Falkenschwur - Peter Ransley - E-Book

Falkenschwur E-Book

Peter Ransley

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Beschreibung

Als »Pestkind« verstoßen, vom Vater verleugnet, vom Schicksal belohnt – Findelkind und Emporkömmling Tom Neave auf der Suche nach seinem wahren Platz im Leben England 1647. Der Bürgerkrieg ist zugunsten des Parlaments entschieden, aber es kann nicht ohne König Charles I. regieren. Tom Neave, ehemaliger Flugblattschreiber und mittlerweile von seinem wahren Großvater Lord Stonehouse als rechtmäßiger Erbe anerkannt, hat tapfer in der Armee von Oliver Cromwell gekämpft und ist nach wie vor glühender Anhänger des Parlaments. Aber sein Vater Richard ist ein Königstreuer und taucht plötzlich bei Tom auf mit der Bitte, ihm zu helfen. Tom, der sich mittlerweile zum Major hochgearbeitet hat, ist hin- und hergerissen zwischen Vaterliebe und seiner Loyalität zum Parlament. Und er hat auf die alles entscheidende Frage noch immer keine Antwort: Kann er seinem eigenen Vater, der ihn jahrelang verleugnet hat, wirklich trauen? »Peter Ransley versteht es perfekt, dramatische historische Fakten in eine packende Geschichte einzuweben, und spielt in der gleichen Liga wie C. J. Sansom.« Spectator

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Peter Ransley

Falkenschwur

Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel«

Aus dem Englischen von Maria Poets

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Finlay [...]KarteTeil I Ein silberner Löffel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelTeil II Cromwells Segen11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. KapitelTeil III Without29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelTeil IV Die Unterschrift37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelHistorische NotizDank

Für Finlay

Teil IEin silberner Löffel

Frühling 1647

1. Kapitel

Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Dieser Februarmorgen des Jahres 1647 war der kälteste und trostloseste des ganzen Winters, doch für den Soldaten Scogman würde er noch kälter und trostloser werden, wenn ich ihm sagte, dass man ihn hängen würde.

An den meisten Tagen wachte ich morgens auf und wusste genau, wer ich war: Major Thomas Stonehouse, Erbe des bedeutenden Landsitzes Highpoint in der Nähe von Oxford, sofern man meinem Großvater, Lord Stonehouse, glauben konnte. Jetzt, wo der Bürgerkrieg vorüber war, wachte ich gelegentlich auf und war im ersten Moment Tom Neave, der ehemalige Bastard, der Eindringling und niederträchtige Flugblattschreiber.

An diesem Morgen war ich als Tom Neave aufgewacht.

Ich hätte es Sergeant Potter überlassen können, Scogman die Nachricht zu überbringen, aber Potter hätte es genossen: Er hätte Scogman verhöhnt und ihn im Ungewissen gelassen. Ich würde es ihm zumindest ohne Umschweife sagen.

Mein Regiment war auf einem Bauernhof nahe Dutton’s End in Essex einquartiert. Er gehörte zu einem Besitz, den das Parlament von einem aus dem Land geflohenen Royalisten requiriert hatte. Der Wasserkübel draußen war zugefroren. Der Hund öffnete ein Auge, ehe er sich erneut zu einer Kugel zusammenrollte. Gefrorenes Stroh auf dem Hof brach unter meinen Stiefeln wie Eiszapfen. Eine Krähe schien kaum fähig, die Flügel zu bewegen, als sie über die Zelte der Soldaten schwebte.

In den Schuppen, in denen auch die Pferde untergebracht waren, schnarchten weitere Soldaten in ihren roten Uniformen. Wir waren eine Kavallerieeinheit, die Rechtfertigung dafür, Cromwells New Model Army sowohl neu als auch ein Modell für die Zukunft zu nennen. Während die Fußsoldaten zum Dienst gezwungen wurden und desertierten, sobald man ihnen den Rücken kehrte, bestand die Kavallerie aus Freiwilligen. Die Männer waren Söhne von Freisassen oder Kaufleuten, denen Disziplin schon von ihren Gilden und Zünften her vertraut war. Sie waren nicht allein der besseren Bezahlung wegen zur Kavallerie gegangen – oder wegen des Pferdes, das ihr Gepäck trug –, sondern weil sie gottesfürchtig waren und an das Parlament glaubten.

Außer Scogman.

