Pelle der Eroberer - Martin Andersen Nexø - E-Book
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Pelle der Eroberer E-Book

Martin Andersen Nexö

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Beschreibung

Pelles Geschichte beginnt im Jahre 1877 an einem nebligen Morgen, als das Schiff mit der Ware "Arbeitskraft" an der dänischen Insel Bornholm anlegt. Der Verwalter des riesigen Steinhofs will es mit dem Jungen und seinem Vater versuchen.

Pelle wird Herr über zahllose Kühe, zugleich aber ist er Prügelknabe, Handlanger und Botenjunge. Sonderbare Menschen und aufregende Spiele lernt er kennen: die Bäuerin mit dem unheimlichen Weinen, die verführerische Magd Bodil und den tückischen Knaben Rud. Als Vierzehnjähriger verläßt Pelle den Ort seiner Kindheit und zieht aus, das Glück zu erobern, das es auch für ihn irgendwo geben muß.

Mit offenen Sinnen, voller Phantasie und Zutrauen zu sich selbst, beginnt Pelle, der achtjährige Hütejunge auf Bornholm, seine Welteroberung. Die tiefe Liebe zu seinem Vater, einem armen Landarbeiter, und ein inniges Naturverhältnis sind das Fundament, das ihn auch durch Zeiten größter Not und Verlassenheit trägt.

Nexøs meistgelesener Roman - ein Buch des Aufbruchs und der Hoffnung.

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Seitenzahl: 2023

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Über Martin Andersen Nexö

Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexö am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.

Informationen zum Buch

Pelles Geschichte beginnt im Jahre 1877 an einem nebligen Morgen, als das Schiff mit der Ware »Arbeitskraft« an der dänischen Insel Bornholm anlegt. Der Verwalter des riesigen Steinhofs will es mit dem Jungen und seinem Vater versuchen. Pelle wird Herr über zahllose Kühe, zugleich aber ist er Prügelknabe, Handlanger und Botenjunge. Sonderbare Menschen und aufregende Spiele lernt er kennen: die Bäuerin mit dem unheimlichen Weinen, die verführerische Magd Bodil und den tückischen Knaben Rud. Als Vierzehnjähriger verläßt Pelle den Ort seiner Kindheit und zieht aus, das Glück zu erobern, das es auch für ihn irgendwo geben muß.

Mit offenen Sinnen, voller Phantasie und Zutrauen zu sich selbst, beginnt Pelle, der achtjährige Hütejunge auf Bornholm, seine Welteroberung. Die tiefe Liebe zu seinem Vater, einem armen Landarbeiter, und ein inniges Naturverhältnis sind das Fundament, das ihn auch durch Zeiten größter Not und Verlassenheit trägt.

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Martin Andersen Nexö

Pelle der Eroberer

Ein neues Leben/Der Aufbruch

Aus dem Dänischen von Mathilde Mann

Dem Meister Henrik Pontoppidan

Inhaltsübersicht

Über Martin Andersen Nexö

Informationen zum Buch

Newsletter

Ein neues Leben

Erstes Buch: Kindheit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Zweites Buch: Lehrjahre

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Der Aufbruch

Drittes Buch: Der große Kampf

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Viertes Buch: Morgendämmerung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 2l

Kapitel 22

Kapitel 23

Anmerkungen

Impressum

Pelle der Eroberer

Ein neues Leben

Erstes BuchKindheit

1

Es war der 1. Mai 1877, früh in der Morgendämmerung. Von der See kam der Nebel dahergefegt mit einer grauen Schleppe, die schwer auf dem Wasser lag. Hier und da zuckte es darin; er wollte sich lichten, schloss sich aber wieder und ließ nur eben ein Stückchen Strand mit zwei alten Booten darauf zurück, die mit dem Boden nach oben lagen; der Steven eines dritten Bootes und ein Stück Mole ragten ein paar Schritte seitwärts aus der trüben Luft empor. In regelmäßigen Zwischenräumen glitt eine flache Welle graublank aus dem Nebel hervor, leckte über den rasselnden Strandkies hin und zog sich wieder zurück; es machte den Eindruck, als liege ein großes Tier da drinnen in der Nebelmasse verborgen und lechze nach Land.

Ein paar hungrige Krähen hatten sich auf einem schwarzen, aufgeblähten Gegenstand da unten niedergelassen – vielleicht dem Aas eines Hundes. Jedes Mal, wenn die leckenden Wellen darüber hinglitten, flogen sie hoch und hielten sich ein paar Ellen in der Luft schwebend, die Beine senkrecht zur Beute ausgestreckt, als hingen sie unsichtbar daran fest. Wenn dann die See wieder zurückrollte, ließen sie sich herabfallen und bohrten den Kopf tief in das Aas; die Flügel aber hielten sie ausgebreitet, bereit, beim nächsten Anprall der Wellen aufzufliegen. Das funktionierte mit der Regelmäßigkeit eines Zeitmessers.

Ein Ruf zitterte über den Hafen hin und nach einer kleinen Weile hörte man das dumpfe Geräusch von Rudern, die über einem Bootsrand arbeiteten. Das Geräusch entfernte sich seewärts und entschwand schließlich ganz. Doch dann begann eine eherne Glocke zu läuten; das musste auf der äußersten Mole sein. Und aus der Ferne, in der die Ruderschläge verschwunden waren, antwortete ein Nebelhorn. Sie fuhren fort einander zu antworten, in Abständen von ein paar Minuten.

Die Stadt war nicht zu sehen, hin und wieder aber wurde die Stille da oben von den Eisen an den Holzschuhen eines Stein- oder Kaolinarbeiters auf dem Steinpflaster zerrissen. Der scharfe Takt war lange zu hören, bis der Mann plötzlich um irgendeine Ecke verschwand. Dann wurde eine Tür geöffnet und man vernahm ein kräftiges Morgengähnen; jemand machte sich daran, den Bürgersteig zu fegen. Fenster wurden hier und da aufgerissen und verschiedene Geräusche zogen hinaus als Gruß in den grauen Tag. »Du Schwein, hast du dich wieder nass gemacht!«, schrie eine scharfe Frauenstimme. Man hörte kurze, durchdringende Klapse und das Weinen eines Kindes. Ein Schuster fing an Leder zu klopfen, nach einer Weile fiel er mit einem frommen Lied in den Takt der Arbeit ein:

»Nur eins hat Wert auf Erden, liebe Brüder:

Das Lamm, das aller Welten Sünden trug.«

Die Melodie war einem von Mendelssohns »Liedern ohne Worte« entnommen.

Auf der Bank unter der Kirchenmauer saß die Mannschaft eines Bootes und starrte weitsichtig auf die See hinaus. Vornübergebeugt saßen sie da, die gefalteten Hände hingen zwischen den Knien herab, sie rauchten aus ihren kurzen Pfeifen. Alle drei hatten Ringe in den Ohren gegen Erkältung und andere Krankheiten und alle nahmen dieselbe Haltung ein – als fürchte sich jeder von ihnen davor, sich auch nur im Geringsten von den anderen zu unterscheiden.

Ein Reisender kam vom Hotel herabgeschlendert und ging zu den Fischern hin. Er hatte den Kragen über die Ohren geschlagen und schauderte in der Morgenkälte.

»Ist da was los?«, fragte er höflich und nahm die Mütze ab. Seine Stimme klang morgenheiser.

Einer der Fischer, der Vormann der Bootsbesatzung, bewegte die Faust ein wenig in Richtung auf die Kopfbedeckung. Die anderen starrten mit verschlossenen Mienen unbewegt geradeaus.

»Ich meine nur, weil es läutet und das Lotsenboot da draußen liegt und tutet«, wiederholte der Fremde. »Wird vielleicht ein Schiff erwartet?«

»Das kann wohl sein; das kann man ja nie wissen!«, antwortete der Bootsführer unzugänglich.

Der Fremde machte ein Gesicht, als betrachte er die Antwort als grobe Unverschämtheit, aber dann besann er sich. Es war nichts weiter als die gewöhnliche Geheimniskrämerei – eingewurzeltes Misstrauen gegen alles, was nicht ihren eigenen Dialekt sprach und genauso aussah wie sie selber. Sie saßen da und waren innerlich unruhig, trotz des hölzernen Äußern, schielten verstohlen zu ihm hin und wünschten ihn weit weg. Er bekam Lust, sie ein wenig zu peinigen.

»Herrgott, ist es vielleicht ein Geheimnis?«, fragte er lachend.

»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete der Fischer mürrisch.

»Ich verlange natürlich nichts umsonst! Das Maulwerk wird ja auch abgenutzt, wenn man es auf- und zumacht. Wie viel pflegen Sie zu bekommen?« Er griff nach dem Geldbeutel, jetzt wollte er beleidigen.

