Krebs - Matthias Beck - E-Book

Krebs E-Book

Matthias Beck

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Beschreibung

Statistisch trifft es jeden Vierten –dennoch wirft die Diagnose „Krebs“ die Betroffenen auf sich selbst zurück. Der Umgang mit dieser Extremsituation ist so unterschiedlich wie die Menschen, für viele stellt sich die existenzielle Frage: Warum ich? Der Theologe und Mediziner Matthias Beck nähert sich dem Thema Krebs auf vielschichtige Weise an. Eine Therapie muss mehr bekämpfen als nur die körperlichen Symptome. Für ihn entscheidend ist, sich begleitend offen mit dieser Sinnfrage auseinanderzusetzen, um auch seelisch zu gesunden. Das kann, aber muss nicht zwingend eine spirituelle „Suche nach dem letzten Grund“ einschließen.

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Matthias Beck

KREBS

Körper, Geist und Seele einer Krankheit

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

KREBS – NATURWISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE IM DIALOG

1. Hinführung

2. Die ordnenden Kräfte – Genetik und Epigenetik

3. Philosophische Zugänge zum Phänomen „Leben“

Das Leib-Seele-Problem nach Aristoteles und Thomas von Aquin

Das Leib-Seele-Problem nach Descartes – Medizin als Naturwissenschaft

4. Philosophie und Genetik

5. Was sind Krebszellen?

Naturwissenschaftliche Grundlagen

Ursache – Kausalität – Warum – Wozu

DIE BEDEUTUNG VON GEIST UND SEELE BEI KREBSERKRANKUNGEN

1. Allgemeines – Psychoonkologie

2. Krebs und Desintegration

Pränatale Zeit und Kindheit

Veränderungen in der Pubertät

Krise in der Lebensmitte

3. Krebs und Kommunikation

4. Krebs und Selbsterkenntnis

5. Krebs und Eigenstand

DIE SPIRITUELLE DIMENSION DES MENSCHEN

1. Spiritualität und Gottesfrage

2. Gefühl und Gespür

3. Die innere Stimmigkeit

4. Krebs und Konflikte

5. Spiritualität und Ethik

Ethik und die christlichen Tugenden

Unerklärbares und das Mitleiden am Leid der Welt

Lebensende und Ewigkeit

Krebs und „Therapie“

Resümee

Anmerkungen

Weitere Bücher

Impressum

Vorwort

Das Buch ist als Denkanstoß gedacht, nicht als streng wissenschaftliche Arbeit. Es ist aus Respekt vor den Erkrankten mit großer Vorsicht geschrieben. Sie müssen mit einer Diagnose leben, die sie womöglich erschreckt. Die Diagnose trifft den Einzelnen1 oft unvorbereitet. Plötzlich wird er mit einer schweren Krankheit konfrontiert. Fragen tauchen auf: Ist es ein bösartiger Tumor? Ist die Erkrankung heilbar? Warum gerade ich? Bin ich schuld daran? Wie lange habe ich noch zu leben? Was kann ich tun? Um es gleich vorwegzusagen: Es geht nicht um einen möglichen Vorwurf an den Patienten oder um die Frage, ob er „schuld sei“ an seiner Erkrankung, sondern darum, dass der Betroffene tiefer über Zusammenhänge nachdenken und durch eine vertiefte Erkenntnis vielleicht zu seiner Heilung beitragen kann.

Das Buch kann auf viele Fragen keine allgemeingültigen und eindeutigen Antworten geben. Es wirft eher neue Fragen auf. Es kann vielleicht helfen, besser mit einer Erkrankung umzugehen. Es ist aber kein Ratgeber, von denen gibt es genug. Es will versuchen, das „Phänomen Krebs“ besser zu verstehen. Jeder Betroffene oder Interessierte kann dann selbst prüfen, ob er für den Umgang mit einer Erkrankung etwas damit anfangen kann.