Ich erreichte den Bretterverschlag, der dem Lager als provisorisches Gefängnis diente. Halb hoffte ich, Scogman sei geflohen, doch das Vorhängeschloss war noch intakt, und die Wache schlief in Decken gehüllt neben der Tür.

Ein frei umherstreifender Scogman wäre allerdings noch übler gewesen. Das Landvolk würde in Harnisch geraten. Die Dorfbewohner hatten uns schon gegrollt, als wir uns noch im Krieg befanden. Jetzt, da die Kämpfe vorüber und wir immer noch hier waren, hassten sie uns.

Sechs Monate waren vergangen, seit die Royalisten in der Schlacht von Naseby geschlagen worden waren. Seitdem befand sich der König in den Händen der Schotten. Eigentlich standen wir auf derselben Seite – aber die Schotten würden England nicht verlassen, ehe wir sie dafür bezahlten, und es gab Gerüchte, dass sie im Geheimen mit dem König verhandelten. Trotz seiner Blasensteine, seiner Hämorrhoiden und seiner angegriffenen Leber war Lord Stonehouse nach Newcastle gereist, um über die Freilassung des Königs zu verhandeln.

»Wir können nicht mit ihm regieren«, schrieb er mir knapp. »Aber auch nicht ohne ihn.«

Der Wachmann, Kenwick, war der Sohn eines Papierhändlers aus Holborn – ich kannte die Berufe von jedem Einzelnen. Ich stupste ihn sanft mit dem Stiefel an. »Er ist doch noch da, oder?«

Kenwick schoss in die Höhe, wandte sich mit einem Ausdruck des Entsetzens zum Schuppen, als erwarte er, das Vorhängeschloss zerstört und die Tür weit offen zu finden. Er salutierte, fand den Schlüssel und machte seine Verfehlung, im Dienst geschlafen zu haben, dadurch wieder wett, dass er den Kolben seiner Muskete auf ein sich hebendes und senkendes Bündel Stroh in der Ecke niedersausen ließ. Das Bündel stöhnte, rührte sich indes kaum. Kenwick schlug noch einmal zu, heftiger dieses Mal. Das Bündel verfluchte ihn und begann sich zu entfalten. Irgendwie, dachte ich gereizt, schaffte Scogman es selbst in diesem zugigen Verschlag, eine miefige Wärme zu erzeugen, wie sie sonst nirgends im Lager zu finden war.

Ich scheuchte Kenwick beiseite, als Scogman unter Kettengerassel taumelnd auf die Beine kam. Sein Haar hatte dieselbe Farbe wie das dreckige Stroh, aus dem er sich erhob, die gebrochene Nase in seinem engelsgleichen Gesicht verlieh ihm den Ausdruck verletzter Unschuld. Beruf: Hufschmied, obgleich ich manchmal dachte, alles, was er über Pferde wusste, war, wie man sie stahl.

»Steh bequem, Scogman.«

Er rüttelte an seinen eisernen Ketten. »Wenn Ihr diese entfernt, Sir, könnte ich Eurem Befehl folgen. Major Stonehouse. Sir.« Er hob seine gefesselten Hände zu einem unbeholfenen Gruß.

Kenwick unterdrückte ein Grinsen. Ich starrte Scogman kalt an.

Er war etwa in meinem Alter, zweiundzwanzig Jahre, sah aber jünger aus, spindeldürr, obwohl er mit unersättlichem Appetit aß. Scoggy war der Schnorrer des Regiments. Er stahl alles, was nicht niet- und nagelfest war, allein wegen der Herausforderung. Im normalen Leben wäre er schon längst dafür gehängt worden. Doch wenn ein Regiment sich von dem ernähren musste, was das Land hergab, waren Männer wie er Gold wert.

Es brauchte nur jemand auf eine fette Henne zu zeigen, und am Abend stand nicht nur Hühnchen auf der Speisekarte, sondern auch der Topf, in dem es zubereitet wurde, war auf wundersame Weise aufgetaucht. Viele im Regiment schauten weg, bis auf die strikten Presbyterianer wie Sergeant Potter oder Colonel Wallace, aber im Krieg hatten sie gegen Scoggy keine Chance gehabt. In diesem unsicheren Frieden indes hatte das Glück ihn verlassen. Scoggy war dabei erwischt worden, wie er nicht nur Käse stahl, sondern einen silbernen Löffel. Und mehr noch, er hatte ihn von Sir Lewis Challoner gestohlen, dem ortsansässigen Richter.