Die anderen Fischer warfen dem Bootsführer verstohlene Blicke zu – dass er sie bloß nicht auf Grund steuerte!

Der Bootsführer nahm die Pfeife aus den Zähnen und wandte sich an seine Kameraden. »Ja, wie ich schon vorhin sagte, was das anbetrifft, so können manche Leute rumreisen und mit allem schachern, was es auch ist.« Er zwinkerte ihnen zu, sein Gesicht hatte einen verschlagenen Ausdruck. Die Kameraden nickten, sie freuten sich; der Handelsreisende konnte es ihren törichten Mienen ansehen.

Es machte ihn rasend: Hier stand er, wurde wie Luft behandelt und war ihnen überdies zum Gespött. »Zum Teufel auch, habt ihr denn nicht so viel gelernt, dass man auf eine höfliche Frage höflich antwortet?«, sagte er empört.

Die Fischer sahen ihn an, sie hielten eine stumme Beratung ab.

»Nein, aber ich will Ihnen sagen, einmal muss er ja doch kommen, sollt ich meinen«, sagte der Steuermann endlich.

»Was für ein Er, zum Kuckuck?«

»Der Dampfer, sollt ich meinen. Und das pflegt gewöhnlich so um diese Zeit zu sein.«

»Natürlich – das versteht sich«, höhnte der Reisende. »Aber ist es nun auch ratsam, so laut davon zu reden?«

Die Fischer hatten ihm den Rücken zugekehrt; sie saßen da und sogen an ihren Pfeifen.

»Hier bei uns sind wir nicht so redselig wie gewisse andere Leute und darum verdienen wir unser Brot doch«, sagte der Bootsführer zu den anderen. Sie brummten etwas Beifälliges.

Der Fremde schlenderte den Hafenhügel hinab, die Fischer sahen ihm erleichtert nach. »So ’n Kerl!«, sagte der eine. »Der wollte sich mausig machen. Aber du hast es ihm gründlich gegeben, da kann er lange dran schlucken!«

»Ja, das sitzt!«, entgegnete der Bootsführer mit Selbstgefühl. »Der feine Dreck, da muss man sich am meisten vor hüten.«

Mitten auf dem Hafenhügel stand ein Gastwirt vor seiner Tür und gähnte. Der Morgenwanderer wiederholte seine Frage und erhielt sofort Antwort – der Mann war Kopenhagener.

»Ja, sehen Sie, wir warten auf dem Dampfer, der heut mit ’ner gewaltigen Ladung Sklaven aus Ystad kommt. Billiges schwedisches Arbeitsvieh, wissen Sie, das von Schwarzbrot und Salzheringen lebt und für drei schuftet. Sie sollten mit’n glühenden Eiszapfen auf’n Nabel gepeitscht werden, das sollten sie – und die Bauernbiester ebenfalls – ’n kleiner Bitterer auf’n nüchternen Magen gefällig?«

»Nein, ich danke, lieber nicht – so früh.«

»Na, nichts für ungut. Aber auf so wenig kann ich wirklich nich rausgeben.«

Auf dem Hafenplatz hielt schon eine Menge Bauernwagen und jeden Augenblick kamen neue in voller Fahrt den Berg heruntergerollt. Die Neuangekommenen lenkten ihr Gespann so weit nach vorn wie möglich, prüften mit kritischem Blick die Pferde ihres Nebenmannes und setzten sich zurecht, um noch ein wenig zu nicken, zusammengesunken, den Pelzkragen hochgeschlagen und einen großen, klaren Tropfen unter der Nase. Zöllner in Uniform und Lotsen, die ungeheuren Pinguinen glichen, schlenderten unruhig umher, spähten über die See und lauschten. Jeden Augenblick wurde auf der äußersten Mole die Glocke geläutet und das Tuthorn des Lotsenbootes antwortete irgendwo aus dem Nebel, der über der See lag, mit einem lang gezogenen, hässlichen Heulen wie ein krankes Tier.

»Was zum Teufel war denn das?«, fragte ein Bauer, der eben gekommen war, und griff erschrocken in die Zügel. Seine Furcht teilte sich den Pferden mit; sie standen zitternd da, den Kopf hoch erhoben, und lauschten angespannt, fragende Angst in den Augen, auf die See hinaus.

»Ach, das war bloß die Seeschlange, die sich ein bisschen erleichtert«, sagte ein Zollbeamter. »Die leidet bei diesem nebligen Wetter immer an Blähungen – sie ist ein Windschlucker, müssen Sie wissen.«

Die Zöllner steckten die Köpfe zusammen und grinsten.

Muntere junge Seeleute in blauen Anzügen und weißen Halstüchern gingen umher und streichelten die Pferde oder kitzelten sie mit einem Strohhalm in der Nase, damit sie sich bäumen sollten. Wenn die Bauern aufwachten und schalten, lachten sie vergnügt und sangen:

»Dem Seemann ist beschieden

Viel mehr Pein als Glück, Glück, Glück!«

Ein großer Lotse in isländischer Jacke und Fausthandschuhen rannte unruhig umher, ein Sprachrohr in der Hand, und brummte wie ein erregter Bär. Von Zeit zu Zeit kroch er auf den Molenkopf hinaus, setzte das Sprachrohr an den Mund und brüllte über das Wasser hin: »Hört – ihr – was?« Das Brüllen ritt lange auf den Dünungen auf und nieder; hier drinnen hinterließ es eine drückende Stille. Und plötzlich kam es von oben her von der Stadt zurück als unartikuliertes Lallen, das die Leute zum Lachen brachte.

»Nei-n«, erklang es nach einer kleinen Weile dünn und lang gezogen aus der Tiefe. Und man hörte von neuem das Horn tuten, einen langen, heiseren Laut, der sich mit den Dünungen ans Ufer wiegte und gurgelnd in dem Wellengeplätscher an dem Bollwerk und den Pfählen barst.

Die Bauern ging das alles im Grunde nichts an; sie schliefen oder saßen da und wippten mit der Peitsche, um die Zeit hinzubringen. Aber alle anderen waren gespannt. Allmählich hatte sich eine ganze Menge Menschen am Hafen versammelt: Fischer, Seeleute, die noch keine Heuer hatten, und kleine Handwerksmeister, die die Unruhe aus der Werkstatt getrieben hatte. Sie kamen mit ihren Schurzfellen herbeigerannt, um atemlos die Lage zu bereden; sie gebrauchten seemännische Ausdrücke, die meisten von ihnen waren in ihren jungen Jahren zur See gefahren. Die Ankunft des Dampfers war immer ein Ereignis, das die Menschen in den Hafen lockte; aber heute hatte er die vielen Menschen an Bord und es war schon eine Stunde über die Zeit hinaus vergangen. Der gefährliche Nebel ließ die Spannung ansteigen, aber je mehr Zeit verging, umso mehr wich sie einer dumpfen, gedrückten Stimmung. Der Nebel ist der ärgste Feind des Seemanns und es gab viele unheimliche Möglichkeiten. Bestenfalls war das Schiff wohl zu weit nordwärts oder südwärts auf Land gestoßen und lag nun irgendwo da draußen auf See, brüllte und lotete und wagte nicht sich zu rühren. Dann glich der Kapitän einem Unwetter, dann sprangen die Matrosen wie die Katzen. Stopp! – Langsam voraus! – Stopp! – Langsam zurück! Der erste Ingenieur stand selber an der Maschine und war grau vor nervöser Spannung. Unten im Maschinenraum, wo sie gar nichts wussten, strengten sie nutzlos ihre Ohren an; oben auf Deck aber war jeder Mann um sein Leben besorgt. Der Rudergast beobachtete die lenkende Handbewegung des Kapitäns, dass ihm der Schweiß aus den Poren brach, der Mann am Ausguck der Back starrte und lauschte in den Nebel hinein, bis er sein eigenes Herz schlagen hörte, jeder Mann auf Deck zappelte förmlich. Und die Dampfpfeife tutete warnend. – Aber vielleicht lag das Schiff schon längst auf dem Grunde des Meeres.

Alle kannten das, jeder Mann hatte auf irgendeine Weise diese überhitzte Spannung erlebt – als Schiffsjunge, Heizer, Kapitän, Koch – und nun wurde die Erinnerung daran wieder wach. Nur die Bauern spürten nichts, sie schliefen, fuhren zuweilen mit einem Ruck in die Höhe und gähnten hörbar.

Die Seeleute und die Bauern konnten sich nie so recht vertragen, sie waren so verschieden wie die Erde und das Meer. Aber heute blickte man geradezu wütend auf die Bauern und ihre gleichgültige Haltung. Der dicke Lotse war schon mehrmals mit ihnen in Streit geraten, weil sie ihm den Weg versperrten; und als sich einer von ihnen eine Blöße gab, fiel er sogleich über ihn her. Es war ein älterer Bauer, der aufwachte, als ihm der Kopf vornüberfiel; er sah ungeduldig nach der Uhr und sagte: »Na, das zieht sich ja reichlich in die Länge, der Käptn kann heut woll nich in die Stalltür reinfinden.«

»Er ist wohl eher unterwegs in einem Wirtshaus kleben geblieben«, sagte der Lotse und seine Augen funkelten vor Wut.

