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Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen. In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden. 2055 reist Perry Rhodan mit dem riesigen Raumschiff MAGELLAN in die Galaxis Andromeda, findet dort aber nichts über die vermisste Erdbevölkerung heraus. Er will in die Milchstraße zurückkehren – doch die Passage in die Heimat schlägt fehl. Die MAGELLAN und ihre Besatzung stranden in der Eastside der Galaxis. Die fremdartigen Blues stellen ihnen mit Tausenden Kampfschiffen nach – es entbrennt eine Raumschlacht, bei der die Menschen zu unterliegen drohen. Im letzten Moment naht Hilfe, und Perry Rhodan kann in sicheres Gebiet entkommen. Dort aber lauert DER GELBE TOD ...
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Band 172
Der gelbe Tod
Susan Schwartz
Cover
Vorspann
1. Choroba nemoc
2. Ruhe vor dem Sturm
3. Eine unerwartete Begegnung
4. Der letzte Flug der KOLKAAR
5. Neue Freunde
6. Fremde
7. Warten
8. Willkommen auf Han
9. Leydens Ausflug
10. Perparims Ausflug ...
11. ... und die Folgen
12. Industriespionage
13. Erkenntnisse
14. Auf der Suche nach Heilung
15. Nach Droo Karuuhm
Impressum
Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.
In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.
2055 reist Perry Rhodan mit dem riesigen Raumschiff MAGELLAN in die Galaxis Andromeda, findet dort aber nichts über die vermisste Erdbevölkerung heraus. Er will in die Milchstraße zurückkehren – doch die Passage in die Heimat schlägt fehl.
Die MAGELLAN und ihre Besatzung stranden in der Eastside der Galaxis. Die fremdartigen Blues stellen ihnen mit Tausenden Kampfschiffen nach – es entbrennt eine Raumschlacht, bei der die Menschen zu unterliegen drohen. Im letzten Moment naht Hilfe, und Perry Rhodan kann in sicheres Gebiet entkommen. Dort aber lauert DER GELBE TOD ...
1.
Choroba nemoc
Kurz vor dem Einsatz hatte er es entdeckt. Bis dahin war es ein gewöhnlicher Morgen gewesen, beginnend mit dem Reinigungsritual, um dann ans Tagwerk zu gehen. Guddoor Kell hatte sich noch vor dem Morgengrauen eine Stunde intensiven Schlaf gegönnt, um gut erholt den Dienst anzutreten. Vergnügt hatte er sich zuletzt der Fellpflege gewidmet.
Da sah er es. Gleich unter der Achsel. Nur ein winziger Fleck, eine kreisrunde Stelle, in deren Zentrum der weiche, blaue Flaum ausgefallen war.
Das kam hin und wieder vor, eine allergische Reaktion oder ein Mangel nach einem dreitägigen Tanzturnier ohne Ruhephase und mit zu wenig Nahrung. Aber so etwas gab es nicht in Verbindung mit einer Veränderung der verbliebenen Haare darum.
Gelb.
Die gelbe Kreatur der Krankheit hatte ihn auserwählt. Sie würde nun ein paar Tage lang mit ihm tanzen und sich vergnügen, bevor sie ihn weiterreichte an die schwarze Kreatur des Todes. Vielleicht sollte er das als Ehre erachten, aber das tat er ganz und gar nicht.
Kell wollte, konnte es zuerst nicht glauben. Wieder und wieder reinigte er sich. Überprüfte alle Stellen an seinem Körper mithilfe der gegenüberliegenden Spiegel, in denen er sich gleichzeitig mit dem vorderen wie dem hinteren Augenpaar gründlich betrachten konnte.
Es blieb gelb. Und der Ausfall blieb ebenfalls.
Kell tat etwas, was Azaraq nur in sehr seltenen Momenten taten.
Er zog sich zurück. Suchte einen der Räume, in dem niemand sonst war; die gab es, gedacht für diskrete, stille Augenblicke. Zumeist standen sie leer, auch nun, und Kell hatte die freie Wahl. Er betrat den einsamen Raum und schloss die Tür hinter sich, schloss damit auch das unablässige Zwitschern und Schnattern seiner Artgenossen aus. Normalerweise ein unerträglicher Zustand, doch nicht in solchen Momenten, wenn man nur noch die eigenen Gedanken hören wollte. Nichts befand sich in dem kleinen Raum, nur ein Fenster mit Ausblick auf die Stadt.
