2,49 €
Gut 4000 Jahre in der Zukunft … In der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie Tausende von Welten besiedelt; zu vielen Sternenreichen der Milchstraße besteht eine Freundschaft. Mit dem Projekt von San will Perry Rhodan darüber hinaus einen Traum verwirklichen: eine engere Verbindung zu anderen Galaxien. Der PHOENIX steht als neuartiges Raumschiff für dieses Vorhaben zur Verfügung. Dann taucht Shrell auf der Erde auf und fordert von Perry Rhodan, in die Agolei zu reisen. In diesem weit entfernten Sternenband soll er seinen ältesten Freund töten: Reginald Bull. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, erschafft sie an drei Stellen das Brennende Nichts – diese Anomalien werden die Erde und den Mond vernichten, falls Rhodan ihr nicht gehorcht. Cameron Rioz hat als Einziger den Kontakt mit dem Brennenden Nichts überlebt und nun eine »Schattenhand«, die ihm unheimliche Kräfte verleiht. Als er versucht, Bewusstseine aus dem Brennenden Nichts zu bergen, geht das katastrophal schief. Die Schuld lastet schwer auf dem jungen Mann, der immer dann verzweifelt, WENN DAS GEWISSEN SCHREIT …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nr. 3324
Wenn das Gewissen schreit
Grenzen werden ausgetestet – und verschieben sich
Marie Erikson
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Aufbruchsstimmung – Cameron Rioz
2. Die Ruhe vor dem ... – Cameron Rioz
3. Loyalität im Dienst – Norm Kennel
4. Von denen man es am wenigsten erwartet – Cameron Rioz
5. Versagt – Leni Hazard
6. Verhör – Leni Hazard
7. Bärendienst – Bonnifer
8. Rein wie raus – Leni Hazard
9. Schlechtes Timing – Cameron Rioz
10. Verrat – Jasper Cole
11. Zäsur – Cameron Rioz
12. Versagt? – Leni Hazard
Report
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
Gut 4000 Jahre in der Zukunft ... In der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie Tausende von Welten besiedelt; zu vielen Sternenreichen der Milchstraße besteht eine Freundschaft.
Mit dem Projekt von San will Perry Rhodan darüber hinaus einen Traum verwirklichen: eine engere Verbindung zu anderen Galaxien. Der PHOENIX steht als neuartiges Raumschiff für dieses Vorhaben zur Verfügung.
Dann taucht Shrell auf der Erde auf und fordert von Perry Rhodan, in die Agolei zu reisen. In diesem weit entfernten Sternenband soll er seinen ältesten Freund töten: Reginald Bull. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, erschafft sie an drei Stellen das Brennende Nichts – diese Anomalien werden die Erde und den Mond vernichten, falls Rhodan ihr nicht gehorcht.
Cameron Rioz hat als Einziger den Kontakt mit dem Brennenden Nichts überlebt und nun eine »Schattenhand«, die ihm unheimliche Kräfte verleiht. Als er versucht, Bewusstseine aus dem Brennenden Nichts zu bergen, geht das katastrophal schief. Die Schuld lastet schwer auf dem jungen Mann, der immer dann verzweifelt, WENN DAS GEWISSEN SCHREIT ...
Cameron Rioz – Der junge Mann kennt seine Schuld.
Jasper Cole – Camerons Freund hält zu ihm.
Flint Cole – Jaspers Vater hält zu seinem Sohn.
Norm Kennel – Ein Mann hält sich an die Regeln.
Leni Hazard und Dale Fortune
1.
Aufbruchsstimmung
Cameron Rioz
Ausgerechnet der Residenzpark!
Hätte Jasper Cole keinen anderen Treffpunkt vorschlagen können? Er wusste schließlich, dass Camerons Erinnerungen an diesen Ort nicht die erfreulichsten waren.
Kein Wunder, schließlich hatte Cameron den Absturz der Solaren Residenz hautnah miterlebt. Und damit, so ehrlich musste er sich selbst gegenüber sein, hatte sein eigener Absturz begonnen.
