzige Schandfleck hier, begann meine Zähne zu putzen und starrte dabei müde und ausdruckslos in den verschmierten Spiegel. Wasserdampf benebelte mein Gegenüber.
Im Hintergrund spielte das Radio irgendein Lied, das ich meinte, in der halben Stunde meines Wachseins schon dreimal gehört zu haben. Deshalb beschloss ich, parallel dazu ein anderes Lied zu summen.
Ja, ich starrte so eine ganze Weile, musikalisch hypnotisiert und sah und dachte definitiv nichts, bis mir plötzlich eine kleine Tube ins Auge stach. Sie schlich sich rechts unten von der Seite ganz still und heimlich in mein Blickfeld.
Diese Tube knallte mitten in mein Stammhirn. Ohne damit sagen zu wollen und zu können, dass dieser Bereich des Gehirns unmittelbar für solche Wahrnehmungsvorgänge zuständig sein muss. „Anti-Mimik-Falten-Gesichtscreme auf der Basis von Olivenöl“ stand da in schwarzen Lettern vor mir, umrahmt von zartem Grün.
Mir wurde schlecht.
Auch mein Gesicht nahm ein zartes Grün an. Das war der Tropfen, der jenes berühmte Fass zum Überlaufen brachte. Mein Fass, mein ganz persönliches Fass der individuellen Un-zufriedenheit. Der Öltropfen auf den heißen Stein! Da war sie wieder, meine tiefgründige, wenn nicht gar abgründige Wut, mein Aufgebracht sein.
Gelegentlich gelang es diesem existentiellen Gefühl, mein scheinbar geordnetes Leben kräftig durchzuschütteln. Woher dieses Gefühl kam, erschloss sich mir nicht. Es war da, gehörte zu mir, solange ich denken konnte.
Die ausgequetschte Anti-Mimikfalten-Tube lag platt neben dem Abfalleimer, letzte Tropfen der Creme zierten mein Waschbecken. Den Deckel warf ich wutentbrannt aus dem Fenster.
Nein!
Ich verließ, wie jeden Morgen meine Wohnung, knipste das Licht aus. Jeder Handgriff saß, ohne dass ich mir bewusst war, was ich tat. Ich verließ also das Haus, stieg die 23 Stufen nach unten auf die Einfahrt zu, ohne mir dabei groß Gedanken zu machen. Links die Straße hoch stand mein Wagen. Genau dort, wo er fast immer zu finden war.
Das Schloss knackte und gab den Weg ins Innere des Fahrzeugs frei. Meine Nase sog den mir altbekannten Muff ein. Der Schlüssel dreht sich im Zündschloss, ließ den Motor anspringen und das Radio spielte seichte Melodien.
Ich liebte meinen Wagen. Hier war ich mehr für mich, als in meiner Wohnung. Jetzt erst zog ich meine Schuhe aus, um mir meine Socken überzuziehen. Ohne Socken darf man sich seinen Mitmenschen nicht zeigen. Neben mir auf dem Sitz lag ein abgegriffenes Buch vom guten alten Bukowski. Da lag es schon lange. Ich nahm es nicht weg, da ich befürchtete der Sitzbezug darunter wäre weniger ausgeblichen, als der Stoff im restlichen Wagen.
Ein Grinsen huschte über mein Gesicht, als ich daran dachte, dass wir die deftigen Worte dieses Autoren unserer sehr konservativen Deutschlehrerin als Lektüre unterjubeln wollten. Mit roten Wange und nervösem Blick lehnte sie am nächsten Tag kurz und knapp ab. Uns war das zu diesem Zeitpunkt schon wieder egal. Dass Bukowski bei seinen literarischen Ergüssen unter anderem ganz erdig auf die Mitte seines Körpers achtete, ist wohl hinlänglich bekannt. Sex in seiner ureigenen Form als Bedürfnisbefriedigung.
Für mich aber sagten seine Gedanken unheimlich viel aus, zumindest heute! Die Mitte meines Körpers bewusst außer Acht lassend – und auch jegliches Ansinnen, geschlechtsspezifische Rollenkilschees bemühen zu müssen, lebte ich dahin.
Auf keinen Fall ohne Socken der Gesellschaft entgegentreten. Diese Eigenart hatte ich mir vom Autor aufschwätzen lassen.
Hat man Socken an, dann kann man sich auf den Weg machen. Jeden Tag aufs Neue, die Straße lang und jeden Morgen die gleichen Ampeln, aufwachende Geschäfte, trister Asphalt und dieselben müden Gesichter.
