Perry Rhodan 127: Schaltstelle der Macht (Silberband) - Peter Griese - E-Book

Perry Rhodan 127: Schaltstelle der Macht (Silberband) E-Book

Peter Griese

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Beschreibung

Perry Rhodan gründet im Jahr 3588 die Kosmische Hanse und führt die Neue Galaktische Zeitrechnung ein - eine Epoche des Friedens folgt. Zum ersten Mal seit Jahrtausenden arbeiten die Völker der Milchstraße zusammen. Nicht nur die Menschen glauben an Rhodans Vision, sondern ebenso zahlreiche andere Intelligenzwesen der Sterneninsel. Doch längst plant die negative Superintelligenz Seth-Apophis einen Schlag gegen die Superintelligenz ES und die Menschen. Anfangs des fünften Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung droht ein Krieg der Geistesmächte, in den mehrere Galaxien verwickelt werden können. Perry Rhodan sucht nach Verbündeten und hofft auf die geheimnisvollen Porleyter. Dieses Volk kämpfte vor Äonen für die Mächte der Ordnung; seine Angehörigen müssten ideale Freunde der Menschheit sein. Doch nachdem der Kontakt hergestellt ist, wenden sich die Porleyter gegen die Terraner. Ihrer uralten Technik haben die Menschen nichts entgegen zu setzen ... Die in diesem Buch enthaltenen Originalromane sind: Die Superviren (1065) von Peter Griese; Gesils Punkt (1066) und Karawane nach Magellan (1072) beide von Ernst Vlcek; Die Seth-Apophis-Brigade (1078) von Kurt Mahr; Das Ende eines Experiments (1080) von Horst Hoffmann; Die Unbesiegbaren (1081) und Transmitter nach Nirgendwo (1082) jeweils von H. G. Ewers; Der Kometenmann (1083) von K. H. Scheer sowie Operation Kardec-Schild (1084) von Kurt Mahr.

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Cover

Klappentext

Kapitel 1-10

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Kapitel 11-20

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

Kapitel 21-31

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

Nachwort

Zeittafel

Impressum

Nr. 127

Schaltstelle der Macht

Das Jahr 425 Neuer Galaktischer Zeitrechnung wird zum Schicksalsjahr für die Menschheit.

Seth-Apophis, eine fremde Superintelligenz, bedroht die Milchstraße. Während längst der Abwehrkampf tobt, übernehmen die letzten Angehörigen eines seit Jahrtausenden vergessenen Volkes die Kontrolle über die Erde und das Solsystem. Sie nennen sich Porleyter, und sie verlangen, dass die Flotten der Terraner mit ihnen gemeinsam gegen Seth-Apophis vorgehen.

1.

Perry Rhodan umfasste das Auge, jenes uralte Artefakt, das einst dem Kosmokratenroboter Laire geraubt worden war. Sekundenlang zögerte er, dann hob er das wertvolle Gerät vors Gesicht und blickte in das trichterförmig erweiterte Ende.

Ein eigentümliches Blau schimmerte ihm entgegen. Schon oft hatte Rhodan sich in diese geheimnisvolle Strahlung versenkt. Diesmal dachte er dabei an den kosmischen Basar DANZIG als sein Ziel. Aber das Leuchten blieb kalt, es gestattete ihm den distanzlosen Schritt nicht.

Rhodan visualisierte ein zweites Ziel, das Hauptquartier der Kosmischen Hanse in Terrania. Der Versuch blieb ebenso erfolglos.

Rhodan schob das Auge in den Köcher an seinem Gürtel zurück. »Es hat keinen Zweck«, sagte er leise. »Die Transportfunktion ist weiterhin gestört.«

Er stand in der Zentrale des Schweren Kreuzers WEECKEN. Die Panoramagalerie zeigte den Kugelsternhaufen M 3, über eine halbe Million Sterne. In diesem Gebiet hatte das Auge zum ersten Mal versagt – es war ihm nicht mehr möglich, jeden Stützpunkt der Kosmischen Hanse zu erreichen.

Gucky lehnte an einem Kontursessel. Seit Minuten ließ der Mausbiber Rhodan nicht aus den Augen; dabei schabte er nachdenklich mit seinem Nagezahn über die Unterlippe.

»Es muss mit den Kardec-Schilden der Porleyter zu tun haben ...«

Der Gedanke lag nah. Erst vor wenigen Stunden waren Rhodan und Gucky von der RAKAL WOOLVER geflohen. Das Flaggschiff des Verbands, der den Vorstoß nach M 3 unternommen hatte, befand sich in der Hand der wiedererweckten Porleyter. Sie hatten ihre Kardec-Schilde eingesetzt, um das Raumschiff zu erobern. Dabei kämpften sie wie Rhodan für das Positive im Kosmos. Er, der Terraner, gehörte zu den Rittern der Tiefe, deren Vorläufer die Porleyter gewesen waren.

Rhodan hatte erwogen, eine Warnung nach Terra zu funken, um die Liga Freier Terraner und die Kosmische Hanse auf die Ankunft der Porleyter vorzubereiten. Letztlich hatte er sich dagegen entschieden, weil die Gefahr bestand, dass die Terraner sich den Porleytern entgegenstellten. Eine bewaffnete Auseinandersetzung musste jedoch verhindert werden.

Die Porleyter flogen zum Solsystem, um die Kontrolle über Liga und Hanse an sich zu reißen. Angesichts ihrer geringen Zahl von knapp über zweitausend erschien ein solches Unterfangen eigentlich nicht zu schaffen. Allerdings hatte Rhodan ihre überlegene Technik bereits hautnah zu spüren bekommen.

Nur mithilfe des Auges hätte er Terra noch vor der RAKAL WOOLVER erreichen und die Grundlage für einen konstruktiven Widerstand gegen die Machtansprüche der Porleyter schaffen können. Diese Hoffnung war verflogen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die aufrecht gehenden Riesenkrabben eine ernsthafte Bedrohung bedeuten.«

Ernö Szathely, Kommandant des Schweren Holks EGER, war die Verkörperung der guten Laune. Eine Katastrophe musste fast eingetreten sein, ehe er sich bereitfand, sie ernst zu nehmen. Er lächelte zu seinen Worten.

»Die Zahl allein ist unerheblich«, antwortete Roman Ebanks. »Der porleytischen Technik hat Terra nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen.« Ebanks, Kommandant des Großraumschiffs MIDWAY, war hochgewachsen und schlank. Er sprach und bewegte sich würdevoll wie stets.

Beide Männer hatte Perry Rhodan zu seinen Beratern ernannt, weil er ihre Besonnenheit, ihre Umsicht und Sachlichkeit schätzte.

Die Besprechung, an der auch der Mausbiber Gucky teilnahm, fand in einem kleinen Raum neben der Kommandozentrale der WEECKEN statt. Der Ilt hatte Ebanks und Szathely per Teleportation von ihren Schiffen geholt.

»Vergesst die Erde für einige Sekunden«, bat Rhodan. »Um im Solsystem einzugreifen, ist es bereits zu spät. Entweder wir verteilen uns auf die Basare und Kontore der Hanse und beugen dort den Machtgelüsten der Porleyter vor, oder wir kehren in den Kugelsternhaufen zur Fünf-Planeten-Anlage zurück und versuchen, uns ein Stück porleytischer Technik anzueignen, mit dem wir der Bedrohung begegnen können. Dazu will ich eure Meinung hören.«

»Wir könnten beides gleichzeitig tun«, sagte Szathely. »Wir haben zweihundertundachtzig Raumschiffe. Damit lässt sich ...«

Rhodan winkte ab, weil über dem Konferenztisch ein Holo entstand.

Der Kommandant der WEECKEN meldete sich. Grange Dietrs war ein impulsiver Mensch, der wenig Wert auf sein Äußeres legte. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Wangen, Oberlippe und Kinn zierten mindestens zwei Tage alte Bartstoppeln.

»Wir haben einen verirrten Funkspruch aufgefangen, Perry. Offenbar stammt er von der anderen Seite der Milchstraße, er ist verstümmelt, aber ... Lies selbst!«

Dietrs blendete sich aus und ließ den fragmentarischen Text erscheinen.

... Begegnung SOL ... An Bord mit Atlan ... Identität eindeutig ermit...

Der Text verschwamm vor Rhodans Augen. SOL ... Atlan ... SOL ... Atlan ..., pochte es in seinen Gedanken. Wie aus weiter Ferne hörte er Grange Dietrs fragen: »Sollen wir darauf reagieren?«

Tief atmete er ein. »Woher genau kommt der Funkspruch? Wer ist der Absender?«

»Die Prüfungen laufen. Ursprung vermutlich nah der Großen Magellanschen Wolke. Den Sender können wir nicht ermitteln, doch eins steht fest: Die Zieladresse ist verloren, der Spruch irrt seit Wochen von einem Relais zum nächsten.«

Perry Rhodan versuchte, seiner wachsenden Unruhe Herr zu werden. Es gelang ihm nicht. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück – in jene Zeit vor mehr als vierhundert Jahren, als die BASIS im Vorfeld der Materiequelle stand und Laire zu verstehen gab, er habe von den Kosmokraten den Auftrag erhalten, den »richtigen Mann auf die andere Seite« zu bringen.

Rhodan erinnerte sich des Wettstreits, der zwischen Atlan und ihm entbrannt war und beinahe stündlich an Erbitterung zugenommen hatte – bis ihm die fast unglaubliche Nachricht zugestellt wurde, dass die Kosmokraten in der Tat Atlan über die Grenze der Materiequelle hinweg in ihr Reich holen wollten.

Er hatte sich erniedrigt gefühlt und sich dem kosmokratischen Plan widersetzen wollen; indes stahlen Laire und Atlan sich heimlich davon. Schließlich war von jenseits der Materiequelle offenbart worden, Atlan werde sich dort geraume Zeit aufhalten müssen. Die BASIS war zur heimatlichen Milchstraße zurückgekehrt.

Rhodan hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass er den Freund eines Tages wiedersehen werde.

Er sah auf, als der Mausbiber ihn ansprach. Die Schrift war Dietrs Konterfei gewichen. Ein Zug hilfloser Verzweiflung lag auf dem unrasierten Gesicht.

