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4000 Jahre in der Zukunft ... Wir befinden uns in der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Die Menschen leben in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie ein Netz aus Handelsbeziehungen und Bündnissen geschlossen, das zahlreiche Planeten in der Milchstraße umfasst. Perry Rhodan – der Mann, der die Menschheit zu den Sternen geführt hat – beabsichtigt, mit dem Prototypen einer neuen Klasse von Kurierschiffen die Verbindungen zwischen den Mitgliedern seines galaxienübergreifenden Bundes von San zu verstärken. Doch ehe der PHOENIX zu seinem Jungfernflug starten kann, attackiert aus dem Nichts heraus die Leun Shrell die Erde: Sie zündet das Brennende Nichts, das binnen vier Jahren Erde und Mond verschlingen wird, wenn nicht Perry Rhodan in ihre Heimat fliegt, um den dortigen Tyrannen zu töten. Dieser Tyrann sei Reginald Bull, Rhodans ältester Freund, und ihre Heimat, die Agolei, ist weiter entfernt, als selbst der PHOENIX fliegen kann. Shrell stattet das Raumschiff deshalb mit einem Verstärkungsmodul aus, und notgedrungen begibt sich Rhodan auf den Weg zur Agolei. Auf der Erde wächst indessen das Brennende Nichts: Als Cameron Rioz und Bonnifer das Nichts wieder verlassen, in dem sie eigentlich hätten sterben müssen, ist das eine Sensation – wenn auch niemand weiß, wie das möglich sein konnte. Die beiden Schicksalsgefährten stellen sich der neuen Realität und werden zu ZEUGEN DES UNTERGANGS ...
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Nr. 3310
Zeugen des Untergangs
Mysteriöse Vorgänge im Solsystem – der Erdmond wird zur Baustelle
Marc A. Herren
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1. Sirenengesang
2. Der Alte
3. Bonnifer: Das Schiff
4. Das Ylatorium
5. Das Gespräch
6. Bonnifer: Die Umarmung
7. Ein Heer von Ylanten
8. Die Übereinkunft
9. Bonnifer: Shrell
10. Geheimnisse
11. Bonnifer: Zeuge des Untergangs
12. Posbis weinen nicht
13. Romulus und Remus
14. Bonnifer: Sakrileg
15. Bachs Violinsonate in f-Moll
16. Szenario 3
17. Bonnifer: gebrochen
18. Schmerz
19. Drei Alter
Epilog
Journal
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
4000 Jahre in der Zukunft ...
Wir befinden uns in der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung.
Die Menschen leben in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie ein Netz aus Handelsbeziehungen und Bündnissen geschlossen, das zahlreiche Planeten in der Milchstraße umfasst.
Perry Rhodan – der Mann, der die Menschheit zu den Sternen geführt hat – beabsichtigt, mit dem Prototypen einer neuen Klasse von Kurierschiffen die Verbindungen zwischen den Mitgliedern seines galaxienübergreifenden Bundes von San zu verstärken. Doch ehe der PHOENIX zu seinem Jungfernflug starten kann, attackiert aus dem Nichts heraus die Leun Shrell die Erde: Sie zündet das Brennende Nichts, das binnen vier Jahren Erde und Mond verschlingen wird, wenn nicht Perry Rhodan in ihre Heimat fliegt, um den dortigen Tyrannen zu töten.
Dieser Tyrann sei Reginald Bull, Rhodans ältester Freund, und ihre Heimat, die Agolei, ist weiter entfernt, als selbst der PHOENIX fliegen kann. Shrell stattet das Raumschiff deshalb mit einem Verstärkungsmodul aus, und notgedrungen begibt sich Rhodan auf den Weg zur Agolei.
Auf der Erde wächst indessen das Brennende Nichts: Als Cameron Rioz und Bonnifer das Nichts wieder verlassen, in dem sie eigentlich hätten sterben müssen, ist das eine Sensation – wenn auch niemand weiß, wie das möglich sein konnte. Die beiden Schicksalsgefährten stellen sich der neuen Realität und werden zu ZEUGEN DES UNTERGANGS ...
