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DIE JAGD BEGINNT!
STELL DICH DEINEN TIEFSTEN ÄNGSTEN...
Für Simon läuft alles genau nach Plan. Bis zu jener Nacht, in der sein größter Alptraum wahr wird ... »Hilf mir!«, fleht die Fremde, ehe sie spurlos verschwindet. Eine verlorene Notiz ist der einzige Anhaltspunkt. Doch was bedeuten die Hinweise? Und was haben sie ausgerechnet mit ihm gemein?
Schnell wird klar, die Zeit rinnt davon und eine mörderische Schnitzeljagd konfrontiert Simon mit seinen eigenen, verhängnisvollen Geheimnissen.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Perspektive
Teil 1
-Spiel mit der Angst-
Psychothriller
S.A.Serious
Edition, 2021
© 10/2021 Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: bilderfachwerk atelier, Claudia Kolb
Bildnachweis: AdobeStock (hanohiki)
Korrektorat: Adlerauge Korrektorat – Meike Licht
Buchsatz: S.A.Serious
Autorenfoto: Steven Trapp
S.A.Serious c/o Müller Wasser & Wärme
Hauptstr. 26 87637 Seeg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 979-8549793613
Imprint: Independently published
Stell dich deinen tiefsten Ängsten ...
Für Simon läuft alles genau nach Plan. Bis zu jener Nacht, in der sein größter Alptraum wahr wird ...
»Hilf mir!«, fleht die Fremde, ehe sie spurlos verschwindet. Eine verlorene Notiz ist der einzige Anhaltspunkt. Doch was bedeuten die Hinweise? Und was haben sie ausgerechnet mit ihm gemein?
Schnell wird klar, die Zeit rinnt davon und eine mörderische Schnitzeljagd konfrontiert Simon mit seinen eigenen, verhängnisvollen Geheimnissen.
S.A.Serious ist Rettungsassistentin, Orthopädie Schuhmacherin und Autorin von Thrillern/Psychothrillern mit medizinischem Hintergrund. Frei nach dem Motto: Beruflich rettete sie Leben- in ihrer Freizeit opfert sie diese gerne. Jede ihrer Geschichten hat ihren eigenen, spannenden Hintergrund und ist keinesfalls nur blutleere Theorie. Nach zahlreichen Kurzgeschichten während ihrer Jugend, veröffentlichte sie 2018 ihren Debütroman Schweigen ist Gold. 2019 folgte der Thriller (UN)SCHULDIG. Mit PERSPEKTIVE erscheint 2021 ihre erste Psychothriller-Reihe.
Facebook: packender Thrill
Instagram: s.a.serious
„Drei können ein Geheimnis
bewahren, wenn zwei
von ihnen tot sind.“
Benjamin Franklin
Die Waffe in seiner Jackentasche fest umklammert, stand Simon in dem beengten, feuchten Kellerraum. Der beklemmend, modrige Geruch ließ ihn kaum atmen. Trotz der späten Abendstunde herrschte eine brütende Hitze. Vielleicht lag es auch am Adrenalin, das mit Hochdruck durch seine Adern schoss. Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in seinen Augen.
Vor ihm, auf dem beschmutzten Boden, lag sie. Bekleidet mit einem blutdurchtränkten Nachthemd. Die Augen geschlossen, der Atem flach, aber dennoch regelmäßig.
Hilf mir! Er wird mich töten!
Hatte sie ihn vor hundertzweiundvierzig Stunden angefleht. Und ihn in diese abscheuliche Schnitzeljagd verwickelt.
Noch immer hatte er keine Vorstellung davon, warum ausgerechnet er es war, der sie am Ende umbringen würde.
Vermutlich lag es daran, dass er die Ereignisse durchgehend aus seiner eigenen, zu einseitigen Perspektive betrachtete ...
Saarbrücken, Gegenwart
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Nervös zuckte Yannis zusammen, als Simon sich über ihn beugte und wütend anfunkelte. Eine weitere von unzähligen Predigten der letzten Monate. Nicht selten vor versammelter Mannschaft. Doch Widerspruch war in solchen Gesprächen zwecklos. Das heizte die Stimmung nur weiter an.
In ihm brodelte es. Die Wut in seiner Brust breitete sich allmählich von den Zehenspitzen bis in den Unterkiefer aus. Zu gerne hätte er diesen perfektionistischen Idioten angebrüllt.