»Entschuldige meine Benommenheit«, sagte Rhodan. »Es ist ... so etwas kann ich nicht einfach abschütteln. Grange, wenn wirklich die SOL zurück ist, wird das einen unglaublichen Wirbel erzeugt haben. Außer diesem einen Funkspruch muss es Tausende andere geben, die sich mit Atlan und der SOL befassen. Lass danach suchen! Ich will schnellstens informiert werden.«

Szathely und Ebanks waren an Bord ihrer Schiffe zurückgekehrt. Perry Rhodan hatte um eine Vertagung der Lagebesprechung gebeten.

Die Kommunikationstechniker arbeiteten intensiv daran, dem verstümmelten Funkspruch weitere Informationen zu entlocken. Andere Hinweise auf die Rückkehr der SOL gab es bislang nicht.

Für einen Moment ließ sich Perry Rhodan von seinen Erinnerungen treiben. Die SOL! Für ihn war sie ein Schiff der Emotionen, der Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch der überwundenen Verzweiflung. Ein Sinnbild dessen, was Menschen bewegen konnten, wenn sie nur zusammenhielten. Große kosmische Geschichte war ebenso untrennbar mit diesem Schiff verbunden wie das kleine, behutsam zu pflegende Pflänzchen eines neuen Menschentyps. Kein anderer Name stand so deutlich für eine der bewegendsten Epochen der Menschheit, die zudem bis in diese Tage fortwirkte. Das Generationenschiff, das seine Reise mit einer gewaltigen Odyssee begonnen hatte – eine stählerne Hantel, sechseinhalb Kilometer lang, zusammengefügt aus zwei Trägerschlachtschiffen der GALAXIS-Klasse und einem zylinderförmigen Mittelteil, galt seit mehr als vier Jahrhunderten als verschollen ...

Rhodan schloss die Augen. Aber jetzt war nicht die Zeit für Träume.

Merkwürdigerweise blieb die befürchtete Panikmeldung von Terra aus. Er fragte sich, ob die Porleyter auf der Erde weniger brüsk vorgingen als gegenüber seiner Expeditionsflotte. Oder hatte die RAKAL WOOLVER das Solsystem bislang noch gar nicht erreicht?

Vier Stunden später meldete sich Dietrs. »Eine merkwürdige Sache«, eröffnete der Kommandant. »Der Funkspruch muss von einem Amateur gesendet worden sein, das zeigt die Struktur der Leitanweisungen. Offensichtlich bestand derjenige darauf, den Leitweg selbst zusammenzustellen, anstatt das der Sendepositronik zu überlassen. Deshalb kam es zur Irrleitung. Der eigentliche Empfänger hat die Information wahrscheinlich nie erhalten.«

»Ein Amateur?«

»Jemand, der etwas ausplaudern wollte, was eigentlich hätte geheim bleiben sollen. Angenommen, er befand sich an Bord eines Raumschiffs, das der SOL begegnete, es gab einen Kontakt und Atlan wurde erkannt.«

»Weit draußen im Halo, irgendwo zwischen der Milchstraße und Magellan. Derjenige hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Sensation hinauszuposaunen.«

»Wenigstens wollte er das«, behauptete Dietrs. »Aber Atlan ...«

»Atlan würde so etwas nicht zulassen.« Rhodan rieb über die kleine Narbe an seinem Nasenflügel. »Ihm käme es auf die Überraschung an. Er müsste sich sehr verändert haben, wenn er nicht plante, mit einem Paukenschlag im Solsystem zu erscheinen.«

»So stelle ich mir das ebenfalls vor«, pflichtete Dietrs bei. »Atlan bittet also, die Begegnung vorerst geheim zu halten. Der Kommandant ist einverstanden, doch jemand aus der Besatzung will die Neuigkeit unbedingt loswerden. Vielleicht erhofft der Betreffende sich ein kräftiges Honorar von einem der Nachrichtendienste. Er versteht nichts von den Erfordernissen eines weitreichenden Hyperfunkspruchs, versucht es trotzdem ...«

Im Hintergrund der Zentrale entstand Unruhe. Alarm schrillte auf, brach aber nach Sekunden wieder ab.

Dietrs hatte sich ruckartig umgewandt. »Ein weiterer Empfang!«, sagte er hastig.

Das Prasseln und Knacken starker Störfronten erklang. Augenblicke später eine markante Stimme, laut, machtvoll und dröhnend:

»Kristallprinz an den Barbaren von Terra! Ich weiß, in welchem Raumsektor du steckst! Melde dich, wenn du Mut hast, den Geistern der Vergangenheit zu begegnen. Hier spricht die SOL.«

Rhodan verzog die Mundwinkel. Es gab eine Bildübertragung, aber sie zeigte nur ein nebliges Durcheinander aus bunten, verschwommenen Lichtflecken.

Die Stimme, vertraut, wenngleich seit über vierhundert Jahren nicht mehr gehört, begann von Neuem: »Kristallprinz an den Barbaren von Terra ...«

Beinahe wie im Traum lauschte Perry Rhodan dem altbekannten Klang. Die Verbindung war mittlerweile gut, wenngleich weiterhin von Störungen überlagert. Die große Distanz zwischen der SOL und dem von der WEECKEN geführten Verband bereitete Probleme. Nur in der Leere des galaktischen Halos war die direkte Hyperfunkverbindung ohne Zwischenschaltung eines Relais überhaupt möglich. Für eine korrekte Bildübertragung reichte die Bandbreite des Senders nicht aus.

»Es ist lange her.« Der Arkonide lächelte geheimnisvoll. »Entsprechend viel gibt es zu berichten.«

»Wir haben dich vermisst«, sagte Rhodan. »Ich ... wir ... Niemand war sicher, ob du ...«

»Ob ich längst in die Hölle gefahren wäre?« Atlan lachte. »Nah daran war ich oft genug. Aber ich kam mit einem Auftrag aus dem Bereich der Kosmokraten zurück. Und wem das Schicksal ein Amt gibt, dem gibt es zugleich die Kraft zum Überleben.«

Das war ein Stichwort – und was für eins!

»Du hast die Kosmokraten gesehen?«

»Leider erinnere ich mich nicht.« Atlans Worte klangen schwer. »Es spielt auch keine Rolle. Ich kenne ihren Auftrag, das genügt.«

Rhodans Anspannung wuchs. Kam im entscheidenden Augenblick die dringend erwartete Hilfe? Brachte Atlan Informationen von jenseits der Materiequelle, die es möglich machten, das Porleyter-Dilemma zu entschärfen und die Verteidigung gegen Seth-Apophis wirksamer zu gestalten?

»Wir vereinbaren einen Treffpunkt«, schlug Rhodan vor. »Es ist wichtig, dass wir schnellstens über die Situation in der Milchstraße reden.«

»Die Lage ist nicht so, wie sie sein sollte?«

»Darüber später. Ich bitte dich, alle Funksprüche zu unterlassen, die dazu beitragen könnten, dass die SOL identifiziert wird.«

»Ich tue, was du mir rätst. Nenne mir den Treffpunkt und wir ändern sofort den Kurs.«

Die Hauptpositronik der WEECKEN ermittelte geeignete Koordinaten annähernd auf halbem Weg zwischen beiden Raumschiffen. Die Zahlenwerte wurden der SOL übermittelt. Atlan meldete sich ein letztes Mal, nachdem die erforderlichen Kursberechnungen vorlagen.

»Die Zeit der Trennung geht zu Ende, Perry. Wir sehen uns in gut fünf Stunden.«

Für Perry Rhodan wurden es Stunden, die nur quälend langsam vergingen. Länger als zwei Menschenleben waren der Arkonide und er einander fern gewesen und womöglich weiter voneinander getrennt, als er es abschätzen konnte.

Dann, endlich, kam die SOL. Rhodan verließ die WEECKEN an Bord einer Space-Jet, um zu dem Generationenschiff überzusetzen.

Es wurde ein kurzer Flug.

Betroffen stellte Rhodan fest, dass die SOL nicht vollständig war. Eine der beiden Kugelzellen fehlte, die SOL-Zelle-2. Das markante Hantelschiff von einst war unsymmetrisch, nur noch eine Kugel und der dicke, gedrungene Zylinder des einstigen Mittelteils.

Der Schmerz dieser Feststellung war indes kurz, denn die Space-Jet glitt schon auf eine hell erleuchtete offene Schleuse zu.

Rhodan betrachtete die optische Vergrößerung des matt glänzenden Rumpfs, der vor ihm aufragte – zerschrammt von ungezählten Mikrometeoriten und verfärbt von der Kanonade energiereicher Korpuskeln. Hausgroße Lettern markierten einzelne Sektoren, ihre Umrisse waren verblasst, die Lackierung zum Teil abgeschabt.

Welchen Gefahren mochte dieses Schiff in den letzten 425 Jahren getrotzt haben?

Perry Rhodan schob alle aufkommenden Erinnerungen beiseite. Er musterte seine Begleiter. Gucky hatte den Nagezahn entblößt und blickte angespannt auf die Bildwiedergabe. Szathelys Gesicht war leicht gerötet. Selbst Dietrs, der sonst unerschütterliche Hüne, kauerte vornübergebeugt im Sessel, als könne er dem Bild nicht nah genug kommen. Roman Ebanks zeigte als Einziger keine Regung.

Langsam näherte sich die Space-Jet der offenen Schleuse im Zylindersegment. Roboter waren in zwei Doppelreihen angetreten: ein Empfangskommando, das in üppiger Lichtfülle badete.

Das Diskusboot flog ein und verharrte in der Schwebe, bis sich das Außenschott schloss und der Druckausgleich erfolgte. Das Licht wurde matter, das Innenschott glitt auf und gab den Blick in einen weitläufigen Hangar frei.

Hunderte Solaner hatten sich eingefunden. Sie bildeten einen weiten Halbkreis, und im Mittelpunkt des Halbkreises standen zwei Personen.

Der schlanke, große Mann mit den silberweißen Haaren war Atlan.

Aber wer stand an seiner Seite? Wen hatte der Arkonide für würdig befunden, an diesem Wiedersehen nach über vierhundert Jahren teilzunehmen?

Es war eine Frau.