Ich kaute an meiner leeren Pfeife, klopfte damit gegen meinen Stiefel und räusperte mich. Scogman bemerkte mein Widerstreben, und in seinen Augen tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Ich verfluchte mich dafür, selbst gekommen zu sein. Ich hätte Sergeant Potter schicken sollen. Gleichgültig, wie sehr Potter ihn verhöhnt hätte, irgendwann hätte Scoggy gewusst, dass es keine Hoffnung mehr gab. Ich rang um Worte. Ich hatte wieder den Geschmack des gerösteten Spanferkels auf den Lippen, das Scoggy nach der Schlacht von Naseby irgendwie herbeigezaubert hatte. Selbst Cromwell hatte davon gegessen und den Herrn für diese Speise gepriesen, die für einen großartigen Sieg nur angemessen sei. Cromwell glaubte bis an die Grenze der Naivität an die Tugendhaftigkeit seiner Kavallerie, doch wenn wir sündigten, ließ er keine Gnade walten. Ich musste dem Vorbild meines Mentors folgen.

»Du kennst die Strafe für den Diebstahl von Silber, Scogman?«

»Jawohl, Sir. Darf ich sprechen, Sir?«

»Sprich«, sagte ich argwöhnisch.

»Habe Frau und Kinder in London, Sir. Sie hungern.«

Er wusste, dass ich einen Sohn hatte. Wir hatten oft am Lagerfeuer über Kinder geredet, die wir noch nie oder kaum gesehen hatten. »Du hättest auf deinen Sold warten sollen, wie jeder andere auch.«

»Wir sind drei Monate im Rückstand, Sir. Es heißt, dass sie uns niemals das zahlen werden, was uns zusteht.«

Es stimmte, das Parlament ließ sich Zeit mit der Auszahlung des Soldes, den es den Soldaten schuldete, ebenso wie mit der Bewältigung einer Menge anderer Probleme, wie der Regelung der Straffreiheit und den Invalidenzahlungen. Mittlerweile kamen die Soldaten nur noch über die Runden, indem sie ihre mageren Ersparnisse anbrachen, sich Geld liehen oder stahlen.

»Das ist Unsinn. Natürlich werdet ihr bezahlt. Irgendwann. Du solltest den Gürtel enger schnallen, wie es jeder tut.«

Scogman starrte hinunter auf seinen Gürtel, der eng über der schmalen Taille seiner roten Uniform saß. Erneut unterdrückte Kenwick ein Grinsen. Ich zog den Löffel aus meiner Tasche. Von meinem Atem beschlug das Silber. Es war ein elender Grund, um zu hängen. »Warum in Teufels Namen hast du einen silbernen Löffel gestohlen?«

Er konnte es sich nicht verkneifen. »Weil ich niemals einen in meinem Mund hatte, Sir.«

Kenwick zeigte nicht die Spur eines Lachens, nachdem er meinen Gesichtsausdruck gesehen hatte.

»Du kommst vor den Richter.«

Selbst jetzt glaubte er mir nicht. »Ich würde lieber von Euch verurteilt werden, Sir.«

»Das kann ich mir vorstellen. Vielleicht zeigt Sir Lewis sich nachsichtig. Schließ ihn los, Kenwick.«

Ich wandte mich ab, doch zuvor sah ich noch Scogmans Übermut und sein prahlerisches Gebaren erschlaffen wie eine angestochene Blase. Während die Krähen träge davonflatterten, versuchte ich zu tun, was Cromwell tat, wenn er den Tod eines Mannes befahl. Er betete für seine Seele; es sei nicht sein Befehl, sagte er sich, sondern Gottes Wille. Anschließend öffnete er die gefalteten Hände und widmete sich der nächsten Aufgabe. Über dem dumpfen Zuschlagen der Tür und dem Rasseln der Ketten hörte ich Scogmans Stimme.

»Nachsicht? Sir Lewis Challoner, Sir? Er ist ein Galgenrichter! Major Stonehouse!«

Ich presste die Hände zusammen, doch ich fand keine Worte für ein Gebet.

2. Kapitel

Sir Lewis war zudem Abgeordneter des Parlaments. Er war, wie Lord Stonehouse mir eingeschärft hatte, einer der zugänglicheren Presbyterianer im House of Commons und ein Mann, den ich mir tunlichst zum Freund machen sollte.