Cameron Rioz – Der junge Mann muss sich entscheiden.
Rhea Caburra – Die Forensikerin blickt in Abgründe.
Sira Nylling – Die KIS-Agentin gibt Rätsel auf.
Bonnifer – Der Wyconder erinnert sich.
Archie
Prolog
Der Alte stand auf und trottete zum Panoramafenster. Seine gichtigen Hände umklammerten den Gehstock, die Knöchel traten weiß hervor. Die wenigen Schritte ermüdeten ihn, brachten seinen Atem zum Pfeifen.
Es hatte alles keinen Zweck. Er musste sich dem Anblick stellen.
»Servo!«, krächzte er. »Holovorhänge weg!«
Das wallende Blau der Vorhänge verschwand und gab den Blick durch das Panoramafenster frei.
Das Brennende Nichts hatte sich weiter genähert. Nur eine Häuserzeile stand zwischen ihm und seinem Wohnblock. Die Häuser vor ihm wirkten wie in einer Szene eines Trivid-Films, wenn etwas aus der Wirklichkeit gerissen wurde.
Aber die Bedrohung war real. Das Brennende Nichts war real. Und es wuchs weiter: in die Höhe, die Breite, die Tiefe – und es näherte sich ihm unaufhaltsam. Bei jedem Atemzug etwa eineinhalb Millimeter. Der Alte hatte dies ausgerechnet, er hatte ja Zeit.
Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.
Zeit.
Bisher hatte er Zeit gehabt, viel zu viel Zeit, die in viel zu vielen unnützen und quälenden Gedanken an seine Vergangenheit geströmt war.
Nun rieselte diese Zeit zwischen seinen Fingern hindurch.
»Wie lange dauert es noch?«
»Sechs Tage, vier Stunden und etwa zwölf Minuten«, gab der Servo freundlich zur Auskunft.
»Gib mir das Datum, du vermaledeites Ding!«, rief er aufgebracht in sein leeres Wohnzimmer hinein. »An welchem Tag werde ich sterben?«
»Wenn du dir nicht endlich helfen lässt, wirst du am 4. August 2250 NGZ sterben, Reginald.«
Der Alte presste die Lippen zusammen.
1.
Sirenengesang
Luna, 30. Juli
Die Stimmung an Bord der Space-Jet fühlte sich bedrückend an.
Bonnifer saß seltsam steif in einem Pneumosessel. Sein rotes Kleid plusterte sich vor ihm auf, als würde er einen Wäschehaufen auf seinem Schoß hüten. Sira Nylling stand mit verschränkten Armen in seiner Nähe, den Blick ihrer dunklen Augen auf den Wyconder gerichtet.
Wyconder ... Der Name war Bonnifer kürzlich eingefallen: Angeblich war Bonnifer kein Leun wie Shrell, sondern ein Wyconder. An mehr erinnerte er sich jedoch nicht. War es bloß der ungeschickte Versuch, sich von der Mitverantwortung für Shrells Taten reinzuwaschen? Äußerlich glichen beide sich immerhin sehr.
Icho Tolot ragte wie ein Gebirge in der Mitte der Zentrale auf. Dabei saß er bereits auf dem Boden, die Säulenbeine von sich gestreckt.
Der Haluter steuerte die Space-Jet mittels eines vor ihm schwebenden Sensorboards. Die sechs schwarzen, unterarmdicken Finger seiner rechten Handlungshand tanzten mit erstaunlicher Leichtigkeit über die Sensorfelder.
Rhea Caburra fröstelte. Es war nicht das erste Mal in ihrer Laufbahn beim Terranischen Liga-Dienst, dass sie sich in der Nähe dieses Kolosses aufhielt. Ihr war aber noch nie aufgefallen, welch sonderbarer Geruch von ihm ausging. Dem karminroten Kampfanzug, den er nun statt seines Freizeitoveralls trug, hätte wohl schon vor einiger Zeit eine Molekularreinigung gutgetan. Dazu kamen die Schrammen und die Verschmutzungen im nanoverdichteten Kunstleder, die vom jüngsten, geradezu alarmierend schiefgelaufenen Einsatz in einem Außenbezirk von Terrania herrührten.