Gelb.
Vor allen vier Augen sah er die Zeichen in der verfluchten Farbe flimmern.
Das Gelb hatte einen Namen: Choroba nemoc, was verharmlosend und zusammengefasst so viel wie »nackt« bedeutete. Wie bei jedem Fluch musste darauf geachtet werden, dass die wahre Bezeichnung nicht klar definiert wurde, sondern nur umschrieben, damit es einen nicht traf.
Aber Guddoor Kell hatte es getroffen. Die Krankheit, mit der jeder Azaraq geboren wurde. Keiner wusste, ob sie jemals bei ihm aktiv würde. In Gefahr war ausnahmslos jeder, denn Choroba nemoc brach ohne Rücksicht auf äußere Umstände aus. Es konnte den kleinsten, den größten, den jüngsten, den ältesten, den schwächsten, den stärksten Azaraq treffen, den höchst- oder niedrigstrangigen, und es nahm auch keine Rücksicht auf das Gelege, das Nest oder die direkte Abstammung. Eine unheilbare Seuche, die gelbe Pest, so verfluchten sie manche, denen es nichts mehr ausmachte, darüber zu sprechen. Wie Kell in diesem Moment: Schlimmer konnte es nicht mehr kommen, also fluchte auch er und benannte es den gelben Tod.
Choroba nemoc war die personifizierte gelbe Kreatur der Krankheit, der Inbegriff alles Tödlichen. Vor ihr beugten selbst die Stolzesten ihr Knie und selbst die Hochmütigsten wurden demütig.
Egal wie gut oder schlecht man lebte, welchen Charakter man hatte – vor Choroba nemoc waren alle gleich. Nackt.
Kell überlegte, ob er es Erasaria Hudaxa sagen sollte. Sie führten schon seit drei Jahren eine Beziehung auf Basis der Zweigemeinschaft und hatten sich vieler Nestlinge erfreut, von denen fast die Hälfte überlebt hatte. Sie schmiedeten gemeinsame Pläne, demnächst ein eigenes Nest anzulegen, wenn ihre Familie weiter so gedieh.
Daraus würde nun nichts mehr werden. Guddoor Kell blieben nur noch wenige Tage. Sobald der gelbe Tod ausgebrochen war, kam der Verfall rasant. Manche hatten es ein paar Wochen geschafft, aber diese waren die Ausnahme.
Kell griff nach dem mehrfarbigen Montram, das um seinen Hals hing. Rieb es und sang dazu leise ein paar Strophen an die türkisfarbene Kreatur der Freiheit.
Ein wenig getröstet, verließ er den Raum und kehrte zu den anderen zurück, die bereits geschäftig umhereilten. Nahrungsaufnahme und Arbeitsvorbereitung. Vor allem die Kinder sausten kichernd durch die Gänge. Maragata und Enimox, seine beiden Ältesten der Achtlinge, rauften schon wieder um die besten Nidwürmer-Stücke, die jüngsten steckten die Köpfe zusammen und heckten einen Streich aus.
Erasaria kam auf ihn zu. »Die Ordonnanz des Tharvis hat angerufen«, meldete sie. »Du hast einen Marschbefehl bekommen. Die KOLKAAR erwartet dich.«
»Ich bin sofort bereit«, sagte er und eilte zum Ankleideraum, um seine Uniform für den Kriegseinsatz zu holen.
Er war Nhervis und Kommandant der KOLKAAR. Sie gehörte zum Verband des Tharvis Kerrek, der die stolze OVARIONS LICHT befehligte. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die Kell mit Freude erfüllte. Er war ganz oben angekommen, und das vor seinem dreißigsten Geburtstag. Seither waren vier Jahre dazugekommen. Seine Lebenshälfte hatte er längst überschritten, die Karriere vollendet. Kell stammte nicht aus einem privilegierten Nest, er war noch dazu Achtling, und hatte sich seinen Status hart erarbeitet. Das kam nun seiner Familie zugute – auch nach seinem Tod.