Aalglatt nannten ihn seine Arbeitskollegen im Jux. Doch zum Lachen war Yannis schon lange nicht mehr.
»Ich verstehe nicht, warum du dir das antust!«, sagte seine Freundin immer dann, wenn er von den äußerst schwierigen Eigenheiten Simons erzählte und darüber, wie kontrollsüchtig er war. Nichts überließ er dem Zufall. Alles war durchgetaktet und sorgfältig geplant. Fehler wurden nicht geduldet. Im Zweifel gab es immer einen Plan B.
Doch den hatte Yannis heute zerschlagen. Als er die überfälligen Unterlagen für einen Bauherren auf seinem Schreibtisch vergaß.
Wer keine Fehler machte, der machte auch sonst nichts.
Trotz der Tatsache, dass der Eigentümer sich beschwichtigen ließ, war dies für Simon lange kein Grund, solch eine grobe Fahrlässigkeit kommentarlos hinzunehmen.
Dass Yannis‘ Mutter zwei Tage zuvor verstorben war und ihnen ihren pflegebedürftigen Vater hinterließ, schien Simon nur wenig zu beeindrucken. Ihn interessierte nur der tadellose Ruf seiner jungen Firma.
Über Simons Privatleben war nur wenig bekannt. Er hatte sein Studium mit summa cum laude abgeschlossen. Etliche Urkunden zur Teilnahme an Langstreckenläufen in seinem Büro sprachen für seinen eisernen Sportsgeist. Alles in allem spiegelte dies die verbissene Art eines Menschen wider, der mit aller Gewalt gewinnen musste.
Oder jemanden, der es nicht gewohnt war zu verlieren.
Yannis konnte eine Menge von Simon lernen. Für ein Leben, in dem er sich nicht ewig unter ebensolchen Vorgesetzten abplagen musste. Der Gedanke an eine Zukunft, die die Gegenwart ein wenig erträglicher werden ließ.
»Ich denke, wir beenden das!« Simon stand auf und lief in Richtung der ausladenden Fenster, mit Blick über die Fußgängerzone der Saarbrücker Innenstadt.
Yannis war sich nicht sicher, was genau er meinte. Zögerte aber dennoch nicht lange, das weitläufige Büro seines Vorgesetzten zu verlassen.
In der Tür drehte er sich zu Simon um, der unverändert vor der Fensterfront stand und unbeirrt fortfuhr: »Ich meinte damit, dass du deine Sachen packen und gehen kannst. Ich sehe keine weitere Zukunft in einer gemeinsamen Zusammenarbeit.«
Urplötzlich löste sich der Knoten in Yannis Brustkorb. Die angestaute Wut, der Frust, die Verzweiflung und der Hass brachen über ihn herein wie eine tosende Brandung. Eine Welle, die alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte ...
Ungeduldig trommelte Charlotte mit den Fingern auf ihrem Schreibtisch. Sie checkte das Postfach zum vierten Mal in Folge. Er hatte noch immer nicht geantwortet.
Wieso antwortete er nicht mehr?Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Ein weiteres Mal las sie den Verlauf der letzten Wochen:
»Schlaf gut Prinzessin,
ich melde mich morgen bei Dir :-* «
Schrieb er gestern Nacht. Sie sehnte sich nach seiner Nähe. Nach der Nähe eines Menschen, den sie niemals zuvor persönlich getroffen hatte. Jemand, den sie nur von einem einzigen Foto kannte. Und dennoch berührte er ihr Herz wie kein anderer es je zuvor geschafft hatte. Es war, als könne er in sie hineinsehen. Ihre tiefsten Sehnsüchte, Wünsche und Gedanken erraten und ihr Trost spenden.
Er hatte einen siebten Sinn. Ging es ihr schlecht, war er da. Er fand die richtigen Worte, um sie aufzuheitern. Erzählte die interessantesten Dinge, um sie von ihren eigenen, düsteren Gedanken abzulenken.
Ein leises »Tocktock« riss sie aus ihren Tagträumen. Ihr Herz pochte, als sie kribbelig auf das kleine Briefchen in der oberen rechten Ecke ihres Monitors klickte.
Mona hatte geschrieben. An jedem anderen Tag hätte sie sich über die Mail ihrer Freundin, die vor einem Jahr nach Bayern gezogen war, riesig gefreut. Doch heute ließ sich ihre Enttäuschung nur schwer verbergen.
