Pestsiegel - Peter Ransley - E-Book

Pestsiegel E-Book

Peter Ransley

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Beschreibung

Ein zerrissenes Land. Ein tödliches Geheimnis. Ein junger Mann auf der Suche nach der Wahrheit. Als Matthew Neave an einem Septemberabend 1625 den Auftrag erhält, den Leichnam eines "Pestkindes" auf seinem Karren zur Pestgrube zu bringen, ist er wenig erfreut, willigt aber aufgrund der guten Bezahlung ein. Auf dem Weg zur Grube stellt Matthew jedoch fest, dass das Neugeborene lebt. Er nimmt den Jungen bei sich auf und zieht ihn zusammen mit seiner Frau Susannah wie sein eigenes Kind groß. Doch als Tom fünfzehn ist, tritt plötzlich ein unbekannter Wohltäter auf den Plan und verschafft dem Jungen eine Lehrstelle bei einem angesehenen Drucker in London. Tom findet sich in die neue Umgebung nur mit Widerwillen ein, und merkt bald, dass er nicht der Sohn eines Werftarbeiters aus Poplar ist, wie er bisher glaubte. Ein dunkles Geheimnis umgibt seine wahre Herkunft. Tom muss erkennen, dass ihn jemand lieber tot als lebendig sehen würde und seine Suche nach der Wahrheit alles andere als ungefährlich ist.

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Ähnliche


Peter Ransley

Pestsiegel

Historischer Kriminalroman

 

Aus dem Englischen von Maria Poets

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein zerrissenes Land. Ein tödliches Geheimnis. Ein junger Mann auf der Suche nach der Wahrheit.

 

Als Matthew Neave an einem Septemberabend 1625 den Auftrag erhält, den Leichnam eines »Pestkindes« auf seinem Karren zur Pestgrube zu bringen, ist er wenig erfreut, willigt aber aufgrund der guten Bezahlung ein. Auf dem Weg zur Grube stellt Matthew jedoch fest, dass das Neugeborene lebt. Er nimmt den Jungen, den er Thomas tauft, bei sich auf und zieht ihn zusammen mit seiner Frau Susannah wie sein eigenes Kind groß.Zehn Jahre später zeigt plötzlich ein unbekannter Wohltäter Interesse an Tom. Er kommt in London bei einem Drucker in die Lehre und findet sich in der neuen Umgebung nur mit Widerwillen ein. Bald ahnt er, dass er nicht der Sohn eines Werftarbeiters aus Poplar ist, wie er bisher glaubte. Ein dunkles Geheimnis umgibt seine wahre Herkunft. Tom muss erkennen, dass ihn jemand lieber tot als lebendig sehen würde und seine Suche nach der Wahrheit alles andere als ungefährlich ist.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Peter Ransley stammt aus Leeds und lebt heute in London. Er arbeitet erfolgreich als Drehbuchautor für das britische Fernsehen und sein großes Interesse gilt der Geschichte. Durch die intensive Beschäftigung mit dem englischen Bürgerkrieg entstand die Idee zu der Romantrilogie um den Druckerlehrling Tom Neave, deren Auftakt »Das Pestsiegel« ist. Die Arbeit am zweiten Teil hat der Autor mittlerweile abgeschlossen. Die deutsche Übersetzung wird ebenfalls im Fischer Taschenbuch erscheinen.

 

 

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Pestsiegel

London um 1640

Für Cynthia, Nicholas, Imogen, Rebecca und Lochlinn

Prolog

Eines düsteren Abends im September des Jahres 1625 lenkte Matthew Neave den Karren mit den Toten, die er eingesammelt hatte, zum Ufer des Flusses Cherwell. Sieben Leichen: Viel würde man ihm nicht dafür zahlen.

Während die Pferde tranken, aß er das, was er an Brot und Käse noch übrig hatte. Das Brot war hart und trocken. Er weichte es mit etwas Bier aus seiner Flasche auf und wartete darauf, dass das Licht verschwand. Ehe es nicht dunkel war, näherte er sich niemals der Pestgrube.

Im Frühsommer, als die Pest in Oxford ausgebrochen war, hatten die Verwandten der Toten auf der Lauer gelegen, um den Karren abzufangen. Die Angst vor der Seuche wurde von der Furcht vor der Hölle besiegt, in der ihre Liebsten, und später sie selbst, würden leiden müssen, wenn sie kein christliches Begräbnis auf geweihtem Boden erhielten. Bei einem Kampf war Matthew niedergestochen und beinahe in die Grube geworfen worden, ehe die Wache gekommen war.

Doch als die Menschen starben oder flohen und der unbarmherzig heiße Sommer die Übriggebliebenen in dumpfer Apathie zurückließ, blieben solche Übergriffe aus. Gleichwohl setzte Matthew seine Flasche ab, als er das Geräusch eines galoppierenden Pferdes hörte. Unbemerkt tropfte Bier auf seine fleckige Barchentjacke, während er über die Christ Church Meadow starrte.

Wegen der Bäume konnte er den Reiter zunächst nicht ausmachen, aber das Tier war ein rotbrauner Wallach, das Pferd eines Edelmanns. Das Pferd trat aus den Bäumen hervor. Der Reiter war in Schwarz gekleidet. Er war maskiert, obwohl es kein heißer Tag gewesen war. Vielleicht enthielt die Maske einen kleinen Strauß aus Kräutern, die den Träger vor der Seuche schützen sollten. Aber Matthew wollte kein Risiko eingehen.

Er nahm das Messer, mit dem er den Käse geschnitten hatte, und zog sich zum Karren zurück. Der Gestank der verrottenden Leiber bot einen besseren Schutz als jede Waffe.

Wenige Meter vor ihm zügelte der Mann sein Pferd.

»Matthew Neave?«

Matthews Arbeit machte ihn zu einem Ausgestoßenen. Außer mit Susannah, die mit ihm lebte und deren religiöse Visionen ihr sagten, dass sie niemals an der Pest erkranken würde, sprach er – von den Toten einmal abgesehen – nur mit wenigen Menschen.

»Wer will das wissen?«

Der Mann nahm die Maske ab, hielt sich jedoch die Kräuter darin weiter vors Gesicht. Matthew ließ das Messer fallen und riss seinen Hut herunter, die Worte erstarben ihm in der trockenen Kehle. Das war kein Herr von hoher Geburt. Das Pferd war aus einem besseren Stall als der Mann, der es ritt. Aber für Matthew war Mr Eaton von weit größerer Bedeutung als jeder Edelmann.

Mr Eaton war der Verwalter von Lord Stonehouse. Als Findelkind hatte er es aus eigener Kraft zu etwas Grundbesitz gebracht, Feld um Feld zusammengekauft. Das mühsame Ringen hatte tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. Am eindrucksvollsten war eine schartige Narbe, die sich von der rechten Wange bis zum Hals zog.

»Es gibt ein totes Kind in Horseborne. Bennets Farm.«

Mehrere Meilen entfernt, auf der anderen Seite des Shotover Hill, am Rand von Lord Stonehouse’ Familienbesitz.

»Ein Pestkind, Sir?«

»Ja.«

Matthew wusste, dass das nicht stimmte, wusste, dass das Probleme gab. Er war an der Pest erkrankt, als er sechs war. Die quälenden schwarzen Beulen unter seinen Armen waren aufgeplatzt, aber er hatte überlebt. Den Rest seiner Familie hatte man auf den Karren geworfen und ihn allein im Haus eingesperrt.

Die Pestordnung, die ohne Zweifel die Ansicht der meisten Menschen widerspiegelte, dass es sich bei der Krankheit um eine Strafe Gottes handele, schrieb vor, überlebende Opfer für vierzig Tage und vierzig Nächte unter Quarantäne zu stellen. Mehr als einen Monat lang war Matthew eingesperrt gewesen, am Leben erhalten allein durch die dicke Suppe und das dünne Bier, das der einzige Nachbar, der sich in seine Nähe wagte, ihm durch das Fenster reichte.

Da die wenigen Überlebenden der Pest nie wieder daran erkrankten, versorgte ihn die Krankheit, die Matthew beinahe getötet hatte, jetzt mit Brot und, in einem Pestjahr wie diesem, sogar mit Fleisch. Manche Menschen hielten Matthew für einen Hellseher und Heilkundigen, denn es hieß, er könne vorhersagen, wer an der Krankheit stürbe und wer überlebe. Vielleicht wahrte der Verwalter jetzt nicht nur wegen der Leichen Abstand, sondern auch, weil er diese Geschichten ebenfalls gehört hatte.

Matthew kratzte sich am Kopf. Er kannte jeden Fall im Umkreis von zwanzig Meilen. Manche mochten der Quarantäne entgangen sein, aber das war unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher war es, dass die Seuche sich immer noch ausbreitete. Die schneidende Kälte in der Luft und die geringer werdende Anzahl an Leichen verrieten ihm, dass der Ausbruch so gut wie vorüber war.

Langsam schüttelte Matthew den Kopf. »Horseborne, Sir? Kann nicht sein.«

So mühevoll, wie er seinen kleinen Grundbesitz aufgebaut hatte, so sorgsam hatte Mr Eaton auch an seiner Art zu sprechen gearbeitet. Anders als Matthew mit seiner langsamen, verwaschenen Sprechweise ahmte er den kühlen, spöttischen Tonfall der über ihm Stehenden nach.