Inzwischen gab es zwei Lager im Parlament. Die Presbyterianer waren konservativ, streng religiös und nachgiebiger in ihrer Politik dem König gegenüber. Die Unabhängigen, die von Cromwell angeführt wurden, tolerierten die mannigfaltigen religiösen Sekten, die während des Krieges entstanden waren, wie die Täufer oder Quäker. Sie wollten sicherstellen, dass die absolute Macht des Königs, der das Land in einen fünf Jahre währenden, verheerenden Krieg gestürzt hatte, gebrochen wurde.

So zumindest sah ich die Dinge. Mein brennender Ehrgeiz galt dem Ziel, zu jenen Abgeordneten der Unabhängigen zu gehören, die dieses Bestreben umsetzten. Ich war Cromwells Adjutant, als Lord Stonehouse empfohlen hatte, mich hierherzuschicken, um die Unruhen niederzuschlagen. Er hatte es nicht direkt gesagt, aber ich war sicher, dass es sich um eine Bewährungsprobe handelte – regle die heikle Beziehung zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern, und du bist auf dem besten Weg ins Parlament. Die Angelegenheit war umso wichtiger, da die New Model Army Cromwells Machtbasis darstellte. Wer die Armee in Verruf brachte, brachte Cromwell in Misskredit.

 

Die Neuigkeiten über Scogman machten rasch die Runde. Die Soldaten salutierten, aber sie wichen meinem Blick aus und tuschelten später in den Ecken. Ich zog mich in die Küche des Bauernhofes zurück, wo Daisy, die Küchenmagd, mir Brot, Käse und Dünnbier brachte. Ihre Augen waren gerötet. Sie schniefte und putzte sich mit einem Schürzenzipfel die Nase. Scogman hatte nicht nur Hühner, Schweine und silberne Löffel gestohlen, sondern auch Herzen. Sie fuhr fort, im Feuer herumzustochern, scheuerte einen bereits gescheuerten Topf und schniefte weiter, bis sie sich zu mir umwandte und die Worte aus ihr herausplatzten.

»Es ist meine Schuld, Sir.«

»Deine Schuld, Daisy?«

»Er hat den silbernen Löffel für mich gestohlen, Sir.«

»Warum um Himmels willen sollte er das tun?«

»Es ist, es ist … ein Zeichen der Liebe, Sir.« Sie scheuerte den blitzblanken Topf und wurde so rot wie die Glut. »Ist es wahr, Sir … werdet Ihr Scoggy hängen?«

»Nein, Daisy.« Ihre Miene hellte sich auf. Ich schluckte den Rest Bier herunter. »Er kommt vor den Richter.«

Sie brach in Tränen aus und floh.

Am schlimmsten war Sergeant Potter, der mir gratulierte, weil ich mich dieses teuflischen, diebischen Schurken entledigt hatte. Das würde den anderen gottverdammten Rückfälligen eine Lehre sein! Das Regiment geriete außer Kontrolle, und Dutton’s End sei in Aufruhr. Ob ich die Predigt des Pfarrers gehört hätte, in der er, wie andere Prediger überall in Essex, eine Petition an das Parlament forderte, um die Auflösung der Armee zu erreichen; einer Armee, die sich von einem Segen in einen Fluch verwandelt hatte, in einen Blutegel, der dem Dorf und dem Land den Lebenssaft aussaugte.

Ich zuckte zusammen, als er sagte, er bedaure nur, dass er die Schlinge nicht selbst knüpfen könne, und zog mich in das Nebengebäude zurück, in dem ich mein Dienstzimmer eingerichtet hatte. Ich schrieb den Brief an Sir Lewis, in dem ich Scogman seiner Gerichtsbarkeit überantwortete und ihn um eine Milde bat, von der ich wusste, dass er sie nicht gewähren würde. Ich schickte nach Lieutenant Gage, um den Brief zu überbringen. Doch stattdessen kam Captain Will Ormonde.

Von allen heiklen Situationen in Dutton’s End war ein Zusammentreffen mit Will die schwierigste. Bei den Aufständen für das Parlament hatten wir Seite an Seite gekämpft, jenen Aufständen, die den König aus London vertrieben hatten. Wir hatten in den ersten Schlachten des Krieges zusammen gekämpft. Als Wallace, der Colonel dieses Regiments, krank wurde, hatte Will damit gerechnet, befördert zu werden. Stattdessen hatte man mich geschickt, um vorübergehend das Kommando zu übernehmen. Verbittert glaubte er, dass er wegen Lord Stonehouse übergangen worden war, und damit hatte er recht. Aber nur zum Teil. Er war zu hitzköpfig und zu radikal. Ehe ich hierherkam, hatte er die schwierige Lage nur noch schlimmer gemacht.