Obwohl Perry Rhodan ihr Gesicht auf die Distanz nicht erkennen konnte, fühlte er sich von ihr angezogen. Das war etwas, was ihn überraschte und neugierig machte. Unwillig, mit einiger Mühe, schüttelte er den seltsamen Einfluss von sich ab.

Dieser Moment war ihm zu wichtig, als dass er sich ablenken lassen durfte. Er war gekommen, um Atlan zu begrüßen. Nur der Arkonide war jetzt von Bedeutung, niemand sonst.

Und doch ging ihm die Frage nicht aus dem Sinn:

2.

»Gesil ist aus ihrer Unterkunft verschwunden«, meldete Tanwalzen, der das Kommando über die SOL hatte.

»Und?«, fragte Atlan.

»Sie befindet sich nicht in ihrer Kabine, und wir wissen nicht, wo sie ist.«

»Unmöglich. Gesil ist nicht irgendwer. Sie hinterlässt überall ihre Spuren, vor allem bei den Männern, deren Weg sie kreuzt. Also muss es Zeugen geben, die Gesil bemerkt haben.«

»Eben nicht«, entgegnete Tanwalzen. »Sie scheint es darauf angelegt zu haben, nicht entdeckt zu werden. Es ist wirklich nicht schwer, auf der SOL unterzutauchen.«

»Warum sollte sie das tun?« Atlans Frage war Ausdruck seiner Verwunderung, denn er glaubte, dass er einen recht guten Kontakt zu Gesil geknüpft hatte und ihr Vertrauen genoss. Die betörende Frau, der er in der Station auf Spoodie-Schlacke begegnet war, blieb auch für ihn unnahbar.

»Durchkämmt das gesamte Schiff!«, ordnete er an. »Einschließlich der weniger frequentierten Sektionen.«

Nach zwei Tagen vergeblichen Suchens war Gesil plötzlich wieder da. Nur legte sie keine Rechenschaft über ihr Verschwinden ab und verriet nicht, wo sie sich zuletzt aufgehalten hatte. Sie wirkte entrückt und irritiert zugleich. »Es ist so ganz anders, als es mir vorschwebt ...«, mehr sagte Gesil nicht.

Dass Atlan sie daraufhin beobachten ließ, hinderte die Fremde nicht daran, weitere Male ungehindert zu verschwinden.

Ihre Spur führte zu den Lagerräumen der SOL-Zelle-1. Allerdings kam nicht heraus, was Gesil dort suchte. Ihre Exkursionen wurden nicht publik gemacht, doch das nährte erst recht die verrücktesten Spekulationen. Dadurch verdichtete sich die Aura des Geheimnisvollen weiter, die Gesil umgab.

Sie verdreht dir den Kopf, kommentierte Atlans Logiksektor.

Stimmt, bestätigte der Arkonide in Gedanken. Das aber auf eine Art, wie ich sie bisher nicht kannte.

Als die Meldung kam, dass Gesil erneut aus ihrer Kabine verschwunden war, suchte Atlan sofort bei den Lagerräumen nach ihr.

Er stieß auf einen bewaffneten Wachtposten.

»Was bedeutet das?«, fragte der Arkonide.

»Tanwalzen hat angeordnet, die Lagerräume mit den Spoodies zu bewachen. Alle Zugänge sind besetzt.«

»Hast du Gesil gesehen?«

»Sie war nicht hier.«

Atlan machte einen Rundgang und befragte auch andere Posten – vergeblich. Erst danach betrat er die Sperrzone mit den drei Lagerräumen, in denen die Symbionten untergebracht waren.

Behälter reihte sich an Behälter. Jeder enthielt Tausende der die Intelligenz fördernden Winzlinge. Hier lagerten Millionen Spoodies. Eine kostbare Fracht, ein Geschenk für Perry Rhodan und die Menschen der Milchstraße.

Atlan traf Gesil im zweiten Raum. Von einer Galerie aus blickte sie auf einen geöffneten Behälter hinab.

Gesil trug eine grüne Bordkombination, die ihr gut zu Gesicht stand. Ihr Profil ließ die hohe Stirn erkennen, die sanft geschwungene Nase und den sinnlichen, leicht geöffneten Mund. Das lange schwarze Haar hatte sie sich aus dem Gesicht gekämmt. Sie bot den Anblick einer schönen Dreißigjährigen in stolzer, aber unentschlossener Haltung. Für einen Unbefangenen, der nichts weiter über sie wusste, mochte sie eine zwar reizvolle, aber trotzdem durchschnittliche Erscheinung sein.

Erst als sie Atlan aus ihren dunklen Augen anblickte, eigentlich durch ihn hindurchsah, wurde das ganze Spektrum ihrer Ungewöhnlichkeit deutlich. Der Arkonide versuchte nicht erst, sich der Kraft ihrer Augen zu entziehen. In seinem Geist loderten schwarze Flammen, und dieses dunkle Feuer erschien ihm voll von Widersprüchlichkeiten. Angst paarte sich darin mit Furchtlosigkeit, Macht mit Ohnmacht, Wissen mit Ratlosigkeit. Gesil schien in gleichem Maß zielstrebig wie irrend zu sein ...

Wie oft Atlan diese Erfahrung auch schon gemacht hatte, sie war für ihn immer wieder neu. In manchen Augenblicken war ihm, als kenne er diese Frau seit Langem. Dann wieder kehrte sie Seiten hervor, die er an ihr bislang nicht bemerkt hatte, und das machte sie ihm fremd.

»Wir können gehen.« Gesil schritt zu ihm herab.

»Bist du schon fertig?«, fragte Atlan. »Ich will dich nicht stören.«

»Wobei willst du mich nicht stören?«

»Sag du es mir!«

Gesil lachte. »Das mag ich so an dir, Arkonide. Was du sagst, ist nicht immer sinnvoll, aber voll hintergründigem Witz.«

Atlan hatte den Eindruck, dass sie sich über ihn lustig machte. Dabei war er sicher, dass sie weder Spott noch Zynismus kannte. Sie hatte auch keinen Sinn für Humor, und wenn sie lachte, so wie eben, dann tat sie es meist zu den unpassendsten Gelegenheiten. Sie hatte das Lachen ebenso gelernt wie die Umgangssprache Interkosmo.

Atlan betrachtete sie von der Seite. Ihr Gesichtsausdruck sprach ihren Worten Hohn. Gesil wirkte angespannt. Er glaubte, ihre innere Unsicherheit fast körperlich zu spüren.

Gesil war und blieb ein Rätsel. Sie barg ein Geheimnis, zu dem sie vielleicht selbst den Zugang verloren hatte.

»Warum hast du die Lagerräume mit den Spoodies aufgesucht?«, drängte Atlan.

»Muss es dafür einen besonderen Grund geben?«, fragte Gesil zurück.

»Du warst nicht das erste Mal dort. Was zieht dich immer wieder zu den Spoodies?«

»Sie sind ein Bezugspunkt zu meinem früheren Leben.« Gesil sah ihn geradewegs an. »Sie stammen von demselben Ort wie ich.«

»Welchen Ort meinst du?«

»Spoodie-Schlacke natürlich.«

»Das ist die Bezeichnung, die wir dem Asteroiden gegeben haben.« Atlan seufzte. »Ich entsinne mich, dass du einen anderen Namen genannt hast, als du noch kein Interkosmo konntest.«

»Was war das für ein Name?« Gesils Miene war ein einziges Fragezeichen.

Aus dem Augenwinkel sah Atlan, dass der kleine Glaswürfel mit dem eingegossenen Holoprojektor über die Tischkante rutschte, kurz in der Luft hing und dann wieder an seinen Platz zurückkehrte.

»Spoodie-Schlacke ist Spoodie-Schlacke«, murmelte Gesil.

»Als wir uns zum ersten Mal begegneten, konnten wir uns nicht verständigen, weil jeder eine andere Sprache benutzte«, erinnerte Atlan. »Ich Interkosmo und Krandhorjan – und du ...?«

»Wir konnten uns durchaus verständigen. Ich fand schnell heraus, dass du kein Feind warst.«

»Aber du hattest eine andere Sprache, Gesil. Welche?«

»Wie soll ich dir das in Interkosmo sagen?«

»Erkläre es mir in jenem Idiom!«

Gesil wirkte höchst konzentriert. Atlan ließ sie nicht aus den Augen, doch als er ihrem Blick begegnete, wendete er sich rasch ab, um nicht von schwarzen Flammen abgelenkt zu werden.

Ein splitterndes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Als er zum Tischrand blickte, war der Glaswürfel verschwunden. Er lag in Scherben auf dem Boden.

»Warum tust du das, Gesil! Wenn ich mich darum bemühe, das Rätsel deiner Herkunft zu ergründen, dann geschieht das auch zu deinem Besten.«

»Ich stamme aus Varnhagher-Ghynnst! Das habe ich dir gesagt.«

»Aus Varnhagher-Ghynnst«, wiederholte Atlan skeptisch. »Und welchem Volk gehörst du an? Wo sind deine Artgenossen zu Hause? In welcher Galaxis liegt deine Heimatwelt? Wie heißt die Sonne des Systems, in dem du geboren wurdest?«

»Muss ich denn einem Volk angehören und Artgenossen haben?«, fragte sie nachdenklich. »Warum forscht du nach Namen, die keinerlei Bedeutung haben?«

»Namen sind von großer Bedeutung«, sagte Atlan ärgerlich. »Sie könnten uns helfen, dein Geheimnis zu ergründen. Gesil, erinnere dich!«

Sie murmelte etwas, das Atlan nicht verstand. Jäh wurde ihm bewusst, dass sie in ihrer Sprache gesprochen hatte. »Wiederhole es!«, verlangte er.

Gesil sah ihn verwundert an. »Ich sagte: ›Die Form eines Dinges ist ohne Belang, es kommt auf seine wahre Natur an. Etwas mit tausend Namen hat nicht auch tausend Gesichter.‹«

»Das klingt gut. Trotzdem möchte ich es in deiner Sprache hören.«

»Dadurch würde sich der Inhalt nicht verändern.«

»Tu mir bitte den Gefallen und wiederhole das Zitat, oder was immer es ist, in deiner Sprache.«

»Wie du willst.« Gesil wirkte verständnislos. Sie wiederholte das Gesagte in Interkosmo.