Tja, und ich fuhr meiner Arbeit entgegen. Ziemlich planlos, aber nicht unpersönlich. Ja, die nette Dame im Café kannte mich, schenkte mir jeden Morgen ein Lächeln und reichte mir mit einem herzlichen Gruß den Kaffee.
Egal?
Ich war prinzipiell allein.
Das Schicksal geht seltsame Wege, doch es ist nicht bestimmt, wie ein österreichischer Songwriter behauptet.
Ich, genau ich ganz allein, war bisher einfach sitzen geblieben. Viel zu lange. Warum ich dann aufstand und sprang, ist schwer zu sagen. Wut war auf jeden Fall dabei. Dieser Sprung hat mich viel Zeit und Kraft gekostet. Aber, um schon erwähnten österreichischen Songwriter wiederholt zu bemühen, „Zu lange Wartezeit ist der Tod jeder Idee!“. Das stimmt.
Deshalb sprang ich dann doch. Ich hatte also entschieden mich zurückzuziehen. Völlig ab vom Schuss und mit Aufgaben betraut, die allein zur Lebens- und Überlebenssicherung nötig sein sollten.
Gut!
Gerade als ich fast die ersten Schritte zurück in meinen bisherigen Trott gehen wollte, diese perlenschnurartigen gleichförmigen Tage, die vorab endlos erschienen und in der Nachbetrachtung gar nicht existierten, genau in diesem Moment hatte ich einen, besser gesagt meinen, grandiosen Einfall.
Ich würde auf die Hütte meines Onkels gehen. Der hatte, muss mal überlegen, ja, der hatte bis vor vier Jahren selbst noch dort oben gewohnt. Inzwischen war er in einem Pflegeheim untergebracht, Alzheimer, kannte sich selbst kaum noch. Sein Bruder kümmerte sich gezwungenermaßen zweimal im Jahr um das Gebäude. Das Kümmern könnte ich übernehmen.
Das musste ich klären.
Mein Herz pochte bis zum Hals, Erregung ließ meinen Körper erzittern. Irgendwie eine platte Idee, in seiner Besonderheit beinahe üblich – Mainstream – einsamer Mann auf Hütte!
Aber das Leben war nicht platt. Die Spitzen, die wir meinen zu erleben, sind doch nur ganz sanfte, kaum spürbare klitzekleine Wellen, die matt im Abendlicht schimmern.
Ich denke der Mut, diese Plattheit zu erkennen und zu akzeptieren, ermöglicht uns drunter zu schauen und Tiefe zu gewinnen. Aus der Tiefe kann man dann wieder emporsteigen. Somit ist eine platte Hütte in den Bergen ein Aufstieg, um Tiefe gewinnen zu können.
Außerdem liebe ich die Berge.
Genau, ich gehe in die Berge, versorge mich weitestgehend selbst und bleibe dort genau hundert Bücher lang. Dieser Einfall mit den Büchern kam sehr spontan, ich könnte auch gar nicht sagen woher genau. Er fiel aus allen Wolken, wahrscheinlich, weil ich just in diesem Moment an mein Bücherregal dachte. Ja, aber da waren sie, die hundert Bücher, die mir die Möglichkeit bieten konnten, abzutauchen, einzutauchen, unterzutauchen. Bücher, die mich nerven, die mich fesseln, die mich noch weiter wegzaubern, als ich es auf dieser Hütte jemals werde sein können.
Ja! Ja! Ja!
Mit tänzelnden Schritten glitt ich über den Velourteppich meines Wagens, schnippte mit den Fingern und schlüpfte dabei aus den Schuhen … und zog die Socken wieder aus und warf sie aus dem Fenster. Die Finger gaben am Lenkrad den Takt vor. Der Motor schnurrte behaglich vor sich hin.
So ging ich dieses Projekt relativ unbedarft an. Das Glück, das meine Unbedarftheit hatte, war der unbändige Wille, der sich als durchaus nützliche Begleitung zur Verfügung gestellt hatte.
Mein Auto war mit mir zurückgefahren, mein Bewusstsein hing in meinen Gedanken fest. Der Schlüssel dreht sich im Schloss der zweiteiligen Holztür und mit zwei dynamischen Walzerschritten betrat ich die Wohnung wieder, die ich wenige Minuten zuvor im üblichen Trancezustand verlassen hatte.