»Ja, das kann wohl sein!«, sagte der Bauer, ohne zu begreifen.

Die Zuhörer stimmten ein Hohngelächter an und verbreiteten die Geschichte über den Hafenplatz. Man scharte sich um den Unglücksraben. »Wie viele Wirtshäuser gibt es von hier bis nach Schweden rüber?«, rief man.

»Ja, da draußen kann man zu leicht zu dem Nassen kommen, das ist das Unglück!«, fuhr der Lotse fort. »Sonst könnte jeder Grützeesser ein Schiff führen. Man braucht ja bloß nach rechts zu halten, um Hansens Hof herum, dann liegt die Landstraße gerade vor einem. Und was für eine Landstraße! Telegrafendrähte und Gräben und ’ne Reihe Pappeln an jeder Seite – gerade von der Gemeindeverwaltung gründlich ausgebessert. Die Grütze aus dem Bart, der Alten einen Schmatz und rauf auf die Kommandobrücke. Is die Maschine geschmiert, Hans? Na, denn man los in Gottes Namen – lang mir mal die Staatspeitsche her!« Er ahmte die Redensweise der Bauern nach. »Nimm dich vor den Schenkern in Acht, Vater!«, fügte er mit keifender Frauenstimme hinzu. Gewaltiges Lachen folgte, es klang unheimlich, weil man die gedrückte Stimmung dahinter spürte.

Der Bauer saß ganz ruhig da und ließ das Lachen über sich ergehen; er duckte nur den Kopf ein wenig. Dann zeigte er mit der Peitsche auf den Lotsen und sagte zu den Umherstehenden: »Ein mordsmäßiger Kopf, der da auf so ’nem Kind sitzt! Wen sein Vater bist du, mein Junge?«, wandte er sich dann an den Lotsen.

Es lachten mehrere und der dickhalsige Lotse bekam einen roten Kopf vor Wut. Er griff in den Wagenkorb und rüttelte ihn, sodass der Bauer Mühe hatte, sitzen zu bleiben. »Du jammervoller Klutentramper, du Schweinezüchter, du Mistfahrer!«, brüllte er rasend. »Kommst hierher und willst erwachsene Leute duzen und sie Junge nennen! Und noch dazu über Schifffahrt räsonieren, hä – so ’n Lausepelz, der dick voll Schulden sitzt! – Nee, wenn dich je die Lust ankommt, deine fettige Nachtmütze vor anderen als vor dem Küster zu Haus abzunehmen, dann nimm sie vor dem Schiffsführer ab, der bei so einem Nebel wie diesem in den Hafen findet! Grüß man vielmals und sag, das hätte ich gesagt.« Er ließ den Wagen so plötzlich los, dass er fast nach der anderen Seite umschlug.

»Ich werde sie lieber vor dir abnehmen, denn es scheint ja so, als wenn der andere uns heute nicht finden kann«, sagte der Bauer grinsend und nahm die Pelzmütze vom Kopf, sodass ein großer, kahler Schädel sichtbar wurde.

»Deck mal schnell den Kinderarsch zu oder, weiß Gott, ich versohl ihn dir!«, rief der Lotse, blind vor Wut, und wollte auf den Wagen hinauf.

Im selben Moment ertönte wie aus einem Telefon ein fernes, schwaches Quäken aus der Tiefe: »Wir – hören – eine – Dampfpfeife!«

Der Lotse rannte zur Mole hinüber und versetzte im Vorbeilaufen den Pferden des Bauern einen Schlag, dass sie sich aufbäumten; Männer stellten sich bei den Pollern auf, andere kamen in wilder Fahrt mit der Landungsbrücke herbeigeschurrt; die Wagen, in denen hinten Stroh lag, als wenn sie Vieh holen wollten, fuhren an, obwohl sie nirgends hinfahren konnten, sie mahlten rundherum auf einem Fleck. Alles war in Bewegung. Vermieter mit roten Nasen und schlauen Augen kamen aus der Schifferkneipe gestürzt, wo sie sich aufgewärmt hatten.

Und als habe eine mächtige Faust plötzlich in die Bewegung eingegriffen, stand auf einmal alles wieder still und lauschte angespannt – eine brüllende Dampfpfeife klagte wie ein Neugeborenes irgendwo in der Ferne. Man scharte sich zusammen, lauschte wie versteinert und sandte den unruhigen Fuhrwerken böse Blicke zu: War es Wirklichkeit oder nur eine Ausgeburt der heftigen Wünsche so vieler – vielleicht eine Vorbedeutung für jedermann, dass das Schiff in diesem Augenblick unterging? Das Meer schickt immer Botschaft von seinen bösen Taten; die Hinterbliebenen hören eine Luke knarren, wenn der Versorger versinkt, oder es wird dreimal an die Fenster geklopft, die nach der See hinausliegen – es gibt so viele Arten.

Aber dann erklang es wieder und diesmal lief der Laut in feinen Tonrillen über das Wasser, dasselbe zitternde Halbpfeifen, wie wenn Vögel auffliegen – es lebte. Und das Nebelhorn draußen in der Einfahrt antwortete ihm und drinnen auf dem Molenkopf die eherne Glocke; dann wieder das Tuthorn – und die Dampfpfeife in der Ferne. Und so ging es fort, ein Leitseil aus Lauten wurde zwischen dem Ufer und dem undurchdringlichen Grau da draußen geknüpft, hin und her. Man konnte hier auf dem festen Land deutlich spüren, wie man sich da draußen an den Lauten vorwärts tastete – das heisere Brüllen nahm an Stärke langsam zu, wich ein wenig nach Süden oder Norden ab, kam ständig näher. Und andere Leute brachen sich Bahn, schweres Scheuern von Eisen auf Eisen, der Lärm der Schraube, wenn sie rückwärts ging oder wieder auf Vorwärtsgang ansprang.

Das Lotsenboot glitt langsam aus dem Nebel hervor. Es hielt sich mitten in der Fahrrinne, bewegte sich besonnen dem Ufer zu und tutete unaufhörlich. Mittels des Lautes schleppte es eine unsichtbare Welt nach sich, wo sich hunderte von Stimmen mit Rufen, Klängen und schallenden Fußtritten mischten – eine Welt, die blind hier ganz in der Nähe im Raum schwamm. Dann bildete sich ein Schatten im Nebel, wo ihn niemand erwartet hatte, und der kleine Dampfer brach hervor – ein Koloss im ersten Augenblick der Überraschung – und legte sich mitten in die Einfahrt.

Jetzt löste sich die Spannung, jeder Einzelne musste etwas unternehmen. Sie packten die Pferde der Bauern bei den Köpfen und drängten sie zurück, klatschten in die Hände, versuchten einen Witz zu machen oder lachten nur lärmend und stampfend auf das Pflaster. »Gute Reise?«, fragte ein Dutzend Stimmen auf einmal.

»All right!«, antwortete der Kapitän munter. Und nun ist auch er die Spannung los; die Kommandorufe entrollen seinem Munde, die Schraube läuft kochend rückwärts, Trossen fliegen durch die Luft, die Dampfwinde bewegt sich mit singendem Metallklang. Und mit der Breitseite arbeitet sich das Schiff an das Bollwerk heran.

Auf dem Vorderdeck zwischen Back und Brücke, unter dem Bootsdeck und achtern – überall wimmelt es. Es ist ein wunderlich unsinniges Gewimmel, wie von Schafen, die einander auf den Rücken klettern und die Mäuler aufsperren. »Nee, was für ’ne Ladung Vieh!«, ruft der dicke Lotse dem Kapitän zu und stampft entzückt mit seinem Holzschuh auf die Mole. Da sind Schaffellmützen, alte Soldatenmützen, fuchsrote abgeschabte Hüte und die kleidsamen schwarzen Kopftücher der Frauen. Die Gesichter sind so verschieden voneinander wie eingeschrumpftes, altes Schweineleder und junge, reifende Frucht, aber Entbehrungen und Erwartungen und eine gewisse Lebensgier leuchten aus ihnen allen. Und die Ungewöhnlichkeit des Augenblicks gibt ihnen einen Anschein von Dummheit, wie sie sich da vordrängen oder übereinander hinwegklettern und mit offenen Mündern das Land anstarren, wo die Löhne so hoch sein sollen und wo der Branntwein so mörderisch stark ist.