»Ich fürchte, es kann sein. Sie breitet sich immer noch aus.«

Die Wolken hatten inzwischen schwarze Ränder, und der Wind frischte auf. Als wüssten sie, dass es ein kurzer Abend werden würde, machten die Mauerschwalben Sturzflüge über das Wasser, um Fliegen zu fangen. Schon bald würden sie davonfliegen, ganze Schwärme von ihnen, und im Himmel verschwinden. So wie die Schwalben wussten, dass es keine Fliegen mehr gab, wusste Matthew, dass es in Horseborne keine Pest gab.

»Ich sammle es morgen ein.«

Trotz seiner Angst, sowohl vor den Leichen im Karren als auch wegen des Fluchs, mit dem Matthew ihn möglicherweise belegen könnte, drängte Mr Eaton sein Pferd dichter heran. Sein Tonfall wurde wieder zu einem bäuerlichen, gedehnten Singsang mit scharfem Unterton.

»Du wirst es heute holen.«

»Es gibt keine Papiere«, erwiderte Matthew starrsinnig.

Nicht alle Menschen, die in der Grube endeten, waren Opfer der Pest. Um die Armen machte sich niemand übermäßig Sorgen, aber als ein Bauer umgebracht und in die Grube geworfen worden war, hatten die Wachen Matthew eingebläut, wie wichtig die Papiere seien, mit denen sie vor seiner Nase herumfuchtelten, ehe sie ein versiegeltes Pesthaus öffneten. Und Susannah hatte Matthew eingeschärft, niemandem, den Gott nicht mit der Pest gestraft hatte, ein christliches Begräbnis zu verweigern.

Aus einem Beutel am Sattel zog Mr Eaton ein Dokument hervor. Er machte sich nicht die Mühe, näher heranzukommen, da er nicht erwartete, dass Matthew es lesen konnte. Das Papier allein genügte. Später konnte Matthew sich nicht entsinnen, ob es unterschrieben gewesen war, aber der Anblick von Falkenklauen, die einen Schild umklammerten, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Es war Lord Stonehouse’ Siegel, und dessen Wort war Gesetz.

Der Wind beugte die Bäume über Matthew, und was von der Sonne übrig war, verbarg sich hinter dunklen Wolken. Er würde eine Stunde brauchen, um nach Shotover Hill zu gelangen – dorthin, wo auch der Bauer, der betrunken vom Markt zurückgekehrt war, ermordet worden war. Anschließend würde er nach Oxford zurückkehren und am nächsten Tag ein gebrochenes Rad oder ein lahmes Pferd vorschieben. Er ging zu seinen Tieren.

»Dann breche ich besser auf«, sagte er.

»Du wirst tun, was ich sage! Keine Ausflüchte!«

Matthew starrte ihn an. Der Verwalter hatte den Ruf, sich vor nichts zu fürchten, aber irgendetwas hatte ihn erschreckt. Er hatte die Worte so heftig hervorgestoßen, dass ihm die Kräuter, die er sich vor den Mund gehalten hatte, aus der Hand fielen. Gleichwohl lenkte er sein Pferd noch näher.

»Hier!«

Etwas Silbernes blitzte auf. Matthew fing die Münze ebenso geschickt wie eine Schwalbe Fliegen fängt. Seine Haltung veränderte sich.

»Danke, Sir!«

»An der Grube bekommst du noch eine. Und kein Wort – verstanden?«

Matthew verstand, dass zwei halbe Kronen eine ganze ergaben. Und dass Mr Eaton an der Grube auf ihn warten würde, um sicher zu gehen, dass er seine Aufgabe zu Ende brachte.

 

Der Regen setzte ein, kurz nachdem Matthew die Wiese hinter sich gelassen hatte. Heftige Böen durchnässten ihn, während er fluchend auf die Pferde eindrosch. Nur mit Mühe und rutschend kam er den Shotover hoch. Sobald er über die Kuppe war, holte er die Silbermünze heraus, um seine Stimmung zu heben. Eine halbe Krone. Erst dieses Jahr anlässlich der Krönung Charles I. frisch geprägt.

Sie half Matthew zu vergessen, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Eine halbe Krone! Das war mehr, als ein Tagelöhner in einem Monat verdiente. Und an der Grube würde er noch eine bekommen!

Er war so mit der Münze beschäftigt, dass er die herannahende Kutsche nicht wahrnahm. Der Kutscher peitschte die Pferde, damit sie am Fuß des Hügels Fahrt aufnahmen. Klappernd und holpernd rollte Matthews Karren den Hügel hinunter und war auf die Mitte des Fahrwegs geraten. Matthew riss an den Zügeln, und Funken flogen, als er erfolglos die Bremse zog.

Die Pferde der näherkommenden Kutsche bäumten sich auf. Matthew erhaschte einen Blick auf das zornige Gesicht des Kutschers und spürte das Brennen eines Peitschenhiebs auf seiner Wange. Er ließ die Zügel los, und der Karren schlingerte durch den Dreck. Mit einem knirschenden Geräusch kratzte Holz über Stein.

Fluchend schrie er der Kutsche hinterher, dann suchte er nach der Münze, die ihm aus der Hand geglitten war. Er schob eine der Leichen beiseite, die aus dem Karren gefallen war, bis er schließlich aufgab und verzweifelt den Kopf hängen ließ. Dann dachte er an die andere Silbermünze, die bei der Grube auf ihn wartete. Er warf die Leiche zurück zu den anderen auf dem Karren und bedeckte sie mit den dicken Bündeln aus Heu, mit denen er seine Fracht verbarg.

Als er kurz vor Horseborne den Weg zur Bennets Farm entdeckte, war das eine Rad verbogen und rieb an der Seite des Karrens. Der Name des Hofes sagte ihm etwas, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was es war.

Der Weg war eine dicke, zähe Masse aus Schlamm, Blättern und Dung, pockennarbig von den Hufen der Rinder und Pferde. Darüber lagen die frischen, tiefen Spuren einer Kutsche.

Inzwischen war es fast dunkel, der Regen hatte nachgelassen und tröpfelte nur noch von den Bäumen. Der Karren rumpelte und hüpfte durch ein kleines Wäldchen. Ein Zweig zerrte an Matthews Hut, ehe er das offene Tor zum Hof erreichte.

Vor der Tür des wohlhabend aussehenden Bauernhauses aus Flechtwerk und Lehm hielt er an. An der Tür war kein rotes Kreuz. Und noch etwas stimmte nicht.

Es gab keinen Hund. Wer hatte je von einem Bauernhof ohne Hund gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Bennet war der Bauer, der ermordet worden war. Mr Eaton hatte den Hof gekauft, um ihn seinem benachbarten Land hinzuzufügen, und noch keinen neuen Pächter gefunden.

Mit wachsendem Unbehaben näherte er sich der Tür und blieb abrupt stehen. Ein Paar funkelnder Augen beobachtete ihn aus den Büschen heraus. Er wollte schon davonlaufen, als er bemerkte, dass die Augen nicht blinzelten. Sie bestanden aus Juwelen und zierten den Kopf eines Falken, dem Mittelstück eines prachtvollen Anhängers, dessen goldene Kette sich in den Büschen verfangen hatte. Matthew wusste, woher er stammte. Es würde ein Finderlohn darauf ausgesetzt sein – eine beträchtliche Summe. Er hatte das Silber verloren, aber Gold gefunden. Er stopfte die Kette in seine Tasche und klopfte an die Tür.

Er hatte die Witwe Martin erwartet oder eine andere besoffene Hebamme, doch die Frau, die ihm öffnete, war ein weiterer Schock für ihn. Wie Mr Eaton gehörte auch sie nicht zum Adel. Kate Beaumann war die Gesellschafterin einer vornehmen Dame, ebenso gottesfürchtig, wie ihr schlichtes schwarzes Gewand vermuten ließ, und sie war offensichtlich genauso erschrocken darüber, ihn zu sehen, wie er über ihren Anblick. Sie kannten einander, denn es war erstaunlich, wie viele Menschen aus allen Schichten die Dienste eines Heilkundigen in Anspruch nahmen. Sie hatte ein herzliches, freundliches Gesicht, das Matthew an den guten Nachbarn erinnerte, der ihn während der Pest am Leben erhalten hatte. Sie war Mitte zwanzig, aber in ihrem Haar waren bereits graue Strähnen zu sehen, und ihre Augen waren rot vom Weinen. Ihr Kleid war, wie ihre Unterschuhe, dreckbespritzt.

Er berührte seinen tropfenden Hut. »’N Abend, Miss Beaumann.«

Ohne ein Wort bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. Hastig schloss sie eine der Türen, doch er hatte bereits einen Blick auf ein schwach glühendes Feuer und den hastig abgedeckten, blutbespritzten Boden erhascht. Sie führte ihn in einen Stall, in dem der Bauer wohl seine kranken Tiere untergebracht hatte. Auf dem Stroh lag ein kleines, in eine Leinenschürze gehülltes Bündel.