Mein Wagen stand mit noch laufendem Motor direkt vor meiner Einfahrt. Vor der Fahrertür hatte ich meine Schuhe sauber positioniert. In der Ferne lagen zwei Socken auf der Straße. Verwunderte Passantenblicke glitten über die Szenerie, leicht verlangsamte Schritte zeigten den Gang ihrer Gedanken, Beschleunigung bescheinigte, dass niemand etwas mit diesem, vom Motorbrummen untermalten Stillleben zu tun haben wollte.
Irgendwann später hatte jemand, unbemerkt von mir, den Motor aus gemacht und die Schuhe auf den Fahrersitz gestellt. Zu meiner Verwunderung hatte diese Person das sehr ordentlich erledigt.
Sanft, ganz vorsichtig begannen erste Regentropfen den grauen Belag, der sich zwischen den Häusern endlos auszubreiten vermochte, zu benetzen – sie wussten darum, prasselnden Regen folgen lassen zu können. Diese ersten Tropfen hatten die Ruhe und Gelassenheit, die Bestimmtheit, die man benötigt, wenn große Dinge anstehen. Barfuß setzte ich mich an meinen Küchentisch und genoss selbstsicher und euphorisch einen frisch gebrühten Kaffee.
Bin ich jemals barfuß auf einer Straße gelaufen, auf warmem Asphalt, ertränkt von einem Gewitterregen und die Tropfen eruptiert zu kleinen Schaumkrönchen und Blasen? Ich kann mich nicht daran erinnern, es jemals getan zu haben.
Leider.
Magenschmerzen
Dieses Stechen!
Dieses fürchterliche Stechen!
Ein krampfartiges Stechen!
In den letzten Wochen traten diese Schmerzen immer häufiger auf. Die Heftigkeit nahm zu. Paul atmete tief ein und tief aus, versuchte sich gedanklich vom Schmerz zu entfernen.
Das half. Seine Schmerzen wegzuatmen, hatte er inzwischen perfektioniert, fast genauso gut, wie seine anstehenden Probleme wegzuschieben oder immer wieder aufbrechende Gefühle zuzukleistern. Es half aber nicht gegen die Einsamkeit, die ihn hier oben umfing. Zwar selbstgewählt, aber nicht wirklich gewollt, trotzdem seine Realität.
Das Bewusstsein keimte in ihm auf, dass er wieder jemanden um sich herum haben mochte. Es war die Zeit dafür.
Eingerichtet war er über die Jahre sehr gut, er konnte sich weitgehend selbst versorgen und hatte somit auch wenig Kontakt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der umliegenden Höfe oder gar mit denen aus dem Dorf. So wollte Paul es, das glaubte er zumindest.
Tief einatmen, Luft anhalten, stoßweise ausatmen. In den ganzen Körper atmen. An etwas anderes denken.
Nach einigen Minuten waren die Schmerzen weitgehend verschwunden, fast so schnell, wie sie gekommen waren.
Er kochte sich einen Tee, Kaffee hatte er noch nie sonderlich gemocht, nur aus Höflichkeit. Er trank ihn nur noch selten.
Das Wasser blubberte im Topf, die Kräuter verbanden sich mit dem Nass. Mit der dampfenden Tasse in der Hand setzte er sich auf den Rand seines Hausbrunnens und ließ die Sonnenstrahlen wärmend auf sein Gesicht scheinen. Diese Strahlen waren das Leben. Das Wasser plätscherte rücksichtsvoll aus dem Hahn, der Wind flüsterte unverständliche, aber beruhigende Worte. Der Geist der Freiheit verschaffte sich Raum und floss durch die Landschaft.
Diese Momente liebte Paul. Sie verhalfen ihm dazu, sich zu spüren, sich kurz seiner Gedanken zu entledigen.
Irgendwann in den nächsten Wochen musste er unbedingt ins Tal, um sich von einem Arzt untersuchen zu lassen.
Das gebot die Vernunft.
Die Angst hielt ihn zurück. So, wie sie das sein halbes Leben getan hatte. Das war keine schützende, sinnvolle Angst, sondern eine, die lähmte, die sein Leben beschränkte.
Die Wärme des Tees und die Wärme der Sonne entspannten ihn. Das Atmen fiel ihm leicht. Wenn er doch wenigstens jemanden zum Reden hätte. Die Schmerzen machten ihn weich und gefühlsduselig. Einen Menschen, der ähnlich tickte wie er, keine blöden Fragen stellte und die Stille mochte.