»Wurde gesagt, wen wir angreifen sollen?«
»Erinnerst du dich an die seltsamen Fremden?«
»Oh ja, sicher. Fast haarlos, einfarbig, mit Krächzstimmen wie knirschende Rohre. Menschen nennen sie sich, was auch immer das bedeuten mag. Sehr erheiternd.«
»Nun – diese Fremden haben uns etwas gestohlen und sind damit geflüchtet.«
Kell stieß ein schrilles Trillern aus. »So danken sie unsere Gastfreundschaft?« Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. »Ich bin bereit, und wie ich bereit sein werde!«
Guddoor Kell verabschiedete sich von seiner Gefährtin und seiner Familie. Formell und auf die übliche Weise, als wäre es das letzte Mal. Das war üblich vor einem Kriegseinsatz.
Sie ahnten nicht, dass er diesmal tatsächlich nicht zurückkehren würde. So oder so, sein Schicksal war besiegelt. Doch bis dahin würde er den Fremden ordentlich einheizen, die es gewagt hatten, die Gastfreundschaft derart zu missbrauchen und nichts weiter als gewöhnliche Diebe waren. Sicherlich waren sie im Auftrag der widerlichen, verabscheuungswürdigen Tentra hier! Es konnte gar nicht anders sein.
Doch das bot auch Trost. Er würde alles geben in der Schlacht und in Ehren sterben. Nicht wie ein verrottender, stinkender Pelzloser.
Außerdem hatte er eine Menge Nachkommen. Was soll's, dann werde ich eben keine fünfzig, aber ich habe ohnehin schon alles erreicht in meinem Leben.
2.
Ruhe vor dem Sturm
»Haaaaaaaalt!«, schrie jemand dazwischen, genau in dem Moment, als Leutnant Christophe Lente den Befehl befolgen wollte. »Nicht funken, stoppstoppstopp!« Lentes Finger verhielt gerade noch über der Eingabe. Verwirrt blickte er zu Rhodan.
Conrad Deringhouse, der neben Rhodan stand, runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
Perry Rhodan hatte soeben die Kapitulation angeordnet. Gucky hatte ihm widersprochen, doch er sah keinen anderen Ausweg, um die Besatzung zu schützen, und hatte auf dem Befehl bestanden.
Kein Wunder, sie waren von mehr als tausend Diskusraumern der »Blues«, wie die Terraner die fremdartigen Azaraq spontan getauft hatten, umgeben – und es war kein freundschaftliches Treffen. Der Beschuss erfolgte aus allen Rohren, um den Libraschirm zu überlasten und anschließend auf Rammkurs zu gehen. Die Blues waren an sich, abgesehen von dem Molkexüberzug ihrer Schiffe, waffentechnisch unterlegen – aber sie hatten eine raffinierte Raumschlachtstrategie entwickelt. Nicht nur, dass sie sich auf die Manöver der MAGELLAN perfekt eingestellt hatten und ständig durch Gegenbewegungen einen Durchbruch des gigantischen Kugelraumers verhinderten – gleichzeitig prasselten ununterbrochen Energiestrahlen auf den Libraschirm ein, und zwar mit Punktbeschuss. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie durchbrachen. Gemessen an der gewaltigen Übermacht musste die MAGELLAN wohl oder übel die Waffen strecken.
Und nun wurde gebremst? Gewiss, als Kommandant hätte ohnehin eigentlich Deringhouse die Order zur Kapitulation geben müssen. Aber seit wann nahm irgendein Besatzungsmitglied die Befehlskette in einer überaus kritischen Situation wie dieser bürokratisch, sofern die Anweisung vom Expeditionsleiter kam?
»Weil, Sir ... sehen Sie!«
Im Holodom wurde das Bild der um die MAGELLAN herumschwirrenden gatasischen Diskusraumer angezeigt – hell unterlegt, da der pechschwarze, lichtschluckende Molkexüberzug eine Sichtung an sich unmöglich machte. Doch die Energieemissionen ermöglichten die Ortung und Positionierung und damit auch eine visuelle Markierung.