»Nimm ihn.«

Als er sich nicht rührte, hob sie das Ding auf und stieß es Matthew in die Arme. Das kleine Bündel war kalt und feucht. Ein Teil des Tuches, mit dem es bedeckt war, rutschte zur Seite und gab den Blick auf das Gesicht des Säuglings frei, ohne die verräterischen Pestbeulen oder Narben. Das Kind wirkte auf Matthew, als sei es totgeboren oder kurz nach der Geburt gestorben.

»Er sieht nicht aus wie ein Pestkind«, sagte er.

Die Rauheit in Kate Beaumanns Stimme überraschte ihn. »Für uns war er die Pest«, sagte sie.

Ohne ein weiteres Wort ging Matthew und rannte fast zum Karren. Er nahm die Schürze an sich, ehe er das Baby auf den Karren warf und es mit einem Bündel Stroh zudeckte. Die Schürze war aus feinstem Leinen gefertigt, das möglicherweise sogar aus Flandern stammte. Kate Beaumanns schmutziger Rock legte nahe, dass sie das Kind auf das Feld geworfen hatte, damit es starb. Das war ebenso verbreitet wie der Tod selbst. Matthew trank den letzten Schluck Bier, ehe er sich daran machte, den Shotover ein weiteres Mal zu überwinden.

Die Frage war, warum Kate das Kind nicht einfach dort gelassen hatte. Oder es vergraben hatte. Oder es in den Fluss geworfen hatte. Babys sahen sich ziemlich ähnlich. Aber Leichen konnten gefunden werden.

Mr Eatons Drängen und Angst zeugten deutlich davon, dass das nicht geschehen durfte. Vielleicht hatte das Kind besondere Gesichtszüge oder ein Muttermal. Wenn das der Fall war, war die Grube die ideale Lösung für das Problem.

Eingesetzt zur Bekämpfung der Pest, fraß sich der Kalk rasch in die Leiber und Gesichter und verwandelte sie innerhalb weniger Tage in einen nicht wiederzuerkennenden Schleim. Niemand würde sich der Grube nähern und schon gar keine Leiche daraus hervorholen. Jemand wollte verhindern, dass man die Gesichtszüge des Kindes auf der Ladefläche seines Karrens erkannte oder vorgab, sie zu erkennen.

Matthew zuckte mit den Schultern. Seine Hand schloss sich um den Anhänger, bis er die Umrisse des juwelenbesetzten Vogels und die Glieder der Kette ertastete, eines nach dem anderen. Dann hielt er inne, und er hörte auf, sie zu streicheln. Was, wenn man ihn verdächtigte, das Schmuckstück gestohlen zu haben? Es war riskant, viel zu riskant, es zurückzugeben. Die Pferde, die den Karren immer langsamer zogen, brauchten neue Hufeisen, und der Schmied würde das Gold einschmelzen. Die herausgebrochenen Edelsteine konnte er einzeln auf der Witney Fair oder in Oxford verkaufen, zusammen mit der Leinenschürze, die Susannah waschen und plätten konnte.

Auf diese Weise grübelte er vor sich hin, und das Schaukeln des Karrens ließ ihn in einen Halbschlaf sinken. Allmählich rutschten ihm die Zügel aus den Fingern, bis er den ersten holperigen Schrei vernahm.

Er musste eingeschlafen sein und geträumt haben. Hier gab es nichts als den Wind, die erschöpften Fehltritte der Hufe und das Knarzen des Karrens. Aber da war es erneut. Unmissverständlich. Der Schrei eines Babys.

Hatte er nicht von Anfang an befürchtet, dass etwas nicht stimmte? Hatte Susannah ihn nicht ein ums andere Mal davor gewarnt, jemanden, der nicht an der Pest gestorben war, in die Grube zu werfen? Das Kind war mausetot gewesen – und jetzt war es zurückgekehrt, um ihn heimzusuchen!

Als der Schrei zu einem kläglichen Wimmern wurde, bekreuzigte Matthew sich voller Entsetzen und trieb die Pferde an, um dem Geist zu entfliehen, von dem er überzeugt war, er würde ihn bis in die Hölle verfolgen. Es war die Hölle, der er als Kind irgendwie entkommen war, aber er wusste, dass er schon immer für sie bestimmt gewesen war. Seine Hölle war keine Feuergrube, sondern eine voller Leichen, die langsam zerfressen, verbrannt und wieder erschaffen wurden, nur um erneut zerfressen und verbrannt zu werden und sich bis in alle Ewigkeit im ätzenden Kalk zu winden.

Teil IHalf Moon Court

November 1641 – September 1642

1. Kapitel

Das war die Geschichte, die ich schließlich dem Mann entlockte, den ich für meinen Vater hielt, Matthew Neave. Es gab verschiedene Versionen, jede farbenprächtiger als die vorige, und natürlich erzählte er auch, was danach geschah. Aber alles zu seiner Zeit.

Wir lebten in Poplar, von dem manche Leute sagten, es sei eine Gegend voll Heiden und Barbaren, weil es außerhalb der Mauern Londons lag und wir keine Freien waren. Ich verstand das nicht, denn in Poplar Without, wie es naserümpfend genannt wurde, hatten wir viele Freiheiten. Es gab wenige Gesetze, und einen Constable habe ich dort nie zu Gesicht bekommen. Ich liebte es dort. Benannt nach den hohen wohlgestalteten Pappeln, welche die High Street und die Marsch säumten, war es immer noch zur Hälfte Farmland. Rinder wurden gezüchtet, die nur wenig Fett verloren, wenn sie von den Viehhändlern den kurzen Weg nach Smithfield getrieben wurden. Aber die Bauern wurden zurückgedrängt von der Vielzahl kleiner Häuser, von denen jeden Tag mehr aus dem Boden schossen.

Diese Häuser waren anders als die hohen Gebäude in der Stadt, die mich mit Ehrfurcht erfüllten, als ich sie zum ersten Mal sah. Die fröhlichen Fachwerkhäuser mit ihren engen Giebelfronten boten einigen der ersten Hugenotten, die aus Frankreich geflohen waren, eine Heimstatt. Diese brachten mir bei, meinen Hut einen »Schapo« zu nennen und den Papst in Frankreich zu verfluchen. Vor allem jedoch waren die Häuser für Werftarbeiter wie Matthew errichtet worden.

Besucher aus der Stadt nannten die Schiffsbauer einen scheinheiligen Haufen, denn sie seien, so behaupteten sie, ehrlose Gesellen, die nicht der Zunft der Schiffsbauer angehörten und außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit standen. Aber für mich waren sie Zauberer, die große Schiffe in ihren Köpfen herumtrugen. Auf der Werft in Blackwell sah ich, wie diese Visionen zu Schiffsrümpfen wurden, dann zu Gerippen, Bug und Masten wuchsen empor, während ich Eimer voll Pech schleppte oder Matthew eine Krummaxt in die Sägegrube brachte.

Wenn der Schnee die Hundeinsel bedeckte und das Eis auf der Themse allmählich dicker wurde, war es hier immer noch warm. Mit nackten Füßen und nichts am Leib außer Kniehosen füllte ich die Eimer mit Holz und Kohlen und trug sie zu den Feuern, über denen das Pech gekocht, das Eisen gehämmert und gegossen und der Dampf erzeugt wurde, über dem das Holz gebogen wurde. Wie ein Wunder kam es mir vor, wenn das Holz am Ende genau die Form hatte, die den Zeichnungen des Schiffszimmermanns entsprach.

Manchmal, wenn ein Schiff fertig werden musste, brannten die Feuer die ganze Nacht über. Kein Wunder, dass es auf die wohlhabenden Stadtleute, welche die Schiffe in Auftrag gaben, wie die Hölle auf Erden wirkte. Und es roch wie die Hölle. Bei Ostwind gesellte sich der Rauch aus den Kalkgruben von Limehouse zu dem der Kohlen, und zusammen ergab es einen beißenden giftigen Odem.

Wir lebten in Hütten, von denen viele ärmlich waren, aber ich war glücklich. Im Gegensatz zu meinen Kameraden wurde ich nicht geschlagen. Matthew schlug manchmal Susannah, besonders, wenn er seinen Lohn ausbezahlt bekommen hatte und im Black Boy oder dem Green Dragon gewesen war; aber mich schlug er nie. Er schrie mich an und verfluchte mich, und manchmal fuhr seine Hand zum Gürtel oder sammelte einen Scheit Holz auf, aber im letzten Moment hielt er sich zurück, sah mich merkwürdig an und ging murmelnd davon.

Einmal fragte ich ihn, warum er mich niemals schlug.

Er lachte, als wollte er nie wieder aufhören. »Wollen der Herr etwa geschlagen werden?«

»Nein, Vater, aber jeder sonst wird geschlagen.«

Er versetzte mir eine Kopfnuss und wischte mir die Kappe vom Kopf, aber in dem Schlag lag nicht mehr Kraft als in den Klapsen, die Susannah mir gab.

»Da«, sagte er. »Ist dem Herrn es so recht?«

»Nein«, erwiderte ich, »aber das waren auch keine Schläge.«

Er hörte auf zu lachen. »Du bist ein sonderbares Kind«, sagte er.