Vielfach wird eine Krebserkrankung nur als ein naturwissenschaftliches Geschehen betrachtet, das einfach so hereinbricht. Aber schon die Frage „Warum gerade ich?“ geht über die naturwissenschaftliche Perspektive hinaus. Es geht um den einzelnen Menschen, der sich Gedanken macht und nach individuellen Erklärungen sucht. Diese kann er im Letzten nur selbst finden. Das wiederum geht nur mit dem Wissen um die Zusammenhänge.

Das Buch geht auf eine Publikation des Autors aus dem Jahr 2004 zurück, die 2010 in zweiter Auflage erschienen ist.2 Diese war eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischtheologischen Überlegungen zusammenzubringen sind. Es ging um das Problem, ob eine Krebserkrankung eine für den Patienten erkennbare Bedeutung haben kann. Das Buch wollte über die Psychosomatik und Psychoonkologie hinaus geistige Zugänge zu diesem Krankheitsphänomen eröffnen. Dabei bestand das Problem der Vermittlung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Geistige Prozesse sind nicht direkt mit körperlichen Ereignissen zu korrelieren. Es geht dabei um Ähnlichkeiten, die aber zugleich auch je größere Unähnlichkeiten beinhalten. Die Tradition hat dafür den Begriff der Analogie verwendet.

Diese Lücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ist inzwischen durch neue Erkenntnisse von Genetik, Epigenetik und Hirnphysiologie etwas geschlossen worden. Man weiß heute, dass geistige Prozesse sehr wohl auf die Materie einwirken und auf die Verschaltungsprozesse zwischen Genetik und Epigenetik Einfluss nehmen. Sie können eine Brücke schlagen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Insofern stellt das vorliegende Werk eine Weiterentwicklung gegenüber dem ersten dar.

Interessant ist, dass heute auch aus den Kommunikationswissenschaften gute Anregungen für den notwendigen transdisziplinären Dialog kommen. Insofern bin ich PD Dr. Erich Hamberger sehr dankbar für hilfreiche Ergänzungen und Weiterführungen.

Matthias Beck

KREBS

NATURWISSENSCHAFT UNDPHILOSOPHIE IM DIALOG

1. Hinführung

Zu all den Fragen: Was ist Krebs? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt? Was hat das zu bedeuten? scheint in vielen Büchern schon alles gesagt worden zu sein. Aber die Wissenschaft schreitet fort und neue Erkenntnisse tauchen auf. Es wird immer klarer, dass eine genetische Schädigung (die bei allen Krebserkrankungen wohl eine Rolle spielt) nicht allein verantwortlich für den Ausbruch einer Erkrankung ist. Denn Gene müssen aktiviert beziehungsweise inaktiviert werden. Ein geschädigtes Gen führt nur dann zu einer Erkrankung, wenn es auch aktiviert ist. Diese Zusatzfaktoren nennt man epigenetische Einflüsse.

Die epigenetischen Faktoren haben auch mit dem individuellen Lebensstil zu tun: mit Ernährung, Sport, Bewegung, Umwelteinflüssen, zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch mit dem Innenleben des Menschen. Um letztere Aspekte soll es in diesem Buch gehen. Es greift Erkenntnisse aus Biologie, Genetik, Epigenetik, Hirnphysiologie, Psychoneuroimmunologie und Psychoneurogenetik auf und kombiniert sie mit Grundfragen des menschlichen Lebens. Es steht vor allem die geistig-spirituelle Dimension des Menschen im Mittelpunkt der Betrachtungen.

Auch Krebszellen sind lebendige Zellen, aber sie leben an der Ordnung des Gesamtorganismus vorbei: Sie führen ein Eigenleben. Es stellt sich die Frage, warum sie aus dieser Gesamtordnung des Organismus ausscheren. Diese Frage kann man zunächst auf einer rein naturwissenschaftlichen Ebene beantworten. Es gibt viele Erkenntnisse, wie eine solche Kaskade des Ausscherens vor sich geht. Man kann sie auch auf einer psychologischen Ebene betrachten, darum kümmert sich das Fachgebiet der Psychoonkologie. Man kann sie schließlich auf einer geistigspirituellen Ebene anschauen: Hier sind Philosophie und Theologie gefragt. Der naturwissenschaftliche Zugang zu einem Krankheitsphänomen kann verallgemeinerbare Aussagen treffen. Der Siegeszug der Naturwissenschaften beruht auf der Verallgemeinerbarkeit. Die Psychologie und Psychoonkologie hingegen schauen schon mehr auf die einzelne Biografie mit ihren individuellen psychischen Hintergründen. Biografien werden mit anderen verglichen; mithilfe von Statistiken wird versucht, diese wiederum zu verallgemeinern. Dann aber gibt es das ganz Individuelle jeder Biografie, das nicht mehr mit anderen zu vergleichen ist. Jeder Mensch ist einzigartig und führt ein einmaliges Leben. Um diesen Einzelnen soll es hier gehen.