Sie sehen die dicken, pelzgekleideten Bauern und die angezechten Vermittler. Sie wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen, und stehen überall im Wege, die Matrosen jagen sie fluchend von einer Seite des Schiffes zur anderen oder werfen ihnen ohne einen Warnungsruf Lukendeckel und Stückgüter auf die Beine. »Weg da, schwedischer Deubel!«, ruft ein Matrose, der die eisernen Türen aufmachen soll. Der Schwede springt verwirrt beiseite, aber die Hand fährt in die Tasche und fingert nervös an dem großen Klappmesser herum.

Die Landungsbrücke ist klar und die dreihundertfünfzig Passagiere strömen von Bord – Steinhauer, Hafenarbeiter, Dienstmädchen, männliche und weibliche Tagelöhner, Knechte, Melker, hin und wieder ein einsamer kleiner Hütejunge und elegante Schneider, die sich von den anderen fern halten. Da sind junge Leute, so kerzengerade und gut gebaut, wie sie die Insel hier nicht hervorbringt, und arme Teufel, so mitgenommen von Arbeit und Entbehrungen, wie das hier nie der Fall ist. Es sind auch Gesichter darunter, aus denen die offenkundige Bosheit leuchtet – und andere, die vor Energie sprühen oder durch große Narben entstellt sind.

Die meisten sind in Arbeitskleidung und haben nur das mit, worin sie gehen und stehen. Hin und wieder hat einer ein Arbeitsgerät über der Schulter – eine Schaufel oder eine Brechstange. Diejenigen, die Gepäck haben, müssen sich eine gründliche Untersuchung durch den Zoll gefallen lassen – Stoffe sind billig in Schweden. Hin und wieder muss sich ein Mädchen, das ein wenig stark ist, mit den groben Scherzen der Zöllner abfinden, so zum Beispiel die hübsche Sara aus Cimrishamn, die alle kennen. Jeden Herbst reist sie nach Hause und kommt jeden Frühling wieder – in den gesegnetsten Umständen. »Das ist Schmuggelware!«, sagen die Zöllner und zeigen mit den Fingern auf sie. Sie machen jedes Jahr denselben Witz und haben sich schon darauf gefreut. Aber Sara, die sonst so hitzig und schlagfertig mit dem Mundwerk ist, starrt verschämt zu Boden – sie hat zwanzig Ellen Tuch unter die Röcke gewickelt.

Die Bauern sind jetzt ganz wach geworden. Wer die Pferde verlassen kann, mischt sich unter die Menge, die anderen wählen sich ihre Arbeitskräfte mit den Augen aus und rufen die Betreffenden an. Jeder legt seinen Maßstab an – Schulterbreite, bescheidene Haltung, Erbärmlichkeit; aber vor den narbigen und boshaften Gesichtern haben sie Angst, die überlassen sie den Verwaltern auf den großen Gütern. Es wird geboten und gefeilscht, jeden Augenblick kriechen ein oder zwei Schweden in das Stroh hinten im Wagen und rollen davon.

Ein wenig abseits stand ein älteres, gebeugtes Männchen mit einem Sack auf dem Rücken und einem acht- oder neunjährigen Jungen an der Hand; vor ihnen stand eine grüne Kiste. Sie folgten aufmerksam den Vorgängen und jedes Mal, wenn ein Wagen mit einigen ihrer Landsleute davonrollte, zupfte der Knabe ungeduldig den Alten am Ärmel, der ihm dann beruhigend zuredete. Der alte Mann betrachtete die Bauern einen nach dem andern prüfend, mit bekümmerter Miene, und bewegte die Lippen dabei – er überlegte. Ständig liefen ihm die roten, wimpernlosen Augen infolge des Starrens über und er trocknete sie mit dem groben, schmutzigen Sacktuch.

»Siehst du den da?«, sagte er plötzlich zu dem Jungen und zeigte auf einen kleinen, dicken Bauern mit Apfelwangen. »Was meinst du? Der is gewiss gut zu Kindern. Wollen wir es mal versuchen, Junge?«

Der Kleine nickte ernsthaft und sie steuerten auf den Bauern zu. Als er aber hörte, dass sie zusammenbleiben mussten, wollte er sie nicht haben – der Junge sei zu klein, um sich sein Brot zu verdienen. Und so erging es ihnen jedes Mal.

Es waren Lasse Karlsson aus Tommelilla in der Ystader Gegend und sein Sohn Pelle.

Ganz fremd war Lasse hier nicht; er war schon einmal auf der Insel gewesen – vor ungefähr zehn Jahren. Aber damals war er jünger, sozusagen in seiner besten Arbeitskraft, und hatte nicht den kleinen Jungen an der Hand, von dem er sich um alles in der Welt nicht trennen wollte – das war der Unterschied. Es war in dem Jahr, als die Kuh in der Mergelgrube ertrank und Bengta ihrem Wochenbett entgegensah. Lasse setzte damals alles auf eine Karte und benutzte ein paar Kronen, die er für die Haut der Kuh bekam, um dafür nach Bornholm zu fahren. Als er im Herbst nach Hause zurückkehrte, waren sie drei Mäuler, aber da hatte er auch hundert Kronen, mit denen er dem Winter entgegensehen konnte.

Lasse war damals Manns genug gewesen, die Situation zu retten; und noch heute konnte sich seine alte Gestalt straff aufrichten, wenn er an diese Heldentat dachte. Später, wenn Schmalhans regierte, sprach er jedes Mal davon, den ganzen Plunder zu verkaufen und für immer nach Bornholm zu ziehen. Aber Bengta kränkelte nach dem späten Wochenbett und es wurde nichts daraus – nicht eher, als bis sie nach achtjährigem Elend starb, jetzt kürzlich, im Frühling. Da verkaufte Lasse die Reste seiner Habe unter der Hand und erhielt knapp hundert Kronen dafür; die gingen drauf für die Schulden; die lange Krankheit hatte gezehrt. Das Haus und der Boden gehörten dem Gutsbesitzer. Eine grüne Kiste, die zu Bengtas Aussteuer gehört hatte, war das einzige Stück, das er behielt. Dahinein packte er ihre Sachen und einige von Bengtas Kleinigkeiten und schickte sie mit einem Rosskamm, der Pferd und Wagen hatte, voraus in die Hafenstadt. Allerlei altes Gerümpel, worauf niemand bieten wollte, stopfte er in einen Sack; den Sack über dem Nacken und den Knaben an der Hand, wanderte er zu Fuß nach Ystad, wo der Dampfer von Rönne anlegte. Das Geld reichte gerade zur Überfahrt.

Unterwegs war er seiner Sache sicher gewesen und hatte Pelle begeistert von diesem Land erzählt, wo die Löhne so unfassbar hoch waren und wo man in manchen Stellungen Belag aufs Brot bekam und immer Bier dazu, sodass während der Ernte der Wasserwagen nicht bei den Arbeitern herumfuhr, sondern nur für das Vieh da war. Und – ja, wer wollte, der konnte Branntwein wie Wasser trinken, so billig war der, aber er war so stark, dass er einen schon nach dem dritten Glas umwarf. Sie brannten ihn aus richtigem Korn und nicht aus faulen Kartoffeln und sie tranken ihn zu jeder Mahlzeit. Und nie brauchte der Junge zu frieren, denn dort trug man Wolle auf dem bloßen Leib und nicht diese ungebleichte Leinwand, durch die es so kalt hindurchblies; aber ein Arbeiter, der sich selbst beköstigte, bekam leicht seine zwei Kronen den Tag. Das war was ganz anderes als die lausigen achtzig Öre des Gutsbesitzers bei eigener Beköstigung.

Pelle hatte das schon viele Male gehört – vom Vater, von Ole und Anders, von Karna und hundert anderen, die auch hier gewesen waren. Im Winter, wenn die Luft schwer war von Kälte und Schneegestöber und der Not der armen Leute, redeten alle davon in den kleinen Orten daheim. Und bei denen, die nicht selber auf der Insel gewesen waren, sondern nur davon hatten erzählen hören, trieb die Phantasie wundersame Blüten um die Wette mit dem Frost an den Fensterscheiben.

Pelle wusste ganz genau, dass hier selbst die ärmsten Jungen immer in ihren besten Anzügen gingen und Schmalzbrot mit Zucker drauf aßen, sooft sie nur wollten. Hier floss das Geld wie Dreck die Straßen entlang und die Bornholmer machten sich nicht einmal die Mühe, sich zu bücken und es aufzuheben. Aber Pelle wollte es aufsammeln, sodass Vater Lasse das alte Gerümpel aus dem Sack schütten und die grüne Kiste ausräumen müsste, um Platz zu schaffen. Wenn sie jetzt nur bald wegkämen – er zupfte den Vater ungeduldig am Ärmel.