Atlan gab es auf. Er war in seiner Enttäuschung geneigt, ihr zu glauben, dass sie mit dem Erlernen des Interkosmo den Gebrauch ihrer Muttersprache vergessen hatte. Vielleicht war es die Philosophie ihres Volkes, jedem Ding nur einen Namen zu geben. Da sie vieles nun in Interkosmo benannte, wurde das unnötig gewordene frühere Vokabular aus ihrem Gedächtnis gelöscht. So einfach mochte das sein.

Er hatte es versäumt, Gesils Sprache aufzuzeichnen. Atlan sah das als nicht wiedergutzumachende Unterlassungssünde an. Gesil trug alle Antworten in sich, nur hatte er bislang keinen Schlüssel dazu gefunden. Er fragte sich, ob die Spoodies ein solcher Schlüssel sein mochten.

»Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Was hat dich zu den Spoodies hingezogen?«

»Neugierde?« Gesil schaute ihn aus großen unschuldigen Augen an.

Atlan wich dem Blick aus. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Spoodies für dich eine besondere Bedeutung haben. Du suchst die Lagerräume auf, um durch den Anblick der Symbionten die verlorene Erinnerung zurückzuerhalten. Ist es so?«

»Wenn du wirklich meinst«, sagte sie unsicher.

»Wir könnten es herausfinden. Ein einfacher Versuch würde genügen. Gehen wir gemeinsam zu einem der Lagerräume ...«

»Nein!«, rief Gesil ängstlich. »Das will ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Die Spoodies interessieren mich gar nicht.«

»Du meinst, sie interessieren dich nicht mehr. Warum ist das so?«

Gesil dachte nach. Dann lachte sie schallend – und völlig unmotiviert, wie Atlan fand. Es war ein überaus gekünsteltes Lachen, wie von jemandem, der sich keine Blöße geben wollte und damit seine Furcht überspielte. Aber war Furcht der richtige Ausdruck? Gesils Verstörtheit beim Verlassen der Lagerräume hatte eher auf Enttäuschung schließen lassen.

»Was hast du beim Anblick der Spoodies empfunden?«, fasste Atlan nach.

»Ich dachte ...«

»Was dachtest du?«

Gesil schwieg.

»Ich werde nicht klug aus dir«, sagte Atlan resignierend. »Ich weiß nie, woran ich bei dir bin.«

»Bin ich so schwer zu verstehen?« Fast traurig sah sie ihn an, durch ihn hindurch – und in weite Ferne. Was sah sie dort? Atlan wäre ihr gerne an jenen Ort gefolgt, um zu erfahren, welche ungestillte Sehnsucht ihre dunklen Augen widerspiegelten ... Waren die schwarzen Flammen, die in seinem Geist fraßen, eine Projektion ihres eigenen Fegefeuers?

Atlan hätte Gesil in diesem Moment am liebsten umarmt. Als die Flammen ihn entließen, hatte sie den Raum verlassen.

»Die Frau ist eine Sphinx«, hatte Tanwalzen vor Kurzem gesagt. Ja, das war Gesil unzweifelhaft.

Melborn tat seit drei Monaten regelmäßig Dienst in der Funkzentrale. Anfangs hatte er mit Caela zusammengearbeitet, doch nach seiner Einarbeitung waren sie getrennt worden und hatten verschiedene Dienstzeiten. Nur während der Zwischenstopps, die der Kursbestimmung dienten, taten sie zusammen Dienst.

Die SOL hatte ihren Überlichtflug im Bereich einer Kleingalaxis unterbrochen.

»Hoffentlich gelingt uns diesmal ein entscheidender Schritt in Richtung Milchstraße«, sagte Melborn.

»Ich glaube nicht an Wunder«, entgegnete Caela. »Pass auf: Hyperechos!«

Melborn ordnete die eingehenden Signale nach Frequenzen. »Eine sinnlose Tätigkeit«, schimpfte er. »Die Positronik könnte das wesentlich schneller erledigen.«

»... leider nicht fehlerfrei. Wir dürfen uns auf SENECA nicht in jeder Hinsicht verlassen. Wäre es anders, hätten wir schon vor Wochen die Milchstraße aufgespürt und wären längst auf Terra.«

Melborn sah sie an. Caela saß links von ihm, sodass sie ihm ihre rechte Gesichtshälfte mit der Buhrlo-Narbe zeigte. Er hatte selbst eine Buhrlo-Narbe auf der linken Wange und fand seit Langem, dass sie beide sich gegenseitig prächtig ergänzten. Ihre Buhrlo-Narben ergaben zusammen ein Buhrlo-Gesicht. Aber es lag lange zurück, dass sie Kopf an Kopf in den Spiegel geblickt und sich darüber amüsiert hatten. Über drei Monate. Seit alle Gläsernen die SOL verlassen hatten, empfand Caela ihre Buhrlo-Narbe als Makel.

»Glaubst du, dass sich auf Terra alles ändern wird?«, fragte er.

Für einen Moment schien es, als wolle sie ihm antworten. Dann straffte sie sich: »Wir stehen im Dienst. Entweder du konzentrierst dich auf deine Arbeit, oder du lässt dich ablösen.«

»Das werde ich tun«, sagte Melborn. »Ich glaube, ich bin nicht ganz bei der Sache.«

Mit der Begründung einer plötzlichen Schwäche meldete er sich beim Chef der Funkzentrale ab. Das war gar nicht mal gelogen; er sah sich außerstande, das ihm nutzlos erscheinende Sortieren von Signalen fortzusetzen.

»Melborn«, sagte Caela, als er sich aus dem Sessel erhob, um zu gehen. »Ich kenne deine Aufzeichnungen. Auch das Gedicht über Gesil. Ist es dir wirklich nicht möglich, dich ihrem Bann zu entziehen?«

»Du spionierst mir nach?« Er stürmte davon, um sich in seiner Erregung nicht zu einer Unbesonnenheit hinreißen zu lassen.

Dass Caela ihm ausgerechnet Gesil vorhielt, war unfair. Er warf ihr doch auch nicht ihren Buhrlo-Komplex vor, der sie daran hinderte, mit ihm eine festere Bindung einzugehen.

Atlan, Tanwalzen und Skiryon standen im Kommandobereich beisammen. Melborn eilte schnell vorbei, um nicht aufgehalten zu werden. »Ich glaube, dass wir unserem Ziel wieder ein Stück näher gekommen sind ...«, hörte er Skiryon sagen, der auf Kran Atlans Chef des Nachrichtendienstes gewesen war.

Das Ziel war natürlich die Milchstraße. Aber wie viel mochte ein »Stück« von einer bislang unbestimmten Distanz sein?

»Melborn!« Das war Skiryons Stimme, und er rief ein zweites Mal. Sekunden später holte er Melborn ein und hielt ihn fest. »Warum stellst du dich taub?«

»Vielleicht möchte ich für eine Weile allein sein«, erwiderte Melborn.

»Was ist mit dir und Caela? Ich dachte, ihr wolltet eine Lebensgemeinschaft eingehen?«

»Ist das nicht unsere Sache?«, sagte Melborn heftig.

»Ja, du hast recht, es geht mich wenig an«, stimmte Skiryon zu. »Als dein Vater interessiert mich trotzdem, warum du es dir anders überlegt hast.«

Melborn biss sich auf die Zunge.

»Es liegt einfach daran, dass keine Buhrlos mehr an Bord sind«, sagte er endlich. »Cae und ich wären diese Verbindung eingegangen, um Kinder zu haben. Wir wollten damit lediglich warten, bis wir Terra erreicht hätten. Dann passierte das mit den Buhrlos. Seit sie die SOL verließen, hat Cae Angst vor einem Kind. Sie fürchtet, dass es ein Buhrlo werden könnte. Und unser Kind wäre dann das Einzige seiner Art.«

Skiryon lächelte verständnisvoll. Der Auszug der wenigen Hundert Gläsernen haftete allen im Gedächtnis, wie sie sich ins Vakuum gestürzt hatten und durch den Weltraum trieben, ihre Körper förmlich verpuppten und unter der dicken Hautpanzerung in Starre verfielen. Jeder an Bord der SOL ahnte, dass dies sicherlich nicht das Ende der Buhrlos bedeutet hatte, sondern eher ein neuer Anfang gewesen war. Nur aus dem Leben der Solaner waren sie verschwunden.

»Vielleicht gibt es einen zweiten Grund für euer Zerwürfnis«, sagte Skiryon unvermittelt. »Mir ist nicht entgangen, dass du die meiste Zeit über in Gesils Nähe herumschleichst. Sei ein Mann, Melborn ...«

Das war zu viel. »Vielleicht bist du kein Mann, wenn du nicht merkst, was in Gesil steckt!«, rief Melborn aufgebracht und hastete weiter.

Er schaltete eine Interkomverbindung zu Bescams Kabine, doch das Gespräch wurde nicht angenommen. Da Bescam, der dem Hangarpersonal angehörte, dienstfrei hatte, machte Melborn sich auf die Suche nach ihm. Er fand den Freund in dem Gemeinschaftsraum nah bei Gesils Kabine.

»Gibt es Neuigkeiten aus der Kommandozentrale?«, erkundigte sich Bescam. Außer ihnen beiden war niemand in dem offenen Raum, denn der ganze Wohnsektor stand leer. Hier lebte nur Gesil.

Melborn schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Wir nähern uns dem Ziel mit kleinen Schritten, sozusagen trippelnd.«

»SENECA, ich weiß«, sagte Bescam. »Erst gestern weigerte sich die Positronik, für uns ein Hangarschott zu öffnen ...«

»Das hast du mir schon erzählt. Und?«

»Es ist immer noch geschlossen.«

»Was gibt es hier?«, fragte Melborn.

»Nichts«, sagte Bescam enttäuscht. »Vielleicht schläft Gesil. Bislang hat sie sich nicht blicken lassen und auch keinen Wind, nicht einmal ein Lüftchen, entfacht.«

Unter »Wind machen« verstand Bescam von Gesil verursachte Phänomene.

Bescam war zwanzig, ein Jahr älter als Melborn, und er hatte keine Buhrlo-Narbe. Sie kannten einander, seit die Betschiden von Chircool an Bord geholt worden waren, und wären sich damals beinahe gegenseitig in die Haare geraten. »Noch solche Exoten«, hatte Bescam festgestellt. Da Melborn sich bemüßigt gefühlt hatte, die Buhrlos zu verteidigen, waren sie im Zorn auseinandergegangen.