In der neueren Forschung wird zunehmend klar, dass die Verallgemeinerbarkeit ihre Grenzen hat. Diese Erkenntnisse kommen aus einem Grenzgebiet zwischen Pharmazie und Genetik. Hat man etwa fünfzig Patienten mit einer ähnlichen Erkrankung, gleichem Geschlecht, ähnlichem Alter und Gewicht und gibt jedem dasselbe Medikament in gleicher Dosis, kann jeder anders darauf reagieren. Das hat mit der je eigenen genetischen Ausstattung des Menschen zu tun.3 Der Wissenschaftszweig, der sich mit diesen Zusammenhängen befasst, nennt sich Pharmacogenomics. Das ist die Wissenschaft, die versucht, die genomische Ganzheit eines Individuums zu erfassen und gleichzeitig die Wirkung von Arzneimitteln auf dieses individuelle Genom zu erforschen.

Die Medizin spricht hier von „personalisierter Medizin“. Korrekter wäre es allerdings, zunächst nur von „individualisierter Medizin“, „zielgerichteter Medizin“ oder „Präzisionsmedizin“ zu sprechen. Denn es wird versucht, auf Basis einer Genanalyse eine auf diesen einen Patienten mit seinem individuellen Genom zugeschnittene und maßgeschneiderte Medizin zu entwickeln. Das hat durchaus Sinn. Diese Zugangsweise, die die genetische Ausstattung des Einzelnen in den Blick nimmt, ist aber gerade keine „personale“ oder „personalisierte Medizin“. Denn sie betrachtet nicht die ganze menschliche Person4 in ihren Bezügen zur Umwelt, zu den Mitmenschen oder zum Innenleben des Einzelnen. Erst wenn die ganze Person in ihrer Vieldimensionalität in den Blick kommt, kann man von „personalisierter Medizin“ sprechen.

Dieser Person-Charakter ist es, der den Einzelnen als ganz eigenständigen und einmaligen Menschen auszeichnet. Die menschliche Person ist mehr als das individuelle Genom: Es geht beim Person-Sein vor allem um die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu den anderen, zur Welt sowie seinem Stehen im Gesamthorizont des Seins. Deshalb kommen hier Geisteswissenschaften wie Philosophie und Theologie ins Spiel. Denn sie reflektieren unter anderem Fragen nach dem menschlichen Geist mit seinem Selbstbewusstsein, nach seinem Du als Gegenüber oder ganz allgemein nach dem Sinn des Lebens, nach der Bedeutung von Ereignissen, von Endlichkeit, Leid und Krankheit.

Die Geisteswissenschaften wenden sich den individuellen Biografien zu mit der Frage, wie der Einzelne seine einmalige Identität findet, seine Wahrheit, seine ganz eigene Berufung. Diese kann nicht in der gleichen Gestalt erneut auftreten oder im Experiment nachgebildet werden, der Verlauf kann auch nicht vorhergesagt werden. Kurzum: Eine moderne Medizin steht aufgrund neuester Erkenntnisse vor der Herausforderung, das Verallgemeinerbare sowie das Einzelne und Unvergleichliche zusammenzudenken. Dazu braucht es eine neue Wissenschaftstheorie, die beides verbindet.

