Persönlichkeitsstörungen verstehen - Rainer Sachse - E-Book

Persönlichkeitsstörungen verstehen E-Book

Rainer Sachse

4,9

Beschreibung

Beziehungsfallen vermeiden Patient*innen mit Persönlichkeitsstörungen gelten als schwierig, schwer behandelbar und stehen außerdem im Ruf, psychiatrische Teams und Klinikstationen aufzumischen. Prof. Dr. Rainer Sachse zeigt, wie man für Menschen mit dieser Problematik Verständnis und Zugang entwickeln kann. Für ihn stellen sich Persönlichkeitsstörungen im Kern als Beziehungsstörungen dar. Anhand des von ihm entwickelten Modells der doppelten Handlungsregulation zeichnet er auf, wie ungünstige Beziehungsmuster entstehen und welche Probleme sich daraus für die Patient*innen und ihr soziales Umfeld ergeben. Zahlreiche Beispiele illustrieren häufig auftretende Beziehungsfallen, in die Therapeut*innen und Pflegepersonal »tappen« können. Kapitel zu den speziellen Problemen bei der Arbeit im Team und mit Angehörigen runden das Buch ab und machen es zu einem Muss für jeden im psychosozialen Bereich Tätigen.

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Prof. Dr. Rainer Sachse, geb. 1948, ist Leiter des Instituts für Psychologische Psychotherapie (IPP) in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher vor allem zur Psychotherapieforschung und zur therapeutischen Beziehungsgestaltung veröffentlicht (u. a. bei Hogrefe). Bekannt sind auch seine paradoxen Ratgeber: »Wie ruiniere ich meine Beziehung – aber endgültig«; »Selbstverliebt, aber richtig«; »Schwarz ärgern, aber richtig« (Klett-Cotta und dtv).

Rainer Sachse

Persönlichkeitsstörungen verstehen

Zum Umgang mit schwierigen Klienten

Rainer Sachse

Persönlichkeitsstörungen verstehen

Zum Umgang mit schwierigen Klienten

11. Auflage 2020

ISBN: 978-3-96605-079-1

ISBN E-Book (PDF): 978-3-96605-089-0

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-96605-090-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Informationen zu psychischen Störungen und ihrer Behandlung im Internet unter: www.psychiatrie-verlag.de

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2020

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Ingeborg Sahm, Köln

Umschlaggestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln

Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein

Satz: Psychiatrie Verlag GmbH, Köln

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Der Zweck des Buches

Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen

Persönlichkeitsstörungen sind nicht pathologisch

Wie sich Klienten mit einer Beziehungsstörung verhalten

Wann ist eine Störung eine Störung?

Wo Diagnosen hilfreich sind und wo ihre Grenzen liegen

Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann

Das Modell der doppelten Handlungsregulation

Die Befriedigung von Wünschen auf der Motivebene

Aus der Biografie abgeleitete Grundannahmen auf der Ebene der Schemata

Manipulatives Verhalten auf der Spielebene

Selbstdarstellung durch Images und Appelle

Tests: Warum Klienten ihre Therapeuten testen

Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen

Selbsttäuschung: Was Klienten über sich denken

Ich-Syntonie: Wie Klienten ihre Erfahrungen verinnerlichen

Warum Klienten sich nicht als Teil des Problems sehen können

Geringe Änderungsmotivation als logische Konsequenz verstehen

Die Klienten kommen meist nicht wegen der Persönlichkeitsstörung in Therapie

Klienten mit Persönlichkeitsstörungen sind beziehungsmotiviert

Klienten verwickeln Therapeuten in Interaktionsspiele

Professionelle Helfer leisten therapeutische Arbeit in Alltagssituationen

Therapeutische Möglichkeiten und Strategien

Komplementarität zur Motivebene: Wünsche erfüllen und Defizite aufdecken

Komplementarität zur Spielebene oder: Das Problem von Nähe und Distanz

Konfrontation mit Spielen – ein therapeutisches Muss

Komplementarität und Konfrontation gehören zusammen

Bestehen von Tests

Aufbau und Verstärkung von Alternativverhalten

Die persönliche Haltung des Therapeuten

Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeitsstörungen

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Histrionische Persönlichkeitsstörung