Später waren sie bei Gesils Kabine wieder aufeinandergetroffen. Seltsamerweise hatte das nicht die Rivalität verstärkt, sondern ihre Freundschaft gefördert. Bescam hatte sich für seine Bemerkung über Betschiden und Buhrlos entschuldigt.

Melborn lächelte. Gesil faszinierte ihn auf eine andere Weise als alle anderen Männer an Bord der SOL. Er liebte Cae, das mit Gesil war Schwärmerei. Nur hinderte ihn das nicht daran, sich ausgiebig mit der Fremden zu befassen.

Vor einer Woche hatten Melborn und Bescam ein Geheimnis entdeckt, als sie Gesil zu den Laderäumen der SZ-1 gefolgt waren. Es war nicht schwer gewesen, ihr auf der Spur zu bleiben, denn beide hatten sie sich nur an der Vision der schwarzen Flammen orientieren müssen. Aus irgendeinem Grund hatte Gesil sie näher an sich herangelassen als alle anderen. Womöglich hatten sie nur deshalb die Trennwand entdeckt, die es eigentlich nicht geben durfte. Diese Wand aus Metallplatten verbarg ein Schott, den Zugang zu Räumen, die wohl seit Generationen kein Mensch betreten hatte. Bis auf die Reste technischer Geräte waren die Räume leer. Es schien, dass schon vor langer Zeit das Inventar gewaltsam entfernt oder zerstört worden war.

Bescam hatte schließlich einen weiteren Geheimraum entdeckt, aber ohne Lampe nicht die Möglichkeit gehabt, diesen sofort zu erforschen. Es gab dort keine Beleuchtung. Nun wollten sie das nachholen, deshalb hatten sie sich getroffen.

»Gesil verdreht allen Männern den Kopf.« Bescam klopfte Melborn auf die Schulter. »Aber nur wir beide sind ihre Günstlinge.« Er zog eine Stablampe aus der Seitentasche seiner Bordkombi. »Worauf warten wir noch?«

Dass es auf der SOL eine unerforschte Region gab, war bei den gewaltigen Dimensionen des Generationenschiffs gar nicht ungewöhnlich. Melborn hielt seine Erwartungen allerdings sehr niedrig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie eine bedeutende Entdeckung machen würden.

Die getarnte Tür fiel auch bei genauerem Hinsehen nicht auf. Selbst mit Energietastern wäre sie nicht aufzuspüren gewesen, weil sie keine Energiezufuhr hatte und keine positronische Verriegelung. Bescam fand die Funktionsweise des Mechanismus schnell heraus.

Ein seltsamer Geruch schlug ihnen entgegen, als die Tür aufglitt. Bescam hielt sich die Nase zu und leuchtete in den geöffneten Raum. Da er keine Anstalten traf, durch die Öffnung zu klettern, machte Melborn den Anfang.

»Woher kommt der Gestank?«, fragte Bescam.

Melborn griff zurück und nahm dem Freund die Lampe ab. »Vielleicht ist das Verwesungsgeruch, der sich seit Jahrhunderten staut.«

»Du meinst, wir könnten Tote finden? In dem Fall sollten wir endlich Meldung machen.«

»Das würde eine Reihe peinlicher Fragen nach sich ziehen«, sagte Melborn.

Der Hohlraum war nur zweieinhalb Meter breit und etwa zehn lang und endete auf beiden Seiten an Metallträgern, die in einer Höhe von drei Metern durchbrochen waren. Zu den kreisrunden Öffnungen führten Griffsprossen hinauf, deren nicht gerade fachmännisch angebrachte Klebenähte verrieten, dass die Leitern nachträglich angebracht worden waren. In rund zehn Metern Höhe schloss eine Querstrebe den Hohlraum ab. Die Wände wiesen in verschiedenen Bereichen Querrillen und Löcher auf, wahrscheinlich war der Hohlraum einst in drei weitere Etagen unterteilt gewesen.

»Da ist nichts«, sagte Melborn. »Wir können wieder gehen.«

Bescam deutete zu einer der Öffnungen hinauf. »Dahinter könnten weitere Räume liegen. Ich bin sicher, dass ein wahres Labyrinth von Geheimgängen existiert, die möglicherweise die gesamte SOL-Zelle durchziehen.«

»Mit dir geht die Phantasie durch.« Melborn seufzte. »Ich hatte Gelegenheit, in der Kommandozentrale einen Lageplan anzusehen. Natürlich gibt es viele Hohlräume zwischen den Decks und den Trennwänden, das gesamte Trägerskelett der SOL ist verschalt. Aber fast alles ist vollgestopft mit Leitungen und Geräten. Für Verstecke bleibt nicht viel Platz.«

»Und das hier?«

Melborn zuckte die Schultern. Er kletterte die Leiter zu seiner Linken hinauf. Als er die Öffnung erreicht und hineinleuchtete, stöhnte er.

»Was siehst du?«, fragte Bescam von unten. »Skelette?«

»Komm hoch und schau es dir an!« Melborn stieg durch die Öffnung. »Schraub deine Erwartungen aber nicht zu hoch.«

Auf dieser Seite des Stützpfeilers existierte noch die provisorische Raumunterteilung. In Höhe des unteren Öffnungsrandes verlief ein Kunststoffboden, der unter Melborns Gewicht leicht nachgab. Der zweieinhalb Meter hohe Zwischenbereich endete indes schon am nächsten Pfeiler, der keine Öffnung aufwies, sondern einen Schaltkasten. Boden und Decke der Zwischenetage waren unterbrochen, eine in die Wand eingelassene Eisenleiter führte sowohl aufwärts als auch in die Tiefe.

»Toll!«, rief Bescam, als er zu Melborn aufschloss. »Ich sage dir, dies war das Versteck einer Sekte, die von den anderen Gruppen verfolgt wurde. Früher einmal gab es auf der SOL viele Sekten. Auf diesem Generationenschiff müssen sich Dinge abgespielt haben ...«

»Hör auf mit deinen Phantastereien.« Melborn ging zu der Bodenöffnung und leuchtete den darunterliegenden Hohlraum aus. Keine Skelette von Solanern; keine Relikte eines Geheimbunds; nichts. Melborn spürte Bescams Atem im Nacken, als dieser versuchte, ihm über die Schulter zu blicken.

»Alle Spuren wurden beseitigt«, sagte Bescam. »Warum?«

»Um Spekulationen anzustellen, brauchten wir wenigstens einige Anhaltspunkte«, erwiderte Melborn.

Einen solchen fanden sie in der Etage über ihnen. Zumindest glaubte es Melborn, als das Licht der Lampe auf seltsam verformte Metallteile fiel. Aber schnell erkannte er, dass es sich um einen deformierten Roboter handelte. Wände, Boden und Decke zeigten Explosionsspuren.

»Fanatiker!«, behauptete Bescam. »Sektierer, die jede Technik verdammten, haben an diesem Roboter ein Ritual vollzogen.«

»Du machst mir den Kopf so voll mit deinem Unsinn, dass ich selbst nicht mehr weiß, was ich denken soll«, schimpfte Melborn.

»Könnte es nicht so gewesen sein?«

»Es gibt Tausende anderer Möglichkeiten – davon nicht wenige, die realistischer sind.«

Bescam schwieg daraufhin beleidigt.

Ohne große Erwartungen stieg Melborn die letzten Sprossen zur obersten Etage hinauf. Für ihn hatte das Versteck sein Geheimnis bereits preisgegeben und ihn enttäuscht. Umso überraschter war er, als er den Kopf durch die Bodenöffnung steckte und im Streulicht der Lampe einen Raumfahrer sah. Er zuckte förmlich zurück und verstand nicht einmal, was Bescam zu ihm sagte.

»Was ist?«, wiederholte Bescam drängend. »Was siehst du?«

»Du bekommst deine Leichen«, antwortete Melborn stockend. »Zumindest eine. Sie steckt in einem geschlossenen Raumanzug.«

»Herrje!«, entfuhr es Bescam. »Was für eine Entdeckung!«

Melborn kletterte aus dem Loch und hielt den Lichtstrahl auf der Gestalt im Raumanzug, die zusammengekauert im hintersten Winkel lehnte. Die Beine waren angewinkelt und seltsam verdreht. Die Arme lagen auf den Schenkeln. Der seitlich verblendete Raumhelm war abgewandt, Melborn reagierte darauf erleichtert. Er wollte nicht auf einen Totenschädel blicken.

Bescam schubste ihn weiter und folgte ihm.

Melborn hielt jäh inne. Sekundenlang hatte er den Eindruck, als blicke ihn über den Rand der Klarsichtfront des Helms ein Auge an.

»Warum gehst du nicht weiter?«, drängte Bescam.

»Ich glaube ...« Melborn musste sich die Lippen befeuchten. »Ich glaube, der Tote ist so gut erhalten, als würde er noch leben.«

»Du redest Unsinn. Wie sollte sich eine Leiche in einem Raumanzug über eine solche Zeitspanne konservieren können?«

Von Melborn fiel alle Anspannung ab, als er die Wahrheit erkannte. Er musste lachen, obwohl es nichts zu lachen gab.

Er war mit zwei Schritten bei der Gestalt, die ihm von Anfang an seltsam erschienen war, und lehnte sich dagegen. Der Raumanzug kippte zur Seite – und nun konnte auch Bescam sehen, dass hinter der Klarsichtscheibe nicht das mumifizierte Gesicht eines Toten war.

»Ein Foto!«, rief Bescam. »Und dahinter – positronische Bausteine. Bestandteile irgendwelcher Geräte.«

»Der Raumanzug ist damit gefüllt.« Melborn gluckste. »Jemand hat diese Schätze hier gehortet, weshalb auch immer. Und wir sind auf die Puppe hereingefallen.«

»Darüber kannst du lachen?«

»Entschuldige, mir war einfach danach.« Melborn sah auf das Foto, das lebensgroß und in verblichenen Farben den Kopf eines Mannes zeigte. Vermutlich war es vor geraumer Zeit sogar dreidimensional gewesen, aber dieser Effekt war erloschen. »Ich möchte wissen, wer der Mann gewesen ist«, fügte er hinzu.