Aber die Hauptkomponente dieses Geruchs ging nicht von dem Anzug aus, sie stammte von Icho Tolot persönlich. Von seiner schwarzledrigen Haut, von seinem stoßweisen Atem, der durch die Kegelzähne pfiff. Rhea roch Amber und Grapefruit, vor allem aber beißende Anteile von Formaldehyd und Ammoniak. Die TLD-Agentin wusste, dass Haluter in ihrem Konvertermagen praktisch alle Stoffe verdauen, respektive umwandeln konnten. Möglicherweise hatte sich Tolot noch an der Unfallstelle einen Brocken der zusammengestürzten Trägerkonstruktion in den Rachen geschoben und zerkaut.
Rhea war sich bewusst, dass sie sich wieder einmal viel zu stark auf irrelevante Details konzentrierte. Ihre Aufgabe war nicht, die Ausdünstungen eines Haluters zu analysieren, sie war für diesen Einsatz ausgewählt worden, um Bonnifer im Blick zu behalten.
Bonnifer, der um Asyl gebeten und im Gegenzug versprochen hatte, Terra im Kampf gegen das vierfache Brennende Nichts zu unterstützen.
Die Forensikerin betrachtete das Fremdlebewesen, das zitternd in seinem Sessel saß, während die Oberfläche von Luna im Holoschirm stetig anwuchs.
Sie näherten sich Luna-City aus Westen kommend, überflogen nacheinander die Städte Luna Town V mit der Kalup-Werft, Luna Town IV mit der Riebsam-Werft und Luna Town III am Rande von Oceanus Procellarum, dem »Meer der Stürme«.
Die Städte waren allesamt in den frühen Tagen des Solaren Imperiums gebaut worden. Sie waren im Schnitt einhundert Quadratkilometer groß und zur Hälfte sublunar angelegt. Mächtige Kuppeln aus durchsichtigem Panzertroplon schützten sie vor dem Vakuum und anderen Gefahren. In ihnen lebten in erster Linie die Mitarbeitenden der umliegenden Werften und Industrieanlagen. Allerdings hatte sich das menschliche Leben in fast allen anderen Bereichen darin ausgebreitet: Es gab Schulen, hydroponische Anlagen, Restaurants und Trivid-Erlebnishallen.
Luna Town III war während des Transfers vom Neuroversum ins Standarduniversum im Schacht einem gewaltigen Mondbeben ausgesetzt gewesen. Die Spuren der Zerstörung waren längst beseitigt, allerdings hatte man dabei Teile der Kuppel ersetzt, sodass sich Luna Town III von den anderen Städten leicht unterscheiden ließ.
»Ich habe mich über die Geschichte Lunas informiert«, sagte Bonnifer unvermittelt. »Euer Mond hat eine zentrale Bedeutung für euch. Mit der ersten Reise eines Menschen zu einem anderen Himmelskörper hat euer Volk gleich die galaktische Bühne betreten. Viele Zivilisationen benötigen nach dem ersten erfolgreichen Raumflug Dutzende von Generationen, bis sie überhaupt entdecken, dass sie nicht allein im Universum sind.«
Rhea trat neben den Wyconder, wandte den Blick auf die Mondoberfläche aber nicht ab. »Das stimmt. Es muss eine aufregende Zeit für Perry Rhodan, Reginald Bull und die anderen gewesen sein. Hast du dich auch über die jüngere Geschichte von Luna informiert?«
Bonnifer zuckte mit dem schwarzviolett schimmernden Schädel, was wohl ein menschliches Nicken imitieren sollte. »Besonders berührt haben mich der Transfer von Terra und Luna in den Mahlstrom der Sterne und später die Versetzung in dieses seltsame Miniatur-Universum. Und natürlich die dramatische Rückkehr durch den Schacht.«
»Weshalb haben dich diese Ereignisse berührt?«
Bonnifer strich sich nachdenklich über das Schwarze Mal an seiner Stirn, zögerte. »Die Entwurzelung«, sagte er dann stockend, »ein Sternsystem, ein Himmelskörper, der entwurzelt wird. Das erinnert mich an ... unsere eigene Geschichte.«
Rhea registrierte den aufmerksamen Blick von Sira Nylling. Die junge KIS-Agentin beobachtete jede Regung in Bonnifers fremdartigem Gesicht mit den roten Augen. Dann sah sie kurz zu Rhea und nickte fast unmerklich. Damit erkannte sie Rheas Versuch an, sich an die verschütteten Erinnerungen des Wyconders heranzutasten.