Dependente Persönlichkeitsstörung

Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung

Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung

Schizoide Persönlichkeitsstörung

Paranoide Persönlichkeitsstörung

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Die Beratung von Angehörigen

Die Situation von Angehörigen

Was Angehörige verändern können

Wie Therapeuten Angehörige unterstützen können

Die Zusammenarbeit im Team

Literatur

Der Zweck des Buches

Klienten mit sogenannten Persönlichkeitsstörungen gelten im Allgemeinen als schwierig: Als Klienten, die an Therapeuten, Bezugstherapeuten, Pflegepersonal, ja an alle Interaktionspartner hohe Ansprüche stellen, die gleichzeitig jedoch wenig kooperativ sind, sich wenig an Regeln halten, »nervig« sind, zu denen man nur schwer Kontakt bekommt. Als Klienten also, die gerade im Stationsalltag große Probleme bereiten (vgl. MEROD 2005; FIEDLER 2007; LELORD & ANDRÉ 2009; TRAUTMANN 2009; OLDHAM & MORRIS 2010; MILLON 2011; FIEDLER & HERPERTZ 2016).

Andererseits sind dies aber auch Klienten, die gerade im Stationsalltag, im Setting der Psychiatrie, eine große Rolle spielen. Viele Klienten mit Persönlichkeitsstörungen lassen sich bei Krisen stationär einweisen und hoffen auf Hilfe. Auf allgemeinpsychiatrischen, psychotherapeutischen und auch anderen Stationen sind diese Klienten daher besonders häufig anzutreffen. Sie stellen insbesondere für das Pflegepersonal, aber auch für Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, für alle, die als Bezugstherapeuten tätig sind, eine große Herausforderung dar. Diese Klienten nehmen oft keine Ratschläge an, folgen keinen Anweisungen, scheinen nicht aus Erfahrungen zu lernen und produzieren immer wieder von neuem Verhaltensweisen, die ihre Interaktionspartner ärgern oder hilflos machen. Um mit diesen Klienten umgehen zu können, benötigt man ein besonderes Wissen, ein tieferes Verständnis davon, wie die Klienten »psychisch funktionieren«, was sie wollen, wie sie denken und fühlen und warum sie so handeln, wie sie handeln. Und man benötigt Strategien zum Umgang mit ihnen.

Dieses Buch versucht nun, den Lesern ein solches tieferes Verständnis persönlichkeitsgestörter Klienten nahezubringen und elementare Strategien im Umgang mit ihnen zu erläutern. Es wendet sich an psychotherapeutisch tätige Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten, aber auch an Pflegende, die mit diesen Klienten täglich interagieren, an Ergotherapeuten, an Angehörige und alle, die ein grundlegendes Verständnis dieser Störungen gewinnen wollen. Das Buch versucht dafür zu werben, diesen Klienten ganz anders als bisher gegenüberzutreten, sie ganz anders als bisher zu behandeln und ihnen damit neue Chancen der eigenen Veränderung einzuräumen. Der Umgang aller Beteiligten mit diesen Klienten wird hier immer als ein therapeutischer Umgang betrachtet: Pflegende können, da vor allem sie sehr viel Kontakt mit den Klienten haben, großen therapeutischen Einfluss auf sie ausüben. Ärzte und Psychologen und alle, die als Bezugstherapeuten arbeiten, können durch ihr Verhalten Änderungsprozesse bei den Klienten anregen. Alle Fachgruppen arbeiten in diesem Sinne definitionsgemäß therapeutisch, denn ihre Arbeit zielt darauf ab, einen konstruktiven Einfluss auf die Klienten auszuüben. Therapeuten sind diese Personen nicht im berufsrechtlichen Sinne, aber sie sind es in ihrer jeweiligen Funktion: Sie können gezielt und therapeutisch-strategisch mit den Klienten umgehen und auf diese Weise zu konstruktiven Veränderungen bei ihnen beitragen.