Sie hatte ihr schon mehrfach von Max vorgeschwärmt. Dennoch stand Mona der Internetbekanntschaft skeptisch gegenüber.
»Du weißt doch nichts über diesen Typen, dahinter kann sich jeder verstecken!«, bekundete sie ihre Bedenken, nachdem Charlotte ihr von dem Plan eines Treffens erzählte.
Typisch.
Mona war schon immer ein äußerst skeptischer Mensch. Einer, der Dinge nur mit größter Vorsicht und Sorgfalt anging.
Vorsicht, eine Einstellung, die das Leben sicherer macht, aber selten glücklicher!
Sagte schon der Lexikograf Samuel Johnson.
Charlotte hatte genug vom Unglücklichsein. Es war an der Zeit etwas zu riskieren und es fühlte sich richtig an.
Entschlossen legte sie die Mail ihrer Freundin in die Taskleiste, um stattdessen die Initiative zu ergreifen und Max eine Nachricht zu schreiben. Sie hatte die ersten drei Wörter getippt, als dieser ihr zuvorkam. Ihr Herz schlug erneut einen Purzelbaum. Sie öffnete die Nachricht und sog jedes seiner Worte in sich auf.
Meine Prinzessin, ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns endlich treffen! Was hältst Du davon?
Charlottes Wünsche überragten ihre Ängste in diesem Moment um ein Vielfaches. Egal, was ihre Freundin sagte, sie war sich sicher:
Mit ihm würde ihr niemals ein Leid geschehen ...
Simon war blind! Nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Sonst hätte er vermutlich die Haltestelle der Straßenbahn verpasst, an der er gerade aussteigen musste.
Er war es im übertragenen Sinne. Denn wäre er nicht blind gewesen, hätte er die Vorboten für den sich langsam anbahnenden Alptraum frühzeitig erkannt.
Dem Mann, der ihn beim Verlassen der Bahn mit voller Wucht anrempelte und dabei zu Boden riss, schenkte er zuvor nur wenig Aufmerksamkeit. So tief war er in seine eigenen Gedanken versunken.
Simon sah nur die dunkle Lederjacke und den schwarzen Schopf, der oben aus dem Kragen ragte. Unbeeindruckt von dem Zusammenstoß eilte diese Gestalt davon, völlig desinteressiert an dem Mann, den er zu Boden gerissen hatte.
»Alles ok bei Ihnen?«, fragte eine junge Schwarzhaarige mit stechend blauen Augen, die nur wenige Meter hinter ihm ausgestiegen war, und ihm nun wie selbstverständlich die Hand hinhielt. Simon hingegen war das Szenario äußerst unangenehm.
»Geht schon, danke!«, murmelte er beschämt und rappelte sich mühsam auf.
Die Fremde lächelte freundlich und Simon erkannte die Aufrichtigkeit in ihrem Blick.
»Schauen sie besser mal, ob all ihre Wertsachen da sind, nicht, dass sie bestohlen wurden!«, mischte sich ein älterer Herr ein, der an der Haltestelle wartete.
Tatsächlich! Simons rechte Gesäßtasche, in der er seinen Geldbeutel trug, war leer.
»So ein Mist!«, fluchte er laut und klopfte sich den Dreck des verschmutzten Bürgersteigs von seiner Jacke. Zu allem Übel klingelte sein Handy lautstark. Simon warf einen kurzen Blick auf das Display und steckte es zurück in die Jackentasche. Seit Tagen schon rief Anna ihn immer wieder an und hinterließ dutzende Nachrichten auf seiner Mailbox. Mit der Bitte um einen Rückruf. Doch er hatte keinen Nerv. Viele Monate war ihre ungezwungene Beziehung ausgesprochen unkompliziert gelaufen und Simon war zufrieden gewesen.
Doch mit der Zeit genügte Anna diese Lockerheit nicht mehr. Simon fühlte sich bedrängt und beschloss vor ein paar Wochen, das Ganze zu beenden. Unter anderem, weil ihm früher oder später die Ausreden ausgehen würden.
»Warten sie mal!«, rief ihm die hilfsbereite junge Frau hinterher. Simon hatte sich umgedreht und wollte zur Bar eilen, in der seine Freunde auf ihn warteten.
Erst jetzt sah er, dass sie seltsam humpelte und er fragte sich nach dem Grund. Schwerfällig kam sie auf ihn zu und er hatte Sorge, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte.