»Ja, ja«, sagte Lasse, dem das Weinen im Hals steckte, »ja, ja, du musst dich gedulden!« Er sah sich unschlüssig um. Hier stand er nun mitten in all der Herrlichkeit und konnte nicht einmal einen bescheidenen Platz für sich und seinen Jungen finden. Er begriff das nicht. Hatte sich denn die ganze Welt seit damals verändert? Er zitterte bis in seine rauen Hände, als der letzte Wagen von dannen rollte. Eine Weile starrte er ihm hilflos nach; dann schleppten er und der Junge die grüne Kiste an eine Mauer und Hand in Hand wanderten sie der Stadt zu.

Lasse bewegte die Lippen beim Gehen – er dachte nach. Für gewöhnlich dachte er am besten, indem er laut mit sich selbst redete, aber heute waren alle seine Fähigkeiten wach und er konnte sich damit begnügen, die Lippen zu bewegen.

Und während er so dahintrabte, verdichteten sich seine entschuldigenden Gedanken zu entschuldigenden Worten. »Zum Teufel auch«, rief er und stieß mit dem Rücken den Sack weiter über den Nacken, »man soll auch nicht gleich das erste Beste nehmen, was sich bietet; das is nich mal klug! Lasse hat ja Verantwortung für zwei, sollt ich meinen, und er weiß, was er will! Bin doch schon früher im fremden Land gewesen, weiß Gott. Und das Beste kommt immer zuletzt, dass du dir das merkst, Junge!«

Pelle hörte zur halb zu. Er hatte sich bereits getröstet und die Worte des Vaters, dass ihnen das Beste noch vorbehalten sei, waren ihm nur ein schwacher Ausdruck einer mächtigen Wahrheit – dass nämlich die ganze Welt ihnen gehören würde, mit allem, was sie an Wunderbarem enthielt. Er war schon dabei, sie mit weit geöffnetem Mund in Besitz zu nehmen.

Er ging mit einer Miene einher, als wolle er den ganzen Hafen verschlingen, mit all seinen Schiffen und Booten und den großen Bretterstapeln, die so aussahen, als seien sie inwendig hohl. Ja, das war ein Spielplatz – aber ohne Jungen! Ob die Jungen hier wohl auch so waren wie zu Hause? Er hatte noch keine gesehen. Am Ende hatten sie eine ganz andere Art, sich zu prügeln, aber er würde schon mit ihnen fertig werden – wenn sie nur nicht alle auf einmal kommen wollten. Da stand ja ein großes Schiff ganz oben an Land und man war wohl im Begriff, ihm die Haut abzuziehen. Sieh mal an, Schiffe hatten also Rippen, genau wie Kühe!

Bei dem großen Holzschuppen mitten auf dem Hafenplatz setzte Lasse den Sack nieder. Er gab dem Jungen ein Stück Brot und sagte ihm, er solle hier bleiben und auf den Sack achten; dann ging er weiter und verschwand. Pelle war hungrig, er fasste das Brot mit beiden Händen und hieb gierig ein.

Als er die letzten Krumen von seiner Jacke aufgepickt hatte, fing er an sich mit seiner Umgebung zu beschäftigen. Das Schwarze in dem mächtigen Kessel da war Teer, den kannte er recht gut, er hatte aber noch nie so viel auf einmal gesehen. Pfui, Teufel, wenn man da hineinfiel, während es kochte – das war gewiss noch schlimmer als der Schwefelpfuhl in der Hölle. Und da lagen ein paar gewaltige Angelhaken, genau solche, wie sie an dicken, eisernen Ketten dem Schiff aus den Nasenlöchern herausgehangen hatten! Ob es wohl noch Riesen gab, die mit solchen Angelhaken fischen konnten? Der starke Johann ließ sie bestimmt auch lieber liegen!

Er stellte aus eigener Anschauung fest, dass die Bretterstapel wirklich hohl waren und dass er mit Leichtigkeit auf ihren Boden hinabgelangen konnte – wenn er nur nicht den Sack zu schleppen hätte. Der Vater hatte gesagt, er solle auf ihn Acht geben, und er ließ ihn keinen Augenblick aus den Händen; da er zu schwer zum Tragen war, musste er ihn hinter sich herschleifen.

Er entdeckte ein kleines Schiff, gerade so groß, dass ein Mann ausgestreckt darin liegen konnte, und voll von Bohrlöchern im Boden und an den Seiten; er forschte sich vorwärts bis zu dem großen Schleifstein der Schiffszimmerleute, der fast so hoch war wie ein Mann. Hier lagen krumme Planken, in denen Nägel saßen, so groß wie des Dorfschulzen neue Spannpflöcke daheim, und das Schiff war daran vertäut; war das nicht eine richtige Kanone, die sie da aufgepflanzt hatten?

Pelle sah das alles und untersuchte jeden einzelnen Gegenstand aufmerksam – bald nur, indem er ihn abschätzend anspie, bald, indem er mit dem Fuß dagegenstieß oder mit seinem Taschenmesser daran kratzte. Traf er auf irgendein seltsames Ding, das auf anderem Wege nicht in sein kleines Gehirn hineinwollte, so setzte er sich rittlings darauf.

Dies war eine ganz neue Welt und Pelle war dabei, sie zu erobern. Kein Stück von ihr wollte er übrig lassen. Hätte er jetzt nur die Kameraden aus Tommelilla hier gehabt, so würde er ihnen alles erklären und sie mit allem vertraut gemacht haben. Herrje, was die glotzen würden! Aber wenn er wieder nach Schweden zurückkam, wollte er davon erzählen; dann würden sie wohl Lügenpeter zu ihm sagen, das hoffte er wenigstens.

Pelle saß da und ritt auf einem ungeheuren Mast, der auf einigen Eichenböcken auf dem Zimmerplatz ausgestreckt lag. Er kreuzte die Füße unter dem Mast, wie er gehört hatte, dass es die Ritter in alten Zeiten bei ihren Pferden getan hatten, und stellte sich vor, dass er in einen Ring hineingriff und sich selbst in die Höhe höbe, das Pferd und alles andere. Er saß mitten in seiner neu entdeckten Welt zu Pferde und strotzte vor Erobererstolz, schlug mit der flachen Hand dem Pferd aufs Kreuz und hieb ihm die Absätze in die Seite, während der aus vollem Hals ein Lied sang. Den Sack hatte er loslassen müssen, um hier heraufzukommen.

»Mit geladener Pistole und gespanntem Gewehr

Tanzten in Smaaland die Teufel klein,

Der alte Teufel, der spielte die Fiedel,

Eia, wie tanzten die Kleinen so fein!«

Mitten in seiner lärmenden Freude warf er einen Blick nach oben, fing laut zu brüllen an und ließ sich in die Hobelspäne hineinfallen. Oben auf dem Schuppen, neben dem ihn der Vater abgesetzt hatte, stand ein schwarzer Mann mit zwei schwarzen, kläffenden Höllenhunden; der Mann streckte den Oberkörper vor und drohte ihm. Es war eine alte Galionsfigur, aber Pelle glaubte, es sei der Satan selber, der komme, um ihn für das unverschämte Lied zu strafen, und in heller Angst rannte er die Straße hinunter. Als er ein Stück gelaufen war, fiel ihm der Sack ein und er blieb stehen. Er machte sich nichts aus dem Sack – und Prügel bekam er auch nicht, wenn er ihn liegen ließ, denn Vater Lasse schlug ihn nie; der böse Teufel würde ihn auffressen, wenn er sich wieder hinunterwagte – mindestens; er sah ganz deutlich, wie es ihm und den Hunden rot aus den Nasenlöchern leuchtete.

Aber Pelle besann sich trotzdem. Der Vater war so besorgt um den Sack, er würde ganz sicher betrübt sein, wenn er ihn verlor – vielleicht würde er gar weinen wie damals, als er Mutter Bengta begrub.

Zum ersten Mal stand der Knabe einer der ernsten Prüfungen des Lebens gegenüber, war – wie das so vielen Menschen vor ihm ergangen ist – vor die Wahl gestellt, sich selbst zu opfern oder das Eigentum anderer zu opfern. Liebe zum Vater, Knabenstolz, die Pflichttreue, die die Wiegengabe der bürgerlichen Gesellschaft an den Armen ist – eins kam zum anderen und entschied die Wahl. Er bestand die Prüfung – freilich nicht tapfer; er heulte die ganze Zeit, während er, die Augen starr auf den Bösen und seine Höllenhunde gerichtet, zu dem Sack zurückschlich und ihn in schnellem Lauf hinter sich her die Straße hinaufschleppte.