Allen, die therapeutisch mit Klienten umgehen, die sogenannte Persönlichkeitsstörungen aufweisen, sollte Folgendes deutlich sein: Solche Klienten sind aufgrund ihrer jeweiligen Störung in der Tat interaktionsschwierig. Diese Schwierigkeit ist Teil ihrer Störung. Diese Klienten sind durch therapeutische Strategien nur schwer zu erreichen. Daher müssen besondere Strategien sehr gezielt eingesetzt werden. Und diese Strategien müssen lange und konsequent durchgehalten werden, wenn sie erfolgreich sein sollen. Das bedeutet, dass Therapeuten davon ausgehen müssen, immer nur sehr langsam Veränderungen initiieren zu können, Schrittchen für Schrittchen, mit langen Phasen, in denen kaum Veränderung bemerkbar ist. Therapeuten brauchen also viel Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz!

Für das Team einer Station, Beratungsstelle oder Wohngruppe, in der sich persönlichkeitsgestörte Klienten aufhalten, ist wichtig, dass die verschiedenen Berufsgruppen eng kooperieren. Personen, die in der Diagnostik geschult sind, sollten ihre Informationen an andere Teammitglieder weitergeben, denn die richtige Diagnose ist für alle wichtig, um zu entscheiden, wie sie genau mit einem Klienten umgehen sollen.

Personen, die viel mit dem Klienten interagieren, also viele Informationen über sein konkretes Verhalten bekommen (etwa Pflegende), sollten wiederum diese Informationen an die anderen Teammitglieder weitergeben, die den Klienten nur zeitlich eng begrenzt sehen (wie z. B. Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten). Alle zusammen sollten Strategien zum Umgang mit dem Klienten abstimmen, sodass sich alle Beteiligten dem Klienten gegenüber konsistent verhalten und ihm keine widersprüchlichen Rückmeldungen geben. Das bedeutet, dass es im Team idealerweise einen hohen Informationsaustausch gibt, was es Klienten erschwert, Mitglieder des Teams gegeneinander auszuspielen.

Will man jedoch mit derart schwierigen Klienten konstruktiv umgehen, dann benötigt man neben einem guten Informationsfluss auch eine theoretische Basis, aufgrund derer man das Verhalten der Klienten analysieren und Strategien zum Umgang mit ihnen planen kann. Dieses Buch soll eine solche Basis liefern. Es stellt ein Verständnis von Persönlichkeitsstörungen als Beziehungsstörungen dar und ermöglicht ein vertieftes Verständnis der einzelnen Störungen. Es dient dazu, auf der Basis dieses Verständnisses therapeutische Strategien zu entwickeln, die dem Klienten eine konstruktive Veränderung ermöglichen oder eine solche Veränderung zumindest vorbereiten. Die Strategien, die in diesem Buch vorgeschlagen werden, erleichtern auch den Umgang mit den Klienten, erhöhen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und machen sie »erreichbarer«. Sie tragen zur Reduzierung von Konflikten und zur Verbesserung der Atmosphäre bei (zur Vertiefung siehe SACHSE 2014 a).

Bevor man diese Strategien umsetzen kann, ist es wichtig, die sogenannten Persönlichkeitsstörungen besser zu verstehen. Dazu dienen die ersten drei Kapitel: Es wird erläutert, was man unter Persönlichkeitsstörungen verstehen kann, wie diese Störungen »psychologisch funktionieren« und welche Konsequenzen sich aus diesem Verständnis ergeben. Das vierte Kapitel beschäftigt sich dann mit den therapeutischen Prinzipien, die man beim Umgang mit diesen Klienten berücksichtigen sollte. Die folgenden Kapitel behandeln die Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeitsstörungen, wobei die acht Persönlichkeitsstörungen im engeren Sinne dargestellt werden. Dazu zähle ich nicht die in den letzten Jahren sehr »in Mode« gekommene Diagnose Borderline. Diese ist nach neuen Forschungsergebnissen keine reine Persönlichkeitsstörung, sondern zu einem großen Teil eine neuropsychologisch erklärbare Regulationsstörung, bei der Funktionsstörungen in unterschiedlichen Hirnarealen vorliegen. Sind solche Störungsaspekte vorhanden, reicht »reine« Psychotherapie, wie ich sie hier beschreibe, nicht aus, sondern man benötigt spezielle Trainingsprogramme, deren Berücksichtigung den Rahmen dieses Buches gesprengt hätte. Mir kommt es darauf an, was man im persönlichen Umgang erreichen kann.