Ich glaubte nicht, dass ich sonderbar war, aber mir stießen merkwürdige Dinge zu. Die meisten Kinder, die ich kannte, hatten nur eine vage Vorstellung davon, wann sie geboren worden oder wie alt sie waren. Es gab einfach zu viele von ihnen. Aber ich wusste, dass ich im Jahr der Krönung von König Charles geboren wurde, gegen Ende September. Ich sage, gegen Ende, denn der Tag schien zu variieren. Doch stets war es kalt geworden, Nebel hing über dem Marschland, und die trockenen Samenschoten der Sumpfpflanzen klapperten im Wind. Mit dem ersten Licht stand ich auf, die Lider noch verklebt, nahm einen Kanten Brot und etwas Käse von Susannah, und sie sagte: »Die Irrlichter waren da, Tom.«

Dann riss ich die Augen auf, ließ den Brotkanten fallen und rannte zur Vordertür. Auf der Schwelle lag ein Kuchen, mit Zuckerguss und dem Namen TOM in dicken Buchstaben aus gelbem Marzipan darauf. Das Innere war hellgelb und mit Früchten gefüllt, und es war der köstlichste Kuchen, den wir je aßen, wobei ich sagen muss, dass es der einzige Kuchen war, den wir je bekamen. Wir besaßen keinen Ofen, und der Bäcker in der High Street verkaufte nur Brot und Pasteten. Ich suchte im Moor, aber den Ofen der Irrlichter fand ich nie. Matthew warnte mich, sie niemals zu fangen oder sie auch nur anzusehen, oder sie würden mich ebenfalls backen. Und dann würde TOM nicht nur auf dem Kuchen, sondern auch darin sein.

Aber ich war entschlossen, sie zu fangen, und eines Abends im nebligen September, bei richtigem Irrlicht-Wetter, bettelte ich Susannah an, mich zu wecken. Ich musste fünf oder sechs gewesen sein, und eine ganze Woche lang erhob ich mich zitternd und starrte verschlafen durch die Löcher im Ölpapier des Fensters.

Am fünften Morgen döste ich ein und wachte mit einem Ruck wieder auf. Ich lehnte mich aus dem Fenster. Dort stand der Kuchen! Ich hatte sie verpasst! Die Straße war leer, bis auf eine Frau mit einem weiten grauen Umhang und spitzem Hut, wie Hexen ihn trugen. Sie musste mich gehört haben, denn sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Im letzten Moment duckte ich mich, zitternd und voller Angst, sie könnte ein verkleidetes Irrlicht sein und mich augenblicklich in einen Kuchen verwandeln. Als ich mir schließlich zugeredet hatte, ich sei albern (ich führte ständig solche Gespräche mit mir selbst, wie alle einsamen Kinder es tun) und erneut nachschaute, war sie im wabernden Nebel verschwunden.

Eines Ostersonntags nach dem Gottesdienst sah ich den Kuchen im Vestibül der Kirche. Er sah genauso aus wie immer, und das Marzipan glitzerte, aber beim Namen hatten sie einen Fehler gemacht. Statt meines Namens stand dort GLORIA. Ich nahm ein Messer, das neben dem Kuchen lag. Ob ich meinen Namen darauf schreiben oder mir ein Stück abschneiden wollte, erinnere ich nicht mehr, aber das Messer wurde mir vom Pfarrer, Mr Ingram, entwunden, und dann begann er, mich zu verprügeln. Susannah hörte den Lärm und sprang mir bei.

»Dies ist Tom.«

»Ah. Tom. Ja. Ich erinnere mich.«

Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis ich erfuhr, an was er sich erinnerte. In diesem Moment erntete ich indes wieder einmal diesen sonderbaren Blick. Unter Tränen versuchte ich ihm zu erklären, dass es mein Kuchen sei, nicht Glorias! Ich weiß noch, dass er verblüfft war, weil ich lesen konnte. Doch dazu war es wie folgt gekommen:

Susannahs größter Schatz, praktisch ihr einziger Besitz, war ihre Bibel. Sie konnte nicht lesen, aber vom Gottesdienst in der Kirche kannte sie ganze Passagen auswendig und wusste, wo sie zu finden waren.

»Selig sind die Armen und Sanftmütigen«, sagte sie zum Beispiel und fuhr mit dem Finger über die Textstelle, »denn sie werden Gott sehen.«

Voll Staunen starrte ich auf die Passage. Ich wusste, dass wir selig sein mussten, denn ich erkannte wohl, wie ärmlich unsere winzige Kammer war, in die der Wind durch die Spalten des Ölpapiers am Fenster zog, auch wenn ich Gott nicht sehen konnte.

Ich glaubte, wenn ich die Worte verstünde, würde ich Ihn sehen. Eines Tages deutete ich auf eine Textstelle und sagte zu Susannah: »Ich … bin … der … gute … Hi…«

»Hirte!«, rief sie laut.

Das Leben war für sie ein einziges Gleichnis, so dass sie es für ein Wunder hielt. Plötzlich war mir die Gabe des Lesens verliehen worden. Zitternd und mit Freudentränen in den Augen zog sie mich auf die Straße, damit die Nachbarn davon erfuhren.

Eine skeptische Frau öffnete das Buch an einer Stelle, die Susannah niemals rezitiert hatte. Als ich stumm auf die Seite blickte, hielt Susannah mich zunächst für verstockt. Dann glaubte sie, einen Fehler gemacht zu haben, indem sie mich vorführte wie einen Tanzbären und dass Gott seine Worte zur Strafe zurückgenommen hätte.

Sie war so getroffen von diesem Gedanken und dem Grinsen und den Witzen der Nachbarn, dass ich zu den Passagen blätterte, die sie so oft für mich rezitiert hatte, dass ich sie auswendig kannte, und tat, als würde ich sie vorlesen. Ich stockte und stotterte sogar ein wenig, so dass Susannah, deren Gesicht erneut Freude zeigte, mich korrigieren konnte.

Die Nachbarn waren von Ehrfurcht ergriffen, und um diesen Ruf nicht zu verlieren, verwendete ich meine ganze Sorgfalt darauf, so glaubhaft wie möglich zu wirken. Und an jenem Tag, als ich glaubte, jemand hätte mir meinen Kuchen gestohlen, begann Mr Ingram persönlich mich zu unterrichten. Er erklärte, dass es sich bei dem Kuchen um einen Osterkuchen handelte, mit Safran und Früchten aus dem Osten, ein Symbol der Auferstehung und der Wiedergeburt. Ich begriff nicht, was das mit dem Kuchen auf unserer Türschwelle zu tun hatte, oder wer Gloria war, es sei denn, sie war eines der Irrlichter. Er lachte und sagte, es sei überhaupt kein Name, sondern die Kurzform für Gloria in Excelsis Deo. Ehre sei Gott in der Höhe.

Und das war meine erste Lektion in Latein.

 

Eines Tages, als ich acht war, kam ein bedeutender Edelmann, um die Resolution zu inspizieren, ein fünfhundert Tonnen schweres bewaffnetes Handelschiff, an dem er beteiligt war. Seine Flagge flatterte am Mast; ein Falke mit erhobener Klaue. Ich sah, dass der Herr mich anstarrte, als ich einen Eimer mit kochendem Pech abstellte und ging, um den nächsten zu holen. Er sagte etwas zum Schiffszimmermann, der etwas zu Matthew hinüberrief. Neugierig wandte ich den Blick von dem Pech ab, das ich gerade abzapfte, und die heiße Masse spritzte auf meine nackten Beine. Ich hatte mich zuvor schon verbrannt, aber noch nie so übel wie dieses Mal.

Schreiend rannte ich zur Pumpe, um die Beine in Wasser zu tunken, doch der Edelmann bestand darauf, dass ein Bader gerufen wurde, der meine Wunde verband und mir ein Stärkungsmittel gab. London Treacle war eine Mischung aus in Wein gelösten Kräutern und Honig, und manche Männer behaupteten, sie würden sich selbst etwas antun, um es zu bekommen. Es war der erste Wein, den ich jemals trank. Ich lag im Kontor des Schiffsbauers, inmitten von Zeichnungen und Schiffsmodellen, die er anfertigte, ehe sie das richtige Schiff bauten, und schlief ein.

Träumte ich von dem Edelmann, weil er so freundlich zu mir gewesen war? Oder hat er sich tatsächlich über mich gebeugt? Ich weiß es nicht, aber ich habe eine vage Erinnerung an das Gesicht eines alten Mannes, der unter den Lippen eher ein feines Büschel Haare anstatt eines Bartes trug. In einem Moment lächelte er, im nächsten wurden seine Lippen schmal. Auch seine dunklen Augen wirkten einmal düster und besorgt, nur um dann mit einer eindringlichen, furchteinflößenden Klugheit auf mich herniederzustarren, als könnten sie sich geradewegs in mein Herz und meine Seele bohren, wie das Messer eines Baders.

Als wir uns für den Heimweg bereit machten, fragte ich Matthew nach ihm und sagte, er habe besorgt und freundlich ausgesehen. Matthew lachte bitter auf.