Will war Anfang zwanzig, sah jedoch, wie wir alle, älter aus. Er trug sein Haar lang, um das Ohr zu verbergen, das durch einen Säbelhieb verstümmelt worden war.

»Du kannst Scoggy nicht diesem Mistkerl überlassen, Tom. Wir haben alle von seinem Fleisch gegessen.«

»Dieses Mal war es kein Fleisch. Es geht um ein Kapitalverbrechen.«

»Er hat es abgestritten.«

»Will, er wurde bei dem Raub gesehen! Ich habe sein Bündel durchsucht und den Löffel darin gefunden. Ein ums andere Mal hatte ich ihn gewarnt.«

»Ich weiß«, gab er zu. »Aber es ist Scoggy.«

Das war sein bestes Argument. Aber es ist Scoggy. Scoggy war mehr als ein Schnorrer. Ein Dieb. Ein Schürzenjäger. Er war ein Witz am Ende eines Tages voller Verzweiflung. Der Mann, der immer ein Bier auftreiben konnte, dessen Feuerstein trocken war, wenn alle anderen in der Nässe versagten.

Will starrte auf den Brief, den ich geschrieben und versiegelt hatte und Lieutenant Gage übergeben wollte. »Stell ihn hier vor Gericht.«

»Das Parlament will, dass Kapitalverbrechen vor zivilen Gerichten verhandelt werden.«

»Das Parlament.« In seiner Stimme lagen Enttäuschung, Verdrossenheit und Ungeduld.

»Dafür haben wir gekämpft.«

Statt einer Antwort zog er ein Stück Papier hervor. »Hast du das hier gesehen?«

Ich wusste, was es war, ehe er es mir reichte. In Irland gab es eine Rebellion, und die Armee suchte Freiwillige zu gewinnen. Auf dem Papier waren alle Männer des Regiments gelistet, aber nur wenige Namen angekreuzt. Es waren entwurzelte Männer wie Bennet, ein Waffenschmied, der Gefallen am Krieg gefunden hatte und der beste Scharfschütze des Regiments war. Nach Irland zu ziehen war das Letzte, was die überwiegende Mehrheit wollte. Mehr als alles andere wollten sie dasselbe wie ich – nach Hause gehen.

»Die Männer glauben, sie bekämen ihren Sold nicht, wenn sie sich weigern, nach Irland zu gehen.«

»Das ist Unsinn.«

»Potter sagt, es stimmt.«

»Ich werde mit ihm reden.« Ich nahm den Brief.

»Tom. Wenn du diesen Brief an Sir Lewis schickst, werden die Soldaten rebellieren.«

Plötzlich war mein Mund wie ausgedörrt. Ich stand auf, öffnete die Tür und rief nach Lieutenant Gage. Ich wartete, bis ich sicher war, dass ich meine Stimme unter Kontrolle hatte. »Es wird keinen Aufstand geben, Will. Du bist dafür verantwortlich, dass es ruhig bleibt.«

Er hatte die Fäuste geballt, sein Gesicht war leicht gerötet. Ich sah Lieutenant Gage näher kommen. Will hob seine Hand, um zu salutieren, und blaffte: »Sehr wohl, Sir.« Auf seinem Weg nach draußen rannte er Gage beinahe über den Haufen. Ich reichte Gage den Brief mit der Anweisung, ihn sofort zu überbringen.

Kurz darauf hörte ich auf zu zittern.

 

Nicht weit von dem Verschlag entfernt, in dem Scogman festgehalten wurde, verlief ein von hohen Hecken gesäumter Weg. Er wand sich vom Lager fort nach Dutton’s End, und ich hoffte, dass sich, wenn der Büttel Scogman auf dieser Route fortbringen würde, jegliche Störung auf ein Minimum reduzieren ließe. Womit ich absolut nicht gerechnet hatte, war, dass Sir Lewis Challoner persönlich auftauchen würde, um seine Beute abzuholen.