Ich werde im Folgenden immer davon ausgehen, dass zwei Personen interagieren: Eine Person, die mehr oder weniger starke Ausprägungen davon aufweist, was man eine Persönlichkeitsstörung nennt. Diese werde ich »Klient« nennen (da »Patient« mir zu pathologisierend erscheint). Und eine zweite Person, die professionell mit diesem Klienten zu tun hat, die in der Rolle eines Helfers und Förderers ist. Da diese Person, egal ob sie von ihrer Profession her primär Therapeut ist oder nicht, sich in einer therapeutischen Funktion befindet, werde ich sie »Therapeut« nennen. Damit ist nicht gemeint, dass man dem Klienten gegenüber formal als Psychotherapeut auftreten muss, sondern, dass man dem Klienten gegenüber eine therapeutische, eine ihn fördernde oder unterstützende Funktion einnimmt.

Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen

Es wird Sie vielleicht überraschen, aber Forschungen in den letzten zwanzig Jahren kommen zu dem Schluss, dass die Störungen, die allgemein als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet – und aufgrund bestimmter Kriterien auch so diagnostiziert werden –, eines nicht sind: Persönlichkeits-Störungen. Ursprünglich hatte man angenommen, dass diese Störungen tief greifende Störungen der Gesamtpersönlichkeit seien. Man ging davon aus, dass die Störungen tief greifend sind, weil sie in frühen Entwicklungsstadien entstehen und mehr oder weniger alle Bereiche der Persönlichkeit betreffen. Inzwischen zeigen Analysen jedoch, dass Persönlichkeitsstörungen im Kern Störungen der Interaktion, der Beziehung oder der Beziehungsgestaltung, also Beziehungsstörungen sind (vgl. FIEDLER 2007). Die Personen, die sogenannte Persönlichkeitsstörungen aufweisen, zeigen ungünstige Überzeugungen (Schemata) im Hinblick auf Beziehungen. Ihre Überzeugungen äußern sich in Gedanken wie: »Ich bin nicht wichtig«, »In Beziehungen wird man nicht respektiert«, oder: »Wenn man wahrgenommen werden will, muss man heftig auf sich aufmerksam machen« (zur Vertiefung s. SACHSE 2013, 2016 a). Aufgrund dieser Überzeugungen entwickeln die Personen dysfunktionale, also ungünstige und »kostenintensive« Strategien der Beziehungsgestaltung. Sie machen durch hoch demonstratives Verhalten auf sich aufmerksam, sie entwickeln Ängste oder körperliche Beschwerden, damit ihre Interaktionspartner sich ihnen zuwenden. Sie entwickeln Verhaltensweisen, die andere Menschen dazu veranlassen, sich in bestimmter Weise ihnen gegenüber zu verhalten. Ihr Verhalten ist jedoch meist nicht offen, denn die Person glaubt aufgrund ihrer Erfahrungen, dass offenes, durchschaubares, authentisches Verhalten nicht zum Erfolg führt. Das Verhalten ist daher meist verdeckt und manipulativ. Es soll andere mehr oder weniger »zwingen«, so zu reagieren, wie die Person es möchte. Diese Unoffenheit ist meist der entscheidende Grund dafür, warum das Verhalten langfristig nicht gut funktioniert und mehr Kosten im Sinne von unerwünschten Reaktionen erzeugt als Gewinne (SACHSE 2007, 2014 a).