Bescam öffnete den Raumanzug. Eine Fülle technischer Bausteine fiel ihm entgegen.

»Das sind Datenspeicher und Bestandteile eines Lesegeräts. Wenn ich mich nicht täusche, sogar ein kompletter Sender – zerlegt. Ich werde versuchen, die Geräte zusammenzubauen ...«

»Später!«, unterbrach Melborn. »Du kannst das Gerümpel haben, wenn du mir das Foto überlässt.«

Kurze Zeit später, nachdem sie das Versteck verlassen hatten, glaubte Melborn, einen lang gestreckten Schatten aus einem Querkorridor huschen und im Seitengang gegenüber verschwinden zu sehen.

»Ich möchte schwören, soeben Kater gesehen zu haben«, sagte Melborn ungläubig. Er hatte das kaum ausgesprochen, als eine menschliche Gestalt denselben Weg nahm.

»Das war Geston«, sagte Bescam verblüfft. »Was treibt ihn so weit fort von seinem Bereich? Betschiden wagen sich sonst kaum einen Schritt aus bekanntem Gebiet.«

»Kater muss ihm entwischt sein«, vermutete Melborn.

»Zum Glück ist Kater zahm und ungefährlich«, stellte Bescam fest.

Wenig später hatten sie den Vorfall vergessen. Melborn schob sich das Bildnis des ihm unbekannten Mannes aus längst vergangener Zeit unter die Kombination.

Dass sie beide einen Umweg machten, fiel ihnen erst auf, als sie die Vision schwarzer Flammen hatten. Melborn blieb stehen, aber Bescam zog ihn mit sich. »Versuchen wir, diesmal nicht an Gesil zu denken.«

Melborn verschwieg, dass er das Gefühl hatte, von Gesils dunklen Augen beobachtet zu werden und ihr Rufen zu hören. Er hielt das Bild unter der Kombination fest.

Sekunden später erreichte ihn ein lautloser Schrei. Gesil ist in Gefahr!, dachte er noch, dann verlor er die Besinnung.

Atlans Problem war, dass unzählige Galaxien zur Auswahl standen, von denen jede die Milchstraße sein konnte. Es galt, sie einzeln zu prüfen und Vergleiche mit den bekannten Werten anzustellen.

Die SOL stand aktuell im Bereich einer Kleingalaxis. Ihre Position wurde zunächst als »Hoffnungspunkt Nr. 17« bezeichnet. Nachdem die Berechnungen abgeschlossen waren und die kümmerlichen Ergebnisse vorlagen, benannte Tanwalzen die Position in »Große Enttäuschung Nr. 17« um.

»So spärlich war das Ergebnis bei keinem anderen Zwischenstopp«, fasste Atlan zusammen. »Dabei bin ich sicher, dass wir bereits in die Mächtigkeitsballung von ES eingedrungen sind. Zumindest befinden wir uns in der Überlappungszone von ES und dem Limbus.«

Atlan hatte eine Vorstellung des Großraums der Mächtigkeitsballungen ebenso wie der zwischen ihnen liegenden Pufferzone. Er erstellte sogar ein Diagramm davon, nur fehlten ihm Detailangaben, um dieses Diagramm in Sektoren einzuteilen und die Milchstraße einem der Sektoren zuzuweisen. Das war vorerst unmöglich, solange SENECA nicht einwandfrei funktionierte.

Atlan und Tanwalzen kamen überein, die SOL auf der anderen Seite der Kleingalaxis, 20.000 Lichtjahre entfernt, in Position zu bringen. Atlan überließ dem High Sideryt die Vorbereitungen.

»Du hast wohl Wichtigeres zu tun?«, fragte Tanwalzen spöttisch. »Es gibt genügend interne Probleme an Bord, ich weiß. Es wäre allen zuträglich, könntest du die Gesil-Hysterie eindämmen.«

»Ich habe versucht, sie zu isolieren, so gut es geht«, rechtfertigte sich Atlan.

Zeitgleich traf die Meldung ein, dass Gesil überfallen und in der Nähe ihrer Unterkunft ein bewusstloser junger Mann aufgefunden worden war. Durch die Kommandozentrale ging eine Woge der Empörung. Atlan machte sich daran, den Vorfall an Ort und Stelle zu untersuchen.

Die Tür zu Gesils Unterkunft war gewaltsam aufgebrochen – Spuren von Gewaltanwendung fanden sich indes nur auf der Innenseite. Gesil selbst hatte Hautabschürfungen an den Händen und einen Bluterguss unter dem linken Auge. Ein Medoroboter und eine Ärztin versorgten sie.

»Der Vorfall ist mysteriös«, berichtete Maer Asgard, die Ärztin, die auch die Untersuchung leitete. »Gesil dürfte ihren Besucher freiwillig eingelassen haben, und offenbar hat derjenige sofort zugeschlagen. Das lässt den Schluss zu, dass er sich gegen Gesils Beeinflussung wehrte. Das gewaltsame Öffnen der Tür von innen deutet auf eine panikartige Flucht hin.«

»Das Opfer ist also der wahre Schuldige«, argwöhnte Atlan.

»Ich nenne nur die Fakten. Gesil weckt in Männern Hoffnungen, die sie nie erfüllt. Dabei glaube ich nicht einmal, dass sie das absichtlich macht. Meine erste Vermutung war, dass jemand zudringlich wurde und sie ihn abwehren musste – aber den Gedanken habe ich schnell verworfen. Gesils Abschürfungen könnten eher von den Krallen eines Tieres stammen. Außerdem bedarf es enormer Kraft, um die Innenseite der Tür förmlich aufzusprengen. Melborn kommt gewiss nicht als Täter infrage.«

»Melborn?« Atlan wurde hellhörig.

»Das ist der junge Mann, den wir in der Nähe bewusstlos aufgefunden haben. Er hat keine Verletzungen, ist jedoch weiterhin ohne Bewusstsein. Allem Anschein nach hatte er einen Begleiter, den wir leider bislang nicht identifizieren konnten.«

»Lasst mich mit Gesil allein«, bat Atlan und ignorierte Asgards Proteste.

Er ging zu Gesil. Aus ihren Augen sprangen schwarze Flammen auf ihn über. Sie formten sich zu einem raubtierartigen Schatten, duckten sich zum Angriff. Atlan hob abwehrend die Hände, gleich darauf verschwand der Spuk.

»Wolltest du mir eben zeigen, was passiert ist?«, fragte er. »Fühltest du dich von einer solchen Bestie bedroht?«

Atlan sah ein ängstliches Flackern in Gesils Augen, das sofort wieder erlosch. Erneut erschien dieser unergründliche Ausdruck, den er so oft in ihrem Blick gesehen hatte, eine Mischung aus Wissenshunger und verzweifelter Weisheit zugleich.

»Ich fühlte mich nicht bedroht«, antwortete Gesil.

»Was ist vorgefallen?«

»Nichts.«

Atlan machte eine umfassende Geste. »Alles spricht dafür, dass ein Kampf stattgefunden hat. Die Tür wurde gewaltsam von innen aufgebrochen. Du weist an den Händen und im Gesicht Verletzungen auf, die den Kampf mit einem wilden Tier nahelegen. Aber du behauptest, es sei nichts gewesen.«

»Ein wildes Tier«, murmelte Gesil. Unvermittelt hob sie den Kopf und sah Atlan an. Ihr Blick war zwingend, voll lodernder Kraft, die ihm Schwindel verursachte.

»Ich weiß nicht, was passiert ist.« Gesil fasst nach Atlans Händen. »Du musst es mir glauben. Ich weiß nur, dass etwas im Werden begriffen ist. Es wird stärker ...« Sie machte eine Pause und fuhr dann bedächtig fort: »Es gilt, etwas zu verhindern und anderes zu fördern. Vielleicht ist es noch möglich, eine negative Entwicklung umzukehren und eine Synthese zwischen zwei entgegenwirkenden Strömungen herzustellen ...«

»Wovon sprichst du?«

»Wie soll ich dir das erklären? Dein Unverständnis zeigt, dass dir die Grundvoraussetzungen für das Begreifen dieses Komplexes fehlen. Du hast keinen Zugang zu dieser Materie.«

Atlan hatte das sichere Gefühl, dass jedes Wort wichtig war und der Schlüssel zu ihrem Geheimnis sein konnte. Um diesen zu finden, musste er Gesil zum Reden animieren.

Er berichtete ihr von dem Konflikt der Superintelligenzen Seth-Apophis und ES. Auch, dass er im Auftrag der Kosmokraten im Limbus zwischen beiden Mächtigkeitsballungen ein Sternenreich aufgebaut hatte, um Übergriffe von Seth-Apophis zu verhindern.

»Welche Aufgabe hattest du auf Spoodie-Schlacke?«, fragte Atlan sofort hinterher. »Wer sind deine Auftraggeber? Woher kommst du?«

»Ich habe dir alles gesagt. Ich komme von Varnhagher-Ghynnst, wo du mich gefunden hast.« Gesil lächelte, aber dieses Lächeln war eine einstudierte Grimasse. Darunter blieb sie das verlorene Geschöpf voller Weisheit und Zweifel.

Atlan verließ die Kabine, doch nach wenigen Sekunden drehte er wieder um. Die Tür war nur angelehnt, sie ließ sich wegen des beschädigten Schlosses nicht schließen.

Als Atlan eintreten wollte, sah er Gesil vor einem offenen Schrank stehen und etwas an der Innenseite der Schranktür betrachten. Für einen Moment glaubte er, durch Gesils Augen das Bild eines Mannes zu sehen, ohne Einzelheiten erkennen zu können. Unvermittelt war ihm, als spüre er Gesils zurechtweisenden Blick, obwohl sie ihm keine Beachtung schenkte.

Atlan wusste, wann er unerwünscht war. Er ging.

Die SOL hatte den Kurzflug über 20.000 Lichtjahre beendet und den neuen Standort »Hoffnungspunkt Nr. 18« erreicht.

Schon die ersten Messungen zeigten, dass nicht mit sensationellen Ergebnissen zu rechnen war. Ohne SENECAS volle Unterstützung konnte man sich weiterhin nur ans Ziel herantasten. Der Flug würde weitere Wochen oder Monate dauern, die Hochrechnungen ließen das offen.