Sira Nylling war nicht nur die Missionsleiterin, sie gehörte auch der legendären Abteilung KIS an. Das Kommando Information und Sicherung war eine Eliteabteilung des Terranischen Liga-Dienstes. KIS-Agenten wurden überall dort eingesetzt, wo man damit rechnen musste, mit nicht trainierbaren Umständen konfrontiert zu werden. Dazu gehörten besonders risikoreiche Missionen oder Situationen die als technisch besonders schwierig eingestuft wurden. Die Bewachung eines möglichen Doppelagenten von Shrell, der derzeitigen Gegenspielerin der Menschheit, gehörte dazu.
Viel wusste Rhea über Sira Nylling nicht. Der größte Teil ihrer Personalakte unterlag der höchsten Klassifizierungsstufe, wie es bei KIS-Agenten üblich war. Rhea wusste nur, dass Sira auf einem Planeten des Kugelsternhaufens 47 Tucanae aufgewachsen und im zarten Alter von 20 Jahren nach Terra gekommen war, um sich beim Terranischen Liga-Dienst ausbilden zu lassen. Das war vor nicht einmal fünf Jahren gewesen. Nylling musste außerordentlich begabt sein, wenn sie es in dieser Zeit geschafft hatte, nicht nur die Grundausbildung, sondern auch die Weiterbildung zur KIS-Agentin zu bestehen. Und nicht nur dies: Nun befand sie sich auf einer Mission, die im absoluten sicherheitspolitischen Brennpunkt stand.
Sira Nylling war einen halben Kopf größer als Rhea, gut 190 Zentimeter groß und sehr schlank, fast mager. Ihr Gesicht war ebenmäßig und hübsch, mit hohen Wangenknochen und fingerlang geschnittenen Haaren, die sie streng zur Seite gescheitelt hatte. Am eindrücklichsten wirkten die Augen. Die Iriden waren sehr dunkel, fast schon schwarz. Wenn der Blick aus diesen Augen Rhea traf, hatte sie das Gefühl, in einen Zeitbrunnen zu blicken. Nicht, dass sie schon einmal in einen Zeitbrunnen geschaut hätte, aber sie hatte davon gehört und stellte es sich ungefähr so vor.
Rhea arbeitete zum ersten Mal mit der KIS-Agentin zusammen. Ihr erstes Zusammentreffen zwei Tage zuvor konnte man mit kühl zusammenfassen. Mittlerweile hatte sich Rhea an die Distanziertheit der Missionsleiterin gewöhnt. Routiniert hatten sie sich gemeinsam auf den Einsatz vorbereitet, die Space-Jet angefordert und die Überfluggenehmigung über das lunare Brennende Nichts eingeholt. Sie hatten zudem besprochen, wie sie mit Bonnifer umgehen wollten.
Der Wyconder hatte nicht nur um Asyl auf Terra gebeten, er wollte sich auch aktiv in die Erforschung des Brennenden Nichts einbringen. Da der derzeitige Fokus der Wissenschaftler auf der Anomalie lag, die sich langsam in Atlan-Village in Terrania ausbreitete, hatte Bonnifer gewünscht, das ontologische Hypervakuum auf Luna untersuchen zu dürfen. Das Brennende Nichts, das das lunare Gehirn NATHAN zerstört hatte. Und so war Rhea Caburra angefordert worden.