Niemand ist ein Held, ehe die Gefahr überstanden ist. Aber auch dann fand Pelle keine Gelegenheit, über seinen eigenen Mut zu schaudern; denn als er aus dem Bereich des schwarzen Mannes heraus war und der Schrecken ihn nun hätte loslassen sollen, nahm er eine neue Form an: Wo blieb denn der Vater? Er hatte gesagt, dass er gleich wiederkommen würde! Wenn er nun gar nicht wiederkam? Vielleicht war er weggegangen, um seinen kleinen Jungen loszuwerden, der ihm nur eine Last war und es ihm erschwerte, einen Dienst zu finden.

Pelle war sich klar darüber, dass es so kommen musste, während er brüllend mit dem Sack abzog. So war es ja auch anderen Kindern seiner Bekanntschaft ergangen. Aber sie kamen an das Pfefferkuchenhaus und es ging ihnen gut und Pelle selbst wollte schon – vielleicht suchte er den König in eigener Person auf und wurde in den Palast aufgenommen und bekam die jungen Prinzen zu Spielgefährten und sein eigenes kleines Schloss, worin er wohnen konnte. Aber Vater Lasse sollte gar nichts abbekommen, denn jetzt war Pelle böse und rachsüchtig, obwohl er noch immer aus vollem Halse brüllte. Drei Tage sollte er vor der Tür stehen und anklopfen und betteln, und erst wenn er ganz jämmerlich weinte – nein, er wollte ihm doch lieber gleich erlauben hereinzukommen, denn Vater Lasses Weinen war das Schlimmste in der ganzen Welt. Aber er sollte auch nicht einen einzigen von den Nägeln haben, mit denen Pelle seine Taschen unten auf dem Zimmerplatz gefüllt hatte; und wenn die Frau des Königs ihnen den Kaffee ans Bett brachte …

Pelle hielt inne in seinem verzweifelten Weinen und in seinen glücklichen Phantasien – aus einer Wirtschaft ganz oben an der Straße kam Vater Lasse leibhaftig heraus. Er sah seelenvergnügt aus und hatte eine Flasche in der Hand.

»Dänischer Branntwein, Junge!«, rief er und winkte mit der Flasche. »Die Mütze ab vor dem dänischen Branntwein! – Aber warum hast du geweint? – So, du warst bange. Und wovor warst du bange? Heißt dein Vater nicht Lasse – Lasse Karlsson aus Kungstorp? Und mit dem ist nicht gut Kirschen essen, er schlägt hart zu, wenn er gereizt wird! Wer wird wohl kleine gute Jungs Bange machen! Pfui Deubel! Die solln ihre Eingeweide in Acht nehmen! Und wenn die ganze Welt voll brennender Teufel wär, Lasse is hier, du, und du brauchst nich bange zu sein!«

Während er so aufgebracht schalt, trocknete er zärtlich Wangen und Nase des Jungen, die vom Weinen nass waren, mit seinem rauen Handballen ab und nahm den Sack wieder auf den Nacken. Seine gebeugte Gestalt hatte etwas rührend Gebrechliches, während er prahlend und tröstend, den Jungen an der Hand, wieder nach dem Hafen hinuntertrabte. Er stolperte in den großen Schmierstiefeln, deren Strippen an der Seite heraussahen. Aus den klaffenden Taschen des alten Winterüberziehers guckte an der einen Seite das rote Taschentuch, an der anderen die Flasche heraus. Die Knie schlotterten ihm ein wenig und der Sack drohte ihn jeden Augenblick zu Boden zu drücken. Ermattet sah er aus, vielleicht trugen die großen Worte das Ihre dazu bei. Aber die Augen leuchteten zuversichtlich und er lächelte zu dem Knaben hinunter, der an seiner Hand lief.

Sie näherten sich dem Schuppen und Pelle wurde ganz kalt vor Schreck – der Mann stand noch immer da. Er floh an die andere Seite des Vaters und wollte ihn in einem großen Bogen über den Hafenplatz ziehen. »Da is er wieder!«, sagte er jammernd.

»Also der war es, der hinter dir her war?«, sagte Lasse und lachte laut. »Und dabei is er doch aus Holz. Na, du bist mir aber der tapferste Junge, der mir je vorgekommen is! Es fehlt nicht mehr viel, dann können wir dich gegen einen toten Hahn schicken, wenn du einen Stock in die Hand kriegst.« Lasse fuhr fort zu lachen und schüttelte den Jungen vergnügt.

Aber Pelle wäre am liebsten in die Erde versunken vor Scham.

Unten an der Zollbude trafen sie einen Verwalter, der zu spät zum Dampfer gekommen war und keine Leute mehr bekommen hatte. Er hielt sein Gefährt an und fragte Lasse, ob er einen Dienst suche.

»Ja, wir suchen alle beide«, antwortete Lasse übermütig. »Wir wolln auf demselben Hof dienen – wie der Fuchs zur Gans sagt.«

Der Verwalter war ein großer, kräftiger Mann und Pelle schauderte vor Bewunderung über den Vater, der so kühn mit ihm zu reden wagte.

Aber der große Mann lachte gutmütig. »Dann soll der da wohl Großknecht sein?«, sagte er und schwippte mit der Peitsche nach Pelle hin.

»Ja, das wird er sicher mal«, antwortete Lasse mit starker Überzeugung.

»Na, erst wird er wohl ein paar Scheffel Salz verzehren müssen. Aber ich brauche einen Kuhpfleger und will dir hundert Kronen das Jahr geben – wenn es dir auch verteufelt schwer werden mag, sie zu verdienen, soviel ich sehe. Für den Jungen wird wohl ein Stück Brot übrig sein, aber er muss natürlich das bisschen tun, was er kann. Du bist wohl sein Großvater?«

»Ich bin sein Vater – vor Gottes und jedermanns Angesicht«, entgegnete Lasse stolz.

»Sieh, sieh, dann muss ja doch noch ein bisschen was an dir sein – wenn du auf ehrliche Weise zu dem Jungen gekommen bist. Aber dann kriech nur herauf, wenn du deinem eigenen Wohl nicht im Weg stehen willst, ich habe keine Zeit, hier lange zu halten. So ein Angebot kriegst du nicht jeden Tag.«

Pelle fand, dass hundert Kronen eine sündhafte Masse Geld sei; Lasse, als der Ältere und Vernünftigere, hatte hingegen das Gefühl, dass es viel zu wenig wäre. Aber obwohl er sich noch nicht recht klar darüber war, hatten die Erfahrungen des Morgens seinen lichten Blick in die Zukunft arg getrübt, der Schnaps wiederum hatte ihn gleichgültig und willfähig gemacht. »Na, meinetwegen!«, sagte er mit einer großen Handbewegung. »Aber der Herr soll wissen, dass wir nicht dreimal am Tage Salzhering und Salzkartoffeln haben wollen. Eine ordentliche Kammer wolln wir auch haben und am Sonntag frei.« Er hob den Sack und den Jungen auf den Wagen und kroch selbst hintendrein.

Der Verwalter lachte. »Du bist sicher schon früher mal hier gewesen, Alter? Aber das werden wir schon schaffen; du sollst Schweinebraten mit Rosinen und Rhabarbergrütze mit Pfeffer darüber haben, sooft du nur den Mund aufsperrst.«

Sie fuhren zum Dampfer hinunter, um die Kiste zu holen, und rollten dann landeinwärts dahin. Lasse, der bald dieses, bald jenes wieder erkannte, erklärte dem Jungen alles ringsum. Von Zeit zu Zeit nahm er verstohlen einen Schluck aus der Flasche. Der Verwalter durfte es nicht sehen. Pelle fror und verkroch sich unter dem Stroh; er kroch ganz unter den Vater.

»Nimm auch ’n Schluck!«, flüsterte Lasse und hielt ihm heimlich die Flasche hin. »Aber pass auf, dass er es nich sieht, denn er is bös. Er is ’n Jude.«

Pelle wollte keinen Schnaps haben. »Was ist denn ein Jude?«, fragte er flüsternd.

»Ein Jude – herrjemine, Junge, weißt du das denn nicht? Die Juden haben doch Christus gekreuzigt. Und darum müssen sie nu über die ganze Welt wandern und Wollkram und Nadeln und so was verkaufen; und betrügen tun sie überall, wo sie hinkommen. Weißt du nich, wie einer Mutter Bengta um ihr schönes Haar betrog? Ach nee, das war wohl vor deiner Zeit – das war auch ein Jude. Er kam einen Tag, als ich nich zu Hause war, und packte seinen feinen Kram aus. Da waren Kämme und Nadeln mit blauen Glasknöpfen und die feinsten Kopftücher. Und die Weibsleute können ja gegen solchen feinen Kram nich an, sie werden so wie, ich will mal sagen, wie einer von uns, wenn uns einer ’ne Flasche Branntwein vor die Nase hält. Mutter Bengta hatte ja kein Geld, aber der verfluchte Teufel wollte ihr das feinste Kopftuch geben, wenn er ihr ’n Ende von ihrem Zopf abschneiden dürfte. Und da schneidet er ihn ganz oben im Nacken ab. Herr, du meines Lebens, sie war wie Stahl und Feuerstein, wenn sie wütend wurde – sie prügelte ihn mit dem Feuerhaken aus dem Haus raus. Aber den Zopf, den nahm er mit, und das Tuch war der reine Schund, wie’s zu erwarten war. Denn die Juden, das sind Teufel, die haben unsern Herrn Jesus … « Lasse fing wieder von vorne an.