Aber genau darum geht es zentral bei einer Persönlichkeitsstörung: Eine Person hat eine ungünstige Annahme von sich selbst, z. B.: »Ich bin nicht wichtig«. Daraus zieht sie eine Konsequenz, z. B.: »Um Aufmerksamkeit zu erlangen, muss ich andere aktiv dazu veranlassen, mich wahrzunehmen«. Und letztlich entwickelt diese Person dann unoffene, manipulative Strategien, um dieses Ziel zu erreichen. Dieser Prozess ist der Kern einer Persönlichkeitsstörung.

Natürlich hat dieses Vorgehen oft weitreichende Konsequenzen: Nimmt man an, dass man andere veranlassen muss, einem Aufmerksamkeit zu geben, dann richtet man sein Verhalten auch primär darauf aus. Es wird sehr wichtig, im Mittelpunkt zu stehen, und man tut sehr viel dafür. Wenn man glaubt, dass andere einen nicht ernst nehmen, dann rechnet man auch ständig damit und lauert geradezu auf solche Situationen. Die Wahrnehmung richtet sich dann besonders darauf, solche Situationen schnell zu erkennen. Ein großer Teil der Aufmerksamkeit wird zum Erkennen solcher Fälle abgestellt, was natürlich zur Folge hat, dass man viele andere Dinge gar nicht mehr bemerken kann.

Somit hat die Beziehungsstörung weitreichende Konsequenzen für das Denken, die Aufmerksamkeit, die Art der Informationsverarbeitung, das Fühlen und Handeln. Dennoch: Im Kern ist die Störung eine Störung der Beziehung, und erst in der Folge wird es eine Störung des weiteren Erlebens und Verhaltens.

Wenn Sie mit Menschen umgehen, denen eine Persönlichkeitsstörung zugeschrieben wird, dann sollten Sie sich klarmachen: Es handelt sich um Störungen der Beziehung, der Interaktion, nicht um eine Störung der Persönlichkeit.

Da die Störung in den gängigen Diagnosesystemen jedoch weiterhin so bezeichnet wird, soll die offizielle Bezeichnung auch hier beibehalten werden. Wichtig ist, dass man weiß, was genau man darunter versteht!

Persönlichkeitsstörungen sind nicht pathologisch

Bisher ging man davon aus, dass Persönlichkeitsstörungen hoch pathologisch sind. Man sprach von schweren, tief greifenden, früh entstandenen, kaum behandelbaren Störungen. Diese Annahme hält jedoch einer genaueren Prüfung nicht Stand.

Persönlichkeitsstörungen sind als normale psychische Prozesse aufzufassen, die aber leider zu kostenintensiven, dysfunktionalen Lösungen führen. Diese Lösungen führen oftmals tatsächlich zu hoch problematischem Interaktionsverhalten, das bisweilen absurd und bizarr wirken kann. Die Entstehung und Entwicklung ist aber in aller Regel gut nachvollziehbar und rekonstruierbar. Auch wenn das Verhalten, also die Lösung, problematisch ist, ist sie nicht unbedingt krankhaft. Wir sprechen also zunächst von einer Störung und nicht von einer Krankheit (vgl. SACHSE & SACHSE 2010).

Nehmen Sie als Beispiel die Entstehung einer histrionischen Persönlichkeitsstörung: Ein Kind hat ein natürliches Bedürfnis nach Wichtigkeit. Es möchte im Leben wichtiger Bezugspersonen eine Bedeutung haben und entsprechende Signale erhalten. Dazu gehört, dass seine Bezugspersonen vermitteln:

»Wir sind gerne mit dir zusammen.«

»Du bist eine Bereicherung für unser Leben.«

»Mit dir macht das Leben Spaß.«

»Wir verbringen gerne Zeit mit dir.«

»Wir nehmen dich ernst, hören dir zu.«

»Wir geben dir Aufmerksamkeit.«

Erhält das Kind solche Signale von den zentralen Bezugspersonen, dann wird es Überzeugungen, Schemata aufbauen wie:

»Ich bin wichtig.«

»Ich habe anderen etwas zu bieten.«

»In Beziehungen wird man ernst genommen.«

Schemata sind Annahmen und Schlussfolgerungen, die in der Biografie durch Erfahrungen entstehen. Sind solche Schemata erst einmal gebildet, dann steuern sie die weitere Verarbeitung von Information. Das Kind, das diese Erfahrungen macht, kann sich authentisch verhalten, also so sein, wie es ist, und wird genau deshalb positive Rückmeldungen erhalten. Das authentische Verhalten wird durch die Reaktionen der Bezugspersonen verstärkt, und das Kind muss keine anderen Strategien entwickeln, um die Interaktionspartner zu veranlassen, es ernst zu nehmen oder ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Es bekommt ja alles, was es braucht, allein dadurch, dass es so ist, wie es ist. Das Motiv nach Wichtigkeit wird so befriedigt und, motivationstheoretisch gesehen, im Laufe der Zeit als Motiv an Bedeutung verlieren. So können andere, neue Motive bedeutsamer werden, wenn das Kind sich entwickelt und neue Wege geht.

Stellen Sie sich nun aber vor, dass das Kind diese positiven Rückmeldungen nicht erhält: Die Eltern kümmern sich nicht um das Kind, das Kind erhält vor allem Botschaften wie:

»Du störst uns.«

»Du bist lästig.«

»Was du tust und erzählst, interessiert uns nicht.«

Dann bilden sich beim Kind negative Überzeugungen (Schemata) wie:

»Ich bin nicht wichtig.«

»Ich habe anderen nichts zu bieten.« Oder sogar: »Ich störe andere.«

»Ich bin toxisch.« (Also: »Ich habe eine negative Wichtigkeit.«)

Und es entwickelt Annahmen wie:

»In Beziehungen wird man nicht ernst genommen.«

»Niemand gibt einem Aufmerksamkeit und hört einem zu.«

Das Kind entwickelt also negative Annahmen über sich selbst (Selbstschemata) und negative Annahmen über Beziehungen (Beziehungsschemata). Beide Annahmen führen zu negativen Erwartungen im Hinblick auf Beziehungen: Die Person, die als Erwachsener diese Schemata ja immer noch hat, geht dann mit negativen Erwartungen in Beziehungen hinein und ist hoch sensibilisiert gegen alles, was als Signal von »Nicht-ernst-genommen-Werden« oder »Keine-Aufmerksamkeit-Bekommen« interpretiert werden kann. Und das bedeutet, dass diese Person auf alle diese Signale sofort anspringt, also schnell, oft sogar aggressiv, darauf reagiert. Diese Person reagiert schon auf Kleinigkeiten, weil diese aufgrund ihrer Interpretationen keine Kleinigkeiten sind. Schaut jemand im Gespräch mit dieser Person auf die Uhr, dann schaut er nicht einfach auf die Uhr, sondern ignoriert die Person in deren Interpretation. Kleine Signale führen so mitunter zu großen Reaktionen.

Mit der Bildung negativer Schemata ist die Entwicklung aber nicht abgeschlossen. Das Kind wird nun versuchen, in den Situationen, in denen von Bezugspersonen keine Signale für seine Wichtigkeit kommen, eine »Lösung« zu finden: Es wird versuchen, Strategien zu entwickeln. Die Interaktionspartner, die offenbar freiwillig nicht bereit sind, dem Kind die erwünschten Signale zu geben, werden veranlasst, notfalls sogar gezwungen, ihm solche Signale doch zu vermitteln.

Eine solche Strategie kann darin bestehen, Symptome zu produzieren: Ängste, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen. Die Symptome sollen die Bezugspersonen dazu veranlassen, sich um das Kind zu kümmern. Also, ihm Aufmerksamkeit zu geben, bei ihm zu bleiben, es ernst zu nehmen und zu versorgen. Auf diese Weise hat das Kind mithilfe einer Strategie das hergestellt, was es durch authentisches Verhalten nicht herstellen konnte: Es bekommt Aufmerksamkeit.