Nicht etwa mit Shrell, die das Brennende Nichts gezündet hatte, nicht mit dem Tod seiner Freundin, nicht einmal mit dem Verlust der Hand, sondern mit dem Entschluss, nach dem Fall der Residenz zu fliehen.
Das war die erste in einer Reihe häufig impulsiver Entscheidungen gewesen, fast immer mit besten Absichten getroffen, leider selten mit ebensolchem Ergebnis gesegnet.
Die Rückkehr in den Residenzpark fühlte sich für Cameron Rioz an, als wäre er zugleich an den Beginn einer Kette von Ereignissen zurückgekehrt, die zu einer letzten, verheerenden Tat geführt hatte.
Er versuchte die Erinnerung an Aurelia Bina zu verdrängen, an das Loch, das er mit einem Zornesfunken in ihren Körper gestanzt hatte, an das Rauchwölkchen, das aus den Innereien der Posmi aufgestiegen war, nachdem er sie ...
Nachdem ich sie ermordet habe, dachte er.
Dazu wäre es wahrscheinlich nie gekommen, hätte er vor über einem Jahr nicht die Flucht ergriffen.
Dass ihn Jasper mit der Wahl des Treffpunkts nun zwang, sich dies einzugestehen, war allerdings nicht der einzige Grund, weshalb ihm der Ort nicht behagte. Der zweite war wesentlich schlichter: Menschen. Öffentlichkeit.
Früher hatte er die Berühmtheit als Trividder angestrebt und mit seinen Beiträgen fast fünf Millionen Fans erfreut. Cammies hatten sich manche genannt. Das jedoch hatte sich mittlerweile unangenehm gewandelt. Die Leute grüßten ihn nicht mehr, lächelten nicht mehr, wenn sie ihn erkannten.
Nun starrten sie nur noch oder betrachteten ihn feindselig. Und einige beließen es nicht bei Blicken. So wie dieser Kerl, dem Cameron am Eingang des Parks begegnete.
Offenbar hatte er gerade eine unerfreuliche Nachricht erhalten. Sein verhärmtes Gesicht war knallrot angelaufen, und er schlug mit der Faust einmal fest auf sein Komarmband. Er sah auf, als sich Cameron näherte.
»Ich kenne dich«, sagte er. »Du bist doch dieser Bengel. Wieso lassen die dich frei herumlaufen? Das ist ja gemeingefährlich!«
Um seinen Abscheu zu unterstreichen, spuckte der Mann Cameron vor die Füße. Der bemühte sich weiter um einen ruhigen Schritt, doch der Kerl ließ nicht ab.
»Bleib stehen! Ich rede mit dir. Na warte!« Er hob seine Faust und lief Cameron hinterher.
Typen wie dieser waren der Grund, weshalb zwei Agenten Cameron unauffällig überwachten. Zu seinem Schutz. So lautete jedenfalls die offizielle Begründung. Aber er war sich sicher, dass sie mindestens ebenso ein Auge darauf haben sollten, dass Cameron anderen keinen Schaden zufügte. Schließlich hätte er sich jederzeit mithilfe seiner unter einem Handschuh verborgenen Schattenhand gegen Angreifer wehren können. Aber dabei wäre er effektiver als notwendig gewesen.
Die Agenten drängten den Mann ab und schickten ihn mit deutlichen Worten weg. Er rief Cameron noch etwas nach, aber der gab sich Mühe, wegzuhören.
Cameron nahm einen tiefen Atemzug, hielt die Luft einige Sekunden an und stieß sie aus. Das wiederholte er ein paar Mal, bis sich sein Puls normalisierte.
Solche Situationen gehörten mittlerweile zu seinem Alltag. Sie wühlten ihn längst nicht mehr so auf wie am Anfang. Aber kalt ließen sie ihn ebenfalls nicht. Wie auch? Schließlich konnte Cameron den Hass der Leute nachvollziehen – und dabei kannten sie nicht einmal die ganze Wahrheit.
Ja, Shrell hatte mit dem Brennenden Nichts nicht nur Camerons, sondern die Leben aller verändert. Die Bevölkerung war in Panik geraten und zu Millionen geflohen. Aber die Terraner waren nicht dafür gemacht, im Stressmodus auszuharren. Mittlerweile waren die schwarzen Kuppeln zu einem Teil ihres Alltags geworden. Zu etwas, das zu ihrem Leben gehörte. Also führten sie es weiter wie zuvor.