Pelle hörte gerade noch des Vaters leise Stimme. Er sprach von Mutter Bengta, aber die war ja tot und lag in der schwarzen Erde – sie knöpfte ihm sein Leibchen nicht mehr im Rücken zu und wärmte seine Hände nicht mehr, wenn ihn fror. – So, also Rosinen taten die hier in den Schweinebraten; die mussten ja Geld wie Heu haben. Auf den Wegen lag nun zwar kein Geld herum und sonderlich fein sahen die Häuser und Gehöfte auch gerade nicht aus. Aber das Sonderbarste war, dass der Erdboden hier dieselbe Farbe hatte wie zu Hause, obwohl es ein fremdes Land war. In Tommelilla hatte er eine Landkarte gesehen, auf der jedes Land seine eigene Farbe hatte. Aber das war dann ja gelogen!

Lasses Mundwerk war schon längst stehen geblieben, er schlief, den Kopf auf dem Rücken des Jungen. Die Flasche zu verstecken hatte er vergessen.

Pelle wollte sie gerade ins Stroh schieben, als der Verwalter – der übrigens kein Jüte, sondern Seeländer war – sich umdrehte und sie erblickte. Er befahl dem Knaben sie in den Graben zu werfen.

Zur Mittagszeit erreichten sie ihren Bestimmungsort. Lasse erwachte, als sie auf das Pflaster des großen Hofplatzes rollten, und tastete mechanisch im Stroh herum. Aber plötzlich besann er sich darauf, wo er war, und wurde mit einem Ruck nüchtern. Dies also war ihr neues Heim! Das Einzige, woran sie sich halten konnten, wovon sie auf dieser Welt etwas zu erwarten hatten. Und als er sich auf dem großen Hof umsah, wo gerade die Mittagsglocke läutete und Knechte und Mägde und Tagelöhner aus allen Türen rief, da schwand sein Selbstvertrauen. Ein verzweifeltes Gefühl der Wehrlosigkeit überwältigte ihn und ließ sein Gesicht in ohnmächtiger Sorge um den Sohn erzittern.

Seine Hände bebten, als er aus dem Wagen kroch; er stand unschlüssig da, all den forschenden Blicken vom Eingang zu dem mächtigen Keller des Wohnhauses her preisgegeben. Sie machten Bemerkungen über ihn und den Jungen und lachten bereits. In seiner Verwirrung beschloss er gleich von vornherein einen so günstigen Eindruck wie möglich zu machen und fing an vor jedem Einzelnen die Mütze abzunehmen; der Knabe stand daneben und tat es dem Vater nach. Das erinnerte an die Clowns auf dem Jahrmarkt und vor dem Keller lachten sie laut und verbeugten sich nachäffend, sie fingen auch an laut zu rufen. Aber dann kam der Verwalter wieder zum Wagen zurück und sie verschwanden schnell in den Keller. Oben vom Wohnhaus her kam ein eintöniges Geräusch, das nicht aufhören wollte und dazu beitrug, die beiden zu entmutigen.

»Steht doch nicht da und stellt euch an«, sagte der Verwalter streng, »macht, dass ihr zu den andern hinunterkommt und was in den Bauch kriegt. Ihr werdet noch Zeit genug haben, ihnen Affenkomödie vorzuspielen.«

Bei diesen ermunternden Worten ergriff der Alte die Hand des Knaben und trottete langsam auf den Keller zu. In seinem Innern weinte es aus allen Quellen nach Tommelilla und Kungstorp. Pelle drängte sich ängstlich an ihn. Das Unerwartete war in beider Phantasie plötzlich zu einem bösen Untier geworden.

Unten im Kellergang klang der merkwürdig lang gezogene Laut verstärkt und es ging ihnen beiden auf, dass es das Weinen einer Frau war.

2

Der Steinhof, der in Zukunft Lasses und Pelles Heim sein sollte, war einer der größten Gutshöfe auf der Insel. Aber alte Leute erinnern sich, dass, als ihre Großeltern Kinder waren, dort nur eine Büdnerstelle mit zwei Pferden gewesen war; die hatte einem Vevest Köller, einem Enkel von Jens Kofoed, dem Befreier Bornholms, gehört. Unter ihm wurde aus der Stelle ein Bauernhof – er arbeitete sich zu Tode, gönnte weder sich noch anderen das Essen. Und die beiden Dinge vererbten sich in der Familie von einer Generation auf die andere – das schlechte Essen und das Bedürfnis, sich auszubreiten.

Die Felder in dieser Gegend waren vor nicht gar zu vielen Generationen Steine und Heidekraut gewesen; die kleinen Leute hatten die Erde gebrochen und einer nach dem anderen hatte sich totgearbeitet, um sie in gutem Stand zu halten. Rings um den Steinhof wohnten lauter Häusler und Büdner, die nur zwei Pferde hielten, Leute, die mit Schweiß und Hunger gekauft hatten und von denen man ebenso gut denken konnte, dass sie das Grab ihrer Eltern verkaufen würden wie ihren eigenen Besitz; sie hingen daran, bis sie davongingen oder bis ein Unglück über sie kam.

Aber die Familie auf dem Steinhof wollte kaufen – ständig kaufen und sich ausbreiten, und das konnte sie nur durch das Unglück anderer erreichen. Überall, wo Misswuchs, Krankheit und Unglück mit dem Vieh einen Mann schlugen, sodass er schwankte, kauften die Köller. So wuchs der Steinhof, bekam viele Gebäude und viel Gewicht; er wurde ein so gefährlicher Nachbar, wie das Meer es ist, wo es von der Erde des Landmannes zehrt, Feld für Feld, und nichts dagegen zu machen ist. So wurde einer aufgefressen und dann der Nächste; jeder wusste, dass die Reihe auch an ihn kommen würde, früher oder später. Niemand rechtet mit dem Meer; aber alles, was an Bösem und Unheimlichem über dem Leben der Armen brütete, schwebte von dort oben her. Dort hausten die Mächte der Finsternis, ängstliche Gemüter zeigten immer zum Steinhof hin. »Es ist gut gedüngter Boden«, pflegten die Leute in der Umgegend mit einem sonderbaren Tonfall zu sagen, der einen Fluch in sich schloss; weiter aber wagten sie sich nicht.

Das Geschlecht der Köller war nicht sentimental, es gedieh vortrefflich in dem trüben Licht, das so viele ängstliche Gemüter über den Hof verbreiteten – und empfand das als Macht. Die Männer liebten Trunk und Kartenspiel, aber sie tranken immer nur so viel, dass sie noch sehen und ihren Verstand gebrauchen konnten, und verspielten sie zu Anfang des Abends ein Pferd, so pflegten sie im Laufe der Nacht zwei zu gewinnen.

Als Lasse und Pelle auf den Steinhof kamen, erinnerten sich ältere Häusler noch des Bauern aus ihrer Kindheit, des Janus Köller, der mehr als alle andern Schwung in das Gut gebracht hatte. In seiner Jugend kämpfte er eines Nachts um zwölf Uhr oben im Kirchturm mit dem Bösen und überwand ihn – und von da an gelang ihm alles. Wie sich das nun verhalten haben mochte, jedenfalls ging zu seiner Zeit ein Nachbar nach dem anderen zu Grunde und Janus ging umher und übernahm deren Besitz. Brauchte er ein Pferd, so gewann er es im Dreikart – und so war es auf allen Gebieten; der Teufel legte alles für ihn zurecht. Sein größtes Vergnügen war es, wilde Pferde einzufahren, und wer zufällig in der Christnacht um zwölf geboren war, konnte ganz deutlich den Bösen bei ihm auf dem Kutschbock sitzen und die Zügel halten sehen. Ihm selber wurde ein übler Tod zuteil, wie das zu erwarten war. Eines Morgens in der Frühe kamen die Pferde allein auf den Hof gelaufen und er selber lag am Straßenrand. Er hatte sich den Kopf an einem Baum zerschmettert.