Diese Strategie ist aber manipulativ: Die Bezugspersonen wissen gar nicht, dass es um die Herstellung von Aufmerksamkeit geht. Sie denken zunächst, das Kind sei tatsächlich krank. Das heißt, sie werden also über die tatsächliche Situation und die tatsächlichen Intentionen des Kindes getäuscht. Diese Strategie zwingt die Bezugspersonen zur Interaktion: Wollen die Interaktionspartner der Norm entsprechen, dass man sich um kranke Kinder kümmert, dann müssen sie reagieren. Sie müssen also das tun, was sie von sich aus, freiwillig, nicht tun würden: dem Kind Aufmerksamkeit geben und sich um das Kind kümmern. Und, da sie es nicht freiwillig tun, wirkt diese Strategie auch nur dann und so lange, wie sie nicht als Strategie durchschaut wird. Andernfalls könnten die Interaktionspartner zu ihrer ursprünglichen Gleichgültigkeit zurückkehren.

Um einem Missverständnis gleich vorzubeugen: Mit »manipulativ« ist keine Wertung gemeint, sondern nur, dass die Strategie dadurch wirkt, dass der Interaktionspartner die tatsächlichen Absichten der Person nicht durchschaut – er also keine Wahl hat. Das ist faktisch manipulativ. Da wir alle jedoch mehr oder weniger starke Anteile von Interaktionsstörungen aufweisen, sind wir alle bisweilen manipulativ. Da wir somit alle im Glashaus sitzen, sollten wir nicht einmal daran denken, einen Stein auch nur aufzuheben: Manipulativ zu sein ist nicht verwerflich, es ist völlig normal. Schwache Ausprägungen von Manipulation sind auch nicht schädlich für Interaktionen. Nur sehr starkes manipulatives Verhalten verärgert auf die Dauer die Interaktionspartner. Daher kann man sagen, das Problematische für Beziehungen ist nicht die Manipulation an sich, sondern das Ausmaß an Manipulation. Manipuliert man von Zeit zu Zeit ein bisschen und lässt man sich von Zeit zu Zeit ein bisschen manipulieren, ist das für Beziehungen überhaupt nicht schädlich. Manipuliert man aber fast immer und ist die Beziehung nicht ausgeglichen, dann entstehen in Beziehungen Probleme (vgl. SACHSE 2001 a, 2004 a, 2013; SACHSE u. a. 2010).

Andere, weniger manipulative Strategien können aber auch funktionieren: Das sind Strategien, mit deren Hilfe das Kind gezielt Bedürfnisse der Interaktionspartner befriedigt. Hätten die Bezugspersonen gerne ein kluges, aufgewecktes und unterhaltsames Kind, dann kann das Kind dadurch Aufmerksamkeit erringen, dass es klug, unterhaltsam und aufgeweckt ist. Produziert es sich auf Feten mit Gags und erzählt spannende Geschichten, dann hören alle zu und nehmen es ernst. Aber: Da die Interaktionspartner immer veranlasst werden müssen, dem Kind Aufmerksamkeit zu geben, hören sie auch immer nur so lange zu, wie das Kind diese Strategien fährt. Hört das Kind damit auf, fällt es wieder aus der Aufmerksamkeit heraus.

Das Kind lernt also: »Nur wenn ich aktiv etwas tue, erhalte ich Aufmerksamkeit.« Oder: »Wenn ich mich authentisch verhalte, so wie ich bin, passiert nichts, oder ich bekomme negative Rückmeldungen.« Damit wird authentisches Verhalten aktiv, zum Beispiel durch Strafe, gehemmt oder gar gelöscht. Das Kind lernt, dass es nichts bringt oder sogar extrem ungünstig ist, so zu sein, wie es ist. Das authentische Verhalten wird (mehr oder weniger) eingestellt. Und es lernt, dass Strategien erfolgreich sind – und zwar nur Strategien. Die logische Konsequenz ist, dass man Strategien verbessern kann und verbessern muss, um zu erreichen, was man dringend braucht.