Strahlend hielt sie ihm den Geldbeutel entgegen. »Der lag auf den Gleisen. Ich glaube, der ist ihnen beim Sturz nur aus der Tasche gefallen!«
Erleichtert nahm Simon den Geldbeutel entgegen. Ohne einen Blick in sein Inneres zu werfen.
Somit übersah er den letzten von insgesamt drei Vorboten auf die Katastrophe, die ihn in wenigen Tagen mit voller Breitseite erwischen würde.
Yannis preschte in der Dämmerung mit überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahn. Der Motor seines alten Ford Mondeo flehte um Gnade.
Mit aller Gewalt trat er das Gaspedal durch und drängte seinen Vordermann, Platz zu machen.
Er schäumte vor Wut. Am liebsten hätte er am Vormittag auf Simon eingeprügelt. So lange, bis die arrogante Visage keinen Mucks mehr von sich gegeben hätte. Doch das hätte ihm nur für einen kleinen Augenblick Linderung verschafft. Menschen wie ihn traf man am besten an Stellen, an denen es schmerzte. Sonst blieb jeglicher Lerneffekt aus.
»Was hast du gesagt?« Er schrie gegen den brüllenden Motor an.
»Dass du jetzt nicht unüberlegt handeln solltest!« Nele klang besorgt. Es dauerte lange, bis ihr Freund in Rage geriet. Doch er war, wenn er erst einmal Fahrt aufgenommen hatte, nur schwer zu bremsen.
»Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff!« Yannis drosselte seine Geschwindigkeit und ordnete sich auf der rechten Fahrbahn ein, um die Autobahn an der nächsten Ausfahrt zu verlassen. Der Fahrer, den er eben zum Einscheren genötigt hatte, zog an ihm vorbei und zeigte ihm einen Vogel, was seine Wut erneut entfachte.
»Dann sehen wir uns heute Abend?«
Yannis schlug mit voller Wucht auf die Hupe, um die Dame, die an der grünen Ampel träumte, aufzuwecken.
»Du blöde Nuss!«
»WAS?«
»Nicht du, und ja wir sehen uns dann später!« Yannis legte ohne Abschiedsgruß auf.
Wieder überschlugen sich seine Gedanken und rissen ihn tief in einen Strudel aus Hass gepaart mit Selbstmitleid.
Für Simon zählte einzig und allein sein eigenes Vorankommen. Dabei war ihm jedes Mittel recht. Seine Mitmenschen waren ihm völlig gleichgültig, genauso wie Yannis es war.
Es konnte kein Zufall sein, dass er so wenig über sich selbst preisgab. Es war an der Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen und diesem aalglatten Narzissten auf den Zahn zu fühlen. Irgendein Geheimnis musste er haben, jeder hatte Geheimnisse!
Charlotte schaffte es gerade noch in die Bahn zu springen, ehe sich die Türen schlossen. Durchgeschwitzt und mit feuerrotem Kopf ergatterte sie den letzten freien Sitzplatz.
Ganze viermal hatte sie sich umgezogen, bis sie sich letztlich für ein Outfit entschieden hatte.
Absolute Perfektion.
Leider hatte sie einen Haufen Zeit verplempert, doch heute durfte sie nichts dem Zufall überlassen.
Der Blick in die Fensterscheibe der Bahn verhieß nichts Gutes. Ihre schwarzen Haare, die sie zuvor mit großer Mühe geglättet hatte, standen vom Sprint struppig in alle Himmelsrichtungen. Und der Mascara war überall, nur nicht mehr dort, wo er hingehörte.
Notdürftig strich sie sich die Haare mit den Händen glatt. Versuchte, die verlaufene Schmin-ke mit einem Taschentuch zu entfernen. Bis ihr Spiegelbild einigermaßen zufriedenstellend war.
Sie überlegte kurz, ob sie die Fahrt nutzen und Mona schreiben sollte. Sie hatte ihrer Freundin nichts von dem Treffen erzählt. Sie hatte es niemandem gesagt. Sie war die Bedenken anderer leid. Schließlich war es ihr eigenes Leben und sie traf ihre Entscheidungen. Die Konsequenzen trug am Ende ja auch kein anderer für sie.
Die Haltestelle lag nur wenige Meter von ihrem vereinbarten Treffpunkt entfernt. Max hatte ihr eine Bank am Flussufer der Saar vorgeschlagen. Charlotte empfand den Vorschlag eines öffentlichen Ortes vertrauenswürdig. So konnte sie ihn schon von weitem sehen und für den Fall, dass er ihr doch nicht zusagte, unbemerkt verschwinden.
