Perfect – Spüre die Angst - Rose-Lise Bonin - E-Book

Perfect – Spüre die Angst E-Book

Rose-Lise Bonin

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Beschreibung

***SHORTLIST: Nominiert für den tolino media Newcomerpreis 2023 - unter den Top 10 Selfpublishing-Titeln!***

Stell dir vor, du könntest Verbrecher die Todesangst ihrer Opfer spüren lassen – würdest du deine größten Träume aufgeben, um andere zu retten?

Die 24-jährige Emma Miller steht kurz davor, endlich die neue Moderatorin des TV-Magazins Best of Today zu werden. Doch stattdessen ergattert der selbstgefällige Kris Norman ihren Traumjob. Ist es Zufall, dass Emma sich am nächsten Tag an nichts erinnern kann und plötzlich übernatürliche Kräfte besitzt? Blitzschnell, unglaublich stark und mit der Fähigkeit, Menschen in Not die Angst zu nehmen, wird sie zur Superheldin White Knight. Während der schüchterne Kameramann Luke Lawson ihr dabei hilft, ihre zweite Identität geheim zu halten, macht sie sich als Heldin allerdings nicht nur Freunde. Für Emma wird es immer gefährlicher, ein Doppelleben zu führen. Wie lange kann sie noch White Knight bleiben, ohne ihre größten Träume und sogar sich selbst zu opfern?


Marvel- und DC-Fans aufgepasst: Perfect – Spüre die Angst ist perfekt für euch, wenn ihr fesselnde Geschichten mit starken Frauen als Superheldinnen mögt und das neue Crossover-Genre New Adult Fantasy feiert!

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Rose-Lise Bonin

Perfect – Spüre die Angst

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Copyright: Rose-Lise Bonin 2022 RLB Autorin Hackenängerstr. 22, 85221 [email protected]

Lektorat: Textmanufaktur Wortgewandt, Franziska Riedel,textmanufaktur-wortgewandt.de Coverdesign: Christin Giessel, Giessel Design, www.giessel-design.de Buchsatz: Annerose Wahl

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Als Deutsch-Französin 1997 an der Côte d’Azur geboren, entdeckte Rose-Lise Bonin mit elf Jahren die Liebe zum Geschichtenerfinden. Immer ihrer Zeit voraus absolvierte sie als 16-Jährige das Abitur. Ihr Debüt als Romanautorin machte sie mit der Science-Fiction-/Fantasy-Trilogie Zeitsprung, die ihre Leidenschaft für außergewöhnliche Charaktere entfachte. Diese Faszination entwickelte sich während ihres Studiums weiter und fand nicht zuletzt in ihrer Arbeit zur Diversity im Superheldengenre Ausdruck, mit der sie 2019 ihren International Master of Arts abschloss. Schon seit 2016 schreibt sie Texte und Drehbücher für Radiobeiträge, TV-Produktionen und Digitalredaktionen, u. a. die Augsburger Allgemeine, fernsehserien.de, NBCUniversal und Constantin Entertainment. Mit ihrem neuen Roman Perfect – Spüre die Angst verfolgt Rose-Lise Bonin ihren größten Traum weiter, ihre Leser:innen mit Geschichten über besondere Menschen zu inspirieren.

www.rlb-autorin.de

Für meine Familie.

OKTOBER

Kennst du diese Menschen, die einfach … perfekt sind?

Zumindest wirken sie so.

Das Gesicht ist makellos symmetrisch, der Körper wie auf den Millimeter genau proportional zugeschnitten. Du kannst dich gar nicht dagegen wehren, dass dir beim Anblick dieser Menschen die Kinnlade herunterfällt.

Und dann dieses Lächeln.

Es lässt dich von einer Sekunde auf die nächste alles um dich herum vergessen: Für diesen kurzen Augenblick, der sich aber wie eine Ewigkeit anfühlt, zählt nur dieses Strahlen, das dich genau wie das der glühend heißen Sommersonne von innen aufheizt.

Diese Augen, die dich schon allein durch ihre verzaubernde Smaragdfarbe in den Bann ziehen, blicken dich an, als ob du in diesem Moment das Einzige auf der Welt, nein, im gesamten Universum wärst, das von Bedeutung ist.

Doch dann schauen diese Menschen weiter. Sie wenden sich von dir ab und schenken dem Nächsten für einen viel zu kurzen, wundervollen Augenblick des sprachlosen Staunens und der absoluten Bewunderung das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Und wie fühlst du dich dann?

Allein, vergessen, zurückgelassen in einer schattigen Welt ohne Licht, Strahlen und Sonnenschein. Du beginnst, verzweifelt zu versuchen, diesem Ideal nahezukommen. Jeden Tag stehst du auf, kämpfst und bemühst dich – aber ohne Erfolg.

Manchmal streckst du deine Fingerspitzen in Richtung Sonne, nur um ganz kurz ein klein wenig Wärme zu spüren. Ja, jetzt bist du gleich da, du hast sie fast erreicht … diese Perfektion.

Dann, genau in diesem Moment, dehnt sich der Schatten, in dem du auf ewig gefangen zu sein scheinst, weiter aus. Erneut ist dein Ziel bloß ein weit entfernter, schwacher Strahl am Ende eines holprigen, dunklen, anstrengenden Weges.

So geht es mir tagtäglich.

Natürlich versuche ich es wieder. Dann wieder. Und wieder. Aber ich schaffe es nicht. Mein Weg hat kein Ende. Es ist ein Kreis, der mich in der Illusion gefangen hält, dass ich irgendwann einmal so sein könnte wie sie, diese perfekten Menschen … genau wie du.

Diesen Kreis will ich durchbrechen.

Ich will die Sonne spüren. Nein, ich will sie sein! Ich will den anderen im Schatten diesen Moment bescheren, für einen kurzen Augenblick in ihrem Leben Perfektion gesehen und erlebt zu haben. Ich werde beweisen, dass wahre Perfektion nicht unerreichbar ist – sondern nur eine Frage der Perspektive.

Dann werde ich endlich in der Sonne aufgehen und du wirst im Schatten versinken.

Mach dich auf etwas gefasst: Dein PERFEKT endet jetzt.

»Ist sie bald so weit?« »Ja, es könnte jederzeit passieren. Ich denke, vielleicht sogar schon heute.« »Warum?« »Weil sie etwas Unerwartetes erleben wird. Das könnte alles in Gang setzen.« »Bist du denn so weit?« »Natürlich, wie immer. Ich werfe die Schnur ins Wasser, mit mir als Köder – ganz nach Plan.« »Gut. Dann legen wir los.«

MONTAG

»Willkommen beiBest of Today!Heute präsentieren wir Ihnen wieder die besten Themen des Tages und mein Name ist …« Zwei dicke weiße, senkrechte Striche erschienen auf einmal mitten auf der großen Leinwand, sodass die Bewegung von Zunge, Lippen und Mund augenblicklich erstarrte.

»Null Emotion. Begrüßt man so etwa seine Zuschauer?«, ergriff Robert Red das Wort in der betäubenden Stille der Redaktion und legte dabei die Fernbedienung, mit der er kurz zuvor die aufgezeichnete Sendung pausiert hatte, auf den kleinen Beistelltisch links neben sich. »Kein Wunder, dass der Sender uns die letzten vier Wochen aus dem Programm genommen hat.« Enttäuscht schüttelte Robert den Kopf und schnaubte laut, bevor er in die versammelte Runde schaute. »Aber … wir haben aus unseren Fehlern gelernt und jetzt werden wirdieSendung des Tages werden, die man auf keinen Fall verpassen will!« Roberts dunkelbraune Augen funkelten aus tiefster Überzeugung. Er versuchte, alle mit seinem Feuer der Willenskraft und Motivation anzustecken. Langsam ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, bis dieser zufällig bei Emma landete.

Vielleicht war es bloß Einbildung, aber er schien sie einen Tick länger als die anderen anzusehen. Dann führte er seinen sorgfältig vorbereiteten Auftritt fort.

»Man muss die Menschen an den Schultern packen, ihnen ihr eigenes Herz herausreißen und es ihnen auf einem Silbertablett servieren, damit sie heutzutage noch irgendetwas fühlen. Wir wollen Emotion. Wir wollen das Prickeln, das Zucken, das Feuer in ihnen entfachen! Nur so können wir sie davon überzeugen, nicht umzuschalten.«

Allein mit der Kraft seiner Bruststimme gelang es Robert, seine ganze Energie in den Raum zu entladen. Sein Charisma zog alle in den Bann und ließ ihn noch ambitionierter und dynamischer wirken als sonst.

»Leider ist uns das aber schon lange nicht mehr gelungen. Deshalb kommen jetzt einige drastische Änderungen auf uns zu. So wird es ab diesem Herbst nur noch eine statt zwei Wochenendausgaben geben und unsere Sendezeit wurde um eine Viertelstunde verkürzt. Vermutlich habt ihr spätestens heute auch mitbekommen, dass unser bisheriger Moderator nicht mehr Teil des Teams ist.« Mit symbolträchtiger Geste schaltete Robert den Beamer neben sich aus, sodass die eingefrorene Momentaufnahme von der Bildfläche verschwand. »Das bedeutet aber auch, dassBest of Todayab heute ein neues Gesicht hat.«

Erneut fiel Roberts Blick auf Emma – dieses Mal war es bestimmt kein Zufall.