Durch diese Strategien erhält das Kind zwar Aufmerksamkeit, allerdings erhält es sie nicht als Person für sein authentisches Handeln, sondern immer nur für bestimmte Strategien. Das ist weit besser als nichts, aber es ist auch nicht das, was das Motivsystem eigentlich will, denn eigentlich braucht das Kind das Signal, »als Person wichtig zu sein«. Dieses Signal erhält es jetzt aber nicht mehr, denn von nun an bekommt es zwar durch seine Strategien Aufmerksamkeit und Anerkennung – und das verstärkt auch die Strategien –, es erhält aber nur noch Aufmerksamkeit aufgrund der Strategien und überhaupt nicht mehr als Person. Damit bleibt das eigentliche Motiv nach Wichtigkeit weiterhin unerfüllt, und das Kind bleibt frustriert. Motivationstheoretisch gilt aber: Nicht befriedigte Motive bleiben hoch in der Hierarchie. Das Motiv nach Wichtigkeit bleibt somit bedeutsam, ja es wird durch die extreme Frustration sogar extrem bedeutsam. Damit sinkt es in der Motivhierarchie nicht ab und macht nicht Platz für die Entwicklung neuer, der Entwicklung des Kindes angemessener Motive, sondern es bleibt kontinuierlich das dominante Motiv. Es geht weiterhin zentral um Wichtigkeit, was die (dysfunktionalen) Strategien noch fördert, obwohl die Strategien leider nicht mehr zu einer Befriedigung des Motivs führen: Die Person sitzt in einer Falle fest, in der ihr scheinbar nur noch die Lösung »mehr desselben« bleibt.

Persönlichkeitsstörungen entstehen in der Biografie einer Person als »Lösungen« für schwierige Interaktionssituationen.

Somit entstehen die Interaktionsstörungen, die wir als Persönlichkeitsstörungen bezeichnen, als Lösungen ungünstiger Interaktionssituationen. Sie sind psychologisch völlig normal und keineswegs pathologisch – und schon gar nicht »hoch«-pathologisch. Das Ganze hat mit »normalem« psychischem Funktionieren zu tun und nichts mit »Krankheit«. Es sind einfach ungünstige Entwicklungen, die dazu führen, dass die Person sich selbst in eine Falle bringt und durch das System veranlasst wird, immer wieder von Variationen ihrer Strategien Gebrauch zu machen, die in der Kinder-Situation hilfreich waren, die aber im Erwachsenen-Kontext nicht mehr gut funktionieren und daher heute hohe Kosten einfordern.

Tatsächlich verhalten sich Personen mit solchen Schemata und Strategien oft auffällig und ungünstig. Ihr Verhalten führt tatsächlich oft dazu, dass sie andere nerven und dass sie als »schwierig« gelten. Trotzdem sind sie deshalb noch lange nicht pathologisch. Es gibt also keinen Grund, Personen mit diesen Problemen abzuwerten oder auszugrenzen. Vielmehr gibt es viele Gründe zu versuchen, diese Personen zu verstehen (was im Grunde auch gar nicht so schwierig ist) und zu versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, um sie »da abzuholen, wo sie sich befinden«, und ihnen zu ermöglichen, ihr Verhalten zu verändern.

Wie sich Klienten mit einer Beziehungsstörung verhalten

Wenn eine Person eine Beziehungsstörung in dem hier definierten Sinne aufweist, dann bedeutet das, dass sie ein negatives Schemata im Hinblick auf sich selbst und im Hinblick auf Beziehungen aufweist. Zum Beispiel, wie schon erwähnt, Schemata der Art: »Ich bin nicht wichtig.« Und: »In Beziehungen wird man nicht respektiert.«

Eine Person, die solche Schemata aufweist, reagiert nun auf alle Beziehungssignale »hyperallergisch«, die sich im Sinne dieser Schemata interpretieren lassen.

Typische Beispiele aus dem Alltag einer psychotherapeutischen Station:

BEISPIELE

für die Aktivierung negativer Beziehungsschemata