Inzwischen dämmerte es allmählich und das Flussufer war daher nur wenig besucht.
Die Parkbank, auf der sie Max erwartete, war bislang leer. Enttäuscht ließ sie sich auf die Bank fallen. Würde er sie versetzen? Einen Sinn ergab das nicht. Womöglich war er es, der nach einem Blick aus der Ferne das Weite gesucht hatte ...
Charlotte sah sich um. Doch bis auf einen älteren Herrn, der mit seinem Hund an der Saarpromenade entlangspazierte, war niemand zu sehen.
Inzwischen war er fünfzehn Minuten zu spät und Charlotte warf einen ungeduldigen Blick auf ihr Handy.
Keine Nachrichten.
Langsam wurde sie nervös und rutschte auf der Bank hin und her. Gerade wollte sie aufstehen, da nahm ein Mann neben ihr Platz. Er war ungepflegt und roch unangenehm nach einer Mischung aus kaltem Rauch und Ammoniak. Seine fettigen Haare klebten am Kopf und das Gesicht war vernarbt. Die Kleidung hing schmuddelig an seinem mageren Körper, so als wäre sie drei Nummern zu groß.
Charlotte überlegte, ob sie Entschuldigung, hier ist schon besetzt! sagen oder lieber wortlos aufstehen und die Flucht ergreifen sollte. Doch plötzlich grinste der Mann und zitierte eines der Gedichte, die Max ihr geschrieben hatte.
»Ich bin allein unter Menschen, bin einsam zu zweit. Jeder Tag scheint gleich, sie zieht sich ewig, die Zeit. Doch wenn du da bist, ist es anders. Dich hab ich gern. In der schwärzesten Nacht bist du mein strahlender Stern ...«
Charlotte wäre gerne weggelaufen, wäre um ihr Leben gerannt und hätte dabei laut um Hilfe gerufen. Doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Eine Sekunde des Schreckens, die der Mann, der sie monatelang getäuscht hatte, nutzte, um ihr ein chloroformgetränktes Tuch ins Gesicht zu drücken ...
Als Simon das kleine Irish Pub im Herzen der Saarbrücker Innenstadt betrat, saßen Lars und Matteo auf einer der urigen, dunkelbraunen Eckbänke und unterhielten sich angeregt. Fast hätten sie ihren Freund nicht bemerkt, der sich erschöpft auf den freien Stuhl fallen ließ.
»Oha, auch schon da!«, witzelte Lars in Richtung Simon, von dem man es nicht gewohnt war, dass er zu spät kam.
Matteo grinste wortlos in sein Glas. Was vermutlich daran lag, dass er es war, der ansonsten immer zu spät kam.
»Frag einfach nicht, ok?«, fauchte Simon in die Richtung seines Freundes.
»Ok, mach ich nicht! Wo waren wir? Ah ja, Matteo hat uns zu seiner Ausstellung am Donnerstagabend eingeladen. Du kommst doch, oder?«
Lars warf Simon, der sich absichtlich dumm stellte, einen flehenden Blick zu. Ihm war durchaus bewusst, dass sein Freund nichts für die spirituelle Kunst übrighatte.
»Ausstellung? Um was geht es denn?«
Matteo strich sich mit den Fingern durch seinen roten Lockenschopf. Er und Simon hatten sich vor einigen Jahren durch Lars kennengelernt. Die beiden waren gleich nach dem Abitur zu einer Rucksacktour quer durch Australien aufgebrochen.
Während Lars damals auf der Suche nach dem reinen Abenteuer war, ging es Matteo darum, sich selbst neu zu finden.
Und auch heute war Matteo noch immer auf der Suche nach neuen Denkansätzen und Lebensweisen, die ihn ein Stück weiterbringen würden. Um Geld brauchte er sich nicht zu sorgen, denn seine Eltern waren äußerst vermögend. Als Kieferchirurgen mit eigener Praxis war es ihnen möglich, ihrem Sohn jeden seiner Wünsche zu erfüllen. Dass der letztendlich lieber Kunst studierte, anstatt deren Praxis zu übernehmen, schien sie nicht weiter zu stören.
»Um meine Archetypen-Skulpturen. Sie stehen am Donnerstag im saarländischen Künstlerhaus.«
»Was sind denn Archetypen?«
Lars, der an seinem Irish Stout nippte, verschluckte sich vor Lachen und rang nach Luft.