»Freundlich? Aye, und wie freundlich er ist. Einer dieser adligen Kerle, der so freundlich ist, dich nach Paddington Fair zu schicken.«

Er blickte mich nicht an, sondern starrte auf den Fluss, wo die Gezeiten gerade wechselten und ein Boot abgetrieben wurde. In seinen Geschichten erzählte er mir oft, dass wir eines Tages mit der Flut zu einem weit entfernten Land aufbrechen würden, und ich dachte stets, das seien nichts als Geschichten. Doch jetzt lag etwas in seiner Stimme, das mir verriet, dass er am liebsten auf diesem Boot wäre. Ich umklammerte seine Hand.

»Paddington Fair? Er will mich nach Tyburn schicken? Das würde er nicht tun! Warum? Was habe ich getan?«

Er lachte. »Nix! Weißt du denn nicht, wann ich einen Scherz mache?«

Er tat immer noch so, als hätte er einen Witz gemacht, als er mit mir zu einem Feuer am Rande des Hofes ging, an dem nur wenige Menschen saßen.

Manche Leute am Hafen sagten, Matthew sei ein Hellseher, weil er ihre Daumennägel polierte, bis sie im Feuerschein glänzten, und dann ihre Zukunft darin sah. Ich hatte ihn oft angebettelt, mir meine zu verraten, aber er hatte sich stets geweigert. Jetzt warf er ein paar Scheite ins Feuer, hockte sich daneben und starrte in die Flammen.

Ich hatte gesehen, wie er das bei anderen machte. »Erzählst du mir jetzt meine Zukunft?«, fragte ich und polierte aufgeregt meinen Daumennagel.

Er grinste. »Nein, Tom. Für deine Zukunft brauche ich mehr als einen Nagel.«

Sein vom Feuer erhelltes Gesicht schien nur noch aus Augen zu bestehen. Der Hafen war still. Das hektische Rufen, das Hämmern, Sägen und Schwenken der Balken war vorbei. Der Edelmann war mit dem Schiff zufrieden, und sie brachten die Leinwand an Bord, bereit, die Segel zu hissen. Zwei Männer näherten sich streitend. Matthew wartete, bis sie vorbeigegangen waren, dann öffnete er sein Wams und anschließend sein Hemd, das er im Winter niemals auszog. Darunter trug er einen Gürtel, an dem ein Beutel befestigt war. Er begann, etwas aus dem Beutel zu holen, stopfte es jedoch noch einmal zurück.

»Erzähl niemandem davon, oder ich bin ein toter Mann!«

Ich begriff, dass viele seiner Scherze die Angst bannen sollten, die ihn bis zu einem bestimmten Grad stets begleitete. In diesem Moment erfasste ich nur die pure nackte Macht dieser Angst, was umso entsetzlicher war, als ich sie so unerwartet bei jemandem wahrnahm, der auf mich stets den Eindruck eines einfachen, heiteren Mannes gemacht hatte.

Er blickte sich ständig um und holte etwas aus seinem Beutel, von dem ein Glanz wie von einem Feuer auszugehen schien. Es war ein Anhänger mit einem Falken, der so zornig aus seinem emailliertem Nest blickte, dass ich instinktiv zurückschreckte, aus Furcht, er könnte sich auf mich stürzen. Matthew sagte, seine Augen seien Rubine und eine der Klauen umklammere eine Perle, unregelmäßig geformt, als sei sie gerade erst der Erde entrissen worden.

Ich streckte meine Hand danach aus, doch er schlug sie fort. »Nix da!«

Seine Angst schien zu schwinden, während er den Anhänger betrachtete. Er lächelte, liebkoste ihn beinahe und murmelte etwas vor sich hin. Ein Holzscheit verrutschte, und in die aufhellenden Flammen funkelte die goldene Kette. Er schien eher zu dem Anhänger zu sprechen als zu mir, als fiele er angesichts des rotäugigen Falken in eine Art Trance. Er habe eine Dame gesehen, sagte er, eine richtige Dame, und ihr Haar sei genau so hellrot gewesen wie meines.

»Werde ich sie heiraten?«

»Nein. Sie nicht. Du wirst ein großes Vermögen machen. Und es wieder verlieren.«

»Eine Krone?«

Er schüttelte sich vor Lachen. Er schien zu seiner normalen Verfassung zurückgefunden zu haben. Ich liebte sein Lachen, bei dem sein Bauch und seine Wangen bebten, denn es lag immer so viel Freundlichkeit darin, selbst, wenn er sich über mich lustig machte.

»Viel mehr als eine Krone, Junge.«

Er steckte den Anhänger in den Beutel zurück und zog sein Hemd und das Wams darüber. Der Falke schien zu flattern, als er verschwand, und er erinnerte mich an den Vogel auf der Flagge, die auf dem Schiff des alten Edelmanns wehte.

»Hat der Anhänger etwas mit dem edlen Herrn zu tun?«, fragte ich.

Er packte mich an der Kehle. Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde mich würgen, bis alles Leben aus mir gewichen sei, als Ausgleich dafür, dass er mich nie geschlagen hatte. »Wer sagt das? Wer hat dir das erzählt? Antworte mir!«

»Nie…mand«, würgte ich hervor. »Der Vogel sieht genauso aus wie der auf der Flagge.«

Er lachte und ließ mich los. »Überhaupt nicht! Kein bisschen!«

Ich glaubte, dass er log. Ständig blickte er hinter sich, wirbelte herum, sobald er eine Bewegung im Schatten wahrnahm, obwohl es nur ein Hund war, der nach Speiseresten suchte.

»Sag mir«, verlangte er, »ob du in der letzten Zeit jemals einen Mann gesehen hast mit einer Narbe im Gesicht. Inzwischen lässt er sich Herr nennen.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das keines war, und zeichnete mit den Fingern eine Linie vom Mundwinkel über die rechte Wange bis zum Hals. »Er arbeitet für den alten Edelmann. Wenn du ihm begegnest, glaubst du nicht mehr, dass er so freundlich ist.« Als ich nichts sagte, stieß er sein Gesicht voller Wucht gegen meines, dass ich vor Schreck einen Satz machte.

»Verstehst du?«

Ich nickte stumm. Ich verstand, dass der alte Edelmann, der Mann mit der Narbe und der Anhänger irgendwie zusammenhingen. Und ich begriff, dass Matthew ein Dieb war, denn wie sonst hätte er in den Besitz des Anhängers gelangt sein können? Mir machte es nichts aus, denn Poplar war voll von Leuten, die vor irgendetwas davonrannten; Beutelschneider, Flüchtlinge, Lehrlinge, Schuldner, Huren. Aber ich glaubte, dass er vor mehr davonlief als vor der Tatsache, ein Dieb zu sein. Und es beunruhigte mich, nicht zu wissen, was es war.

»Ich weiß nicht, was eine Geschichte und was die Wahrheit ist«, sagte ich.

Er lachte brüllend. »Wenn die Menschen je den Unterschied zwischen den beiden Dingen erführen«, sagte er, »würde die Welt ganz anders aussehen.«

Mehr sagte er nicht, außer: »Du bist ein seltsamer Junge, und ein ganz besonderer dazu.« Das sagte er auf dem Heimweg, als er wieder die Freundlichkeit in Person war.

In jener Nacht erwachte ich und hörte, wie er mit Susannah stritt, unten, wo sie schliefen. Ich schlief oben, zusammen mit den Seeleuten, die wir als Logiergäste aufnahmen.

»Ein Boot?«, rief sie. »In meinem ganzen Leben war ich noch nie auf einem Boot. Wo werden wir hinfahren?«

Mehr hörte ich nicht, weil er sie schlug. Am nächsten Tag erklärte er mir, dass wir mit dem Boot nach Hull fahren würden. Ich hatte so viele Schiffe entstehen sehen, dass ich ganz versessen darauf war, endlich auch einmal mit einem hinaus aufs Meer zu fahren. Und so bombardierte ich ihn mit Fragen, in welchem Teil Indiens Hull läge und ob es dort Papageien und Elefanten gäbe.

Doch ehe das Schiff ablegte, kamen sie. Ein Fährmann brachte sie, und ein Schiffszimmerer brachte mich zu ihnen. Matthew war nirgends zu sehen. Ängstlich blickte ich zu den Gesichtern der beiden empor, aber ich konnte keine Narbe entdecken.

Master Black war seinem Namen entsprechend in schlichtes Schwarz gekleidet, aufgehellt nur durch die Ärmelkrausen aus feinem Leinen. Er hatte einen Stock und hinkte leicht. Der Mann, den ich später Gloomy George, den finsteren George, nannte, war ein magerer Mann mit eng zusammenstehenden Augen und misstrauischem Blick. Ständig sah er sich um, als fürchte er, jemand könnte ihm seine Tasche stehlen.

Susannah bekam einen ihrer Zitteranfälle, als ich nach Hause gebracht wurde, und schien kaum zum Sprechen in der Lage zu sein. Die beiden Männer füllten unsere winzige Kammer fast gänzlich aus. Susannah rannte zu unserer Nachbarin, Mutter Banks, um Dünnbier zu holen, doch Mr Black warf nur einen Blick auf den Krug und wies ihn barsch zurück.