Das hatte er früher alles. Eine Ewigkeit stellte sich zwischen seine Gegenwart und seine Vergangenheit. Ihm gelang es immer seltener, ein scharfes Bild von damals zu rekonstruieren. Trotzdem jagte er diesen verschwommenen Erinnerungen wie ein hungriger Wolf hinterher. Allein, ohne Rudel. Er folgte einer Fährte, deren Duft längst verflogen war.
Nein, Paul folgte keiner Fährte mehr, er irrte diesem Nichts planlos hinterher.
Wahrscheinlich müsste er nur in sich selber nachsehen.
Ein Rabe flog in weiten Kreisen über sein Haus, stolz, und setzte sich in den großen Kastanienbaum gegenüber, schimpfte kurz und erhob sich wieder in die Lüfte, souverän und frei. Bis er nur noch als winziger Punkt am blauen Himmel zu erkennen war. Dann war er weg, als hätte er nie existiert.
Einfach mitzufliegen, war für Paul eine wundervolle Vorstellung.
Schnitt!
Gut, grau ist alle Theorie. Hundert Bücher zu finden, ist weniger ein Problem. Ich möchte behaupten, dass das sogar ein riesiger Spaß war. Sie hätten die Buchhändlerin sehen sollen, als ich nach einem Behälter für die literarischen Werke gefragt hatte. Übrigens eine sehr ansehnliche Dame mit einem herzerweichenden Lächeln, eine braune Haarsträhne fiel ihr während des Bezahlvorgangs regelmäßig ins Gesicht. Hinter mir die frustrierten Blicke der Kunden, die brav an der Kasse anstanden, mit einem kleinen Taschenbuch in der Hand. Und vor mir lag ein doch sehr ansehnlicher Berg Bücher, der von links nach rechts gestapelt wurde.
Den fragenden Blick des jungen Mannes hinter der Kasse würgte ich mit einem leichten Kopfschütteln ab, so dass der Prozess des Zahlens in völligem Schwiegen vor sich ging.
Seine schwingenden Locken und das immer noch fragende Lächeln genügten mir völlig. Das Piepsen der Kasse beim Lesen der Strichcodes rhythmisierte sich zu einem treibenden Beat, der meine Gedanken mit sich nahm.
Mein Leben passierte bisher nur punktuell. Leider klingeln moderne Kassen nicht mehr, wenn sie sich öffnen.
Die Hütte war leicht zu realisieren, leichter, als ich dachte, so dass ich erschrak, wie schnell es ans Abschiednehmen ging.
Weg mit dem Job, weg mit allem! Sollte ich mich still und heimlich davon machen? War vorstellbar! Die Vorstellung hellte meine Gesichtszüge auf und reichte dem wirklichen Tun die Hand.
Wie sollte ich es mit meinem besten Kumpel Michael halten? Wir kannten uns seit der Grundschule. Wir hatten den Sandkasten verunstaltet, unsere Fahrräder frisiert, versucht den Mädchen den Kopf zu verdrehen, was Michael deutlich besser gelang, fuhren mit unserem selbst restaurierten VW-Bus in den Urlaub und landeten letztendlich an der gleichen Uni, dort zumindest in unterschiedlichen Studiengängen, um dem wachsenden Eindruck siamesischer Zwillinge entgegenzuwirken. Die Kneipen waren dann wieder die gleichen.
Ein wirklicher Schnitt musste her! Keine langen Abschiedsszenen, endlose Erklärungen oder gar feuchte Augen! So etwas war mir zeitlebens zuwider! Das hätte bloß wieder in rührseliger Erinnerungsarbeit geendet, im Auspacken alter Geschichten und ich wäre morgen doch wieder bei meinen Sportkollegen, meinen Kindern, bei einem Plausch mit dem Nachbarn und mit Michael auf ein Bier in unserer Stammkneipe gelandet.
Gut, ich entschied mich für einen hand-geschriebenen Brief, den ich am Tag meiner Abreise in Michaels Postkasten zu werfen hatte. Mehr nicht, einfach kurz und schmerzlos, ist ja nicht für immer.
Hallo Michi,
bin dann erst einmal weg, mache mich auf die Socken, vielleicht auch barfuß, wohin auch immer, komme aber wieder. Gieße bitte die Alpenveilchen, die ich dir vor die Türe gestellt habe! Mach´ dir keine Sorgen, Unkraut vergeht nicht bzw. wächst schnell nach!