»Ich sehe es! Da soll doch ...« Der Mausbiber vollendete den Satz nicht, sondern deutete aufgeregt an den rechten Rand des gezeigten Ausschnitts.
Dort tauchten plötzlich weitere als Lichtpunkte gekennzeichnete Energieemissionen auf. Die schnell heranrückten. Und immer mehr wurden.
»Ja, wir sehen richtig!«, rief auch Lente nun aufgeregt. »Sir, ich fange Funkfetzen zwischen den neuen Schiffen und unseren Angreifern auf ... der Translator tut sich schwer, aber wir können etwas für uns herausfiltern: Das ist definitiv keine Unterstützung für Tharvis Kerrek!«
»Nicht?«, sagte Perry Rhodan überrascht. »Aber was dann?«
»Merkst du es nicht, Perry?«, flüsterte Gucky.
»Was ...« Er lauschte unwillkürlich, sah um sich. »Da ist nichts.«
»Genau«, bestätigte der Ilt. »Der Beschuss hat aufgehört ...«
Wenige Minuten zuvor auf der KOLKAAR
»Jetzt haben wir sie!«, rief der Kommandant der KOLKAAR. Guddoor Kell wanderte, wie es seine Art war, in der Zentrale umher. So konnte er seine Leute beobachten, damit sie keinen Fehler machten, und alle Bildschirme in den Blicken behalten. Ein riesiger Holoschirm beherrschte eine der Wände – wie ein Fenster, das großformatig den Kugelraumer der Fremden zeigte, die MAGELLAN, umgeben von einer unüberschaubaren Menge an Diskusraumern der Gataserflotte. Letztere wurden durch eine spezielle Markierung sichtbar gemacht.
Die KOLKAAR gehörte zu dem Verband, der den Punktbeschuss auf die pelzlosen Zweiaugen eröffnet hatte. Kell ging dabei jedes Risiko ein und rückte dem großen Raumer immer näher.
Seine Zentralemannschaft wunderte sich offensichtlich nicht darüber. Azaraq waren gnadenlos im Krieg. Das eigene Leben zählte nichts. Man arbeitete synchron wie eine einzige Hand.
Vielleicht hätte Kell nicht ganz so riskant gehandelt, wenn er gesund gewesen wäre. Aber das würde er nie mehr herausfinden. Und es spielte auch keine Rolle.
Sein Kampfschiff und damit die Familien seiner Mannschaft würden Ruhm und Ehre ernten, wenn es ihm gelang, den Kugelraumer aufzubringen.
»Es muss uns gelingen!«, schärfte er der Mannschaft ein.
Die befolgte den Befehl begeistert, Ruhm und Ehre waren Ansporn genug.
Die KOLKAAR war ein 800-Meter-Schlachtschiff bei einer Höhe von 320 Metern. Genau wie die übrigen Diskusraumer des Verbands war sie nachtschwarz, ohne jegliche Rückstrahlung. Das Wichtigste dabei war jedoch nicht der »Unsichtbarkeitseffekt« des mühevoll aufgetragenen Materials, sondern die Panzerungswirkung. Es war unmöglich, mit Energiewaffen angegriffen zu werden – auftreffende Energiestrahlen wurden sofort in den Hyperraum abgestrahlt.
Diese Erfahrung hatten die Haarlosen längst gemacht. Leider verfügten sie trotzdem über eine geheimnisvolle Waffe mit gewaltiger, durchschlagender Kraft, die sie in ihrem Funkverkehr »Transformkanone« nannten. Sie konnten damit sogar ein Superschlachtschiff zerstören.
Aber: Hatten sie genug Energie und kurz gehaltene Aufladezeiten, um gegen tausend Schiffe gleichzeitig zu bestehen?
Sicher nicht, dachte Kell höhnisch. Und deswegen werde ich euch auch kriegen. Der Ehrgeiz brannte in ihm, je mehr er fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Trotz der kühlen Innentemperatur spürte er, wie seine Körpertemperatur zwar langsam, aber stetig stieg. Bald würde das Fieber ausbrechen. Wahrscheinlich zeigten sich schon mehr gelbe Male an seinem Körper, doch hoffentlich waren sie nicht für die anderen sichtbar.