»Best of Todaymuss bis zum Ende des Jahres doppelt so viele Zuschauer verzeichnen wie vor der Sommerpause. Sonst … werden wir noch vor Weihnachten abgesetzt«, verkündete Robert so trocken wie bei einem Gerichtsurteil, »und zwar endgültig.« Daraufhin ließ er für die überraschten »Ohs« und das ängstliche Gemurmel gerade genug Zeit verstreichen, um seiner Rede mehr Dramatik zu verleihen. »Aber«, setzte Robert mit erhobener Stimme erneut an, sodass die Gespräche augenblicklich verstummten, »dazu wird es nicht kommen. Denn zusammen werden wir unser Bestes geben, umBest of Todayzur besten Sendung zu machen, die Groben City je gesehen hat!«

Gerade noch von Unsicherheit geplagt, bejubelten sie alle mit euphorischen Rufen ihren Chef: Praktikanten, Redakteure, Sprecher, Schnitt- und Kameraleute.

Nur Emma blieb still und wartete ab. Robert hatte noch nicht das Ende seiner Rede erreicht.

Er hob seine Handflächen hoch und gab dem Team damit zu verstehen, sich etwas zu beruhigen, bevor er den letzten und wahrscheinlich wichtigsten Teil seiner Ankündigung anging:

»Nicht nur unsere Geschichten müssen packender, spannender und unterhaltsamer werden – auch das Gesicht vonBest of Todaymuss beim Zuschauer Emotion hervorrufen. Es muss jemand sein, der das Publikum mit seinen Worten an die Hand nimmt und durch diese verrückte Welt führt. Jemand, auf den sich die hart arbeitenden Menschen hier in Groben City am Ende ihres Tages freuen können. Jemand, der außergewöhnlich und zugleich genauso einfach gestrickt ist wie der Zuschauer selbst.« Nun hatte Robert wieder die volle Aufmerksamkeit aller Versammelten. »Deswegen freue ich mich sehr, euch jetzt offiziell das neue Gesicht vonBest of Todayvorstellen zu dürfen.«

Ba-bam. Ba-bam. Ba-bam.

Emma saß gefasst auf ihrem Platz. Sie strahlte Ruhe und Besonnenheit aus – dabei schlug ihr Herz wild in ihrem Brustkorb, sodass das Blut in Höchstgeschwindigkeit durch ihre Adern gepumpt wurde und sie ihre Hände fest umschlossen halten musste, damit sie nicht vor Nervosität zitterten.

Sie hielt den Blick konzentriert auf ihren Chef gerichtet und zauberte ein ganz leichtes, freundliches Lächeln der Vorahnung auf ihr Gesicht.

Wie in Zeitlupe hob Robert in einer begrüßenden Geste seinen Arm mit ausgestreckter Hand in ihre Richtung. Sein Blick folgte der Bewegung und für einen Moment schloss Emma die Augen und nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie sie wieder weit und voller Erwartung öffnete.

»Kris Norman: Willkommen beiBest of Today!”, schallten Roberts Worte durch den gläsernen Konferenzraum. Für Emma glichen sie eher dem Nachklang abgefeuerter Schüsse.

Sie begriff noch nicht ganz, was gerade vor sich ging. Um sie herum klatschten und freuten sich ihre Kollegen. Einige drehten sich um, andere standen auf und kamen in ihre Richtung. Doch statt Emma zu beglückwünschen, blickten oder gingen sie einfach an ihr vorbei.

Emma ließ die angestaute Luft entweichen und versuchte, sich ihr inneres Gefühlschaos nicht anmerken zu lassen. Sie zwang sich, die Fassung zu bewahren, während sie einen raschen Blick über die Schulter wagte. Der Neuling war zwischen ihren Kollegen kaum zu erkennen und drehte Emma den Rücken zu. Doch sie hatte genug gesehen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen.

Deshalb richtete sie ihren Blick nun lieber auf Robert, der diesem sofort auswich, seine Unterlagen einsammelte und eilig den Konferenzraum verließ.

Emma zögerte nicht. Sie stand auf und quetschte sich an den entgegenkommenden Mitarbeitern vorbei, um ihrem Chef zu folgen.

Im Hintergrund hörte sie die Stimme des Neulings:

»Danke euch, ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit. Wir werden bestimmt ein tolles Team werden, dasbesteTeam!«

Die Welle an Lachern verstummte mit einem Mal, als Emma die milchige Glastür von Roberts Büro hinter sich schloss.

»Warum?« Ihre Stimme klang stark, kontrolliert, gefasst. Emma war auch nicht empört oder enttäuscht. Zuerst brauchte sie eine Antwort auf ihre Frage, um zu verstehen, was gerade geschehen war – erst danach könnte sie sich mit ihren Gefühlen auseinandersetzen.

Hinter seinem mit allerlei Papierfetzen und alten Kaffeetassen übersäten Schreibtisch wirkte Robert auf einmal gar nicht mehr so charismatisch und energisch wie nur wenige Augenblicke zuvor. Er kramte durch seine Unordnung und blickte weder zu Emma hoch noch beantwortete er ihre Frage.

»Robert«, forderte Emma ihn direkt auf und stützte sich dabei mit den Händen auf seinen Schreibtisch, »du schuldest mir eine Erklärung: Warum?«

Statt einer Antwort gab Robert einen tiefen Seufzer von sich. Dann ließ er sich erschöpft auf seinen Bürostuhl sinken. Mit seinem Zeige- und Mittelfinger rieb er sich nervös die Stirn und schien zu überlegen, ob er lügen oder einfach die Wahrheit sagen sollte.

»Ich hatte keine Wahl!«, platzte es auf einmal aus ihm heraus. »Ich weiß, ich hatte dir die Stelle versprochen, aber … sie wollten die Sendung absetzen! Ich wollte doch nur das Beste für alle …«

»Nicht für mich«, unterbrach ihn Emma, noch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte.

Sie wendete ihren Blick nicht von Robert ab: Sie suchte Augenkontakt, sie wollte, dass er sich ihr stellte und sichnicht länger hinter seinen Ausreden versteckte.

»Emma, es tut mir leid …«, brachte Robert nur heraus und hielt seinen Blick immer noch nach unten gerichtet.

Während Emma sich bemühte, mit ihrem Auftreten den Anschein von Selbstsicherheit und Stärke aufrechtzuerhalten, fühlte sich ihr Herz wie eine angebrochene Porzellanschüssel an, die kurz davor war, in tausend Stücke zu zerspringen.

»Was tut dir leid? Dass du mir etwas versprochen hast, was du nicht gehalten hast? Oder dass du wirklich glaubst, dass unsere Zuschauer schon wieder ein Ex-Male-Model mit einem Kilo Gel in den Haaren und aufgeplusterten Muskeln sehen wollen, das mit unserer Sendung nur ein kleines, neues Abenteuer sucht?!«, fragte Emma bestimmt. Sie hatte bereits genug Fehlentscheidungen miterlebt, um zu wissen, wovon sie sprach.

Tatsächlich lösten ihre scharfen Worte etwas in Robert aus, der nun wild den Kopf schüttelte und Emmas Blick endlich begegnete.

»Emma«, sagte er dabei und sah ihr tief in die Augen, »ich schätze dich sehr und das weißt du. Du arbeitest schon länger hier als alle anderen. Und härter. Aber mittlerweile müsste auch dir klar sein, dass wir nicht nur informieren oder unterhalten, sondern verkaufen wollen. Wenn sich niemand unsere Sendung ansieht, dann sind unsere Werbepausen unattraktiv. Und das heißt, wir kriegen kein Geld. Ich glaube kaum, dass irgendjemand hier freiwillig arbeiten wird, ohne dafür bezahlt zu werden – dich miteingeschlossen.«

»Ja, das weiß ich, Robert. Aber du hattest es mir versprochen. Du hattest mir die Stelle zugesagt! Und warum sollte ich nicht dafür sorgen können, dass mehr MenschenBest of Todaysehen und das Geld reinkommt?«, forderte Emma ihren Chef heraus.

»Weil du einfach … perfekt bist!«

Emma richtete sich auf und runzelte verwirrt die Stirn.

Hatte sie sich verhört? Das ergab keinen Sinn. Wie konnte das ein Grund sein?

Erleichtert schnaufte Robert durch, während er seine angespannten Schultern lockerließ. Er sammelte sich noch einen Augenblick und schaute dann zu Emma hinauf.

»Unsere Zielgruppe ist jung und weiblich. Über siebzig Prozent unserer Zuschauer sind Frauen. Wir können es uns nicht leisten, sie zu verlieren! Und was meinst du: Schalten sie ein, wenn ich ihnen diese wunderschöne, bewundernswerte, ja, perfekte junge Frau vor die Nase setze? Nein. Aber auf einen charmanten, gut gebauten Kerl, der ein Hollywood-Lächeln draufhat – auf den freuen sie sich definitiv am Ende ihres langen Arbeitstags.«

Emma wusste gar nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie war sprachlos. In diesem Moment drehten sich ihre Gedanken nur darum, was sie alles in den letzten Jahren, nein, in ihrem gesamten Leben, geleistet hatte, um dieses eine glorreiche Ziel zu erreichen: Die etlichen Jobs neben ihrem Studium, um sich die Sprachcoachings, Weiterbildungen, Moderationskurse zu finanzieren; das Geld, das sie darin investiert, und die Zeit, die sie dafür gegeben hatte; einfach alles hatte Emma geopfert, um Moderatorin zu werden. Seit über zwei Jahren arbeitete sie sich beiBest of Todayhoch und war mehr als genug dafür qualifiziert, es bis nach ganz oben zu schaffen. Und nun wurde ihr der nächste Schritt verwehrt, weil sie …perfektwar?