Neben der Grundausbildung zur Agentin des Terranischen Liga-Dienstes hatte Caburra ein vierjähriges Spezialtraining als psychiatrische Forensikerin absolviert. Vordergründig war sie aufgeboten worden, um Bonnifer dabei zu helfen, seine Erinnerungslücken zu schließen. Hintergründig ging es darum, ein Xenopsychogramm des Wyconders zu erstellen und herauszufinden, wie hoch der Loyalitätsgrad zur Menschheit effektiv war. Herauszufinden, ob von Bonnifer eine Gefahr für das Solsystem ausging.
Illustration: Swen Papenbrock
»Da!«, dröhnte Icho Tolot.
Selbstverständlich hatte der Haluter nicht geschrien, höchstens etwas lauter gesprochen. Rhea und Bonnifer zuckten trotzdem ob der dröhnenden Stimme erschrocken zusammen. In Siras Gesicht hingegen zuckte nicht einmal ein Muskel.
Dann sahen sie, worauf der Haluter sie aufmerksam machen wollte.
Bonnifer ächzte. Der gewaltige Kuppelbau von Luna-City wuchs im Holoschirm an. Er durchmaß fast genau einhundert Kilometer. Und dahinter ...
Das Brennende Nichts ließ sich vor dem schwarzen Hintergrund des Weltraums kaum erkennen. Aber je näher sie der Hauptstadt des Mondes kamen, desto klarer hob sich die unnatürliche Schwärze der Kugel von dem Ringgebirge ab, das die Stadt umgab.
Seit der Zündung der Anomalie war ein Jahr vergangen. Nachdem sich das ontologische Hypervakuum zuerst recht schnell auf einen Durchmesser von 10 Kilometer ausgeweitet hatte, war es danach sehr viel langsamer weitergewachsen. Etwa 185 Zentimeter pro Stunde, über 40 Meter am Tag, über 300 Meter in der Woche und über 16 Kilometer in diesem vergangenen Jahr.
Nun erhob sich der sichtbare Teil der Kugel aus dem Kraterrand wie eine schwarze Brandblase.
Der Haluter blendete eine schematische Darstellung aus der Vogelperspektive im Holoschirm ein. Sie zeigte den Strahlenkrater Copernicus, in dem man vor über dreitausend Jahren den Grundstein von Luna-City gelegt hatte. Bis vor Kurzem war dies der Lebensnerv von Luna gewesen – die Hauptstadt, die in ihrem Inneren die zentrale Rechnereinheit des Solsystems verborgen gehalten hatte: NATHAN.
Nun wirkte alles in und an Copernicus tot.
Luna-City hatte keine Kunstsonne. Das Tageslicht wurde normalerweise von zwölf der größten Wohntürme ausgestrahlt, die mit einer speziellen Bausubstanz verkleidet waren. Morgens begannen sie zu strahlen, erreichten am Mittag den Lichtzenit und wurden gegen Abend schwächer. Das Licht dieser bis zu eineinhalb Kilometer hohen Türme reichte aus, um die Pflanzenwelt im Copernicus-Krater zu ernähren.
Leben, das über kurz oder lang enden würde.
Die Space-Jet schwebte direkt über der Stadt. Durch die transparenten Kuppeln konnte man den Lake Huckleberry und den Moon River erkennen. Der Fluss entsprang dem Sörgel-Reservoir im Norden des Ringgebirges und strömte ziemlich genau Richtung Süden, wobei er den Lake Huckleberry speiste und sich zweimal zu den Seitenarmen Mancini und Mercer verzweigte. Die drei Flüsse zogen sich auch um die drei Berge Novara, Kunheim und Giese.
Die Stadt lag im Winterschlaf. Nur zwei Lichttürme waren aktiv, spendeten lediglich gedämpftes Licht.