Bei jedem verlief der gelbe Tod anders. Manche starben schon nach wenigen Stunden, andere erst nach qualvollen Tagen. Kell wusste, dass er sein Ende durch den Hormonausstoß angesichts der Schlacht beschleunigte. Deshalb hatte er vor dem Aufbruch vorsorglich jede Menge Aufputsch- und Schmerzpflaster aufgetragen, die alle dreißig Minuten eine Dosis injizierten. Das diente der Verzögerung der Krankheitssymptome und verhinderte eine Schwächung, denn schließlich ging es um seine Position. Sein Stellvertreter wartete nur darauf, dass Kells feiner Pelz verblasste. Sah ihn nun schon als viel zu alt an, um noch im aktiven Dienst zu sein. Besser wäre es doch für einen Plusdreißiger, in der Admiralität zu dienen oder als Ausbilder. Um in Ehren zu verbleichen, bis aus dem satten Dunkelblau ein schwaches Hellblau geworden war.
Pah! Da wurde Kell doch lieber gelb.
»Positionen zehn bis fünfzehn vorbereiten!«, ordnete der Kommandant an, der trotz seiner Gedanken konstant bei der Sache blieb und alles in den Blickfeldern, vorn wie hinten, behielt.
Auf der Ober- und auf der Unterseite des Diskuskörpers befand sich je ein Geschützring, in Schächte segmentiert, die jeweils bei Aktivierung aufgefahren wurden. Sobald eine Batterie abgeschossen war, trat während des Energienachladevorgangs die nächste Abteilung in Aktion. Desintegrator- und Thermostrahlgeschütze, die über die hochschwenkenden Schächte ein- und ausgefahren wurden.
Selbst wenn sie volle Breitseite gäbe, könnte die KOLKAAR allein den Schutzschirm der MAGELLAN niemals durchdringen. Aber sie waren viele, sehr viele. Und sie setzten in klarer Aufstellung mit Koordination des Flaggschiffs ihre Batterien einzeln zum kombinierten Punktbeschuss ein. Damit war Dauerfeuer garantiert, ohne dass es durch Permanentbeanspruchung eines Schiffs zum explosiven Rückschlag durch Überladung oder eine nicht minder fatale spontane Entleerung der eigenen Geschütze kam. Überreaktionen konnten im Eifer des Gefechts trotzdem schon mal vorkommen. Azaraq waren sehr temperamentvolle Wesen, die kaum je verziehen, die lieber ihre Köpfe zusammenprallen ließen, als einen Streit mit Worten beizulegen. Sie gaben gern alles, zu jedem Zeitpunkt, privat und am liebsten in der Schlacht.
»Näher heran!«, befahl Kell. »Wir brechen jeden Moment durch, dann geben wir eine volle Breitseite mit den Torpedos. Diesem Massehammer können sie auf die Entfernung nicht entkommen, und wir verlieren außerdem keine Zeit durch Beschleunigung. Ein Schlag, und sie sind fertig.«
»Wir wahrscheinlich auch«, warnte der Waffenoffizier. »Zu nah dran.«
»Problem damit?«
»Nicht das geringste. Fürs Protokoll, ich bin dazu verpflichtet, auf mögliche Risiken und Gefahren hinzuweisen.« Der Offizier zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Und ich würde gern den Gesang der donnernden Speere anstimmen.«
»Erlaubnis erteilt! Sie übernehmen den Part des Vorsingers.«
Erfreut senkte und hob der Waffenmeister den Kopf, präsentierte den am unteren Hals sitzenden Mund und gab den Ton vor.
Kell konnte sich auf seine Leute verlassen. Sie waren alle erfahrene Raumsoldaten. Seit fünf Jahren hatten sie sich hervorragend bewährt und jede Schlacht überlebt. Dass es nicht auf Dauer so weitergehen würde, war allen bewusst. Man redete ohnehin schon über sie. Einerseits klang das ehrfürchtig, aber auch Neid und sogar Misstrauen schwangen hier und da in den Lobestönen mit. Ging denn alles mit rechten Dingen zu? Sie waren Veteranen mit einem schon unheimlichen Glück – die blaue Kreatur des Kampfes musste es ganz besonders gut mit ihnen meinen
Kells Mannschaft konnte in jedem Fall nachvollziehen, dass der Kommandant diesmal aufs Ganze gehen würde. Egal wie es ausging – dieser Kampf würde die Legende vollenden, Ruhm und Ehre einbringen und einen angesehenen Namen für ihre Nester.