Nun war Emma diejenige, die Roberts Augenkontakt mied und in Gedanken vertieft auf den unbequemen Plastikstuhl ihm gegenüber sackte.

Daraufhin stand Robert auf, wanderte um seinen Schreibtisch herum und legte mitfühlend seine Hände auf Emmas Schultern.

»Emma, ich schätze dich sehr als Redakteurin. Du bist wirklich großartig. Irgendwann wird deine Chance kommen. Aber jetzt brauchen wir einfach Kris, um unsere Sendung zu retten«, versuchte Robert sie mit oberflächlichen Komplimenten zu trösten.

Doch genau das brauchte Emma, um aus der Dauerschleife der Gedanken an ihre vergangenen Entscheidungen zu erwachen. Robert wiegte sich in der Sicherheit, in dieser Situation die Oberhand zu besitzen. Doch er täuschte sich.

Emma stand entschlossen und mit voller Körperspannung auf, um sich aus der demütigenden Lage zu befreien, und drehte sich zu ihrem Chef.

»Du schuldest mir was, Robert.« Für Emma war das keine Frage, sondern eine klare Feststellung. Durch den leichten Absatz ihrer Schuhe befand sie sich fast auf Augenhöhe mit Robert, sodass sie ihn mit ihrem fest entschlossenen Blick ganz in ihren Bann ziehen konnte. »Ich will zehn Prozent mehr. Und die besten Geschichten.«

Robert war überrascht und nicht darauf vorbereitet, mit ihr zu verhandeln. Genau das nutzte Emma aus.

»Also das ist viel zu viel, Emma. Wir haben Budgetkürzungen und …«, Robert schnappte nach Luft, sah sie an und merkte sofort, dass er damit bei ihr nicht weit kommen würde. »Drei Prozent – höchstens! Und du bekommst ja sowieso schon meistens die besten Storys!«, antwortete Robert.

Emma merkte, dass er sich etwas bedrängt fühlte – umso besser. Sie legte ein kühles Lächeln auf ihr Gesicht.

»Acht Prozent – mindestens. Vergiss nicht, dass du mir etwas versprochen hast, was du nicht halten konntest. Das schuldest du mir«, wiederholte sie ihre Forderung mit Nachdruck.

Dabei blickte sie ihm tief in die Augen, in dem Wissen, damit einen Nerv bei ihm zu treffen. Viele hielten Robert für stark und unantastbar, doch Emma kannte ihn schon lange genug, um seine wirklichen Schwächen zu erkennen – und daraus ihre Vorteile zu ziehen. So wusste sie genau, dass Robert als arbeitsbesessener Redaktionschef oft seine Versprechen gegenüber seinen Kindern brach, was ihm stets ein schlechtes Gewissen bescherte. Dieses machte sich gerade in Form zweier senkrechter Falten zwischen seinen Augenbrauen bemerkbar.

»Sieben Prozent. In Ordnung?«, brachte er mit gedämpfter Stimme hervor und gab damit seine Niederlage zu.

Emma ließ sich absichtlich einige Sekunden länger Zeit, bevor sie zum Einverständnis nickte. Robert atmete hörbar erleichtert auf.

»Dann mache ich mich mal an die Arbeit«, erklärte Emma und versuchte, zufrieden zu wirken, obwohl der finanzielle Ausgleich nur ein kleines Trostpflaster für ihren zerplatzten Traum darstellte.

Dann drehte sie sich um, um das Büro ihres Chefs zu verlassen.

»Da wäre noch eine Sache …«, hörte sie Robert auf einmal rufen, als Emma bereits nach der Türklinke griff.

Überrascht blickte sie zu ihm zurück und bemerkte deshalb nicht, dass genau in diesem Moment die milchige Glastür von außen geöffnet wurde.

Im nächsten Augenblick traf die harte Türkante ihren Hinterkopf.

»Oh Mann, oh Mann, das tut mir jetzt echt leid! Ist alles okay?«

Emma fasste sich zähneknirschend an die pochende Stelle, die sich in Kürze vermutlich in eine große Beule verwandeln würde.

»Ach, das kommt doch gerade gelegen«, verwendete Robert etwas unglücklich gewählte Worte.

Zwar erholte Emma sich langsam von dem Aufprall und öffnete wieder die Augen, doch noch hielt sie ihren Blick auf den Boden gesenkt. Dort zeichnete sich der Schatten einer Gestalt ab.

»Emma, das ist Luke Lawson – heute ist sein erster Tag bei uns als neuer Kameramann! Da du ja ein alter Hase bist, dachte ich mir, dass es dir bestimmt nichts ausmacht, mit ihm zusammenzuarbeiten. So bekommt er schnell ein gutes Gefühl dafür, wie es bei uns läuft«, stellte Robert mit froher Miene den Übeltäter vor.

Noch immer versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen und ihren dröhnenden Kopf zu besänftigen. Robert war wohl entgangen – oder er ignorierte es einfach –, dass Emma es bisher nicht einmal geschafft hatte, hochzublicken.

In diesem Moment bereute sie, sich nur mit sieben Prozent zufriedengegeben zu haben.

»Mann, sorry! Das tut mir so leid! Kann ich dir irgendwie helfen?«, hörte Emma die fremde Stimme sagen. Gleichzeitig tauchte eine ausgestreckte, helfende Hand mit langen, dünnen Fingern vor ihrem Gesicht auf.

Emma hob den Blick und erschrak fast beim Anblick des riesigen Wuschelkopfes, der ihr gesamtes Sichtfeld ausfüllte.

Luke wirkte mit seinem ganzen Aussehen eher wie ein zu groß gewachsener Junge als ein erwachsener Mann. Emma schätzte ihn etwas jünger als sie, um die Anfang zwanzig. Die schweren, goldblonden Locken stellten für sein schmales Gesicht einen viel zu dicken Rahmen dar und ließen ihn damit noch kindlicher wirken, als seine Kleidung es sowieso schon tat: Das rot-karierte XXL-Hemd und die abgenutzte, ausgeleierte dunkle Jeans umhüllten seinen schlaksigen Körper wie Kartoffelsäcke. Hinter seiner dunkelbraunen, runden Brille versteckten sich helle, karamellbonbonähnliche Rehaugen, die sein schlechtes Gewissen gerade besonders zum Ausdruck brachten.

»Keine Sorge, mir geht’s gut. Ich bin Emma Miller«, stellte sie sich höflich vor und streckte zur Begrüßung die Hand aus. Luke zögerte noch kurz, bevor er schließlich mit einem erleichterten Seufzer Emmas Hand schüttelte. Sie war positiv überrascht: Für jemanden, der auf den ersten Blick ziemlich tollpatschig und unsicher wirkte, hatte er einen erstaunlich festen Händedruck.

»Es freut mich wirklich, dass ihr euch gut versteht, aber … ich habe viel zu erledigen, also …?«, unterbrach Robert die Begrüßung. Er saß schon längst wieder an seinem Schreibtisch und war hinter den vielen Papierhaufen vollkommen auf seinen Computerbildschirm fokussiert, als er abwesend mit einer leichten Handbewegung zur Tür winkte. »Emma, du kümmerst dich dann um den Beitrag zur Lady-Killer-Gang, ja?«, fügte Robert beiläufig hinzu – als ob dieser Tag wie jeder andere wäre und er nicht gerade ihren jahrelang mühsam aufgebauten Lebensplan wie ein Kartenhaus mit nur einem Fingerschnipsen zu Fall gebracht hatte.

Für einen kurzen Augenblick überlegte Emma, hier und jetzt alles aufzugeben, Robert und damit auch der Sendung den Rücken zu kehren und ihr Ziel ganz einfach für unerreichbar zu erklären.

Doch das war nicht ihre Art. Stattdessen lächelte sie höflich, gab ihm ein kurzes »Ja« als Antwort und drehte sich um.

Luke wich zur Seite und ließ ihr wie ein Gentleman den Vortritt. Emma bedankte sich mit einem Lächeln, was den schmalen, honigfarbenen Kreis um seine dunkle Pupille herum zum Leuchten zu bringen schien. Dann folgte er ihr nach draußen in den großen, offenen Redaktionsraum.

»Heute ist also dein erster Tag. Was hat man dir denn alles schon zu den Abläufen hier erzählt?«, erkundigte Emma sich, während sie den Weg in Richtung ihres Schreibtisches einschlug.

»Ähm, na ja … nicht wirklich viel«, antwortete Luke schüchtern und schüttelte den Kopf. An seinem langgezogenenSchatten erkannte Emma, wie seine Locken dabei von einer Seite zur anderen wippten. Er war groß, bestimmt zwei Köpfe größer als sie, sodass seine Silhouette die ihre komplett zu verschlucken schien.

Seine Antwort wunderte Emma nicht: Diese Aufgabe blieb meistens an ihr hängen.