Inzwischen war der Name von Melborns Begleiter bekannt. Er hieß Bescam und gehörte zum Hangarpersonal. Niemand wusste, wo er war, ein Rundruf blieb erfolglos. Atlan glaubte nicht, dass Melborn oder Bescam mit dem Überfall auf Gesil zu tun hatten. Aber sie waren Zeugen, die womöglich Licht in diese Angelegenheit hätten bringen können.

Atlan verließ die Kommandozentrale und suchte den Wohnsektor auf, in dem Melborn und Caela sich eine Doppelunterkunft teilten.

Für die Funkerin war es längst ein offenes Geheimnis, dass Melborn von Gesil schwärmte. Sie zeigte Atlan holografische Aufzeichnungen ihres Gefährten, unter anderem ein Gedicht, das er mit leidenschaftlicher Stimme rezitiert hatte:

»Die Schwarze Flamme.

Sie ist nicht Licht,

nicht Feuer,

keinem Element zuzuordnen.

Und doch brennt sie in einer alles verzehrenden

Glut der Leidenschaft ...«

Im Anschluss redete Melborn weiter: »Gesil ist, wenn ich es so ausdrücken kann, nicht auf Männerfang aus. Ohne Zweifel hat sie höhere Ziele. Viele meinen, dass Atlan dieser Frau verfallen sei und dass sie einen zerstörerischen Einfluss auf alle habe. Daran mag etwas Wahres sein, darum habe ich mir vorgenommen, Gesil zu beobachten und alle Phänomene in ihrem Bereich festzuhalten. Dazu zähle ich auch die Vision von schwarzen Flammen. Ich hoffe, dass meine Dokumentation aussagekräftig wird ...«

Atlan konzentrierte sich auf Melborns weitere Aufzeichnung.

Nach einigen Hinweisen, die er nur vom Hörensagen kannte, berichtete der Funker aus eigener Erfahrung, nicht als Betroffener, sondern als Zeuge. »Manchmal schäme ich mich, wenn ich in Gesils Nähe bin, in der Hoffnung, irgendein paranormales Signal zu erkennen«, sagte er. »Aber ich kann nicht anders. Nicht weil ich dieser Frau verfallen wäre, das überlasse ich den älteren Narren. Mich fesselt ihr vielschichtiges und zwiespältiges Wesen. Wer ist Gesil? Was ist sie? Was will sie? Ist ihre Anwesenheit auf der SOL Zufall? Ich glaube das nicht. Ich kann sie nicht eine Heilige nennen, eine Missionarin ist sie bestimmt ...«

Melborn und Bescam hatten schon bald zusammengefunden. Ihren ersten Kontakt hatten sie auf Chircool gehabt, als die Betschiden an Bord gekommen waren. Danach unzertrennlich, hatten sie gemeinsam Gesils Nähe gesucht.

Ihr schienen diese Nachstellungen nicht entgangen zu sein. An einer Stelle hatte Melborn jedenfalls notiert: »Wenn sich auch alle Männer an Bord nach ihr die Hälse verrenken, sie sind für Gesil Luft. Nur Bescam und ich zählen für sie.«

Atlan runzelte die Stirn. Caela sah ihn an und fragte: »Glaubst du diesen Unsinn? Sie spielt mit jedem.«

»Das ist erst recht Unsinn.« Atlan wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen. Gesil war so wenig berechnend, wie sie unberechenbar war. »Ich frage mich nur, ob Gesil Melborn und Bescam als willkommene Medien und Handlanger sieht«, sagte er.

»Nichts anderes habe ich behauptet«, erwiderte Caela.

»Auf die Betonung kommt es an«, mahnte Atlan. »Du unterschiebst Gesil unlautere Absichten. Ich denke an Handlungsunfähigkeit in manchen Belangen. Oder es gefiel ihr, zwei Beschützer zu haben.«

Atlan war nicht mehr erstaunt, dass Melborn berichtete, wie Gesil die Lagerräume mit den Spoodies aufgesucht hatte.

»... es ist immer so: Gesil öffnet einen der Spoodie-Tanks nach dem anderen und starrt hinein. Danach ist sie verstört, als hätte sie nicht gefunden, was sie erwartete, als seien die Spoodies verschwunden. Wir haben uns davon überzeugt, dass die Spoodies noch da sind. Ich weiß nicht, warum der Anblick Gesil so seltsam stimmt, irgendwie traurig.«

Auf dem Weg zu den Spoodie-Lagerräumen hatten Gesils »Schatten« eine unbekannte Sektion entdeckt. Hinter einer Trennwand, die es Bescams Überzeugung zufolge keinesfalls geben durfte, führte ein Schott in unbenutzte Räume. »Wir nennen es unser Versteck, denn hier würde uns nie jemand finden«, hatte Melborn aufgezeichnet. »Ich habe mir einen Lageplan dieser Sektion angesehen und festgestellt, dass jemand den Plan manipuliert haben muss. Das Versteck ist darauf nicht zu finden. Darum habe ich einen anderen Plan angefertigt. Seit wir dieses Versteck entdeckt haben, ist Bescams Interesse an Gesil nahezu erloschen. Bescam hat nicht länger ihre Gunst, ich bin Favorit ...«

Atlan betrachtete den Lageplan, der in der projizierten Aufzeichnung erschienen war. »Nun wissen wir, wo wir Bescam aufspüren können«, sagte er.

Sie fanden den Hangartechniker in einem der erwähnten Räume. Er hatte ein halb zusammengebautes Funkgerät bei sich und versuchte sich gerade vergeblich an der holografischen Projektion eines Datenspeichers.

»Ich habe nichts getan«, beteuerte Bescam. »Ich habe auch nichts entwendet. Die Geräte hier waren in einem Raumanzug versteckt, ich habe sie nur zusammengebaut. Da ist leider nichts gespeichert ...«

Atlan hatte Bescam aussprechen lassen, nun befragte er ihn. Es stellte sich heraus, dass Bescam und Melborn gemeinsam hier gewesen, sich auf dem Rückweg aber unverhofft in der Nähe von Gesils Kabine wiedergefunden hatten.

»Mir wurde erst hinterher bewusst, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.« Der Techniker seufzte. »Gesil muss uns suggestiv zu sich gerufen haben.«

»Ihr habt also ihre Kabine betreten. Und weiter?«

»Wir kamen nur in die Nähe ihrer Unterkunft, da hat es Melborn erwischt. Er zuckte auf einmal und brach zusammen. Erst als Gesil auftauchte, dämmerte mir, dass sie etwas mit ihm gemacht haben musste. Ich bin Hals über Kopf davon, als sie sich an Mel zu schaffen machte. Ich dachte, ihre lodernden Blicke würden mich verzehren. Darum bin ich in dieses Versteck geflohen.«

»Hast du gesehen, was Gesil mit Melborn anstellte?«, fragte Atlan.

»Ich sah, dass sie sich über ihn beugte und unter das Oberteil seiner Kombination griff. Dabei bildete ich mir ein, sie lautlos sagen zu hören: ›Gib es mir! Gib es mir!‹ Einige Male. Erst später fiel mir ein, dass Mel das vergilbte Foto unter die Kombination gesteckt hatte. Das muss sie sich geholt haben.«

»Was für ein Foto?«

»Das Gesicht eines Mannes. Wir fanden es mit dem Raumanzug, es war hinter die Sichtscheibe des Helms geklemmt.«

Atlan glaubte die Geschichte. Es mochte sein, dass dieses ominöse Bild der auslösende Faktor für die seltsamen Vorfälle gewesen war. Melborns Aufzeichnung kam ihm in den Sinn: »Bescam hat nicht länger ihre Gunst.« Es mochte Bescams Glück gewesen sein, dass Gesil ihn aus ihrer Abhängigkeit entlassen hatte. Das hatte ihm wohl ein ähnliches Schicksal wie Melborn erspart.

Atlan musste mit Gesil reden. Doch je näher er ihrer Unterkunft kam, desto mehr schwand seine Entschlossenheit. Er ging langsamer. Atmete schwerer. Die Luft wurde zum Schneiden dick, als setzte sie ihm immer größeren Widerstand entgegen.

Das nützt dir nichts, Gesil, dachte er. Du kannst mich nicht aufhalten.

Er glaubte bereits, durch einen zähen Brei zu waten, da erreichte er ihre Kabine. Atlan griff nach dem Öffnungsmechanismus. Hinter ihm explodierte etwas. Als er sich umwandte, sah er, dass ihm eine Eskorte von Kampfrobotern gefolgt war. Einer der Roboter glühte soeben aus. Hinter den anderen sah er Gestalten in Bordkombinationen.

»Bleibt stehen!«, rief er. »Zurück!«

Der nächste Kampfroboter explodierte. Atlan hob die Hand, um dem Trupp Einhalt zu gebieten.

Gesil, ich komme jetzt!

Er drang in die Kabine ein.

Gesil kauerte in der Mitte auf dem Boden. Um sie herrschte ein heilloses Durcheinander. Ihr Haar war zerzaust, im Gesicht und auf den Handrücken wies sie Kratzspuren auf.

Wie von den Krallen eines Raubtiers!, durchzuckte es Atlan.

Sie hielt mit beiden Händen eine Folie gegen die Brust gepresst. Dabei sah sie ihn aus ihren großen Augen an und schickte ihm eine Lohe schwarzer Flammen. »Ich lasse es mir nicht wegnehmen«, hörte Atlan sie sagen.

»Ist das das Foto?« Er deutete auf die Folie, die sie schützend an sich presste.

»Es gehört mir.« Gesil erinnerte ihn an ein Kind, das sein wertvollstes Spielzeug beschützte.

»Ich will es nur einmal ansehen. Zeig es mir, bitte!«

»Nur ansehen.« Gesil wich vor ihm zurück. Langsam hob sie die Folie an den Rändern und drehte sie herum.

Atlan verschlug es vor Überraschung die Sprache. Der Mann auf dem Foto war Perry Rhodan.

»Mein!« Gesil seufzte und presste das Bild wieder an sich.

3.

»Wie geht es dir?«, fragte Atlan. Er hatte Melborn im Bereitschaftsraum der Funkzentrale aufgesucht.