Lars Richter, Journalist, vierzig Jahre, geschieden, eine Tochter im Teenageralter, hielt mit seiner Meinung selten hinter dem Berg. Auch dann nicht, wenn er anderen dabei auf die Füße trat. Würde es jemals den Lehrgang Feinfühligkeit geben, wäre Simons langjährigster Freund der erste, der diesen mit ziemlicher Dringlichkeit besuchen müsste.
»Archetypen sind die Grundprägungen eines jeden Menschen. Zumindest wenn man es wörtlich übersetzt. Sie beeinflussen unser Bewusstsein und Handeln.«
»Ach ja? Und zu welchem Archetyp zähle ich?« Lars gab sich keine Mühe, seine Verachtung für dieses Thema zu verbergen.
»Ich habe dir eben schon erklärt, dass es sich nicht unbedingt darum dreht, dass jeder einem reinen Archetyp zuzuordnen ist. Sondern, dass wir ganz unabhängig von unserer Lebensweise mit Ur-Erfahrungen geboren werden, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind!«
Dafür hatte der Journalist nur wenig übrig. Kopfschüttelnd stand er auf, trank sein Bier in einem Zug aus und schlenderte in Richtung der Toiletten.
»Und wie stellst du diese Archetypen als Skulpturen dar?«, versuchte Simon, dessen Neugierde nun geweckt wurde, abzulenken.
Matteo war froh, dass wenigstens einer seiner Freunde Interesse an dem zeigte, was er tat.
»Das zeige ich dir am Donnerstag!«
Benommen schlug Charlotte um sich. Halt die Luft an und wehr dich! Schrie ihr Unterbewusstsein. So einfach konnte sie nicht aufgeben, sie hatte noch immer eine winzige Chance. Der Mann wirkte nicht kräftig. Wenn sie sich nur lange genug wehrte, würde er womöglich von ihr ablassen und sie hatte die Chance wegzulaufen.
Doch trotz seiner dürren Gestalt, hatte er einen überraschend festen Griff. Einen, der ihre Schultern wie ein Schraubstock umklammerte, während die Fratze unentwegt flüsternd auf sie einredete. »Wehr dich nicht Charlotte, ich will dir nicht wehtun!«
Und so dauerte es eine ganze Weile, bis das Chloroform aus dem süßlich riechenden Lappen von ihrer Lunge in den Blutkreislauf gelang und Charlotte in eine tiefe Bewusstlosigkeit riss. Das letzte, was sie sah, war das zufrieden grinsende Scheusal über ihr.
Als sie zu sich kam, spürte sie die Polster der zerfetzen Rückbank, auf die er sie gelegt hatte. Wie lange sie fuhren, konnte Charlotte nicht abschätzen. Mittlerweile war es stockdunkel.
Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und versuchte, durch die getönten Fenster des Pkws zu sehen. Doch ihr Blick war vernebelt und ein stechender Schmerz hämmerte im Inneren ihres Schädels gegen die Schläfen. Der aufkommende Brechreiz ließ sich nur mühevoll unterdrücken.
Im Wageninneren herrschte ein bestialischer Gestank. Der beklemmende, ekelhafte Geruch des Mannes hatte sich in den alten Polstern des Fahrzeuges festgesetzt.
Charlotte mochte sich nicht ausmalen, wie viele Frauen er in diesem Wagen schon entführt hatte. Sie glaubte nicht daran, dass sie die erste war. Er wusste, was sie hören wollte und wie er sie um den Finger wickeln konnte.
Der Wagen hielt und in Charlotte keimte erneut die Hoffnung. Wenn sie sich beim Ausladen wehren würde, hätte sie womöglich eine Chance. Vielleicht wurde sie von jemandem gesehen oder gehört, wenn sie nur laut genug um Hilfe schreien würde.
Die Autotür wurde geöffnet und diesmal war es Charlotte, die das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatte ...
»Brems Simon, Breeems!«, schrie Lars von der Rückbank ins Wageninnere und durchschnitt die Stille wie eine rasiermesserscharfe Klinge. Simon umklammerte das Lenkrad so fest, das seine Fingerknöchel unter der Haut weiß hervortraten. Reifen quietschten, Glas zersplitterte und die Airbags schossen mit einem ohrenbetäubenden Knall in den Innenraum des Pkws ...