»Okay, dann holen wir das mal nach. Hier beiBest of Todaygeht es weniger um die klassischen Nachrichten, sondern vielmehr um die interessantesten, skurrilsten, einfach die spannendsten Geschichten des Tages. Wir berichten genauso engagiert über organisierte Kriminalität wie über das angesagteste Café der Stadt«, begann Emma mit der allgemeinen Vorstellung des Formats. Daraufhin blieb sie neben dem gläsernen Konferenzraum, der in der Mitte des Stockwerks platziert war, stehen und zeigte auf das Großraumbüro vor sich. »Vor uns siehst du die Redaktion. Hinter uns sind ein paar einzelne Büroräume und auch der Schnitt. Ein eigenes Studio haben wir leider nicht – das müssen wir uns mit den Nachrichten teilen. Aber dafür gehört uns dieses ganze Stockwerk!« Emma war über diesen Zustand sehr erfreut – sie hatte noch die Zeiten erlebt, als sich die Redaktion die Räumlichkeiten mit einer Koch-Show teilen musste. Ständig wurden neue Rezepte ausprobiert – aber das nicht immer mit Erfolg. Emma vermisste den beißenden Rauch und Gestank von angebranntem Essen nicht. »Best of Todaywird jeden Tag, neuerdings bis auf den Samstag, live um neunzehn Uhr ausgestrahlt. Sonntags läuft um zwölf Uhr dann immer die SonderausgabeBest of the Week, die die Geschehnisse der Woche zusammenfasst. Unsere Berichte sind eigentlich immer tagesaktuell. Das heißt, wir Redakteure gehen mit euch Kameraleuten raus und die Beiträge werden dann am selben Tag aufbereitet und ausgestrahlt. Mich eingeschlossen sind wir sechs Redakteure, sonst gibt es noch die Kamera-Crew, Cutter und Sprecher vom Sender und Praktikanten, wie Ann hier zum Beispiel«, Emma winkte ihr beim Vorbeigehen freundlich zu, »und natürlich … unseren Moderator.«

Es versetzte ihr einen kurzen Stich ins Herz, diese Worte laut aussprechen zu müssen und dabei ausgerechnet auf den Hinterkopf der Person zu blicken, die für diesen Schmerz mitverantwortlich war.

Noch hatte sie das neue Gesicht vonBest of Todaynicht gesehen. Einige ihrer Kollegen tummelten sich mit breitem Lächeln und flackernden Augen um den dunkelhaarigen Schönling schräg gegenüber von ihrem Schreibtisch. Emma zögerte kurz, ob sie ihn ansprechen sollte. Doch dann drehte sie sich weg, zurück zu Luke und blickte in seine leuchtenden, freundlichen Augen.

Auch wenn sein ganzes Aussehen nur so vor Naivität strotzte, strahlte er mit seinem Blick eine gewisse Reife und Erfahrung aus. Emma war neugierig, was wohl dahintersteckte. Bei ihrer Zusammenarbeit würde sie das bestimmt früh genug herausfinden.

»Jetzt ist es kurz nach zehn. Ich brauche bestimmt noch eine Stunde, bevor wir loskönnen, um uns ein paar Bilder für den Beitrag zu sichern. Bis dahin kannst du gerne schon mal alles vorbereiten: Kamera, Auto und das ganze Drumherum«, wies Emma Luke an, als sie an ihrem Schreibtisch ankamen.

»Klar, mach ich! Danke dir für die Tour,« erwiderte er mit einem schmalen, warmen Lächeln, »und tut mir echt noch mal leid wegen vorhin …«

Emma drehte sich kurz um, um ihren Computer zu entsperren.

»Keine Sorge, mir geht’s ja …«, begann sie ihren Satz, doch als sie sich zurückwendete, war Luke nicht mehr vorzufinden, »… gut«, sagte sie abschließend in die Leere.

Zuerst war Emma irritiert. Aber dann entdeckte sie schon seinen wippenden Wuschelkopf, als er sich zu den anderen wartenden Kameraleuten im Gemeinschaftsraum bei der Küche gesellte.

Emma hoffte bloß, dass er sich bei der Arbeit nicht so schnell ablenken ließ.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und wollte mit ihrer Recherche für den Beitrag starten, als sie ein mulmiges Gefühl überkam.

Ihr war nicht schlecht oder unwohl. Es war eher der Schock, in den altbekannten Trott der Gewohnheit zurückzukehren, der sie ins Stocken brachte.

Das Stechen in ihrer Brust wurde intensiver und nun auch noch von einem Gefühl der Enge begleitet. Obwohl es im Büro nicht stickig war, bekam Emma schlecht Luft und begann, schneller und unregelmäßiger zu atmen. Ihr wurde klar: Sie konnte nicht länger den Bildschirm anstarren und weiter so tun, als ob ihr Traum nicht gerade wie ein prallgefüllter Ballon zerplatzt wäre.

Sie musste herunterkommen, ihre Gedanken ordnen, um sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren zu können: Sie brauchte einen Moment der Ruhe.

Mit einem kurzen Rundumblick ging Emma sicher, dass ihre Kollegen beschäftigt waren, bevor sie den Weg in Richtung Toiletten einschlug.

Als sie dort ankam, schlüpfte sie stattdessen schnell in einen der gegenüberliegenden Aufzüge und drückte auf den obersten Knopf.

Nur wenige Sekunden später bewunderte Emma ihren absoluten Lieblingsausblick. Um sie herum streckten sich die Hochhäuser von Groben City zum Himmel empor. Es war leicht bewölkt, trotzdem brachten die reflektierenden, schimmernden Sonnenstrahlen die gläsernen Gebäude zum Glitzern.

Emma liebte diesen Ort. Hier auf der Dachterrasse hatte man einen fantastischen Ausblick auf ganz Groben City, während man sich selbst im Herzen der Stadt befand.

Manche würden die in dutzenden Grautönen gefärbten Gebäude bestimmt nicht als schönen Anblick bezeichnen. Doch Emma beruhigte deren Stetigkeit und Stabilität, mit denen sie auch den stärksten Winden trotzten.

Hier zu sein, gab ihr das Gefühl zurück, den Durchblick zu haben.

Sie näherte sich dem Geländer, das sie vor einem freien Fall bewahrte, und atmete tief ein und wieder aus. Sie hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die lauwarme Oktobersonne, während kühle Windstöße sie leicht frösteln ließen. Aber das störte sie nicht. Emma hoffte, dass der Atem der Natur ihre ganze Enttäuschung, Wut und Verletzung einfach mit sich davontragen würde.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

Emma erschrak nicht. Sie hatte geahnt, dass man ihr früher oder später Gesellschaft leisten würde – nurihnhatte sie nicht erwartet.

»Du musst Emma sein, oder? Ich habe schon viel von dir gehört.«

»So viel kann das gar nicht gewesen sein. Du bist ja erst seit heute da, nicht wahr … wie war noch mal der Name?«, erwiderte Emma nonchalant und drehte sich in seine Richtung.

»Kris Norman«, stellte sich derjenige vor, der ihr den Traumjob vor der Nase weggeschnappt hatte.

Natürlich hatte sie seinen Namen nicht vergessen. Es war reine Taktik gewesen, damit er nicht merkte, dass ihre Gedanken seit heute Morgen nur darum kreisten, warum Kris Norman und nicht Emma Miller zum neuen Gesicht vonBest of Todayernannt worden war.

Er streckte höflich seine Hand aus, die sie selbstverständlich fest drückte und schüttelte.

»Emma Miller«, antwortete sie dabei und lächelte freundlich, aber nicht herzlich.

»Die anderen meinten, dass du am längsten beiBest of Todaydabei bist – und dich auch um die Moderationstexte kümmerst«, meinte Kris, während er neben sie trat und sich halb zu ihr gedreht mit dem Ellbogen auf dem Geländer abstützte. »Aber weißt du, was ich mich frage? Was macht eine so bezaubernde Schönheit mit Juwelen als Augen denn bloß hinter der Kamera?«

Emma verdrehte ihre smaragdgrünen Augen – solche oberflächlichen Sprüche hatte sie schon oft genug gehört. Nur dieses Mal ärgerte es sie noch mehr, weil es ausgerechnet von demjenigen kam, der ihr den Platz vor derKamera gestohlen hatte.

Kurz dachte sie darüber nach, ihm das voller Wut und Verzweiflung in sein fein geschliffenes Gesicht zu brüllen. Doch dann verstrich der Moment, ohne dass Emma etwas gesagt hatte. Stattdessen drehte sie sich zur Seite.

Sie ließ sich Zeit und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Kris Norman war ein gutgebauter, breitschultriger Mann, der kaum größer war als Emma. Auch altersmäßig schien er wie sie Mitte zwanzig zu sein. Seine dunklen Haare waren mit Gel nach hinten in eine Welle gelegt, doch ein paar Strähnen hatten sich von der klebrigen Masse befreit und fielen ihm als dünne Locken in die Stirn. Sein Gesicht war groß und markant, sodass das Grinsen darauf tatsächlich eine anziehende, fast magnetische Wirkung auf Emma ausübte, was seine eisblauen, strahlenden Augen nur verstärkten. Das passende babyblaue Hemd betonte dezent seine muskulöse und starke Statur und war perfekt mit der dunklen Hose und den glänzenden Schuhen abgestimmt.

Emma musste zugeben: Schlecht sah Kris sicherlich nicht aus. Doch sie kannte seinen Typ, hatte schon einige Ausführungen von ihm kommen und gehen sehen und realisierte in diesem Augenblick, dass ihr Ziel sich nur etwas entfernt hatte, aber nicht so unerreichbar war, wie sie einige Momente zuvor noch geglaubt hatte.

Emma lächelte zufrieden. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet sein Anblick ihr wieder Mut machen würde.

»Ich stehe hinter der Kamera, weil es mir in erster Linie um die Wahrheit geht. Und die finde ich im Inhalt, nicht im schön verpackten Rahmen«, beantwortete Emma Kris’ Frage, als im nächsten Moment ihr Handy klingelte.

Erleichtert, dass sie sich dadurch der Unterhaltung entziehen konnte, entschuldigte sie sich kurz und trat zur Seite, um den Anruf anzunehmen.