Luna-City drohte die Katastrophe. Es blieben nur wenige Wochen, bis das Brennende Nichts die Kuppeln erreichen und sie langsam zerstören würde. Bis auf wenige Dutzend Wissenschaftler und einige Hundert Arbeitsroboter war Luna-City mittlerweile komplett evakuiert worden.
»Vor einem Jahr lebten noch mehrere Millionen Lebewesen in Luna-City«, sagte Rhea leise. »Bald wird sie eine Geisterstadt sein wie Iacalla auf der Rückseite des Mondes. Alle Nutztiere wurden abtransportiert und, soweit es möglich war, auch etliche Wildtiere. Sogar die Reben des beliebten Mondweins wurden disloziert. Die restliche Landwirtschaft, die vor allem Früchte, Gemüse, Reis und ...«
Ein Schrei unterbrach sie.
Bonnifer hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen. Der Wyconder zitterte und bebte. Abgehackte Laute kamen über seine Lippen.
»Bonnifer?«, fragte Sira Nylling. »Sind wir zu nahe am Brennenden Nichts? Sollen wir uns zurückziehen?«
»N... nein. Es ... es geht gleich wieder.«
Rhea griff nach seiner linken Schulter und drückte sie. »Was plagt dich? Ist es der Sirenengesang?«
»Ja ... nein. Es ist einfach ... zu viel«, brachte der Wyconder stockend hervor. »Und da ist ...«
Die Forensikerin ging vor ihm in die Hocke, sodass ihre Gesichter auf der gleichen Höhe waren. »Erzähl mir bitte, was du gerade siehst.«
Der Wyconder erstarrte, nahm die Hände herunter. Die schwarzviolette Gesichtshaut war feucht und leicht aufgedunsen. »Ich habe Rugyra gesehen. Zuerst nur gehört, als Stimme im Sirenengesang. Dann habe ich sie gesehen.«
»In einer Erinnerung?«, fragte Rhea so vorsichtig wie möglich.
Der Wyconder starrte sie aus seinen roten Augen an. »Ich weiß es nicht. Deine Erzählung über Luna-City ...« Er brach ab.
»Wer ist Rugyra?«
»Rugyra ist unsere heilige Welt. Ein Gesteinsbrocken. Wie Luna. Mit Kuppelstädten ...«
»... wie auf Luna«, vervollständigte Rhea mit sanfter Stimme seinen Satz. »Hat Rugyra eine Stimme? Wie hast du sie im Sirenengesang wahrgenommen?«
Bonnifer verzog das Gesicht, als litte er unter Schmerzen. »Ich kann es nicht genau sagen. Es ist einfach ... zu viel. Zu viele Eindrücke.«
»Willst du uns erzählen, woran du dich erinnerst?«
»Bisher sind es nur ... Streiflichter. Episoden, bei denen ich nicht ganz sicher bin, in welcher chronologischen Reihenfolge sie sich ereignet haben.«
»Würdest du es bevorzugen, wenn wir uns von der Anomalie eine Weile zurückziehen?«
Sira Nylling warf Rhea einen Blick aus ihren unergründlich dunklen Augen zu. Ein leiser Vorwurf lag darin. Rhea schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie hatte genau verstanden, was die KIS-Agentin ihr sagen wollte: Bonnifer war im Begriff, sich an Dinge aus seiner Vergangenheit zu erinnern. Der Anblick des Brennenden Nichts in Kombination mit der Kuppelstadt Luna-City und womöglich dem Thema der Evakuierung hatte etwas an die Oberfläche seines Bewusstseins gespült. Sira war der Meinung, dass man die Gelegenheit nutzen und abwarten sollte, welche Inhalte sonst noch hochkamen.
Aber dies war Rheas Gebiet der Expertise. Sie mussten sich in Geduld üben. Ließen sie zu, dass zu viele Erinnerungen auf einmal befreit wurden, liefen sie Gefahr, dass es zu einer Retraumatisierung kam, der weder Bonnifer noch sie Herr werden konnten. So etwas könnte sie um Tage oder sogar Wochen zurückwerfen. Zeit, die ihnen womöglich nicht zur Verfügung stand.