Nur Cameron konnte das nicht. Für ihn gab es kein Zurück.
Erst hatte ihm das Brennende Nichts die Eltern, die Freundin und die Hand genommen. Und von da an war alles Schlag auf Schlag gegangen und immer schlimmer geworden. Er hatte ein Jahr mit Bonnifer in der Anomalie verbracht, ohne dass er sich daran erinnern könnte, hatte anschließend Experimente und Untersuchungen durch Icho Tolots Team über sich ergehen lassen, hatte mit der Schattenhand geübt – und als krönenden Abschluss bei der NATHAN-Mission unverzeihlichen Mist gebaut.
All das war der Öffentlichkeit unbekannt. Aber sie wusste aus den zahlreichen Medienberichten, dass er vor ein paar Monaten an der Entstehung einer neuen Anomalie beteiligt gewesen war. Wie hätten die Terraner wohl auf ihn reagiert, wenn sie die ganze Wahrheit gekannt hätten? Allem voran, dass er ein Mörder war?
An dieser Stelle angekommen, wurden seine Gedanken stets düsterer als das Brennende Nichts. Camerons Gewissen schrie. Er war ein Mörder. Und er würde es nie ungeschehen machen können.
Ihm wurde flau im Magen.
Noch könnte er umdrehen. Noch könnte er eine Ausrede erfinden und Jasper vertrösten. Er würde es mit Sicherheit verstehen. Und wenn nicht, war es nur einer mehr, der von ihm enttäuscht war. Oder?
Nein, Jasper war nicht irgendwer. Er war von einem Fan zu einem Kumpel, vielleicht sogar zu einem Freund geworden. Zu dem einzigen, den er überhaupt hatte. Der Einzige, der nichts von Cameron erwartete als Freundschaft.
Ihn zu enttäuschen, würde zu dem Cameron passen, der er geworden war. Aber dieser Cameron wollte er nicht sein. Er wollte wieder die alte Version von sich werden. Die, auf die seine Mutter stolz wäre.
Die, auf die sich andere verlassen konnten. Jedenfalls, soweit das möglich war. Und um das zu erreichen, durfte er nicht den letzten Menschen verprellen, der ihm zugeneigt war. Mehr noch: Er musste endlich reinen Tisch machen und Jasper die Wahrheit erzählen.
*
Noch immer war die Unfallstelle im Park großräumig abgesperrt. Antigravkräne umschwebten die eingerüstete Residenz, die in dem mit Stahlplastik ausgekleideten Bett des großen Sees wie in einem Futteral steckte.
Der See erinnerte Cameron an die Lieblingsvase seiner Mutter. Wahrscheinlich, weil die Residenz aufgrund ihrer Form auch Stahlorchidee genannt wurde. Am oberen Ende eines – zugegeben recht wuchtigen – Stängels saßen fünf auskragende Gebäudeteile wie Blütenblätter.
»Beeindruckend, nicht?«
Cameron wollte schon mit Nein antworten. Aber er war von dem Anblick immerhin so abgelenkt gewesen, dass er Jasper nicht hatte kommen hören. »Geht so.«
»Geht so?« Jasper lachte sein offenes, meist ansteckendes Honiglachen. »Wahrscheinlich siehst du nur die Gerüste, Kräne, Maschinen und die Absperrung. Aber lass dich davon nicht blenden. Denk dir das ganze Zeug weg. Und dann schau genauer hin. Los, mach schon!«
Zuerst sträubte sich alles in Cameron dagegen. In jüngster Zeit war er zu oft bevormundet worden. Doch er entsann sich des Vorsatzes, den er gerade gefasst hatte. Es kostete ihn einige Anstrengung, aber dann sah er es: Die Solare Residenz war äußerlich beinahe vollständig wiederhergestellt. Das Silber des Rumpfes war glatt und vollkommen makellos, und die blauen Fensterscheiben der Bürokomplexe reflektierten das Sonnenlicht. Optisch war die Stahlorchidee wieder intakt und erstrahlte in neuem Glanz.