»Hi, Emma! Ähm, hast du von dem neuen Einbruch der Lady-Killer-Gang gehört? Ja, bestimmt, oder? Vielleicht … kann ich dir ja helfen? Natürlich nur, wenn du magst. Äh, übrigens, hier ist Ann, also …«, begann die Praktikantin unüberlegt draufloszureden.

»Danke. Ich komme gut klar. Du brauchst dir keine Gedanken machen«, antwortete Emma kurz und knapp, bevor sie auflegte. Sie wusste, dass Ann sie sonst in ein längeres Gespräch verwickeln würde. Und dafür hatte sie gerade einfach keinen Nerv.

Kris hatte seinen Blick immer noch nicht von ihr abgewendet und trug weiterhin dieses freche, sexy, breite Lächeln auf seinem Gesicht. Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Emma sich unvermittelt räusperte.

Das trockene Gefühl in ihrem Hals kam wie aus dem Nichts. Ehe sie sichs versah, entwickelte sich daraus eine Art Husten. Zuerst fühlte es sich an, als hätte sie sich nur verschluckt. Doch dann wurde der Husten mit jedem Mal tiefer und heftiger. Dazu fühlte sich ihr langsam hämmernder Kopf auf einmal so schwer an, als ob er gleich ihren ganzen Körper wie ein Anker zu Boden ziehen würde.

Emma wendete sich vom Geländer ab und machte sich auf den Weg zum Aufzug. Sie war schon ziemlich wackelig auf den Beinen, dann überfiel sie noch ein starkes Schwindelgefühl, sodass die Fliesen der Dachterrasse zu diffusen Flecken verschwammen. Emma hatte das Gefühl, benommen, schwach, nicht mehr Herrin ihrer Sinne zu sein. Gleichzeitig ließ der Husten nicht nach und brachte ihren Körper zum Beben. Ihre Brust verengte sich, schmerzte wegen des Stechens, das dieser rätselhafte Husten zu verursachen schien. Das Atmen fiel ihr immer schwerer – sie rang nach Luft.

Emma konnte es nicht mehr verhindern: Sie ging in die Knie und kämpfte darum, nicht zu Boden zu sinken. Dann brach die Hitze aus: Emma schwitzte am ganzen Körper und starrte verwirrt auf ihre Arme und Hände, in der festen Überzeugung, ihre prickelnde Haut stünde in Flammen.

Sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Je mehr sie mit ihrem Verstand versuchte, sich dagegen zu wehren, desto stärker schien ihr Körper die Kontrolle über sie zu übernehmen.

Zwar registrierte sie so etwas wie eine Stimme, doch sie konnte längst nicht mehr erkennen, wer genau auf sie einredete. Es klang wie eine schiefe Melodie, die von Tonart zu Tonart sprang und eine schräge, merkwürdige Symphonie hervorbrachte.

Während Emma stetig weiterhustete und gegen die Versuchung ankämpfte, ihren letzten Tropfen Energie aufzubrauchen, ergriff jemand ihren Arm und drückte seine Finger auf ihr Handgelenk.

Jetzt hörte sie es: Ihr Herz raste, klopfte wild gegen ihre Brust, als ob es aus dem Albtraum, in dem ihr Körper gefangen zu sein schien, ausbrechen wollte. Emma beugte sich über den Boden und blinzelte, aber durch die inzwischen hervortretenden Tränen und die Schweißperlen vermischten sich alle Formen und Farben, sodass sie sich nicht mehr orientieren konnte. Ihr Husten war nicht länger trocken, sondern fühlte sich feucht und eklig an. Als sie erneut hustete und sich kleine, dunkelrote, kreisförmige Flecken von der verschwommenen Oberfläche unter ihr abhoben, erkannte Emma, dass es Blut war.

Nun machte es ihr nicht nur ihre körperliche Schwäche schwer, bei Vernunft zu bleiben. Jetzt kam noch die Panik dazu.

Emma wurde bei dem Anblick schlecht – oder vielleicht war das auch nur die Folge ihres Schwindelgefühls und des andauernden, furchterregenden Hustens. Sie konnte sich nicht länger halten, ihre Kraft versagte, ihre Muskeln ließen sie im Stich, ihr Körper hörte einfach nicht auf ihre verzweifelten, inneren Schreie nach Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit.

Emma ahnte: Jetzt würde es gleich vorbei sein. Sie würde das Bewusstsein verlieren. Hilflos sank sie zu Boden – statt Kälte erwartete sie aber die Wärme eines anderen Menschen, der sie aufzufangen schien. Sie blickte nach oben: Eine Silhouette zeichnete sich im Gegenlicht ab, doch mit ihrer unscharfen Sicht erkannte sie bis auf ein paar freie, im Wind wehende Haarlocken rein gar nichts.

Emma gab nach, ließ sich in die Arme des unbekannten Fremden fallen und war bereit, ihrem zitternden Körper in ihrem Kampf gegen sich selbst den Sieg zu überlassen.

Eine letzte, kühle Brise brachte ihre Augenlider endlich dazu, sich zu schließen, und trug sie damit aus dieser schmerzhaften Realität davon.

MONTAGNACHT

Es ist Nacht. Ihre Schwärze umgibt mich, aber ich spüre noch mehr: Ich werde gegen eine eiskalte, feuchte Backsteinwand gedrückt.

Die Todesangst erfüllt mich.

Eigentlich liege ich in meinem Bett, trotzdem habe ich das Gefühl, mich hier und jetzt in dieser Situation zu befinden. Ich stehe auf und ziehe mir, ohne darüber nachzudenken, etwas über. Mein Körper führt die Bewegungen instinktiv aus, ich überlege nicht, was als Nächstes kommt.

Stattdessen spüre ich weiterhin diese tiefe Angst in mir, das klopfende Herz, die verengte Brust, sodass das Atmen, das Sprechen schwerer und das Schreien letztlich unmöglich wird.

Ich öffne das Fenster und blicke hinab. Ich zögere nicht – und schon lande ich unversehrt auf dem Asphalt der menschenleeren Straße.

Ich weiß nicht, wie oder warum, aber ich renne los. Das grelle, gelb-weiße Licht der Straßenlaternen verwandelt sich dabei in eine gewellte Linie; die Gebäude und Autos nehme ich jetzt bloß noch als Silhouetten wahr. Ich bin wie besessen, gleichzeitig habe ich mich noch sie so stark gefühlt.

Heiße Tränen kullern über meine Wangen. Die Angst vor Leid und Schmerz, sich nur einen Millimeter zu bewegen und das mit dem Leben zu bezahlen, überflutet meine Emotionen und meinen Verstand – ich renne schneller als je zuvor.

Ich biege ab und weiß genau, dass ich am richtigen Ort bin. Nur wenige Sekunden später blicke ich in eine Seitengasse und sehe das, was ich in den letzten Augenblicken gefühlt habe.

Sie wird gegen die feuchte Backsteinwand gedrückt. Ihre Kleidung ist zerrissen, die Messerklinge ist gefährlich nah an ihrer Halsschlagader. Den Kopf halb weggedreht, kneift sie ihre Augen fest zusammen, in der Überzeugung, dass sie sie nicht mehr öffnen wird.

Er bemerkt jetzt, dass etwas anders ist als noch kurz zuvor. Sofort suche ich Deckung im Schatten und schleiche mich tiefer in die Gasse.

Ich verstehe nicht, warum ich all dies tue. Ich weiß nur, dass ich es tun muss.

Er dreht sich herum. Langsam scheint er immer mehr zu spüren, dass sie nicht länger allein sind.

Er wendet mir seinen Rücken zu – mit einem Arm quetscht er sie noch immer gegen die Wand. Ich nutze den Moment und laufe los.

Mein Körper weiß, wie er handeln muss. Ich packe ihn von hinten an den Schultern, reiße ihn von dem Mädchen los und halte ihn fest. Er sieht mich nicht, zappelt wild umher und da wird mir erst klar: Seine Füße berühren den Boden gar nicht mehr.

Der Schock übermannt meinen Körper – ich lasse ihn fallen. Doch anstatt zu fliehen, nutzt er die Gelegenheit, wirbelt herum und versucht, mich zu Fall zu bringen: Er drückt und presst sich gegen meine Beine, aber ich bleibe standhaft.

Ich sehe nur das Mädchen, wie es sich nicht bewegt, weiter zittert, voller Furcht seine Augen zukneift.

Ich kann nicht anders: Behutsam lege ich meine Hand auf ihren bebenden Arm. Gleichzeitig packt er meinen Fuß und zieht mich zurück.

Ein Schlag, wie durch Elektrizität erzeugt, durchfährt mich plötzlich und lässt mich erschauern. Ich schrecke zurück und blicke zum ersten Mal in die großen, noch mit Tränen gefüllten Augen des Mädchens. Aber sie wirkt nicht länger zu Tode verängstigt: Ihre Gesichtszüge fallen weich und faltenlos, ihr Körper findet zur Ruhe und entspannt sich allmählich.

Dann höre ich das Schluchzen. Ich folge dem Geräusch: Da, zu meinen Füßen, liegt er auf dem dreckigen Boden und umarmt wimmernd seine Knie.

Ich begreife nicht, was hier geschehen ist. Aber bleiben kann ich erst recht nicht. Also fliehe ich zurück in die Dunkelheit und lasse das, was ich nicht zu glauben vermag, wie meinen eigenen Schatten hinter mir.

DIENSTAGMORGEN

Ding-ding-ding.