Philosophie und Theologie versuchen über die naturwissenschaftlichen Erklärungen hinaus die Phänomene dieser Welt zu verstehen. Bisherige Modelle der naturwissenschaftlichen Medizin wollten Krankheiten vor allem erklären. Der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey hat diesen Unterschied von „Erklären“ und „Verstehen“ ausführlich beschrieben.5 Naturwissenschaften und auch die naturwissenschaftliche Medizin versuchen, Theorien über die Wirklichkeit und über Krankheiten aufzustellen und diese dann durch Experimente zu bestätigen. Sie wollen Einzelaspekte der Wirklichkeit in ihrer Kausalität erklären, um die Erkenntnisse in allgemeine Gesetze zu fassen. So können Krankheiten genauer erforscht und Therapien entwickelt werden. Der Vorteil ist die Verallgemeinerbarkeit, der Nachteil die Gefahr der Vernachlässigung des Einzelnen.

Psychologie, Psychosomatik, Psychoonkologie und Psychoneuroimmunologie betrachten bereits die Biografie des Erkrankten mit seinen Ängsten, Prägungen, zwischenmenschlichen Beziehungen, Gefühlen, Erleben oder auch bestimmten Charaktereigenschaften. Diese Einzelbiografien werden nach wissenschaftlichen Parametern mit anderen verglichen. In der Psychoonkologie versucht man so herauszufinden, ob bei verschiedenen Individuen bestimmte Lebensgewohnheiten, Charaktereigenschaften, Ängste oder andere innerseelische Vorgänge vermehrt zu Krebserkrankungen führen. Es geht dabei um eine Verallgemeinerung des Individuellen.

Philosophie und Theologie wenden sich in diesem Kontext ganz dem Einzelnen in seiner Unvergleichbarkeit und Personalität zu. Phänomene wie Individualität, Subjektivität, Personalität und Intentionalität (Zielgerichtetheit), Einmaligkeit, Liebe, Vertrauen, Treue sowie Fragen nach dem Absoluten und nach Gott werden reflektiert. Aus rein naturwissenschaftlicher Sicht sind diese Zugänge – weil sie nicht messbar und nicht im Experiment wiederholbar sind – in diesem Sinne nicht existent. Nimmt man sie jedoch aus dem wissenschaftlichen Diskurs heraus, kann man den Menschen nicht in seiner Ganzheit erfassen. Gerade für eine moderne „personalisierte Medizin“ geht es um die Hereinnahme dieser ganz individuellen Aspekte menschlichen Lebens.

Denn um die komplexen Phänomene von Krankheiten zu erfassen, bedarf es gerade heute einer komplementären Zugangsweise aus Geistes- und Naturwissenschaften sowie einer transdisziplinären Forschung, die von Anfang an die Fächer miteinander verknüpft. Denn der Mensch ragt durch seine Geistexistenz über die Erkenntnisse der Naturwissenschaft hinaus. Er ist immer schon – wie es der Philosoph Hegel formuliert hat – als Wesen des Geistes über die Endlichkeit hinaus. Er kann das Relative und Endliche nur deshalb als relativ und endlich erkennen, weil er schon im Raum des Absoluten steht. Allein, was oder wer dieses Absolute ist, kann er nicht genau wissen. Daher stellt der Mensch Fragen nach diesem Absoluten, nach dem Sinn seines Lebens, nach dem Sinn der Welt, er fragt nach den letzten Gründen des Seins. Schon die Frage „Warum gerade ich?“ übersteigt den naturwissenschaftlichen Zugang.

Zur Beantwortung derartiger Fragen müssen Erkenntnisse der Medizin, Psychologie, Philosophie, Theologie, Spiritualität integrativ zusammengedacht werden.

Über die wissenschaftliche Bedeutung hinaus gibt es so für den Patienten die Chance, angesichts einer schweren Erkrankung tiefer über sein eigenes Leben nachzudenken. Dies ist oft ein langer Weg. Er beginnt mit der ersten Auseinandersetzung über eine Diagnose. Je nachdem, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist, durchläuft der Einzelne verschiedene Stadien der Verarbeitung: Nicht-wahrhaben-Wollen, Ablehnung, Zorn, Auflehnung, Hadern mit dem Schicksal, Hadern mit Gott, Verhandeln, letztlich Annahme der Krankheit.6