»Schön, nicht?« Jasper stand neben Cameron und hatte ebenfalls den Kopf in den Nacken gelegt. »Wusstest du, dass das Gebäude tausendzehn Meter hoch ist? Etwa achthundert davon erheben sich aus dem Futteral. Es bleiben nur noch ein paar letzte Handgriffe an Andruckabsorber und Antigravmodul, dann kann unsere Blume wie früher in den Himmel wachsen.«
»Sie startet wieder?«, fragte Cameron.
»Laut Medienberichten wird die Ankündigung des Neustarts in den nächsten Wochen erwartet, ja.«
»Ich versuche, mich vom Trivid fernzuhalten, soweit es geht.« Cameron spürte, wie sich seine Stimmung wieder trübte. Dort, wo er früher Zuspruch und Bewunderung geerntet hatte, schlug ihm Ablehnung und Hass entgegen.
»Ich kann mir vorstellen, dass du von schlechten Nachrichten genug hast. Und genau deshalb wollte ich, dass du herkommst.«
»Ja, toll. Öffentlichkeit. Genau das, was ich brauche.« Cameron sah zu einer Familie, die vorbeischlenderte.
Die Eltern blickten ihn abschätzig an und schüttelten den Kopf. Der blonde Sohn, der nicht älter als fünf Jahre sein konnte, streckte ihm sogar die Zunge raus. Cameron nahm es seufzend zur Kenntnis.
»Ich ignoriere deinen sarkastischen Unterton, weil es tatsächlich genau das ist, was du brauchst.« Jasper grinste ihn an und wippte auf den Fußballen. »Du musst bloß deine Filter neu einstellen. Komm mit!« Er lief mit großen Schritten voran und schlug mal diese, mal jene Richtung ein.
»Schau, die ganze Wiese ist voller Leute! Achte nicht auf die, die dich anstarren, Cameron, sondern auf die anderen. Siehst du auch nur ein Gesicht, das nicht fröhlich ist?«
Das war leichter gesagt als getan. Denn das Gesicht von jedem, der Cameron erkannte, verfinsterte sich augenblicklich. Zumindest kam es ihm so vor. Als Nächstes huschte der Blick unweigerlich zur Schattenhand, obwohl er die unter einem Handschuh verbarg.
Früher hatte er sich stets gefreut, wenn Fans ihn bemerkten und er mit ihnen ins Gespräch kam. Aber nach allem, was passiert war, wünschte er sich nur noch, ein ganz normaler Student sein zu können. Unsichtbar in der Masse. Er hatte Kosmopsychologie studiert und Zukunftsträume gehabt. Aber inzwischen war er froh, wenn er einen Tag nach dem anderen meisterte.
Aus dem Augenwinkel nahm er einen Schatten wahr, der auf ihn zukam und etwas schrie. Als er den Kopf drehte, wurde die Frau mit hochrotem Kopf und grellorangefarbenem Lippenstift von seinen zwei Bewachern bereits abgedrängt und in ein Gespräch verwickelt.
Jasper schien all dies nicht aufzufallen. Sein Grinsen wirkte ihm ins Gesicht gelasert. Er war fast schon zu gut drauf, fand Cameron.
»Weißt du, warum die Leute hier so fröhlich sind?« Jasper sprach schneller als sonst. »Weil sie Hoffnung haben. Sie treffen sich im Schatten der Solaren Residenz und sehen, wie es mit ihr vorangeht. Die Schäden wurden beseitigt, sie sieht schöner aus als je zuvor, und bald wird sie wieder starten. Und damit ist sie ein Symbol. Die Bewohner glauben daran, dass alles gut wird. Unsere Blume stellt sich der Finsternis.«
»Sie müssen ja auch nicht mehr tun, als zu glauben«, murrte Cameron.
Er wusste, er war unfair. Sein Kumpel gab sich Mühe, ihn aufzubauen. Offenbar war es ihm wichtig, sonst wäre Jasper nicht so nervös. Er wusste schließlich bisher nicht, wie aussichtslos dieses Unterfangen war und was Cameron ihm zu sagen hatte.