Wie jeden Morgen riss das allzu gewohnte Klingeln Emma aus ihrem Schlaf. Heute fiel es ihr aber schwerer als sonst, auf den Ausschaltknopf zu drücken. Sie fühlte sich so furchtbar müde, fast überanstrengt. Auch ihr Körper war von oben bis unten verspannt – vermutlich hatte sie bloß schlecht geschlafen.

Emma setzte sich auf, um langsam wach zu werden. Doch sie zog die Bettdecke sofort wieder über ihren Körper, als die eiskalte Luft ihre Haut berührte. Das Fenster war weit geöffnet und ließ die Morgenkälte in ihr kleines Schlafzimmer strömen.

Emma war verwirrt: Eigentlich schlief sie nur im Sommer mit offenem Fenster und sie konnte sich nicht daran erinnern, es vor dem Schlafengehen geöffnet zu haben.

Also stand sie auf, um es zu schließen. Doch mit der herben, kühlen Herbstluft, die wie eine Ohrfeige gegen ihr Gesicht klatschte, mischten sich plötzlich Bilderfetzen in ihre Gedanken.

Eine feuchte, abgelegene Gasse. Ein furchtbar verängstigtes Mädchen. Eine funkelnde, scharfe Messerklinge.

Emma schreckte zurück und versuchte, diese Bilder einzuordnen. Sie erkannte keinen Anfang, keinerlei Zusammenhänge mit irgendeinem Geschehen, an das sie sich erinnern konnte. Vielleicht handelte es sich nur um einen bösen Traum. Aber dafür fühlte es sich einfach zu real an. Doch wenn es wirklich passiert war, warum konnte sie sich an nichts erinnern?

Emma schüttelte diesen Gedanken von sich – vermutlich spielte ihr Unterbewusstsein ihr nur einen Streich. Sie schloss das Fenster und ein Blick auf ihren Wecker verriet ihr, dass sie langsam in die Gänge kommen musste. Schließlich wollte sie sicherlich nicht den Moment verpassen, auf den sie ihr ganzes Leben hingearbeitet hatte: Robert würde sie heute als neue Moderatorin vonBest of Todayvorstellen.

In diesem Augenblick überkam Emma das seltsame Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben.

Hatte sie diese Aufregung nicht schon einmal empfunden? War sie nicht bereits in ihrem besten Outfit zur Arbeit erschienen, um ihre Beförderung anzunehmen?

Da gesellten sich auch Bilder zu diesem Gefühl: Emma sah das versammelte Team im Konferenzraum und Robert hielt eine Ansprache. Er hob seine Hand in ihre Richtung und sie spürte, wie schnell ihr Herz schlug. Sie war so aufgeregt und zugleich voller Vorfreude, dieses neue Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Aber dann mischte sich ein Gefühl der tiefen Enttäuschung darunter, als er einen anderen Namen als den ihren nannte.

Christian … Kristof … nein. Kris Norman!

Emma hegte plötzlich die starke Vermutung, dass es sich hierbei nicht bloß um ein Hirngespinst handelte.

Nicht sie, sondern Kris Norman war der neue Moderator vonBest of Today.

Gehörte das alles noch zu ihrem Albtraum? Emma blieb nur eine Möglichkeit, um herauszufinden, was wirklich der Realität entsprach: ein Blick auf ihr Handy.

Es war Dienstag, nicht Montag. Das Meeting samt Ankündigung hatte tatsächlich schon stattgefunden. Nicht nur das: Der ganze Tag war verstrichen – und Emma konnte sich an nahezu nichts davon erinnern.

Eine leichte Panik stieg in ihr auf. Wie war das möglich? Was war mit ihr geschehen?

Ihr Handy zeigte etliche unbeantwortete Nachrichten und verpasste Anrufe an. Die meisten davon stammten von ihrem Chef, Robert, der sich nach ihrem Aufenthaltsort und Befinden erkundigte. Emma schlussfolgerte, dass auf der Arbeit irgendetwas mit ihr passiert sein musste. Auch wenn sie zunehmend ängstlicher wurde, versuchte sie sich mit dem Gedanken zu beruhigen, im Büro bestimmt gleich die Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen.

Emma nahm eine kurze Dusche und schnappte sich noch einen Müsliriegel, bevor sie ihre Wohnung verließ und zur Straßenbahn eilte.

Durch ihre erschreckende Erkenntnis am Morgen war Emma so angespannt gewesen, dass sie erst jetzt in der Bahn bemerkte, wie anders sich alles um sie herum anfühlte.

Sie nahm auf einmal Dinge wahr, die ihr sonst nie auffielen. Eine Frau, die ein paar Sitze entfernt saß, spielte nervös mit ihren Fingern. Dabei erkannte Emma auf Anhieb den abgeblätterten, durchsichtigen Nagellack, was sie aus dieser Entfernung üblicherweise nicht mit bloßem Auge ausmachen konnte. Etwas weiter rechts strich sich ein Mann durch seine Haare. Sofort konnte Emma sehen, wie dutzende, klitzekleine weiße Schuppen wie Schneeflocken auf seine Schultern fielen.

Emma zuckte zusammen, als jemand laut in ihr Ohr zu schmatzen schien. Doch es stand niemand neben ihr, der gerade etwas aß. Stattdessen richtete sich ihr Fokus auf einen Jugendlichen, der ganz am anderen Ende des Wagons, bestimmt fünfundzwanzig Meter entfernt, in einer Ecke kauerte und gelangweilt einen Kaugummi kaute. In der Flut an Gerüchen meinte Emma sogar ein starkes Minzaroma wahrzunehmen, das sich für diesen Moment von der wilden Mischung aus Kaffee, Gebäck, Obst, Parfüm, Deo und leider auch Schweiß abhob.

Als Emma die Bahn verließ, schnappte sie erst einmal erleichtert nach Luft. Doch dann traf sie eine neue Welle an willkürlichen, wirren Empfindungen. Ihre Sinne nahmen einfach wahllos alles auf, was es um sie herum wahrzunehmen gab. Absolut chaotisch bestand keine Reihenfolge. Sie kämpfte sich durch die vielen Menschen, die alle ihres Weges gingen, und bemühte sich, sich nicht permanent von den dutzenden kleinen Wahrnehmungen ablenken zu lassen. Schließlich flüchtete sie in den Eingangsbereich des Sendergebäudes und atmete erst wieder tief ein, als sie sah, wie sich die Aufzugtüren vor ihr schlossen.

Trotz der ganzen Verwirrung zwang Emma sich, ruhig zu bleiben. Sie war überzeugt, dass das alles einen ganz einfachen, nachvollziehbaren Grund haben musste. Vielleicht hatte sie am Vortag versehentlich irgendetwas Seltsames zu sich genommen, was ihre geschärften Sinne erklärte. Bestimmt würde sie gleich in Erfahrung bringen, was gestern vorgefallen war – das hoffte sie zumindest.

Wenige Sekunden später öffneten sich die Türen des Aufzugs wieder. Emma stieg aus und trat in das Großraumbüro der Redaktion.

Alle Blicke waren auf sie gerichtet und der übliche morgendliche Small Talk verstummte augenblicklich.

»Emma!«

»Ist alles okay?«

»Wo warst du?«

»Was ist passiert?«

Von einem Moment auf den nächsten wurde Emma mit all den Fragen, die sie sich selbst schon den ganzen Morgen stellte, bombardiert. Ihre Kollegen sprachen alle gleichzeitig und durcheinander, sie wirkten besorgt, ängstlich und nervös.

Emma wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Schließlich hatte sie ja gehofft, keine Antworten geben zu müssen, sondern welche zu bekommen.

»Hi! Komm, ich mach dir erstmal einen Kaffee«, erkannte Emma die sanfte Stimme der Praktikantin Ann wieder, die sie gerade zu sich winkte. Emma folgte ihr in die Küche. »Ähm, geht’s dir gut? Ich habe gestern die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen«, erkundigte sich Ann, während sie eine Tasse aus dem Schrank holte.

»Jaja, es ist alles gut, danke. Aber … was ist denn gestern überhaupt passiert?«

Ann schaute Emma verdutzt an.

»Also … ich dachte, das könntest du uns sagen«, erwiderte sie unsicher und wartete auf eine Reaktion von Emma. Doch was sollte sie darauf antworten? Sie wusste es doch selbst nicht. Als Ann bemerkte, dass Emma nicht sprach, ergriff sie wieder das Wort: »Emma … ähm … du bist gestern spurlosverschwunden! Niemand weiß, wo du warst.«

Emma gab sich die größte Mühe, sich ihren Schock nicht anmerken zu lassen.

»Okay … aber ich war doch hier, oder?«, hakte sie nach. Wie sonst könnte sie sich daran erinnern, dass nicht sie, sondern Kris Norman zum neuen Moderator ernannt worden war?

»Ja, das schon. Beim großen Meeting auf jeden Fall! Danach habe ich dich gesucht und als ich dich nicht gefunden habe, angerufen. Wir haben kurz gesprochen. Es ging um den Überfall der Lady-Killer-Gang, über den du berichten solltest, aber dann musste ich die Geschichte übernehmen. Aber irgendwie hat das nicht so ganz geklappt, ich weiß auch nicht …«, redete Ann ohne Punkt und Komma weiter, während Emma in ihren Gedanken verzweifelt nach einem Funken von Erinnerung kramte, um dem Ganzen eine logische Erklärung zu geben.

Der Geruch von Anns viel zu süßem Parfüm und das laute Brummen der brühenden Kaffeemaschine brachte Emma so aus dem Konzept, dass sie zu spät bemerkte, wer plötzlich direkt hinter ihr stand.