Niemand hatte nachgefragt, was genau die Haarlosen gestohlen hatten. Das war für die Soldaten nicht von Bedeutung. Sie hatten den Auftrag, die Fremden aufzuhalten, und den würden sie erfüllen.
Ganz so haarlos sind sie ja gar nicht, dachte Kell bei sich. Aber diese lächerlichen Kopfhaare, das ist zu jämmerlich. Sie kommen von wer weiß woher und benehmen sich wie große Herren. Sie vergelten unsere Gastfreundschaft mit Diebstahl. Dafür werden sie sterben!
Der Befehl lautete, die MAGELLAN nicht vollends zu zerstören, weil man das Diebesgut zurückhaben wollte. Danach würde der Tharvis zusammen mit dem Rat über das weitere Schicksal der »Menschen« entscheiden. Es wäre sicherlich einmal eine Belustigung, Fremde in den Arenen auftreten zu lassen. Gegeneinander, gegen Azaraq, und sicherlich am erheiterndsten gegen die massigen Stunkbullen. Das Nasenhorn allein war schon zwei Meter lang.
Kell hatte einen genauen Plan, wie die Gefangennahme gelingen sollte. Ihm und der Mannschaft der KOLKAAR gebührte der Ruhm!
Erwartungsvoll durchwanderte er wieder die Zentrale, während die Mannschaft um ihn herum sang. Es war bereits die vierzehnte Stufe, und er setzte mit einem eigenen Vers ein.
»Kommandant, wir sind in Reichweite«, tönte es in das Lied hinein. »Die Überlastung des feindlichen Schutzschirms steht unmittelbar bevor.«
»Gut«, sagte Guddoor Kell zufrieden. »Sämtliche Torpedowerfer laden und die Geschützpforten öffnen. Warten auf mein Kommando. Strategisches Manöver Endzeit
3.
Eine unerwartete Begegnung
KOLKAAR
Rauschen, Knistern und Blitzgewitter in den Holoschirmen, während die KOLKAAR sich immer weiter vortastete. Noch hielt der Schutzschirm der Fremden, aber die Messungen ergaben unstrittig, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand. Nhervis Guddoor Kell war sicher, dass er bei physischem Kontakt endgültig kollabieren würde. Im selben Moment sollte der Abschuss der Raumtorpedos erfolgen. Das feindliche Riesenschiff konnte damit zwar nicht zerstört werden, aber das war auch nicht beabsichtigt.
Ein anderes Raumschiff der Flotte rückte bereits näher, um fast zeitgleich das Enterkommando auszuschleusen und die MAGELLAN zu erstürmen.
Der Tharvis war in Kenntnis gesetzt und zog einen Teil der Flotte zusammen, um notfalls den Beschuss fortzusetzen.
Die letzte Order lautete: Sollte der Feind die Kapitulation beharrlich verweigern, musste er restlos zerstört werden. Das hieße zwar, das Diebesgut aufzugeben, aber Ignoranz durfte nicht geduldet werden. Das wäre ein Zeichen von Schwäche – und Azaraq waren nicht schwach. Allen voran die Gataser. Niemals!
Kell nahm sich aus dem Gesang heraus. Er verspürte ein Jucken unter der Achsel und am Halsansatz. Das Fieber nahm zu.
Nicht mehr lange, dann würde seine Veränderung öffentlich auffallen. Deshalb ließ er besser das Singen sein, an der Stimme bemerkte man es als Erstes.
Er verkürzte die Zeitabstände der Zuführung an Medikamenten. Es spielte keine Rolle mehr, womit er seinen Körper zusätzlich vergiftete – es gab keine Heilung, hatte es niemals gegeben. Choroba nemoc war der Fluch des ganzen Volks. Sie konnten dem nur begegnen, indem sie für genügend Nachkommen sorgten. Da die Kindersterblichkeit sehr hoch war, war es eine ewige Herausforderung. Kell konnte zufrieden sein. Viele seiner Kinder hatten überlebt und waren bereits dabei, für eigene Nachkommen zu sorgen. Sie würden mit der Legende des siegreichen Ahnen aufwachsen und dem Stamm Kell Ehre bereiten.