Gloomy George holte eine Bibel aus dem Kasten hervor, den er bei sich trug. Ich dachte, sie seien von der Kirche und gekommen, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich ein Wunder sei, weil mir die Gabe des Lesens verliehen worden war. Er schlug das Buch Jesus Sirach auf. Mein Herz wäre mir in die Stiefel gerutscht, wenn ich welche besessen hätte. So sehr ich das Neue Testament liebte, weil es von der Liebe handelte, so sehr verabscheute ich das Alte, da es ebenso voll von Rache und Hass war wie von langen Wörtern. Mit wachsender Panik starrte ich auf die Textstelle, die von Weisheit handelte.

»Mein Sohn, lerne die Lektion der Jugend«, brachte ich gerade eben noch hervor, stolperte dann über »Weisheit sammelnd«, und bei »Nur für den undisziplinierten Verstand scheint sie eine im Übermaß fordernde Herrin zu sein« stürzten die Wörter über mir zusammen wie Holzbalken eines Schiffes, wenn der Flaschenzug riss.

»Die Weisheit ist also eine im Übermaß fordernde Herrin für dich, Tom?«, sagte Mr Black.

»Nein, Sir«, murmelte ich, wie ich glaubte, aufrichtig, denn ich mochte die Weisheit, so wenig ich auch über sie wusste. Doch vielleicht sagte ich es auch, weil ich das für die Antwort hielt, die er von mir erwartete.

»Was bedeuteten also diese Worte?«

Ich starrte in seine Augen, die so schwarz waren wie seine Kleidung und so kalt wie Frost. Elend und beschämt schüttelte ich den Kopf. Ich war ertappt. Ich war nicht nur kein Wunder, ich war überdies ein Schwindler und Betrüger. Noch heute sehe ich, wie Susannah die Hände rang und die Augen niederschlug. Sie begann zu erklären, dass es ihre Schuld sei, sie habe vor den Nachbarn zu sehr geprahlt und jetzt habe Gott sie gestraft, indem er die Wörter fortnahm. Doch als Mr Black das Buch mit einen Knall zuklappte, verstummte sie.

Aus seinem Kasten zog Gloomy George ein Schreibpult hervor, dazu eine Feder, Tinte und Papier. Er tunkte die Feder in die Tinte und reichte sie mir.

»Vielleicht kannst du besser schreiben als lesen.«

Ich starrte das leere Blatt Papier an, so wie ich jetzt auf das Blatt vor mir starre, kaum imstande zu glauben, dass ich mich so verhielt, wie ich es tat.

»Los jetzt. Schreib deinen Namen, Kind.«

Ich konnte es, ein mühseliges Gekritzel, auf das ich gleichwohl stolz war. Doch ich sah ihr Hohnlächeln und hörte die Geringschätzung in ihren Stimmen. Diese Genugtuung würde ich ihnen nicht gönnen. Das Blut brannte in meine Wangen, und ich schleuderte die Feder von mir. Ein Tintenspritzer landete auf dem feinen Linnen von Mr Blacks Ärmelaufschlag. Ich sah das Entsetzen in Gloomy Georges Gesicht, kurz bevor ich den Hieb von Mr Blacks Stock auf meinen Schultern spürte.

Ich taumelte nach vorn, stürzte über den Schreibtisch, Tinte spritzte aus dem Horngefäß. Ein weiterer Schlag traf mich am Kopf, und ich fiel zu Boden. Susannah schrie. Über mir sah ich nur verschwommen Mr Blacks Stiefel und die Metallspitze des Stockes, die sich hob und senkte. Ich schützte meinen Kopf mit den Armen und rollte mich durch das Durcheinander aus Papier und Tinte zur Seite. Als der Stock den Boden neben mir traf, packte ich ihn und hielt ihn fest. Um nicht vornüber zu stürzen, war Mr Black gezwungen, ihn loszulassen.

Ich rappelte mich auf und packte den Stock fester. Wenn er wütend gewesen war, als ich die Feder fortgeschleudert hatte, so war er jetzt überrascht. Er wich zurück und stürzte in seiner Hast beinahe über Gloomy George. Gaffend und mit aufgerissenem Mund stand Susannah daneben. Beschmiert mit Tinte und Blut, das mir übers Gesicht lief, musste ich auf die beiden Männer wie ein wildes Tier gewirkt haben. Kinder nahmen keinen Stock in die Hand. Sie schlugen nicht, sie wurden geschlagen.

Ich war wild, aber ich war kein Tier. Der große Unterschied zwischen mir und meinen Kameraden war, dass ich geliebt wurde.

In Familien mit zehn oder elf Kindern war Liebe ein rares Gut. Kinder starben viel zu häufig, um das Risiko einzugehen, sie zu lieben. Sie wurden gestillt, als eines unter vielen. Susannah hatte andere Kinder geboren, aber sie waren bereits tot gewesen, als sie auf die Welt kamen, oder nachdem sie ein- oder zweimal nach der Brust geschrien hatten. Ich habe mich nie gefragt, warum ich allein so stark und kräftig war, so zum Leben entschlossen.

Und so hatten sie sich zu sehr um mich gesorgt, denn ich war alles, was sie hatten, und das machte mich selbstsüchtig und kühn, als ich Mr Blacks Stock packte. Ich empfand ein sonderbares Gefühl der Macht, als ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sah. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn in diesem Moment nicht ein hämmerndes Klopfen an der Tür zu hören gewesen wäre.

Mein Mut verließ mich. Ich dachte, es sei der Constable, der gekommen war, um mich nach Paddington Fair zu bringen. Mein Mund wurde trocken, und der Stock fiel mir aus der Hand. Mr Black ergriff ihn, während George die Tür öffnete. Es war nicht der Constable, sondern der Junge des Fährmanns.

Das Boot würde in einer halben Stunde ablegen, um mit der Flut auslaufen zu können. Kurz angebunden erklärte Mr Black, dass er dort sein würde. Sein Zorn schien verflogen zu sein, und er sah mich nicht an, als George den Kasten packte und Susannah mir das Gesicht abwischte und unter Tränen flüsternd auf mich einredete, mich bei dem Herrn zu entschuldigen. Doch das würde ich nicht tun. Ich sollte mich bei ihm entschuldigen, weil er mich geschlagen hatte?

»Ich sagte Euch, dass es Zeitverschwendung ist, hierher zu kommen, Master«, grummelte George. »Der Junge hat den Teufel im Leib!«

Während Mr Black brütend dasaß und nichts sagte, wandte George sich mit einer bitteren Rüge an Susannah. »Freundlichkeit zum Leib, Madam, ist Grausamkeit für die Seele.«

»Es tut mir leid, Sir«, erwiderte sie stockend. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist … normalerweise ist er so ein gutes Kind.«

Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. »Nein, Madam. Ihr seid zu gut zu ihm. Jedes Mal, wenn Ihr ihn verhätschelt, bringt Ihr ihn einen Schritt näher zur Hölle.«

Susannah stieß mich fort, als würde ich bereits brennen. George bedachte mich mit einem letzten abschätzigen Kopfschütteln, hob den Kasten auf und öffnete die Tür, doch Mr Black rührte sich nicht.

»Master. Das Boot.«

Immer noch sagte er nichts, sondern sah mich an. Sein Blick schien sich bis tief in meine Seele zu bohren. Dann schaute er auf seine mit Tinte bespritzte Manschette und sprang auf, als wollte er mich erneut schlagen. Trotz der Gefahr für meine Seele zog Susannah mich an sich.

»Sir, es gibt hier ein Waschweib, das eine sehr seltene Seife …«

»Sei still!«, schrie er, so laut, dass etwas Ruß vom Kamin rieselte. »Der Junge ist voller Tatkraft«, sagte er.

»Aye«, sagte George. »Der Kraft des Bösen.«

Mit kaltem Blick brachte Mr Black ihn zum Schweigen. »Ich nehme ihn«, sagte er.

Es dauerte eine Weile, bis George sich von seiner Überraschung erholt und seine Stimme wiedergefunden hatte. »Master! Sein Benehmen ist ebenso schlecht wie sein Lesen.«

»Beides kann man ihm beibringen«, sagte er, stupste mich mit dem Stock an, als sei ich eines der Kälber in Smithfield. »Komm! Die Flut wartet nicht.«

Erst später lernte ich, dass Mr Black ewig brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen, dann jedoch verlangte, dass sie auf der Stelle umgesetzt wurde.

»Besitzt er noch andere Kleidung, die er tragen kann, bis man Maß bei ihm genommen hat?«, blaffte er Susannah an.

»Nur das, was er am Leibe hat, Sir.«

»Keine Stiefel?«

»Stiefel? Sir, ich wollte«, stammelte sie, »ich meine, ich wollte schon immer …«

»Keine Stiefel also. Eilt Euch, Weib, um Gottes Willen!« Wir waren bereits in der Poplar High Street, und Susannah war für etwas zurückgerannt, das sie in ein Tuch gewickelt nun bei sich trug. »Bestell Stiefel, zwei Paar, und eine Uniform bei Mr Pepys«, befahl Mr Black George barsch.