»Ja, dass es gestern ziemlich chaotisch zuging, kann ich nur bestätigen. Emma, auf ein Wort?«, verlangte ihr Chef viel mehr, als dass er tatsächlich darum bat.

Ann blickte kurz unsicher zwischen Emma und Robert hin und her, bis sie begriff, dass sie wohl nicht länger erwünscht war, woraufhin sie eilig die Küche verließ.

Emma folgte Robert schweigend in sein Büro. Auf dem Weg dorthin hörte sie ein dumpfes, stetiges Trommeln. Sie sah sich um, doch bis auf das Radio, das einer der Redakteurepermanent laufen ließ, war keine Musik oder Ähnliches zu hören. Sie erkannte einen gewissen Rhythmus darin, fast … wie ein Herzschlag.

Da wurde ihr klar: Was, wenn das tatsächlich zutraf? Wie war es nur möglich, so etwas wahrzunehmen?

»Emma, versteh mich nicht falsch: Ich bin froh, dich fit und wohlauf zu sehen, wirklich. Aber …«, begann Robert das Gespräch und schloss die Tür hinter Emma, als sie fasziniert feststellte, dass es sich bei dem sich gerade beschleunigenden Trommeln um sein klopfendes Herz handelte, »so geht das nicht! Ohne jegliche Vorwarnung fällst du komplett aus! Dann muss ich einen Kameramann an seinem ersten Tag nach Hause schicken und jemandem wie Ann eine Riesenstory zur Lady-Killer-Gang geben! Ich bin nur froh, dass unsere Cutter noch etwas halbwegs Vernünftiges zusammenbasteln konnten …« Robert seufzte. »Aufgrund der Umstände verzeihe ich dir das. Trotzdem hättest du mir Bescheid geben können, dass du spontan Urlaub machst!«

»Entschuldige, Robert. Heute bin ich ganz da, versprochen«, versicherte Emma ihm und fragte dann irritiert nach: »Aber was genau meinst du mit … Umständen?«

Robert sah sich diskret um, als ob noch andere in seinem Büro stehen würden, bevor er sich Emma etwas näherte und flüsterte:

»Na ja, die Sache mit Kris.« Er wartete kurz Emmas Reaktion ab, die jedoch ausblieb. Dann sprach er weiter: »Wir brauchen ihn jetzt nun mal als Moderator. Und wir haben uns ja auf ein kleines Zugeständnis geeinigt wegen … des Missverständnisses?«

Bis auf die Tatsache, dass Kris der neue Moderator der Sendung war, hatte Emma keine Ahnung, was er meinte. Natürlich fühlte sie sich betrogen, verletzt und enttäuscht, doch die Verwirrung über die Geschehnisse überdeckten dies gerade.

Roberts Herz schlug schneller und er wirkte auch nervös. Emma erkannte winzige Schweißperlen am oberen Rand seiner Stirn, direkt an seinen Haarwurzeln. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr so etwas schon einmal aufgefallen war.

In diesem Moment erschien es ihr klüger, von weiteren Nachfragen abzusehen. Also nickte sie höflich und stimmte ihm einfach zu.

»Wunderbar, dann haben wir das ja geklärt«, sagte er und atmete erleichtert auf. Dann lächelte er zufrieden und öffnete ihr die Tür. »Schau doch bitte gleich in deine Mails. Ich habe dir ein Thema für heute geschickt. Es geht um eine Studentin, die letzte Nacht angegriffen wurde und den Täter anscheinend mit irgendeinem Psychotrick überführt hat – könnte ganz spannend sein …«

Während er weitersprach, erschien Emma ein ganz anderes Bild vor Augen: Sie erinnerte sich daran, gestern auf ihren PC gestarrt zu haben. Sie fühlte, wie sich beim Gedanken daran ihre Brust verengte. Deshalb war sie aufgestanden und irgendwo hingegangen – nur wohin?

»… hast du nicht noch deinen Kontakt bei der Polizei? Vielleicht kann er dir ja ein paar Infos geben. Luke müsste gleich da sein. Dann könnt ihr los und mir hoffentlich eine tolle Story liefern!«

Luke.Beim Klang dieses Namens fasste Emma sich automatisch an den Hinterkopf und war überrascht, dort eine Wölbung zu ertasten. War das etwa eine Beule? Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten?

Bevor sie Robert nach diesem Luke fragen konnte, schloss er bereits die Tür hinter ihr und nahm gleichzeitig ein Telefongespräch an.

Emma ging an ihren Schreibtisch und setzte sich sofort an ihren PC. Denn Robert hatte mit seinem Vorschlag nicht nur ihr Interesse für die Story geweckt, sondern sie auch auf eine Idee gebracht: Vielleicht würde sie in ihren E-Mails irgendwelche Indizien zu den Geschehnissen des gestrigen Tages finden.

Leider enttäuschte ihr überfülltes Postfach sie bloß. Auch unter den gesendeten E-Mails entdeckte Emma keine Nachricht, die sie nach zehn Uhr morgens noch verschickt hätte.

Laut Anns und Roberts Aussagen und ihren bislang kargen Erinnerungen konnte Emma sich lediglich zusammenreimen, dass sie bei der Ankündigung des neuen Moderators anwesend gewesen war und höchstwahrscheinlich daraufhin das Gespräch mit Robert geführt haben musste, bei dem sie sich auf irgendetwas geeinigt hatten. Wann sie ihren Computer angeschaltet hatte und wohin sie danach gegangen war, konnte sie nicht sagen.

Emma seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie erkannte keinen Sinn in diesem ganzen Chaos. Warum konnte sie sich an kaum etwas erinnern? Wieso war sie offenbar fast einen ganzen Tag lang spurlos verschwunden, um am nächsten Morgen wieder ganz normal zu Hause aufzuwachen? Was war indiesen letzten vierundzwanzig Stunden nur passiert?

Emma warf einen Blick auf ihre ungelesenen Nachrichten. Sie konnte sich jetzt nicht länger den Kopf zerbrechen: Sie hatte viel zu viel zu erledigen.

Dafür fehlte ihr aber noch der Kaffee, den Ann wohl in der Küche hatte stehen lassen. Also stand sie auf und musste sich zurückhalten, keinen Schrei von sich zu geben, als sie sich herumdrehte.

Ein schlaksiger junger Mann mit einer ziemlich unordentlichen Lockenhaarpracht lächelte sie freundlich, aber etwas unbeholfen an. Er kam ihr irgendwie bekannt, sogar fast vertraut vor.

»Oh Mann, jedes Mal, wenn wir uns sehen, erschrecke ich dich. Hoffentlich wird das nicht zur Gewohnheit. Na ja, wenigstens habe ich dir diesmal keine Tür ins Gesicht geschlagen. Tut mir echt noch mal sehr leid«, strömte es aus dem bekannten Fremden heraus.

Währenddessen kamen neue Erinnerungsfetzen ans Licht. Sie spürte den harten Aufprall an ihrem Hinterkopf, sah die milchige Tür von Roberts Büro und erkannte nun auch das Gesicht, in das sie gerade blickte, wieder.

»Luke«, sprach sie sicherheitshalber den Namen laut aus.

»Ja, der bin ich … noch, soweit ich weiß. Und du … du bist immer noch Emma, oder?«

»Ja … soweit ich weiß«, erwiderte Emma mit einem Lachen. Luke machte mit seinen karamellbraunen Augen einen sympathischen Eindruck, doch als sie versuchte, sich an weitere Details von gestern zu erinnern, versagte ihr Kopf erneut.

»Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich jetzt da bin … wie du siehst. Die Sachen von gestern liegen noch alle bereit, wir können also direkt losfahren, wenn du so weit bist«, erklärte Luke.

»Toll, danke! Wir treffen uns in einer halben Stunde bei den Aufzügen, okay?«, schlug Emma vor, woraufhin Luke zustimmend nickte. Seine wippenden Locken erinnerten sie an einen Spiralentreppenläufer, mit dem sie als Kleinkind immer gerne gespielt hatte. Dann ging sie an ihm vorbei, um zur Küche zu gelangen.

Nun konnte Emma davon ausgehen, dass sie nach dem Meeting in Roberts Büro gewesen sein musste. Dort hatte sie wohl auch Luke kennengelernt. Sie vermutete, dass Robert ihn ihr zugeteilt hatte – das machte er immer mit den Neuen.

Mit dem mittlerweile lauwarmen Kaffee gewappnet, setzte Emma sich wieder an ihren Computer. Es war ein beängstigendes Gefühl, dass ein ganzer Tag aus ihrer Erinnerung herausgelöscht worden war. Doch sie wollte nicht, dass sich das herumsprach: Sie musste den Schein wahren und jetzt anfangen, wie üblich ihrer Arbeit nachzugehen.