»Können wir irgendwo hin, wo es etwas privater ist?«
»Meinetwegen.« Jasper schaute sich um und deutete mit einer Bewegung des Kinns zu einem Getränkestand. »Wie wäre es mit etwas Kühlem?«
Cameron sah zu der Warteschlange. Dort stand die Frau mit dem grellen Lippenstift, die ihn immer noch feindselig betrachtete. »Vielleicht lieber etwas zu essen.« Dabei hatte er gar keinen Hunger.
»Zuckerfreie kandierte Früchte von dem Stand da drüben?«
»Klingt gut.«
Jasper ging voran und zeigte weiter nach links und rechts, um Cameron auf das aufmerksam zu machen, was sich im Park getan und verbessert hatte, und wie sich das alles auf die Stimmung der Besucher auswirkte.
Cameron schlurfte hinterher. Er fühlte sich elend, weil dieser Gang das Unvermeidliche nur hinauszögerte. Er musste es hinter sich bringen.
Der Verkäufer in dem Obststand begrüßte Jasper mit einem breiten Grinsen. »Hallo, mein Fruchtfreund. Was darf es sein?« Er streckte den Arm aus und zeigte auf die Holos hinter sich.
Dann wanderte der Blick zu Cameron. Augenblicklich verhärteten sich die Gesichtszüge des Mannes. »Tut mir leid. Wir sind für heute ausverkauft und haben geschlossen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, glitt eine Wand aus dem Tresen und verschloss den kugelförmigen Stand.
»Hey!« Jasper schlug mit der Faust dagegen. »Das kannst du doch nicht machen! Gerade eben hast du mir noch das ganze Angebot ...«
Cameron legte sacht die linke Hand auf Jaspers Arm. Unbewusst trainierte er sich zu einem Linkshänder, weil er auf der rechten Seite die Schattenhand trug. »Lass gut sein.«
Jaspers empörtes Gesicht zeigte Cameron, in welch unterschiedlichen Realitäten sie lebten. Aber es zeigte ihm noch etwas: Sein Freund fand, dass es Cameron aus seiner Sicht nicht verdient hatte, so behandelt zu werden. Und das machte Cameron das Herz schwer. Er vermisste es, auf diese Art gesehen zu werden. Er bezweifelte, dass er sich selbst je wieder so würde sehen können. Und wahrscheinlich würde Jasper seine Meinung auch ändern. Sobald er die Wahrheit erfuhr. Dennoch, es musste sein. Besser aufgrund der Wahrheit gehasst als ein geliebter Lügner.
Er ging ein paar Schritte weiter in den Schatten zweier alter Bäume, die beim Absturz der Residenz keinen Schaden erlitten hatten. Jasper folgte ihm, schnaufte aber immer noch vor Wut.
»Hör zu«, hob Cameron mit belegter Stimme an. »Ich muss dir etwas erzählen. Es ist wichtig für mich, dass du weißt, was vor fünf Wochen ...«
»Du wolltest Obst, also hol ich dir Obst! Das ist doch wohl selbstverständlich. Der kriegt sich schon wieder ein.«
»Vergiss ihn. Ich hatte sowieso keinen Hunger. Viel wichtiger ist, dass du weißt, was damals auf Luna ...«
»Siehst du? Er macht wieder auf!« Jasper fuhr sich durchs Haar. »Warte hier, ich stelle mich einfach schnell allein an. Ich hole eine große gemischte Tüte für uns beide.« Er stapfte los.
»Halt!« Dieses Mal packte Cameron ihn fester am Arm. Wieder mit links. »Was ist los mit dir? Der Typ mit seinem Obst ist mir vollkommen egal. Ich muss dir etwas sagen.« Cameron hatte so laut gesprochen, dass sich einige Köpfe in ihre Richtung drehten. Hastig ließ er Jasper los.