Die meisten Azaraq gingen zunächst keine engen Bindungen ein und fanden sich in polygamistischen Verbindungen zusammen. Meistens ein Mann und mehrere Frauen, aber es gab auch umgekehrte Konstellationen, je nachdem, aus welcher Schicht sie stammten. Bei den Soldaten beispielsweise versammelten stets die Frauen mehrere Männer um sich, weil ein höheres Verlustrisiko bestand.
So war es zu Beginn auch bei Erasaria Hudaxa gewesen – sie hatte Guddoor Kell beim Tanzen kennengelernt und ihn eingeladen, Mitglied ihres Familiennests zu werden. Es gab vier weitere männliche Partner, doch sie wurden mit den Jahren weniger, und schließlich blieb nur Kell übrig. Anstatt nach neuen Erzeugern Ausschau zu halten, beließ Hudaxa es bei dieser Zweigemeinschaft. Sie hatten sich aneinander gewöhnt, sie waren bereits über dreißig, sie erfreuten sich prächtigen Nachwuchses – es wurde Zeit, den Beziehungsstatus zu einer festen Bindung zu ändern.
Erasarias Schwester Oredisia hatte das in Wallung gebracht. Sie war eine der wenigen Frauen, die als Soldatinnen dienten und sich nur selten schwängern ließen. Sie fühlte sich der großen Schwester überlegen – bis zu diesem neuen Status und dem Plan, ein eigenes Nest zu gründen. Guddoor Kells aktive Zeit näherte sich dem Ende, sosehr er sich sträuben mochte. Oredisia hatte ihn nicht mehr leiden können, seit er ihre Avancen, Vater eines Eistamms zu werden, rundheraus abgelehnt hatte. Mit allen Mitteln hatte sie versucht, die Beziehung zu hintertreiben – und nun das.
Wenn Oredisia wüsste, dass die gelbe Kreatur der Krankheit nun Kell zum Tanz bat, sie würde sich an seinem Leid weiden.
Schon allein aus diesem Grund durfte er nicht zurückkehren.
Ein Kratzen im Hals zwang ihn, sich zu räuspern. Kell hatte keine Angst vor dem Tod, das war den Azaraq allgemein unbekannt. Aber er hatte Sorge, dass sein Zustand, seine beginnende Schwäche, der Mannschaft auffiel. Vor allem die Schwäche war es, die alles zerstören konnte. Falls sie ihn absetzten und sein Stellvertreter das Kommando übernahm ...
Nein. Nein!
Beharrlich beobachtete er die Zentralebesatzung, achtete auf jeden zirpenden Laut im an- und abschwellenden Gesang, ob der Flaum entspannt in eine Richtung fiel oder ob er sich aufstellte, sich gar sträubte. Das Geschehen draußen und den Feind verlor er dabei nicht aus den Augen. Er konnte seine Aufmerksamkeit teilen, ohne etwas zu vernachlässigen.
»Initialisiere Countdown«, verkündete der Waffenleitoffizier, und der Gesang schwoll erwartungsvoll an. Die dreiundzwanzigste Strophe. »Torpedos geladen und bereit.«
»Kurs berechnet, Schäden kalkuliert«, meldete der Astrogator.
»Also dann ...«
»Verdammt!«, schrillte der Funkoffizier und wurde sogleich vom Ortungsposten übertönt: »Feindkontakt! Tausende!«
Schlagartig verstummte der Gesang.
MAGELLAN
»Ich empfehle, dass wir uns zurückziehen«, erklang Autum Legacys Stimme in die sekundenkurze, verblüffte Stille in der Zentrale der MAGELLAN.
Die Diskusraumer der Blues um Tharvis Kerrek waren dabei, sich neu zu formieren. Ein Kampfschiff, das zuvor offenbar auf Kollisionskurs hatte gehen wollen, nahm nun ebenfalls Abstand. Die Neuankömmlinge schienen Vorrang zu haben. Kein Wunder: Kaum eingetroffen, begannen sie schon den Beschuss. Aber nicht auf die MAGELLAN!