Erst als wir am Hafen ankamen, begriff ich, was geschah. Susannah war vor Freude wie von Sinnen, was mich vollkommen verwirrte, denn ich glaubte, nein, ich wusste, dass sie mich liebte, und ich konnte nicht fassen, dass sie mich wie ein schlecht verpacktes Paket diesem Rohling übergab, gleichgültig, wie fein seine Kleidung war.

»Du bekommst eine Stellung«, sagte sie stolz. »Wirst ein Lehrling. Mit Stiefeln.«

Der Junge des Fährmanns bereitete das Ablegen vor. Das Licht schwand, das weiche, magische Abendlicht über dem Wasser, das ich so liebte. Man hatte Fackeln entzündet, deren flackerndes Licht die Männer beleuchtete, die sich wie Schatten bewegten und die Segel nähten, die morgen an Bord der Resolution gehisst werden würden.

Als wüsste sie, dass meiner Seele in Zukunft wenig Gefahr durch zu viel Verzärtelung drohte, umarmte Susannah mich ein letztes Mal. Und erst jetzt ging mir auf, dass ich im Begriff war, sie zu verlassen. Ich klammerte mich an sie, an ihren Geruch nach Bier und Kräuterbrei, in dem ich stets, egal, wie schlecht die Zeiten gewesen sein mochten, ein Stückchen Fleisch gefunden hatte. Ich war dabei, die Werft zu verlassen. Die großen Schiffe mit ihrer Verheißung von Freiheit.

Jetzt würde ich nie das Knarren und Stöhnen hören und das Beben spüren, wenn die Resolution das Dock verließ, würde sie nie schwanken sehen, bis sie ihre Seebeine gefunden hatte, sobald die Segel sich knallend strafften und sie aus dem Hafen hinaus auf die offene See fuhr. Jetzt würde ich nie nach Indien gelangen, nie voller Staunen die Papageien betrachten, nie auf einem Elefanten reiten und Matthews Geschichten lauschen können.

Matthew!

Ich schrie laut nach ihm.

»Vater! … Vater!«

Ich glaube, Mr Black konnte doch nicht gänzlich gefühllos sein, denn er bat einen Schiffszimmerer, Matthew zu suchen. Den ganzen Tag über hatte ihn noch niemand gesehen, was mein Elend noch verstärkte. Er musste ohne mich nach Indien aufgebrochen sein. Doch der Fährmann brummte und fluchte, und Mr Black gab ihm ein knappes Zeichen zum Aufbruch. Mit einem Ruder stieß er gegen das Ufer, und das Boot driftete hinaus auf den Strom.

»Wartet! Wartet! Allmächtiger Gott, ich hätte es beinahe vergessen!«

Susannah warf mir das Tuch zu, das sie geholt hatte. Das Tuch flatterte ins Wasser, aber das, was darin eingewickelt war, landete mit einem dumpfen Aufprall vor meinen Füßen. Ihre Bibel. Es war alles, was sie besaß. Alles? Es war ihr größter Schatz. Unablässig winkend stand sie da, wurde immer kleiner und verschwamm zusehends, während der Fährmann die Ruder ins Wasser tauchte.

Tränen brannten mir in den Augen, doch dann sah ich das mürrische Lächeln in Georges Gesicht und blinzelte sie fort. Zweifelsohne glaubte er, es sei gut für meine Seele, doch was er für gut hielt, hielt ich für eine große Sünde.

Trotzig erwiderte ich seinen Blick. In diesem Moment schwor ich mir im Stillen bei der Bibel, die ich fest umklammerte, dass ich so bösartig sein würde wie nur möglich. Ich dachte an den Anhänger, den Matthew gestohlen hatte, an die Zukunft, die er im flackernden Licht des Feuers auf dem Hof darin gesehen hatte, und war entschlossen, dass wo immer dieses Boot mich hinbringen würde, die Reise entweder mit gewaltigen Schätzen auf den Indischen Inseln oder in Paddington Fair enden würde.

2. Kapitel

Sie prügelten es aus mir heraus. Das Böse. Oder, wenn Ihnen das lieber ist, die kindlichen Fantasien. Mr Black verprügelte mich mit seinem Stock, bis der zerbrach, ein Vergehen, für das ich umso härter mit dem neuen Stock bestraft wurde. Gloomy George drosch mit seinem Winkelhaken das Böse aus meinem Kopf. Doch am schlimmsten war Dr. Gill, der Lehrer von St. Paul’s, den sie eingestellt hatten, damit ich lernte, Lehrbücher zu drucken, die in Latein abgefasst waren.

Während George das Böse aus mir herausprügelte, prügelte Dr. Gill mit einer Ferula so viel Latein in mich hinein wie möglich. Dabei handelte es sich um ein flaches Stück Holz, das sich zum Ende hin birnenförmig erweiterte. In der Mitte wies es ein Loch auf, durch das schon ein Hieb den heftigsten Schmerz hervorrief.

Schlimmer als die Schläge indes war der Keller, den ich für das kälteste und feuchteste Loch auf Gottes Erde hielt. Selbst jetzt kann ich nicht daran zurückdenken, ohne zu erschaudern, obwohl ich nur einmal zuvor dort eingesperrt worden war … aber dazu später. Ich glaube, beim ersten Mal hatte ich darin eine Art Anfall; jedenfalls sagte Mr Black, dass ich nicht wieder dort eingesperrt werden würde, und George musste sich damit begnügen, mich zu verprügeln. Mein einziger Trost war Sarah, das Mädchen für alles, mit der ich die Bodenkammer teilte, obgleich sie zu Beginn nur eine weitere Feindin zu sein schien, und die mit einem so breiten Akzent sprach, dass ich dachte, sie käme aus einem fremden Land wie Schottland.

»Da … das ist dein Platz … die Seite vom Balken … und hier ist meiner. Verstanden?« Dieser Balken! Er war krumm und saß genau so, dass ich mir jedes Mal den Kopf stieß, egal in welchen Winkel ich aus dem Bett stieg. »Trottel! Manche Leute lernens nie!«, sagte sie ständig, bis ich sie anschrie und sie eine schottische Hure nannte. Über den ersten Schimpfnamen wirkte sie erboster als über den zweiten und sagte, sie wäre lieber tot als Schottin. Sie kam aus Hull. »Aus Indien!«, rief ich und fragte sie, ob es dort tatsächlich Papageien und Elefanten gäbe.

»Ja klar«, sagte sie. »Und Vögel, die rückwärts fliegen. Komm her, Dummkopf. Und pass auf den Balken auf.«

Sie rieb etwas von dem Schweinefett auf die Beule, das sie für ihre eigenen Wunden benutzte, und von diesem Moment an gab es immer Schweinefett, um den Schlägen den brennenden Schmerz zu nehmen, egal, wie heftig sie gewesen waren. Während sie mich einrieb, las ich ihr aus Susannahs Bibel vor. Über den Pfarrer, Mr Ingram, schrieb ich an Susannah, und von den Viehhändlern, die die Rinder nach Smithfield trieben, erhielt ich Nachrichten von ihr.

Eine von ihnen lautete, dass Matthew verschwunden sei, kurz nachdem ich die Werft verlassen hatte. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Falls Susannah Nachrichten von ihm erhielt, so sagte sie mir nichts davon. Das verletzte mich am meisten. Ich habe sie beide nie vergessen, aber meine Erinnerung an sie verblasste allmählich, während ich mich von einem barfüßigen Grubenjungen in einen Londoner Lehrling verwandelte.

Fünf Jahre lang wurde ich im Lateinunterricht regelmäßig geschlagen, wenn ich richtig übersetzte, und ich wurde verprügelt, wenn ich es falsch machte. Es schien keinen Unterschied zu machen, ob ich Fehler machte oder nicht. Ich wurde geschlagen, weil ich meine Schiebermütze nicht trug, weil ich sie verlor, weil ich würfelte, fluchte, Gott lästerte, ins Pot Upside Down, die Bierschänke, ging, herumhurte (einmal sprach ich vor dem Pot mit einer Kupplerin), weil ich meine Stiefel verlor (ich muss gestehen, dass ich sie beim Würfeln verloren hatte) und für einen Bestechungsversuch (ein Liebesgedicht an Mr Blacks Tochter Anne, von der ich sogleich berichten werde), bis im Jahr 1640 das Parlament einberufen wurde und sie plötzlich zu beschäftigt waren, um mich zu verdreschen.

Parlament? Ich hatte kaum je davon gehört. Der König hatte es verboten und herrschte mit seinen eigenen persönlichen Ratgebern. Ebenso hatte er jene Nachrichten verboten, die seine Berater Lügen und Gerüchte nannten, und damit einem Großteil von Mr Blacks Geschäft das Wasser abgegraben, wie dieser lamentierte. Robert Black, dessen Zeichen der Halbmond war, hatte Nachrichtenblätter mit Neuigkeiten von den Kriegen in Europa, Schiffsbrüchen und dergleichen publiziert, doch der König hatte dies unter Androhung eines Prozesses vor der Star Chamber, dem königlichen Gericht, verboten. Doch jetzt war das Parlament wieder zusammengetreten, und London war so hungrig nach Neuigkeiten, dass die Drucker bereit waren, das Risiko einzugehen, um die Menschen mit dem Gewünschten zu versorgen.