»Gut, also kein Essen«, sagte der. »Dann komm mit! Dort drüben ist ein neuer Spielplatz für Kinder. Ich wäre in dem Alter vor Freude durchgedreht.«
Sein Freund bemühte sich sichtlich, ihn aufzumuntern, und Cameron wollte nicht undankbar erscheinen. Aber hatte er nicht mehrmals deutlich gemacht, dass er ein Anliegen hatte? Warum ging sein Freund so hartnäckig darüber hinweg? Wollte er nicht mit ihm sprechen? Ahnte er womöglich, dass Cameron ihm etwas zu erzählen hatte, das er nicht hören mochte? Oder bemerkte er bloß nicht, wie wichtig es für Cameron war?
Doch. Das musste er. Schließlich kannten sie sich mittlerweile ziemlich gut. Weshalb lenkte Jasper dann trotzdem immer ab? War er so stur auf seinen Vorsatz versessen, Cameron positiv zu stimmen, dass er alles andere ausblendete? Andererseits kam er Cameron dabei zu verbissen vor. Als hätte er sich in etwas verrannt. Er hatte Jasper bisher kaum eine Sekunde still stehen sehen. Ja, sein Freund stand immer unter Strom. Diese Energie mochte er an ihm.
Aber an diesem Tag wirkte Jasper fahrig, wie er ständig von einem Bein auf das andere wippte. Auch in diesem Moment war er schon mehrere Meter vorausgegangen.
»Kommst du?«
»Ja doch.« Cameron seufzte. Nachdem er die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich gezogen hatte, boten die Bäume ohnehin nicht mehr den Schutz, den er sich für das Gespräch gewünscht hatte.
Die Blicke, die ihm folgten, waren weiterhin ablehnend bis hasserfüllt. So gesehen war er froh, wegzukommen. Und da er den anderen Besuchern dabei den Rücken zudrehte, beruhigte es ihn, die Agenten hinter sich zu wissen. Die würden etwaige Angreifer abwehren, und so sputete er sich, zu Jasper aufzuschließen.
Mit langen Schritten erklomm Jasper einen kleinen Hügel. Dabei sah er sich immer wieder um. Nicht nach Cameron, sondern nach links und rechts, als suchte er jemandem. Sobald er die Kuppe erreicht hatte, drehte er sich einmal um sich selbst und war gleich darauf den Weg hinunter auf der anderen Seite verschwunden.
Himmel noch mal, was war bloß mit dem Kerl los? Cameron reichte es. Er musste loswerden, was er auf dem Herzen hatte. Und Jasper war seine letzte Vertrauensperson. Also würde er ihn zwingen, zuzuhören.
Er sprintete den Hügel hoch und blickte auf der anderen Seite hinunter. Der Spielplatz lag rechts von ihm, etwas abseits am Rande des Parks: eine fünfzig Meter lange Nachbildung des Residenzsees. Große Froschfiguren hockten mit offenen Mündern darauf verteilt. In einem umzäunten Bereich parkten mehrere Minigleiter. Ein Dutzend in Form von Fliegen. Damit würden Kleinkinder wahrscheinlich über den See sausen können und den spielerisch nach ihnen schnalzenden Froschzungen ausweichen müssen. Ein etwas größerer Gleiter sah wie eine Miniaturversion der Solaren Residenz aus. Dort, wo bei dem Original die Hauptkomplexe auskragten, fanden insgesamt fünf Babys Platz, die gemächlich und vermutlich quietschvergnügt über den See gleiten würden.
Jasper hatte recht, das war eine schöne Vorstellung und hätte ihm als Kind sicher auch viel Vergnügen bereitet. Aber das Ding war ja nicht einmal in Betrieb. Warum also hatte er ihm das zeigen wollen?
Cameron sah Jasper, der von der Seite des Gleiterparkplatzes aus winkte. Dieser Ort war einigermaßen abgelegen. Sein Freund hatte also doch bemerkt, dass Cameron etwas mit ihm besprechen wollte, und hatte ihn deshalb hergelotst!
Cameron lief den Weg hinab und atmete auf. Der Hügel schirmte ihn von den anderen Besuchern ab und verbarg ihn vor ihren Blicken. Es fühlte sich an, als hätte er einen sehr schweren Rucksack vom Rücken genommen – und sich direkt auf die Seele gelegt. Vielleicht waren das die letzten Sekunden ihrer jungen Freundschaft. Vielleicht war das der letzte Moment, in dem Jasper ihn so ansah, wie er ihn ansah ... erschrocken?