»DingDong!«
Schweißgebadet fuhr Simon hoch. Sein Herz wummerte in der Brust und das Blut rauschte pulssynchron in seinen Ohren. Mit zitternden Knien hangelte er sich in Richtung Schlafzimmerfenster. Eine tonnenschwere Last, die auf seinen Brustkorb drückte, ließ ihn kaum atmen. Er rang nach Luft.
Ruhig tief ein- und ausatmen mahnte er sich selbst. Die laue Julibrise, die durch das aufgerissene Fenster drang, verschaffte ihm nur wenig Linderung.
Auf wackeligen Beinen lief er in Richtung Badezimmer, um sich kühles Wasser ins Gesicht zu spritzen.
»DingDong!«, schallte es erneut durch den ausladenden Flur von Simons Appartement.
Hatte es eben schon einmal geklingelt?
Er warf einen Blick auf die Badezimmeruhr. Null Uhr dreißig stand in roten Ziffern auf der Digitaluhr.
Wer klingelte nachts um halb eins an seiner Tür? Mitten in der Woche! Vermutlich irgendein betrunkener Gast seiner Nachbarn, der sich in der Klingel vertan hatte? Unverschämt!
Simon beschloss, den ungebetenen Gast zu ignorieren, als es ein drittes Mal klingelte.
»DingDong!«
Jetzt reichte es aber!
Wütend stapfte er in Richtung der Gegensprechanlage und stieß sich dabei im Halbdunkel den kleinen Zeh an der Kommode, die unmittelbar neben der Eingangstür stand.
»So eine Scheiße!«, jaulte er. Erneut klingelte es und Simons Wut stieg ins Unermessliche.
Jetzt zitterte er nicht mehr wegen des vorangegangenen Alptraums.
»Waaasss? Schon mal auf die Uhr geschaut?«, brüllte Simon wütend in den Hörer.
»Entschuldige, aber es ist wichtig! Ich muss dringend mit dir sprechen!«, schlug ihm eine vorsichtige, verlegene Frauenstimme entgegen.
Geht‘s noch? Um die Uhrzeit? Anna raubte ihm schon tagsüber den letzten Nerv, was wollte sie jetzt mitten in der Nacht? Stalkerin!
»Dann mach einen Termin wie jeder andere, und zwar tagsüber!!« Er geriet in Rage.
Was erlaubte die sich eigentlich! Mitten in der Nacht bei ihm zu klingeln!
»Wie denn, wenn du nie ans Telefon gehst? Simon, es ist wirklich wichtig, bitte gib mir nur eine Minute, ja?« Anna schluchzte.
Wortlos knallte er den Hörer der Gegensprechanlage auf. Er hatte keine Lust auf solch ein Theater ...
Saarbrücken, 2 Wochen zuvor
»Es ist mir egal, ob du das anders siehst! Ich habe ein Anrecht darauf!!«, schrie Lars, sodass er sogar von dem Kollegen im hintersten Büro gehört wurde. Die Frauenstimme am anderen Ende des Hörers sprach ungehalten und laut auf ihn ein. »Das war so besprochen und du weißt, dass du dafür Sorge zu tragen hast! Ich hole sie morgen um drei Uhr ab und du kümmerst dich darum, dass es reibungslos abläuft, Verena!« Mit diesen Worten donnerte er den Hörer so fest auf die Gabel, dass das ganze Telefon mit einem lauten Knall vom Tisch auf den Boden krachte. Außer sich trat Lars gegen den Mülleimer, der in hohem Bogen durch sein Büro flog. Dabei verteilte er dessen Inhalt auf dem Zimmerboden. Er spürte seinen wallenden Puls und die Hitze, die ihm vom Magen in den Kopf stieg.
Diese Frau brachte ihn so derart auf die Palme, dass er sich völlig vergaß. Resigniert ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und versuchte mehrmals, tief ein- und wieder auszuatmen.