»Du kennst meinen Befund«, antwortete der junge Funker.

»Du bist zwar völlig wiederhergestellt, Mel, aber sicher möchtest du in Ruhe über alles nachdenken und dich erst einmal sammeln«, schlug Atlan vor.

»Ich möchte wieder zum Dienst. Das ist besser für mich.«

»Wie du meinst.« Atlan seufzte. »Und wie stehst du zu Gesil?«

»Ich ... fühle mich freier«, sagte Melborn zögernd.

»Dafür kann ich dir eine Erklärung geben: Sie hat dich aus ihrem Bann entlassen, weil sie einen anderen Günstling hat.«

»Wirklich?«, fragte Melborn spöttisch. »Wer ist es? Du?«

»Nicht ich, sondern Perry Rhodan.«

Melborn reagierte sichtlich verblüfft.

»Das Foto, das du für Gesil beschafft hast, stellt Perry Rhodan dar«, sagte Atlan. »Sie betrachtet es als ihr wertvollstes Gut und himmelt es an wie einen Götzen. Rhodan ist jetzt ihr Favorit.«

»Aber ...« Melborn verstummte sofort wieder.

»Du fragst dich, wie das möglich sein kann, da sie ihn vorher nie gesehen hat.« Atlan zuckte die Schultern. »Vielleicht wusste sie gar nicht, wen das Foto zeigt und war einfach von dem Gesicht fasziniert. Sie selbst äußert sich nicht dazu. Und eine rationale Erklärung habe ich nicht dafür.«

»Was wissen wir über Gesil?«, fragte Melborn.

Atlan räusperte sich. »Das Foto hat bewirkt, dass sie dich freigegeben hat.«

»Wie kommst du eigentlich darauf, Gesil könnte mich manipuliert haben?«, fragte Melborn herausfordernd. »Ich hatte immer meinen freien Willen.«

»Das schien dir so. Sie verfügt über eine Reihe ungewöhnlicher Fähigkeiten, das steht fest. Eine davon dürfte es sein, dass sie Menschen beeinflussen kann, ohne dass sie das bemerken.«

Melborn biss sich auf die Unterlippe. »Sonst noch was?«

»Eigentlich nichts. Nur, wenn du ein Problem hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden.«

Melborn überlegte kurz. »Ist eigentlich schon bekannt, wer Gesil so übel mitgespielt hat?«

»Du meinst die beiden Attacken auf sie ...«

»Zwei?«, fragte Melborn.

»Ja. Kurz bevor du erwacht bist, wurde sie wieder überfallen. Wir werden die Angelegenheit bestimmt aufklären.«

»Gut. Kann ich gehen?« Ohne sich noch einmal umzuwenden, verließ Melborn den Bereitschaftsraum und betrat die Funkzentrale.

Caela lächelte ihm zu, als er im Sessel des Kofunkers Platz nahm. »Wenn wir die Milchstraße erreichen, wird das ein neuer Anfang für uns«, sagte sie.

Ein neuer Anfang auf Terra ... Der Anfang von Etwas! Melborn fragte sich, woher er diesen Ausspruch kannte. Er fand keine Antwort darauf, aber er wusste, dass etwas überaus Bedeutungsvolles dahintersteckte.

Etwas wird ... Er verscheuchte den Gedanken.

»Besondere Vorkommnisse?«, erkundigte er sich.

»Nichts Aufregendes«, antwortete Caela, »wir stehen immer noch am Hoffnungspunkt achtzehn und empfangen nur Störgeräusche. In der Ortungszentrale wird rund um die Uhr ausgewertet, bei uns dagegen läuft nichts. Nur einmal empfingen wir etwas wie ein gezieltes Funksignal. Aber das dürfte ein Fehlalarm gewesen sein ...«

»Dürfte?«, fragte Melborn.

»Ich konnte dem nicht nachgehen, weil sich das Signal nicht wiederholte. Der infrage kommende Sektor wird derzeit abgesucht. Er liegt zehn Lichtjahre in Richtung der Kleingalaxis und hat eine angenommene Ausdehnung von zweihunderttausend Kilometern. Innerhalb dieses Kubus muss der Sender liegen – wenn überhaupt. Übrigens, Mel, ich möchte nicht, dass du deine Aufzeichnungen löschst.«

»Das Thema heben wir für später auf«, wehrte er ab.

In der Folge beschränkten sie sich auf dienstliche Belange. Die Ortungszentrale meldete in dem überprüften Sektor eine Materieansammlung unbestimmten Ausmaßes. Bald darauf wurden die Angaben zwar präzisiert, sie blieben aber trotzdem ungenau. Entweder handelte es sich um eine Zusammenballung kosmischer Materie – was bald darauf ausgeschlossen wurde – oder um eine Gruppe von Asteroiden.

Unvermittelt registrierte Melborn einen schwachen Phasensprung, den er unter anderen Umständen ignoriert hätte.

»Da war etwas! Kannst du zurückfahren, Caela? Langsamer, damit du das schwache Signal nicht wieder übersiehst.«

Sie seufzte. »Sei nicht so penibel, Mel. Da war nichts.«

Sie schaltete trotzdem die Rückführung ein. Langsam glitt der auf dem Monitor sichtbare Suchstrahl zurück. Als er die Position erreichte, die Melborn markiert hatte, kam es wieder zu einem Phasensprung. Caela nahm eine Feinjustierung vor. Der Suchstrahl zuckte blitzartig auf und fiel wieder in sich zusammen.

»Ich glaube nicht, dass dieser Impuls von Bedeutung sein könnte«, sagte sie. »Was bringt es uns, den Funkverkehr irgendwelcher Fremden abzuhören, die am Beginn ihrer Raumfahrt stehen? Sie können uns den Weg zur Milchstraße nicht zeigen.«

Caela leitete die Beobachtung an die Ortungszentrale und die Schiffsführung weiter. Ein Versuch, den empfangenen Impuls zu dekodieren, brachte kein Ergebnis.

Melborn achtete kaum noch darauf. Er dachte wieder an Gesils lautlosen, verzweifelt klingenden Schrei, der ihm das Bewusstsein geraubt hatte. Von Atlan wusste er, dass Gesil Verletzungsspuren wie von den Krallen eines Raubtiers aufgewiesen hatte. Eine Bestie mit übermenschlicher Kraft hatte die Innenseite ihrer Kabinentür verbeult.

Ein Tier ...

Melborn nahm nur nebenbei wahr, dass die Ortungszentrale den Ausgangsort des empfangenen Impulses bestätigte. Tanwalzen hatte jedoch befohlen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Als sein Dienst zu Ende war, ließ er Caela einfach stehen. »Ich habe noch einiges zu erledigen«, sagte er knapp. Caela würde sich ihr Teil denken, aber das war ihm egal. Er stand nicht in Gesils Abhängigkeit, trotzdem wollte er ihr helfen.

Zuerst ging er zu Bescams Unterkunft. Der Freund war nicht da, aber Melborn wusste, dass er einen Strahler besaß und wo er ihn versteckte. Er nahm die Waffe an sich, dann machte er sich auf den Weg zum Solarium. Die Betschiden fanden nichts dabei, dass er sie besuchte. Er war mit Bescam oft hier gewesen. Sie kannten ihn alle.

Nach einer Weile entdeckte er Geston. Er beobachtete den Betschiden heimlich und folgte ihm durch den hydroponischen Dschungel. In Gedanken sah er Geston wieder vor sich, wie er in den verlassenen Korridoren der SZ-1 sein entlaufenes Schoßtier verfolgte. Kater war zu einer großen Raubkatze herangewachsen.

Geston erreichte den abseits und angeblich sicher untergebrachten Käfig. Aber wenn das Tier Gesil schon zweimal angefallen hatte, konnte das jederzeit wieder geschehen. Melborn wartete, bis der Käfig geöffnet war und der Betschide eintreten wollte.

Er sprang Geston von hinten an und stieß ihn zu Boden, richtete die Waffe auf Kater und drückte ab.

Augenblicke später lag er selbst auf dem Rücken und Geston schrie wie von Sinnen und schlug auf ihn ein. Melborn wehrte sich nicht. Er war erleichtert, denn er hatte es getan. Kater würde Gesil nie wieder anfallen.

»Jetzt fühlst du dich als Held, als Beschützer Gesils?«, fragte Skiryon vorwurfsvoll. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber du hast eine sinnlose Tat begangen. Kater ist Gesil nie nah gekommen. Das Tier war harmlos.«

»Welche Bestrafung muss ich erwarten?« Melborn blickte sich um. Außer Skiryon waren einige Personen anwesend, unter ihnen sogar Tanwalzen und Atlan. »Nach welchem Recht werde ich verurteilt?«, fragte er deshalb. »Nach dem Gesetz der Kranen oder nach dem Bordgesetz? Oder soll ich gar für nicht zurechnungsfähig erklärt werden?«

»Wir handeln nach dem Gesetz der Vernunft«, antwortete Atlan. »Von Bestrafung kann keine Rede sein. Oder möchtest du dich als Märtyrer sehen, Mel? Es wäre besser, deine Verfehlung einzugestehen. Gesil wurde von Kater nie bedroht.«

»Von wem dann?«

»Vermutlich von sich selbst«, sagte Maer Asgard. »Gesil stand fortwährend unter Beobachtung. Wir wissen definitiv, dass sich niemand in ihre Kabine geschlichen hat.«

Etwas wird ..., schoss es Melborn durch den Kopf.

»Genaues könnte uns nur Gesil selbst sagen. Es scheint, dass sie die von ihr ausgehenden Kräfte nicht mehr kontrollieren kann, sodass sie sich gegen sie selbst wenden«, sagte Tanwalzen. »Möglicherweise ist sie auch eine Art Katalysator einer anderen Macht ...«

»Die Erklärung ist viel einfacher«, fiel ihm Asgard ins Wort. »Gesil will sich nur interessant machen und euch Männer beeinflussen.«

Damit hatte sie alle Anwesenden gegen sich. Melborn nahm es belustigt zur Kenntnis.

Das ist der Anfang von Etwas ...

Warum kamen ihm diese Worte in den Sinn? Was bedeuteten sie? Was nahm seinen Anfang?