Die Auseinandersetzung mit einer Krebserkrankung wird individuell unterschiedlich ausfallen: Manch einer wird die Krankheit als rein naturwissenschaftliches Geschehen ansehen und nicht weiter nachfragen. Er unterzieht sich einer Therapie mit Operation, Bestrahlung oder Medikamenten. Manch anderer sieht die Krankheit als schicksalhaft an, gegen die man sowieso nichts tun kann. Andere wiederum fragen nach, ob eine solche Erkrankung mit ihrem Leben zu tun haben könnte. Das kann auf mehreren Ebenen geschehen: auf der psychologischen mit Fragen nach ungelösten Konflikten, zwischenmenschlichen Problemen oder Ängsten, aber auch auf einer tieferen geistiggeistlich spirituellen Ebene. Auch Fragen nach persönlicher Schuld tauchen auf. Schließlich suchen Menschen danach, ob sie durch Erkenntnis und Lebensumstellungen etwas zur Heilung oder zum Stillstand einer Erkrankung beitragen können.

Zusammengefasst: Die Zugänge von Naturwissenschaften, Medizin, Psychologie, Philosophie und Theologie zur Interpretation der Welt sind von ihrer Methode her verschieden. Sie sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Sie sollten in einer modernen Medizin miteinander transdisziplinär ins Gespräch gebracht werden. Das gilt für Fragen der Ethik in der Medizin, aber auch für die Interpretation von Krankheiten. Das Verallgemeinerbare und das je Individuelle müssen zusammengedacht werden.

Angesichts neuester Erkenntnisse der Medizin schwindet der klare Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Erklären und Verstehen. Das ist für die Wissenschaft von großer Bedeutung und hat auch für den Kranken positive Folgen. Denn je mehr die Wissenschaft über diese Zusammenhänge weiß, desto größer sind für den Einzelnen die Chancen, seine Krankheit besser zu verstehen. Er kann präventiv durch eine bestimmte Lebensführung an der Verhinderung des Ausbruchs einer Krankheit mitarbeiten oder bei einer eingetretenen Erkrankung an seiner Heilung mitwirken.

2. Die ordnenden Kräfte – Genetik und Epigenetik

Bei der Zeugung eines Menschen entsteht ein neuer Organismus. Samen und Eizelle kommen zusammen. Nach dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle verschließt sich diese, damit kein zweites Spermium in die Eizelle gelangt. Durch die Verschmelzung von Samen und Eizelle entsteht ein neuer Organismus mit einem einzigartigen Genom. Diese Verschmelzung ist wie eine Initialzündung. Ab jetzt läuft ein Prozess ab, der achtzig oder neunzig Jahre dauern kann. Samen und Eizelle zusammen bilden die sogenannte Zygote. Diese Zygote teilt sich in einen Zweizeller, Vierzeller, Achtzeller. All das geschieht „von selbst“.

Ab dem Achtzellstadium7 fangen die Zellen an, sich in die etwa 220 verschiedenen Zelltypen des menschlichen Organismus zu differenzieren. Lange Zeit wusste man nicht, wie dies geschieht. Dann aber erkannte die Forschung, dass zu dieser Zelldifferenzierung jeweils unterschiedliche Gene abgeschaltet werden. Die anderen bleiben aktiv.8 Abhängig davon, welche Gene abgeschaltet werden und welche aktiviert bleiben, entsteht ein anderer Zelltyp. Für eine Haarzelle sind andere Gene aktiv als für eine Augenzelle. Es ist wie bei einer Flöte, bei der jeweils ein anderer Ton herauskommt, wenn man bestimmte Löcher zuhält und andere öffnet. Anders gesagt: Die Gene bilden nur die materiale Grundlage aller Informationsgeschehnisse einer Zelle und eines Organismus. So wie die Tasten eines Klaviers nur die materiale Grundlage für mögliche Töne darstellen. Diese entstehen erst, wenn sie durch einen Spieler betätigt werden. Erst wenn die Zelle als kleinste „spielfähige Einheit“ des Lebendigen bestimmte Gene mittels epigenetischer Mechanismen aktiviert, erklingt eine Art „Informationsmusik“. Die An- und Abschaltmechanismen müssen dabei fehlerfrei zusammenwirken und genau aufeinander abgestimmt sein. Dies ist in der Embryonalentwicklung der Fall.9 Man nennt sie – wie erwähnt – epigenetische Einflüsse. Die Lehre, die sich mit diesen Zusammenhängen befasst, heißt Epigenetik.