»Bestehen Chancen, dass wir uns vom Acker machen können?«, fragte Conrad Deringhouse.
»Nein, Sir«, lautete die Antwort. »Wir sind noch immer vergleichsweise dicht umzingelt, und der Beschuss hat zwar aufgehört, aber wir sind weiterhin im Visier. Wir könnten zumindest dem dichtesten Gedränge einigermaßen ausweichen. Vielleicht gelingt es, uns während des zu erwartenden Gefechts da draußen so weit wegzuschleichen, bis wir genügend Fahrt für eine Transition aufnehmen können.«
KOLKAAR
»Nhervis Kell, die MAGELLAN weicht.«
»Verbindung zu Tharvis Kerrek herstellen!«
Wenige Sekunden später erschien das Bild des Flottenbefehlshabers im Kommunikationshologramm. »Was gibt's?«
»Tharvis Kerrek, das Feindschiff geht auf Ausweichkurs.«
»Wie schnell kann es springen?«
»Solange einige von uns dicht dranbleiben und Abfangkurs beibehalten, gar nicht. Die sind derzeit zu langsam, um ungehindert bis auf Transitionsgeschwindigkeit beschleunigen zu können.«
»Gut. Stellen Sie zwanzig Raumer ab, um die MAGELLAN weiterhin beschäftigt zu halten und daran zu hindern, zu entkommen. Sie schließen sich mit dem Rest Ihres Geschwaders der Angriffsformation an. Wir werden zuerst den wahren Feind aus dem Normaluniversum schießen, bevor wir uns wieder den frechen Dieben widmen.«
»Kommando verstanden.« Guddoor Kell beendete die Verbindung und gab die entsprechenden Befehle.
Die zwanzig Kampfschiffe waren schnell gewählt – sie standen dem Kugelraumer am nächsten. Sie bestätigten und gingen sofort daran, die MAGELLAN an der weiteren Schleichfahrt zu hindern.
Bei so wenigen Schiffen bestand natürlich die Gefahr, dass die Menschen die Transformkanone einsetzten, um sich den Weg mit purer Brachialgewalt freizuschießen. Aber in dem Fall kämen weitere Gatasereinheiten sehr schnell zu Hilfe.
Obwohl Kell die Fremden nicht persönlich kannte, ging er nicht davon aus, dass sie tatsächlich ihre furchtbare Waffe verwenden würden. Dafür zauderten sie viel zu sehr im Kampf, blieben in der Defensive. Sie verfolgten eine völlig andere Kampfstrategie als die Azaraq – was kein Wunder war, da sie ganz allein waren gegen über tausend Diskusraumer – und diese Zahl konnte sich jederzeit verzehnfachen, sobald der Tharvis den Befehl dazu gab.
So viel hatte Kell inzwischen erfahren: Die Fremden waren den Azaraq technisch überlegen. Aber letztlich entschied immer die Masse. Und im Gegensatz zu den Azaraq klammerten die Menschen sich fast panisch ans Leben. Sie wollten keinen Verlust. Die Azaraq kümmerten sich nicht um Verluste, allein der Sieg zählte. Sie waren so viele. Alles konnte rasch ausgeglichen werden. Sie lebten schnell, und sie starben schnell – um Hunderte, wenn nicht Tausende Nachkommen zu hinterlassen, die nachrückten.
Kell registrierte, dass er sich unter dem Arm kratzte. Wie lange wohl schon? Warum wurde ihm das nun erst bewusst? Hoffentlich hatte es niemand bemerkt – die Zentralemannschaft war intensiv mit der neuen Aufstellung beschäftigt.
Nun juckte es zwischen Hals und Kopfansatz, an der Unterseite. Kell verspürte zusätzliche Hitze durch aufsteigende Panik. Er unterdrückte den Zwang, sich zu kratzen, aber das Jucken wurde immer schlimmer. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, beugte sich, um scheinbar irgendwelche Eingaben an seinem Terminal vorzunehmen, und schabte hastig an der juckenden Stelle. Er spürte raue Haut, die sich leise knisternd löste.