Es klopfte an der Tür und ohne abzuwarten trat sein Kollege Brüms ein. Lars musterte ihn kurz. Konzentrierte sich dann aber wieder darauf, seine Wut zu unterdrücken, was ihm nur mit großer Mühe gelang. Brüms hielt ihm eine Schachtel mit Zigaretten entgegen. Lars nahm dankend an. Eigentlich war es schon länger verboten, in den Büroräumen zu rauchen, doch in diesem Moment war ihm das egal. Brüms sah ihn mitleidig an. »Deine Ex?« »Ja, die treibt mich irgendwann ins Grab. Sie untersagt mir mal wieder den Kontakt zu meiner Tochter.«
Aus der Sicht von Thomas Brüms war sein Kollege Lars Richter das Ebenbild eines liebenden Vaters. Wenn er sonst ein ruppiger, ungestümer Haudegen war, in den Händen seiner Tochter wurde er zu Wachs. Kein Weg war ihm zu weit und keine Bürde zu groß, als dass er sie für seine Kleine, wie er sie immer nannte, nicht in Kauf genommen hätte. Als die Ehe der beiden vor drei Jahren zerbrach, zerbrach auch ein Teil von Lars. Zwar trug er den Großteil der Schuld am Scheitern der Ehe, deren Ende schon länger absehbar war, doch der Gedanke, er würde seine Tochter verlieren, brachte ihn fast um den Verstand. Auch wenn er darüber niemals offen gesprochen hätte.
»Und was jetzt?«, lenkte Lars vom Thema ab und drückte seine Zigarette in einem Plastikbecher aus, den er aus einer seiner Schreibtischschubladen gefischt hatte. Brüms tat es ihm gleich und zweifelte für einen kurzen Moment, ob die momentane Situation die beste Gelegenheit für sein Anliegen bot. Lars war geladen und es handelte sich um ein heikles Thema. Ein Thema, das ihn in seiner momentanen Lage womöglich mehr aufbringen würde, als es ihm guttäte.
»Wir hatten doch vor einigen Monaten diese Serie über die Vermisstenfälle geschrieben«, tastete er sich vorsichtig vor und tat sich schwer die Anspannung zu verbergen, die sich langsam in ihm ausbreitete. Ohne zu antworten hörte Lars ihm zu, darauf harrend, worauf sein Kollege hinauswollte. »Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Freund gesprochen, der beim KDD arbeitet. Und er erzählte mir, dass vor zwei Wochen erneut drei Jugendliche aus dem Regionalverband verschwunden sind.« »Und?«, fragte Lars, der allmählich ungeduldig wurde. »Irgendwie hat mich dieses Thema nach dem Gespräch nicht mehr losgelassen und ich habe ein wenig recherchiert. Die sozialen Medien werden momentan davon überschwemmt, fast täglich liest man neue Suchmeldungen. Doch nur selten hört man, wie es weitergeht. Wusstest du, dass alleine im Saarland 2018 hundertfünfundneunzig Kinder und eintausendeinhundertsiebzehn Jugendliche als vermisst gemeldet wurden? Ich frage mich, wohin diese ganzen jungen Menschen verschwinden und aus welchem Grund?« Lars nickte zustimmend. »Inzwischen wurde die Soko vermisste Kinder gegründet. Ich finde, wir sollten dieses Thema aufgreifen, gerade weil es jetzt wieder brandaktuell ist!«, fuhr Brüms mit seiner Rede fort und es war unschwer zu erkennen, wie sehr er von diesem Thema mitgerissen wurde, er redete sich immer weiter in Rage. Während er Lars, der nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute, mit einem erwartungsvollen Blick musterte ...
Er beugte sich vor, um nach ihren Füßen zu greifen. Das war ihre Chance! Mit voller Wucht stieß sie ihm beide Beine in den Unterleib. Schmerzverzerrt geriet der Alte für einen Moment ins Straucheln. Zeit genug, um aus dem Fahrzeug zu springen! Wenn er sich wider Erwarten fangen und sie festhalten würde, wäre wenigstens die Autotür im Weg.
Charlotte lief los. Ein Sprint um ihr Leben! Sie drehte sich nicht um! Sie rannte drauflos! Die Straße entlang auf der Suche nach einer Person, einem beleuchteten Fenster oder irgendetwas, das sie aus dieser Situation befreien würde.
Alles drehte sich. Sie war umringt von Nebel, hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu laufen. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Dazu der Schmerz in ihrem Fuß, der sich von den Zehen bis tief in ihr Sprunggelenk bohrte. Jeder Schritt kostete unsagbar viel Kraft.
War er hinter ihr? Er schien unberechenbar und sie stand unter Drogen. Das Atmen fiel ihr schwer.
Was, wenn er sie einfangen und zurückbringen würde? Wehr dich nicht Charlotte, ich möchte dir nicht wehtun!
Schoss es ihr durch den Kopf.
Von wegen!
Umbringen würde er sie! Wenn sie Glück hatte, auf der Stelle.