Dein ergebener Langzeit-Freund!
Das musste reichen!
Die Alpenveilchen und ich, eine seltsame Liaison. Eine der wenigen Pflanzen, die meiner rustikalen Betreuung Stand gehalten hatte, fast mochte ich sagen, sie hatte sich offensiv widersetzt. Und dabei sogar Blüten getrieben.
Und da wären noch die liebgewonnenen Gewohnheiten, die Dinge, die ich meinte zu brauchen. Dinge, die aus meiner ganz subjektiven Sicht, so individuell, wie ich sie gerne wahrhaben mochte, nicht waren. CDs, Platten, Fotoalben landeten in Umzugskisten, diese im Keller. Es sollte nichts herumstehen oder -liegen.
Das Fernsehgerät schaltete ich ab, zog sämtliche Stecker aus den Steckdosen und schloss die Tür hinter mir. Ja, auch das Wasser hatte ich abgedreht.
Da war ich konsequent.
Einen letzten Blick zurück konnte ich mir nicht verkneifen. Das war es dann aber.
Reduziert auf mich selbst, ohne große Überlebenspakete und polarkreistaugliche Kleidung machte ich mich auf den Weg. Abgespeckt und mit leichtem Gepäck, um Platz für mich zu schaffen. Für mich und die 100 Bücher. Für mich und meine süße hoffnungsvolle Depression.
Ich begann Spuren zu hinterlassen – ich begann zu spüren, nicht umsonst zu existieren. Davon war ich in diesem Moment fest überzeugt. Allzu oft stellt sich unsere Wahrnehmung als Illusion heraus, mehr von Wünschen getragen, als von realen Erkenntnissen. Ich wollte mich nicht länger beweisen müssen, das tun, was andere von mir wollen. Alte Rollen wollte ich abstreifen und in neue schlüpfen, mich häuten, wie eine Schlange. Ich wollte die Rollen für mich finden, die es mir ersparten, mich lächerlich zu machen. Ja, richtig erwachsen zu sein, war mein Verlangen. Richtig erwachsen, um mein Leben selbst bestimmen zu können. Dazu musste ich an etwas in mir ran, mir war nur nicht klar, was! Klar wurde mir hingegen, dass ich Vieles von dem, was mich durch die Tage getragen hatte, abgrundtief verabscheute.
Um leben zu können, musste ich gehen. Das klingt unheimlich klar und selbstbewusst, als spräche da einer, der weiß, was er will. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass dem kaum so war.
Mir war aber klar, dass in mir etwas begraben lag, das da heraus musste. Es war höchste Zeit. Auch die lange Bank, auf die ich etwas schieben kann, hört irgendwann auf.
Noch waren meine Spuren kaum sichtbar.
Aber ich ging!
Bergauf
Mann, war der Rucksack schwer, die Schultern schmerzten, das rechte Knie meldete sich auch! Es waren einfach 15 Kilo zu viel, die es tragen musste. Der Wohlstandsbauch noch nicht eingerechnet. Ich fühlte mich, als hätte mein ganz persönlicher Gang nach Canossa begonnen.
Mein weiteres Hab und Gut transportierte ein bodenständig wirkender, zurückgezogen lebender Bauer mit seinem geländetauglichen Wagen zur Almhütte.
Er stellte sich mit: „Hans!“ vor, um gleich darauf meine Koffer auf die Ladefläche zu werfen, „Servus!“ zu sagen, einzusteigen und loszufahren.
Ich selbst wollte zu Fuß, begleitet von meinem ersten Buch, die Hütte erreichen. Wobei ich mich inzwischen ernsthaft fragte, warum ich den Rucksack nicht auch noch auf die Ladefläche geworfen hatte. Eine gute Stunde war ich jetzt unterwegs. Ich lief Gefahr, aber zumindest lief ich überhaupt. Es waren kaum zwölf Stunden vergangen, die mich von meinem bisherigen Leben trennten. Mir erschien diese Zeit fast endlos, so also hätte sie zuvor nicht existiert, als hätte ich zuvor nicht existiert, gerade erst der Ursuppe entfleucht. Könnte ich meine Geschichte meinen Gedanken entreißen, wäre alles einfach. Aber die Geschichte eines jeden produziert die Möglichkeit unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen. So kann auch Eindeutiges vieldeutig werden. Es erfährt kontinuierlich eine neue Bewertung.