Sein Sohn wiederum wurde der letzte Steinhofbauer des Geschlechts. Er war ein toller Bursche, in dem viel Gutes steckte; wenn jemand anderer Meinung war als er, so schlug er ihn nieder, aber er half stets denen, die im Unglück waren. Auf diese Weise kam es, dass niemals jemand von Haus und Hof musste; und da es nun doch einmal in ihm lag, dass auch er das Gehöft vergrößern musste, so kaufte er Land in der Heide und zwischen den Klippen; aber er ließ es klugerweise in dem wüsten Zustand, in dem es war. Er band viele durch seine Hilfe an den Hof und machte sie so abhängig, dass sie sich nie wieder lösen konnten; die Häusler mussten ihre eigene Arbeit liegen lassen, wenn er nach ihnen schickte, und er war nie in Verlegenheit um billige Arbeitskräfte. Was der Mann bot, war kaum Armeleuteessen, aber er aß immer selber aus einer Schüssel mit den anderen. Und der Pfarrer war in seinem letzten Stündlein bei ihm, es war nichts über seinen Heimgang zu sagen.

Er hatte zwei kerngesunde Frauen totgelegen, und alles, was er davon hatte, war eine Tochter von der letzten und die war nicht ganz richtig. Schon als sie elf Jahre alt war, kam das Blut über sie – sie rannte den Männern nach und drängte sich an alle heran. Aber niemand wagte auch nur sie anzusehen, denn sie fürchteten sich vor dem Zorn des Steinhofbauern. Später verfiel sie ins strikte Gegenteil, staffierte sich mit einem Stock aus wie ein Mann und trieb sich allein draußen in den Klippen herum, statt sich mit häuslichen Arbeiten zu beschäftigen. Sie ließ niemand an sich herankommen.

Kongstrup, der gegenwärtige Steinhofbauer, war ein Fremder. Er war vor ungefähr zwanzig Jahren von anderswoher nach der Insel gekommen und bis jetzt war noch niemand aus ihm klug geworden. Er hatte damals die Gewohnheit, sich in der Heide herumzutreiben und nichts zu tun, genauso wie sie, und da war es nicht verwunderlich, dass er mit ihr zusammengeriet und sich mit ihr verheiraten musste. Aber schrecklich war es.

Er war ein seltsamer Kauz, aber vielleicht waren dort, woher er kam, die Leute so? Er hatte bald diesen Einfall, bald jenen, erhöhte den Tagelohn, ohne dass ihn jemand darum gebeten hatte, und errichtete einen Steinbruch mit Akkordarbeit. So verübte er gleich zu Anfang allerlei Narrenstreiche, überließ es den Häuslern, ob sie freiwillig zur Arbeit auf den Hof kommen wollten; es kam so weit mit ihm, dass er sie bei Regenwetter nach Hause schickte, damit sie ihr Korn bergen sollten – während das seine dastand und verfaulte. Aber die Sache ging natürlich schief und allmählich musste er seine Narrheiten wieder aufgeben.

Die Leute dort in der Gegend fanden sich in die Abhängigkeit, ohne zu murren. Vom Vater auf den Sohn waren sie es gewohnt, durch die Tore des Steinhofs ein- und auszugehen und zu verrichten, was von ihnen verlangt wurde, als seien sie Fronbauern. Dafür ließen sie die ganze Angst ihres Lebens, die finstere Mystik über den Steinhof los. Sie ließen den Teufel da oben hausen, Dreikart mit den Männern um ihre Seelen spielen – und bei den Frauen liegen; und sie nahmen die Mützen vor den Leuten vom Steinhof tiefer ab als vor anderen.

Dies alles hatte sich wohl im Laufe der Jahre ein wenig geändert, der ärgste Stachel war dem Aberglauben ausgebrochen. Aber die böse Luft, die über Herrensitzen liegt – über allen großen Anhäufungen von dem, was vielen gehören sollte –, lag auch schwer über dem Steinhof. Das war das Urteil des kleinen Mannes, seine einzige Rache für sich und die Seinen.

Lasse und Pelle witterten schnell die drückende Luft und sahen mit den furchtsamen Augen der anderen, noch ehe sie selbst etwas gehört hatten. Namentlich Lasse hatte ein Gefühl, als würde er hier nie recht froh werden, so schwer lastete es hier beständig auf einem.

Und dann das Weinen, das man sich nicht erklären konnte.

Den ganzen langen lichten Tag war das Weinen aus dem Stuben des Steinhofs herausgesickert wie der Refrain eines traurigen Volksliedes. Jetzt war endlich eine Pause eingetreten. Lasse machte sich auf dem unteren Hof zu schaffen – ihm lag noch immer der Klang im Ohr. Trübselig, ach so trübselig war dieses ewige Frauenweinen, als sei ein Kind gestorben oder als sitze eine mit ihrer Schande da. Und was konnte da schon zu weinen sein, wenn man einen Hof von mehreren hundert Tonnen Land hatte und in einem großen Haus mit zwanzig Fenstern wohnte?

»Reichtum, das ist eine Gabe von Gott,

Doch Armut, das ist eine Belohnung.

Wer den Reichtum hat,

Hat das Leben oft satt,

Der Arme, der ist immer zufrieden!«

Karna sang das drüben in der Milchstube, und, weiß Gott, das stimmte! Wenn Lasse bloß gewusst hätte, woher er das Geld für einen neuen Kittel für den Jungen nehmen sollte, hätte er keinen Menschen auf der Welt beneidet. Obwohl es ganz angenehm sein konnte, Geld für Tabak und für einen Schnaps zu haben, wenn man anderen deswegen nicht zu nahe zu treten brauchte.

Lasse glättete den Misthaufen; er war mit der Mittagsarbeit im Stall fertig und ließ sich Zeit. Dies war nun etwas, was er dazwischenschob. Hin und wieder sah er zu den hohen Fenstern empor, gab sich einen Ruck und packte zu, aber die Müdigkeit war doch stärker; eine kleine Nachmittagsruhe hätte ihm gut getan, aber er wagte es nicht. Es war still auf dem Hof, Pelle war zum Kaufmann gelaufen, um für die in der Küche etwas zu holen, alle Mannsleute waren auf dem Feld, um die letzte Sommersaat einzueggen. Man war weit zurück auf dem Steinhof.

Da kam der Landwirtschaftseleve schnuppernd aus dem Stall; er war anders herumgegangen, um Lasse von hinten zu überraschen, der Verwalter hatte ihn geschickt. »Bist du da, du fauler Polizeispion«, murmelte Lasse, als er den Eleven sah, »eines schönen Tages schlag ich dich noch tot!« Aber er zog die Mütze tief vor ihm. Der lange Eleve ging über den Hof, ohne ihn anzusehen, und fing an mit den Mädchen unten im Brauhaus zu schäkern. Das ließ er hübsch bleiben, wenn die Knechte zu Hause waren – das Gespenst!

Kongstrup trat oben auf die Treppe hinaus, er blieb eine Weile dort stehen und sah nach dem Wetter, dann ging er auf den Kuhstall zu. Herrgott, was für eine Gestalt – er füllte die ganze Stalltür aus. Lasse stellte die Mistgabel weg und eilte ihm nach, um zur Hand zu sein.

»Na, wie geht’s, Alter?«, fragte der Gutsbesitzer freundlich. »Wirst du mit deiner Arbeit fertig?«

»Ach ja, das geht woll«, sagte Lasse. »Aber viel kann man ja nich machen. Es ist ’n großer Viehbestand für einen Mann.«

Kongstrup blieb stehen und befühlte das Hinterteil einer Kuh. »Du hast ja den Jungen zur Hilfe, Lasse. Wo ist der übrigens? Ich sehe ihn nicht.«

»Er ist für die Frauenzimmer zum Kaufmann.«

»So – wer hat ihn denn geschickt?«

»Die Frau selber, glaub ich.«

»Hm – ist er schon lange weg?«

»Ach ja, er muss wohl bald wieder hier sein.«

»Halt ihn an, wenn er kommt, und schick ihn mit den Einkäufen zu mir herauf – hörst du?«

Pelle war nicht wohl zu Mute, als er zum Arbeitszimmer des Gutsherrn ging; die Frau hatte ihm außerdem befohlen die Flasche gut unter der Bluse zu verstecken. Das Zimmer war sehr hoch, an den Wänden hingen feine Jagdgewehre und oben auf einem Bord standen Zigarrenkisten, eine über der anderen, bis an die Decke – als wenn es ein Tabakladen wäre. Aber das Sonderbarste war doch, dass sie eingeheizt hatten, jetzt mitten im Mai – und die Fenster offen standen. Sie wussten wohl nicht, wo sie all ihr Geld lassen sollten! Wo wohl die Geldkisten standen?

Dies alles und noch viel mehr beobachtete Pelle, während er auf seinen nackten Füßen an der Tür stand und vor lauter Verlegenheit die Augen nicht aufzuschlagen wagte.

Da drehte sich der Großbauer auf seinem Stuhl herum und zog ihn am Kragen zu sich heran. »Lass doch mal sehen, was du da unter der Bluse hast, kleiner Kerl«, sagte er freundlich.