Der einzige Ort, den ich bislang kannte, an dem diskutiert wurde, war das Pot Upside Down. Die Auffassung meines Freundes Will, der den Debatten vorsaß, war simpel. Good Queen Bess, wie wir sie immer noch nannten, hatte alle ihre Kriege gegen die Spanier, Franzosen und Niederländer gewonnen. Charles hatte alle Kriege verloren. Er war verschuldet und musste das Parlament zusammenrufen, um mehr Geld zu bekommen. Aber das Parlament würde keine Gelder bereitstellen, ehe der König nicht die Forderungen der Abgeordneten in Bezug auf Religion und Steuern erfüllt hatte.

Ich war für das Parlament, so wie die meisten Londoner Lehrjungen. Unser Held war Mr John Pym, der Anführer der Opposition gegen den König. Mr Black druckte seine Reden ab, in denen er feuerspeiend über die Ratgeber des Königs herfiel, die ihn zum Papismus bekehrt und ihn gar überredet hätten, seine Wälder an die Papisten zu verkaufen: eben jenen hölzernen Schutzwall, aus dem die Schiffe gebaut wurden, die uns vor den Spaniern schützten.

Wie wir in den Besitz dieser Reden gelangten, war eine Geschichte für sich, und in ihrer Verworrenheit von richtig und falsch ähnelte sie sehr der Geschichte des alten Matthew über das Pestkind. Es war strengstens verboten, aus dem Parlament zu berichten. Als Botenjunge war mir der Zutritt gestattet, und ich hörte Mr Pym persönlich, wie er bitter über die skrupellosen Drucker schimpfte, die um des Geldes willen seine Reden stahlen. Für diesen Missbrauch der Privilegien, so donnerte er, sollten sie in den Tower gesperrt werden.

Eine Stunde später drückte mir Mr Ink eben jene Rede in die Hand. Mr Ink war ein Schreiber, und ich wusste, dass Mr Pym ihm vertraute und eng mit ihm zusammenarbeitete.

Gleichwohl war Mr Pym, wie auch mein Master, ein sehr gottesfürchtiger Mann. Sie sahen sich sogar ähnlich, mit ihren steifen Spitzbärten, den schlichten schwarzen Gewändern und den weißen, gestärkten Kragen, nur dass der meines Masters glatt war, während Mr Pyms aus fein gewebter Spitze bestand. Eines Tages rief er mich zu sich und starrte auf mich herab. Sein Bart war ebenso makellos wie seine Aufmachung, jedes Haar war an seinem Platz, als sei es dort eingemeißelt.

»Du kannst dich glücklich schätzen, für so einen gottgefälligen Mann wie Mr Black zu arbeiten«, sagte er.

»Ja, Sir«, stammelte ich, obwohl meine Prellungen und Wunden kaum verheilt waren und glücklich nicht unbedingt das Wort war, das mir in den Sinn gekommen wäre.

Er nahm einen Schilling aus der Tasche und hielt mir einen Umschlag entgegen. »Kennst du diese Adresse?«

»Ja, Sir«, log ich.

Für so viel Geld hätte ich jede Adresse gekannt, selbst im unbekannten West End, jenseits der Stadtmauern.

»Bist du diskret?«

Ich kannte die Bedeutung des Wortes nicht, doch erneut war ich bereit, alles zu sein, um den Schilling zu bekommen, und nickte energisch. Er wollte nicht riskieren, sich allein auf mein Nicken zu verlassen und blaffte: »Kannst du den Mund halten?«

»Ja, Sir.«

»Kein Wort zu niemandem, nicht einmal zu deinem Master. Verstanden?«

Ich war nur zu bereit, dieser Bitte nachzukommen. Mein Lohn bestand aus Brot und Käse, meiner Uniform und dem Bett, und das einzige Geld, das ich jemals erhielt, stammte von Aufträgen wie diesem.

Der Brief war an die Countess of Carlisle am Bedford Square adressiert, in der Nähe des neuen Covent Garden. Damals war es der erste öffentliche Platz in London. Nach dem Gedränge in der Stadtmitte staunte ich über die großzügigen neuen, aus Stein errichteten Häuser mit ihren Vordächern und Säulen. Ich überreichte den Brief einem herablassenden Diener namens Jenkins, der mich an der Hintertür, in der Nähe des Scheißhaufens, auf die Antwort warten ließ. Damals glaubte ich, der Haufen röche besser als unserer, da es die Scheiße einer echten Countess war. Inzwischen denke ich, dass er, im Gegensatz zu unserem, einfach nur regelmäßig von den Straßenkehrern gesäubert wurde.

Von Will aus dem Pot erfuhr ich, dass die Countess of Carlisle die Geliebte des Earl of Strafford gewesen war, eines ehemaligen Günstlings des Königs, den man hingerichtet hatte. Sie war eine enge Freundin der Königin. Was also hatte sie sich mit Mr Pym zu schreiben? Ich stellte mir vor, es seien Liebesbriefe, die ich überbrachte, da ich selbst verliebt war. Tief und hoffnungslos, in Mr Blacks Tochter Anne.

Anne hatte über meine nackten Füße gelacht, als ich zum ersten Mal zum Half Moon Court gekommen war. Sie waren groß und schwarz wie das Pech, das in die Haut eingewachsen war. Die riesigen knochigen Zehen konnte ich wie Finger beugen. Sie heulte lachend auf, als sie sah, wie ich eine Feder mit meinen Zehen aufhob, und sagte, ich sei wie ein Affe, den sie einmal auf der Schulter eines Edelmanns gesehen hatte. Seitdem nannte sie mich Affe.

Ich versuchte, sie zu hassen. Zu meiner Schande strafte ich sie mit einem Fluch. Nicht mit einem, von dem sie so etwas wie die Pocken bekäme, denn ich konnte nicht zulassen, dass ihrer Haut, die wie Milch und Honig war, irgendetwas zustieß. Der Fluch, so hatte Matthew mir beigebracht, musste sich auf das angetane Unrecht beziehen, also verfluchte ich ihre Füße, die winzigen Mäusen gleich unter ihrem Rock hervorlugten und wieder verschwanden. Ich gebot ihnen zu wachsen, bis sie größer waren als meine. Ich kratzte etwas abgestorbene Haut von meinen Fußsohlen und schmuggelte sie in ihre Lieblingsschuhe.

Als sie sich beschwerte, die Schuhe würden drücken, und ihre Mutter erklärte, sie müsse herausgewachsen sein, bereute ich auf der Stelle, was ich getan hatte, und verbrachte eine qualvolle schlaflose Nacht mit Gebeten, um den Fluch aufzuheben. Zu meiner Erleichterung schien es zu funktionieren, denn die Tage vergingen, und sie beschwerte sich nie über die neuen Schuhe.

Wenn sie über mich lachte oder, noch schlimmer, mich ignorierte, schmerzte mich das mehr als jeder Schlag, den ich je in diesem Haus erhielt. Laut Will aus dem Pot, der ein Experte in solchen Dingen war, litt ich an der schlimmsten Art der Liebe: der unerwiderten Liebe.

Doch so war es nicht immer gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der wir einander so nahe kamen, wie zwei Kinder sich nur sein können. Es war mein erster Herbst in Half Moon Court gewesen. Im September, gegen Ende der dritten Woche, stand mein Osterkuchen auf der Türschwelle. Für jeden schien es eine höchst mysteriöse Angelegenheit zu sein, doch für mich war es natürlich keine Überraschung. Die Irrlichter konnten so einen Kuchen im Nu überall hinbringen. Für George war es der Beweis, dass ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, und er rührte keinen Krümel davon an. Sarah sagte, es gäbe gute und böse Irrlichter. Ich glaube, sie begann von dem Moment an Schweinefett auf meine Beulen zu schmieren, als sie sich den letzten Krümel von den Fingern leckte. Mrs Black befragte ihren Sternendeuter, der ihr sagte, der Kuchen sei gestohlen, und betrachtete mich mit tiefem Misstrauen. Mr Black, dessen gesunder Menschenverstand im scharfen Widerspruch zum Aberglauben seiner Frau stand, brummte gereizt: »Wie kann er gestohlen sein, Elizabeth, wenn der Name des Jungen darauf steht?«

Anne war zunächst neidisch, denn sie hatte noch nie so einen Kuchen bekommen, und dann fasziniert. Wir begannen zusammen zu spielen. Es fing damit an, dass sie mich verspottete, doch als sie herausfand, dass ich die Geschichten erzählen konnte, die Matthew mir erzählt hatte, von fernen Ländern, prächtigen Schiffen und Elefanten und Papageien, gewöhnten wir uns an, uns unterm Apfelbaum in der Mitte des Hofes oder im Papierlager zu verstecken. So ging es zwei idyllische Monate lang, bis wir eines nebligen Herbsttages das Rattern und die kreischenden Bremsen einer Mietkutsche hörten, die auf dem Hof zum Stehen kam. Wir rannten aus der Werkstatt, um sie uns anzusehen. Mit einem ahnungsvollen Schaudern ergriff ich Annes Hand.