Also öffnete sie den Link zum Polizeibericht, den Robert ihr zugesendet hatte:

»Um 03:14 Uhr ging bei der zentralen Leitstelle ein Notruf ein. Eine 19-jährige Studentin soll auf dem Nachhauseweg von einem bewaffneten Mann angegriffen worden sein. Als die Einsatzkräfte eintrafen, fanden sie die junge Frau mit zerrissener Kleidung und leicht verletzt vor. Der mutmaßliche Täter befand sich ebenfalls noch vor Ort, war jedoch nicht ansprechbar. Der 34-jährige Mann sagte später aus, dass er sich an der Studentin habe vergehen wollen und sie hierfür mit einem Messer bedroht habe, bevor er plötzlich auf unerklärbare Weise zusammengebrochen sei. Der Verdächtige befindet sich nun in Gewahrsam und wird psychologisch betreut.«

Emma konnte sich die Szene im Detail vorstellen – und genau das erschreckte sie, weil sie sich sonst so etwas nie ausmalte. Sie hatte sogar ein Bild von dem Mädchen im Kopf: zerzauste, rotblonde, schulterlange Haare, zerrissenes Oberteil und heruntergezogene Hose. Auch den Mann sah Emma vor ihrem inneren Auge mit ungepflegtem Drei-Tage-Bart und im Pferdeschwanz zusammengebundenen, fettigen Haaren. Es fühlte sich fast so an, als ob sie selbst dabei gewesen wäre. Doch sie hatte bestimmt nichts damit zu tun – wie denn auch? Vermutlich lag das alles nur an den vielen Ähnlichkeiten zu ihrem Albtraum von letzter Nacht. Es war sicher reiner Zufall.

Emma versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. BeiBest of Todayging es immer um Emotion. Über die Tat allein zu berichten, wäre viel zu langweilig. Emma interessierte sich mehr für das Warum: Wieso hatte der Täter noch vor Ort ein Geständnis abgelegt? Hatte die Studentin ihn womöglich auf irgendeine Art und Weise dazu gebracht?

Tatsächlich ergab eine kurze Recherche, dass bereits andere Medien darüber diskutierten. Schließlich passierte es selten, dass bei solchen Verbrechen Opfer unversehrt davonkamen und noch seltener, dass sich die Täter freiwillig stellten.

Emma musste mehr über die Studentin in Erfahrung bringen. Ein Interview mit ihr zu führen, wäre der Jackpot.

Dafür müsste sie allerdings zuerst ihre Identität herausfinden und sie wusste auch schon genau, wer ihr diese Information liefern würde.

Sie machte sich Notizen, bereitete ihre Fragen vor und verließ dann ihren Schreibtisch, um sich pünktlich mit Luke an den Aufzügen zu treffen.

Dort angekommen, sah Emma sich um, doch Luke war nirgendwo zu sehen.

In diesem Moment öffneten sich die Aufzugtüren.

Es war nicht das große, weiße Lächeln oder die breiten, starken Schultern, die Emma sofort ins Auge stachen. Stattdessen fixierte sie sich nur auf die einzelne, gelockte Haarsträhne, die dem unbekannten Schönling in die Stirn fiel.

»Wenn jeder Tag hier mit deinem Anblick startet, dann kann es ja gar nicht mehr besser werden, oder?«, sagte der Mann, während er aus dem Aufzug stieg und sie intensiv anblickte.

Emma hatte keine Ahnung, wer diese Person war. Aber sie hatte eine starke Vermutung, um wen es sich handeln könnte.

»Entschuldige … kennen wir uns?«, fragte sie freundlich nach, auch wenn seine Formulierung das andeutete.

Irgendwie hatte sie auch das seltsame Gefühl, ihn bereits kennengelernt zu haben. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie mit seinem Typ vertraut war: der gut aussehende, selbstgefällige Moderator. Sie konnte nicht glauben, dass Robert sich wieder für jemanden wie Kris Norman statt für sie entschieden hatte.

Kris wirkte von ihrer Frage überrascht, fast schockiert – vermutlich kränkte es ihn, dass Emma sich, wenn auch unabsichtlich, nicht an ihn erinnerte.

»Noch nicht gut genug. Wir kamen gestern nicht dazu, uns besser kennenzulernen«, fügte Kris mit einem einladenden Lächeln hinzu und stellte sich ihr gegenüber. »Das können wir aber gerne bei einem Dinner nachholen?«

Emma blickte ihm tief in die Augen, die sie an türkisblaues Wasser erinnerten. Dabei bemerkte sie, dass er Kontaktlinsen trug. Es war ihre leicht bläuliche Tönung, die Kris’ Augenfarbe noch stärker hervorbrachte. Emma war fasziniert, dass sie solche Details wahrnehmen konnte.

Äußerlich wirkte Kris ziemlich entspannt und seiner Sache sicher, doch sein Herz schlug schnell, raste sogar. War er etwa nervös? Das überraschte Emma – vielleicht war er tiefgründiger, als es den Anschein machte.

»Ich glaube, wir werden hier noch genug Möglichkeiten haben, das nachzuholen«, antwortete Emma mit einem höflichen Lächeln. Da sie hinter Kris bereits Luke herbeieilen sah, stieg sie schon mal in den Aufzug. »Außerdem vermische ich nicht gerne Arbeit und Privates.«

Luke schlängelte sich an Kris vorbei, der sich davon nicht irritieren ließ und Emma weiter tief in die Augen schaute.

»Wo bleibt dann der Spaß?«, hinterfragte er ihre Prinzipien mit einem spielerischen Blick und einem charmanten Schmunzeln, während sich die Aufzugtüren schlossen und Emma damit eine Antwort verwehrten.

Kris machte sie neugierig, das musste sie zugeben. Doch sie würde und konnte sich auf keinen Fall auf ihn einlassen: Daswäre nur ein weiteres Problem und davon hatte sie aktuell schon mehr als genug.

Für einen Moment fragte Emma sich, ob gestern auch etwas mit Kris vorgefallen war, woran sie sich nicht erinnern konnte. Doch so, wie er es formuliert hatte, wirkte es für sie eher, als wären sie sich nur kurz über den Weg gelaufen – mehr nicht.

»Wohin geht’s denn?«, unterbrach Luke auf einmal ihren Gedankengang. Emma war so darin vertieft gewesen, dass sie Luke für einen Moment komplett vergessen hatte.

»Wir fahren zum Polizeihauptrevier«, beantwortete sie seine Frage, während sie aus dem Aufzug stiegen und durch die Tiefgarage zu einem der kleinen Produktionsautos gingen.

»Okay … kannst du mich dahin führen? Ich bin total neu in Groben City und kenne mich ehrlich gesagt gar nicht aus«, bat Luke Emma um Hilfe. Dabei beobachtete sie, wie bei jedem Schritt seine dicken, goldenen Locken in alle Richtungen hüpften.

»Kein Problem. Bist du etwa ein Küstler?«, hakte Emma nach, als sie ins Auto stiegen.

»Küstler? Was ist das? Ist das hier so ein lokaler Ausdruck?«, erkundigte Luke sich amüsiert.

»Ja. Also so nennen wir hier auf Groben Island die Leute, die an der Küste leben.Siebezeichnen uns Städter allerdings mit ganz anderen Worten«, erklärte Emma ihm, während sie losfuhren und die Garage verließen. Eigentlich hätte Emma gedacht, dass Luke mit seiner blauäugigen Art von einem Dorf an der Küste stammte – das hätte auch seinen Look erklärt. »Jetzt links abbiegen.«

»Ah, danke«, erwiderte Luke, setzte den Blinker und schlug das Lenkrad ein. »Das klingt nicht so, als wären die Städter und die Küstler groß voneinander begeistert.«

»Na ja, auf Groben Island ist es so: Entweder leben die Leute in dieser großartigen, modernen Millionenstadt … oder eben an der abgelegenen, rauen Küste – dazwischen gibt es eigentlich nichts bis auf endlose, öde Felder. Und klar entstehen da manchmal Rivalitäten und Vorurteile«, deutete Emma nur leicht den Konflikt an, der sie schon ihr ganzes Leben beschäftigte, und lenkte dann direkt wieder vom Thema ab: »Woher kommst du?«

»Puh. Ehrlich gesagt habe ich keine Wurzeln. Ich bin schon mein ganzes Leben ständig unterwegs. Als Letztes war ich auf so einer Insel namens Smallon. Jetzt hat es mich einfach in die große Stadt gezogen«, antwortete Luke schließlich und fragte an der nächsten Kreuzung: »Links oder rechts?«

»Rechts. Groben City hat schon etwas Besonderes an sich, nicht?«, meinte Emma und ließ ihren Blick über die Stadtkulisse schweifen.

Sie erinnerte sich selbst gut daran, wie sie sich zugleich völlig verloren und absolut zu Hause gefühlt hatte, als sie vor Jahren in diese riesige, lebendige Stadt gekommen war.

»Ja, irgendwie schon … Wie ist es bei dir: Bist du ein Küstler? Oder eine Küstlerin?«, hakte Luke nach und bog nach rechts ab.

Emmas Hals schnürte sich zu – wie immer, wenn diese Frage aufkam. Doch mittlerweile wusste sie, dass ein tiefer Atemzug ihr meistens half, den tief verdrängten Klumpen an Gefühlen wieder zu vergraben. In Groben City konnte man es weit bringen – besonders dann, wenn man hier geboren und aufgewachsen war. Das nicht vorweisen zu können, hieß, früher oder später von der eigenen Vergangenheit und von seinem Ursprung eingeholt zu werden. Und das war das Letzte, was Emma wollte. Deshalb griff sie zu ihrer Standardantwort:

»Nein. Meine Eltern sind Diplomaten. Als Kind bin ich oft von einer Stadt zur nächsten gereist. Ein bisschen wie du.«

»Ah. Und jetzt?«

»Jetzt? Na ja, jetzt ist Groben City mein Zuhause«, erwiderte Emma selbstverständlich. Gelogen war das nicht: Tatsächlich gab es keinen anderen Ort auf der Welt, den sie lieber so nennen würde.

»Oh, klar. Aber ich meinte eigentlich die Richtung«, präzisierte Luke.

»Ach so! Entschuldige. Einfach geradeaus weiter.«