Der Wyconder zuckte erneut mit seinem Schädel, was wohl eine Bejahung ausdrücken sollte.
»Ich schlage vor«, kam es dröhnend von Tolot, »dass wir den Ylanten einen Besuch abstatten. NATHANS Kinder untersuchen das Brennende Nichts aus sicherer Distanz von der Rückseite des Mondes. Ich habe im Vorfeld schon Kontakt mit einem von ihnen aufgenommen. Er will uns treffen.«
»Das ... wäre eine gute Idee, Tolot«, kam es ächzend von Bonnifer.
»Einwände?«, fragte der Haluter.
Sira Nylling schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Rhea und erhob sich.
Der Haluter zog die Space-Jet hoch. »Dann auf zum Mare Ingenii«, verkündete er viel zu laut, »zum Meer der Begabung!«
2.
Der Alte
Terrania, 30. Juli
Terrania stank.
Jedenfalls an diesem Ort, unweit der drohend erhobenen Wand des Brennenden Nichts. Es roch nach brennendem Kunststoff, nach verschmorten Positroniken, nach Tod und Verwesung.
Rauchschwaden schwebten durch die Straße. Sie wurden von den Strahlen Sols als undeutlich treibende Flecken auf dem Thermoplast des Bodens gemalt. Sie trieben über die scharfkantigen Silhouetten der halb eingestürzten Dachkonstruktion.
Dazwischen: ein riesiger, sich rasch bewegender Schatten eines Lebewesens.
Alarmiert blickte Cameron Rioz hoch, schirmte mit der Schattenhand die Augen ab. Die Streben des Daches ragten über die Häuserschlucht wie anklagende Finger eines Skeletts. Rioz kniff die Augen zusammen. Tatsächlich. Da oben turnte ein gedrungener Körper, der sich behände von Strebe zu Strebe schwang.
Wer oder was war das? Ein Mensch? Ein Fremdlebewesen? Oder bloß ein Tier? Aber welches? Zoologie war nie sein Steckenpferd gewesen.
Rioz versuchte, die Höhe abzuschätzen, in der sich das Lebewesen offenbar ohne Angst vor einem Absturz dahinschwang. Es mochten an die achtzig, neunzig Meter sein. Ob es da oben irgendwelche Sicherheitseinrichtungen gab, die einen Absturz mittels Fesselfeldern oder Prallschirmprojektoren verhindern würden?
Rioz blinzelte.
Der Umriss stieß sich ab, erreichte mit einer Extremität die nächste Strebe, nutzte den Schwung, um sich höher zu katapultieren. Er musste wegsehen. Die Sonne malträtierte seinen Sehsinn.
Cam Rioz ächzte. Er fühlte sich in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen. Seit Tolots Angriff waren etwa vierzig Stunden vergangen. An Bord eines unbemannten Baugleiters hatte Cam es in die Nähe von Kanchenjunga geschafft. Von dort aus war er zu Fuß weitergegangen. Eineinhalb Tage lang. Geschlafen hatte er eine Nacht in einem abgestürzten Gleitertaxi und eine Nacht im Schutz von Büschen eines kleinen Parks.
Mit stumpfen Gedanken war er dann weitergegangen, den Blick stupide auf das kuppelförmige schwarze Nichts gerichtet, das vor ihm aufragte. Ihn trieb die Hoffnung, dass es bei dieser einen schwarzen Blase bleiben würde. Dass sich nicht plötzlich eine zweite, kleinere Kugelhälfte in die Höhe wölben würde. Den Ableger des Brennenden Nichts, den er höchstpersönlich mithilfe seiner Schattenhand erzeugt hatte.