Jasper hatte die Augen aufgerissen, starrte über Camerons Schulter hinweg und winkte ihn hektisch zu sich.
Cameron, dessen Puls sich nun ebenfalls beschleunigte, fuhr herum.
Zwei Personen kamen auf ihn zu, beide in Zivilkleidung. Ein Mann, kaum älter als dreißig Jahre, mit rotem, kurz geschnittenem Haar, das seine hellblauen Augen hervorstechen ließ, und eine Siganesin, die auf seiner Schulter stand.
Wo waren seine Personenschützer? Hatten sie ihre Schicht beendet und die beiden waren die Ablösung, die sich ihm vorstellen wollte?
Oder kannte er sie bereits? Zumindest die Siganesin meinte Cameron schon einmal gesehen zu haben. Die langen Haare kamen ihm bekannt vor.
Aber wenn sie wirklich auf ihn aufpassen sollten, wieso blieben sie nicht wie die anderen auf Abstand, sondern kamen weiter auf ihn zu?
»Cameron Rioz, mein Name ist Dale Fortune«, rief der Rothaarige. »Ich bin Agent des TLD. Das ist meine Kollegin Leni Hazard von der USO. Ich muss dich bitten, uns unverzüglich zu begleiten.«
Cameron hob die Hände. »Nein, alles entspannt. Das da drüben ist mein Freund Jasper. Ich bin nicht in Gefahr.«
»Du hast Agent Fortune nicht richtig verstanden.« Die Siganesin nutzte einen Stimmenverstärker. »Es ist dir nicht freigestellt, ob du mit uns kommst oder nicht. Du hast nur die Wahl, wie viel Aufsehen du dabei erregen willst.«
Camerons Puls raste. Ihm wurde warm, seine Haut kribbelte. Bewahrheiteten sich gerade seine schlimmsten Befürchtungen?
Sie wissen es. Sie wissen, dass ich Aurelia Bina getötet habe.
Dennoch bemühte er sich, die Fassade aufrecht zu halten. »Worum geht es?«
Fortunes Augen weiteten sich. »Runter!« Er zog seinen Paralysator, den er unter der Kleidung verborgen getragen hatte. Hazard tat es ihm gleich.
»Was soll das denn jetzt?« Cameron wich einen Schritt zurück.
»Runter, hab ich gesagt!« Fortune stürmte los. Doch zu Camerons Überraschung lief er an ihm vorbei. »Wer seid ihr? Was macht ihr hier? Dies ist eine Operation des TLD und der USO. Ihr habt hier nichts ...«
Cameron drehte sich um und sah sechs Männer, die von außerhalb des Parks gekommen sein mussten. Sie trugen silbern-orangefarbene Anzüge und hatten sich ein seltsames Gestänge auf die Handrücken geschnallt. Zuerst dachte Cameron, es könnte sich um eine Art Exoskelett handeln, aber die Stangen, die über die Finger führten, leuchteten plötzlich grellweiß auf. Im nächsten Moment schossen aus den Öffnungen über ihren Fingerkuppen Energieblitze.
Schockstrahlen, oder?, dachte Cameron. Offenbar versuchte sein Gehirn noch, die Situation zu erfassen und zu analysieren. Endlich drang auch der Befehl des TLD-Agenten zu ihm durch, und er ließ sich auf den Rasen fallen. Schmerzhaft schlug er mit dem Beckenknochen auf.
Hazard hatte sich auf Fortunes Schulter umgedreht. »Ich gebe dir Rückendeckung!« Ihr Stimmverstärker war heillos übersteuert, wie er am Klang der Worte erkannte. »Das nächste Mal nehmen wir bitte richtige Schutzschirmprojektoren, nicht nur superleichte Federgewichtausgaben für Einsteiger und getarnte Agenten!«
Cameron schlang die Arme um den Kopf und lugte durch einen Spalt. Die beiden Agenten agierten professionell. Sie ließen sich nicht aus der Ruhe bringen, arbeiteten nahtlos als Team zusammen und stellten sich schützend vor Cameron.