Die materialen Bausteine für diese Schaltvorgänge liegen beim Embryo zum großen Teil in den Bereichen zwischen den Genen, die man lange Zeit für sinnloses Zeug („cheap junk“) hielt.10 Sie liegen ebenso im Zytoplasma der Zelle, ja in der gesamten Zelle, in der Lage der Zellen zueinander sowie im gesamten Organismus bis hin zu den neuronalen Verschaltungen im Gehirn beim Erwachsenen. Gegenwärtig herrscht die Ansicht vor, dass sich das gesamte Genom in der Embryonalentwicklung erst langsam ausformt. Die entscheidenden Phasen der Formung sind die pränatale Zeit, die Zeit der Geburt und die Zeit bis zur Pubertät.

So finden Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf verschiedenen Ebenen statt: zwischen den Genen, zwischen Genen und Proteinen, zwischen Zellen, zwischen Organen innerhalb des Organismus, letztlich zwischen den Organismen, zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Dies sind milliardenfache Prozesse, die ein Leben lang ablaufen. Sie bedürfen der Ordnung, der identischen Verdoppelung der Zellen, der Zelldifferenzierung sowie des Gleichgewichts zwischen Zellaufbau, Zell-umbau und Zellabbau.

Im Zuge der Weitergabe des genetischen Materials und der Proteine bei der Zellvermehrung und Zelldifferenzierung kommt es zu „Abschreibefehlern“ des genetischen Programms. Es entstehen genetische Defekte, die aber auch durch äußere Einflüsse, wie zum Beispiel Radioaktivität, entstehen können. Wenn diese geschädigten Gene aktiviert werden, können daraus fehlgestaltete Proteine oder fehlerhafte Mengen an Proteinen hergestellt werden und letztlich Krankheiten entstehen. Allerdings werden diese Fehler durch eine Fülle von Reparaturmechanismen immer wieder ausgebessert, fehlerhafte Zellen durch gezielte Eliminationsprozesse ausgesondert oder getötet (Apoptose). Auf einer anderen Ebene können sie auch durch ein intaktes Immunsystems zerstört werden. Die große Zahl dieser Kontrollmechanismen macht es relativ unwahrscheinlich, dass geschädigte Gene und kranke Zellen sich weiter vermehren und in den Kreislauf des Organismus gelangen. Andererseits ist es bei der großen Zahl der Zellneubildungen doch nicht unmöglich, dass immer wieder geschädigte Zellen auftauchen.

Im gesunden Organismus besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den auftretenden fehlerhaften Zellen und den Reparatur- und Eliminationsmechanismen. So bleiben die Zellzahl sowie das Verhältnis von kranken und gesunden Zellen (trotz Schwankungen, zum Beispiel altersbedingt) relativ stabil. Erst wenn dieses Gleichgewicht gestört wird und die Reparaturmechanismen und Selbsttötungsprogramme abnehmen oder die Abwehrleistung des Immunsystems zu schwach ist, nimmt die Zahl der kranken Zellen zu. So können dann Krebszellen längere Zeit überleben. Sie können sich zu größeren Aggregaten zusammenschließen und finden ihren Endpunkt in manifesten Tumoren und schließlich Metastasen.

Je unreifer ein Organismus ist, desto eher können Gene durch äußere Einflüsse geschädigt werden. Aber auch die epigenetischen Schaltmechanismen werden durch Umgebungsbedingungen sowie durch zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst. „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ lautet der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer.11 Diese epigenetischen Einflüsse entfalten bei unreifen Organismen wie bei Kindern größere Wirkungen als bei Erwachsenen.12

In der Embryonalentwicklung ist es vor allem der Dialog zwischen Mutter und Kind, der für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die pränatale Psychologie hat hierzu sehr viel erforscht.13