Solang er seinen Ableger nicht sah, konnte er sich der Hoffnung hingeben, dass es gelungen war, die neue Blase zu zerstören. Und wer sagte denn, dass tatsächlich ein neues Brennendes Nichts entstanden war? Vielleicht waren die Ereignisse der vergangenen Tage schlichtweg zu viel für ihn gewesen? Vielleicht hatte er sich das alles nur eingebildet?
Keuchend blieb Rioz stehen, lehnte sich an die elfenbeinfarbene Wand des Gebäudes. Dem Aussehen nach hatte es bis vor Kurzem als kombinierter Wohn- und Freizeitkomplex gedient. Nun war es verlassen, teilweise arg lädiert. Womöglich hatte man aus Sicherheitsgründen Teile der Dachkonstruktion entfernt, damit es beim unausweichlichen Einsturz nicht noch mehr Schaden anrichten würde.
Weshalb hatte er Terrania nicht verlassen? Es wäre viel einfacher gewesen, mit irgendwelchen Fliehenden möglichst weit weg vom Epizentrum zu gelangen, als darauf zuzuhalten.
Weshalb also drängte es ihn zum Brennenden Nichts, als hinge sein Leben davon ab?
Vermisste er den Sirenengesang? War es das? Lytas Stimme? Vielleicht sogar die Stimmen seiner Familie?
Cameron Rioz stiegen Tränen in die Augen. Ein Schluchzen platzte aus ihm heraus, die Knie wurden weich, dann sank er auf den warmen Thermoplast nieder, ließ seiner Trauer freien Lauf.
Das Bild von Jasper Cole stieg aus seinem Unterbewusstsein auf. Das letzte Bild von Jasper – »Jazz«, wie er wohl von seiner Schwester genannt worden war. Das durch und durch positive Honigessergesicht ... Und nun war er tot. Zusammen mit Icho Tolot in die Tiefe gestürzt.
In Jaspers rechter Armbeuge hatte ein prächtiger Holotattoo-Schmetterling in Zeitlupe mit den Flügeln geschlagen. Aber Jasper hatte nicht fliegen können. Wie ein Stein war er in der Tiefe verschwunden.
Wie lange mochte es wohl dauern, bis einem Holotattoo die Energie ausging, nachdem die Haut seines Trägers gestorben war? Schlug der Schmetterling womöglich immer noch mit den Flügeln?
Übelkeit stieg in Rioz hoch.
Er war nicht nur für den Tod dieses so unglaublich positiv eingestellten Jungen verantwortlich. Als er seine Schattenhand aufgeladen und den Ableger des Brennenden Nichts gezündet hatte, war es ebenfalls zu Todesfällen gekommen.
Seinetwegen.
Rioz hörte Schritte und zog sich rasch die graue Kapuze seines Mantels über den Kopf. Die verräterische Schattenhand presste er in die linke Achselhöhle. Ein Trageroboter stapfte an ihm vorbei, dahinter folgten die Beine von etwa zehn Terranern. Kinder und Erwachsene. ES mochte wissen, weshalb sie gezwungen waren, mithilfe eines Trageroboters zu Fuß zu fliehen.
Rioz wartete, bis die Gruppe an der nächsten Häuserecke verschwunden war. Dann erhob er sich langsam, atmete durch.
Um im nächsten Moment einen erschrockenen Sprung zurückzumachen. Ein großer dunkler Körper klatschte keine fünf Meter vor ihm auf die Straße. Flüssigkeit spritzte zur Seite. Ein Schrei, ein Keuchen erklang.
Sekundenlang stand Rioz einfach nur da, unfähig sich zu bewegen. Dann, ohne es zu wollen, schwankte er auf den unförmigen Klumpen zu. Er sah schwarzes Fell, aus dem sich weiße Knochensplitter geschlagen hatten. Zu viele Arme oder Beine oder beides.
Camerons Magen rebellierte. Er blieb stehen, kämpfte kurz gegen einen weiteren Schwächeanfall.
War dies etwa ein Affe? Er hatte von diesen Tieren gehört, aber noch nie eines gesehen. Primaten durften nicht in Zoos gehalten werden.