Am Anfang des Krieges war er Royalist gewesen, doch als er merkte, woher der Wind wehte, hatte er die Seiten gewechselt und dem Parlament ein dringend benötigtes Geschütz zur Verfügung gestellt. Gefolgt von seinem Büttel Stalker ritt er auf den Hof der Bauernstelle. Er sah aus, als hätte er gut zu Mittag gegessen, Fett glitzerte an seinem Doppelkinn, als er leutselig von seinem Pferd auf mich herablächelte.

»Nun denn, Major. Wir kehren also zu den Regeln des Gesetzes zurück, was?«

»Wir haben sie nie verlassen, Sir Lewis«, sagte ich und erwiderte sein Lächeln.

Irgendwo in der Nähe klatschte jemand Beifall, und das Lächeln verschwand von Sir Lewis’ Gesicht. Aus dem Schuppen und aus den Ställen waren Soldaten aufgetaucht. Daisy stand am Küchenfenster und tupfte sich das Gesicht mit der Schürze ab. Bennet, der Scharfschütze, reinigte seine Muskete. Der Hund, der ihn beim Wildern begleitete, lag ihm zu Füßen.

Ich konnte den Wein in Sir Lewis’ Atem riechen, als ich näher an ihn herantrat. »Am besten erledigt Ihr die Sache so rasch und ruhig wie möglich.«

Er bedachte mich mit einem feisten, unschuldigen Lächeln. »Ihr habt Eure Männer doch unter Kontrolle, oder, Major?«

»Ihr provoziert sie, Sir Lewis«, erwiderte ich kühl. »Das verbitte ich mir. Wenn Ihr ihn wollt, nehmt ihn mit.«

Finster starrte er zu mir herab. »Auch gut. Holt den Verbrecher, Stalker.«

Stalker lächelte nicht. Er war ein frommer Puritaner und schenkte den Soldaten einen düsteren, aber zufriedenen Blick, als hätte die Welt, die eine Weile kopfgestanden hatte, sich wieder in ihre angestammte Position begeben und er wieder die Kontrolle übernommen. Er nickte mehreren von ihnen zu, als wollte er sagen: Ich kenne dich. Du hast einen Schinken gestohlen. Und du hast Unzucht getrieben. Sie bekommt ein Kind. Keine Sorge. Ich habe euch alle auf meiner Liste. Einige der Männer schlichen unter seinem Blick davon. Andere murrten. Nur Bennet erwiderte seinen Blick interessiert und tätschelte den knurrenden Hund.

Ich holte mein Pferd und führte die beiden über die Felder. Sir Lewis schien immer noch ganz begierig darauf, einen Streit vom Zaun zu brechen. Er deutete mit dem Daumen zurück zu den Soldaten. »Ich glaube, einige dieser Burschen sind der Meinung, die höchste Macht läge weder beim König noch bei den Gemeinden, sondern beim Volk.«

Ich schüttelte den Kopf. »In einer Londoner Bierschenke denkt man vielleicht so. Aber nicht hier.«

Seine blassen Augen wurden schmal. »Tatsächlich?«

»Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für Politik, Sir Lewis. Sie wollen lediglich den Sold ausbezahlt bekommen, den man ihnen schuldet, wollen nach Hause zu ihren Familien gehen, arbeiten und dem Land nicht länger zur Last fallen.«

»Es sind Heiden«, sagte Stalker. »Sie erklären sich selbst zu Predigern. Verbreiten falsche Glaubenslehren.«

»Sie beten nur deswegen hier, Mr Stalker, weil Ihr ihnen den Zutritt zu Eurer Kirche verwehrt.«

»Weil sie Gesindel sind, Sir.«

»Sie predigen selbst, weil sie keinen Pfarrer haben. Ist es nicht besser, sie versuchen, auf diese Weise zu Gott zu finden, als wenn sie es überhaupt nicht versuchten?«

Sir Lewis schürzte die Lippen. »Es ist gefährlich, Sir, gefährlich.« Doch der Anblick von Scogman in Ketten, der gerade von Sergeant Potter zusammengeschnürt auf einen Karren geworfen wurde, besänftigte ihn. Stalker ritt zu ihnen, und Sir Lewis taute sogar so weit auf, dass er sagte, er verstehe, warum Lord Stonehouse einem so jungen Mann so ungewöhnlich großes Vertrauen entgegenbringe. Er zwinkerte mir zu und begann dann, von der Schönheit der Landschaft um uns herum zu schwärmen. Das Land war vernachlässigt, aber der Boden war fett und gut bewässert. Er zwinkerte mir ein zweites Mal zu, schlug mir auf den Rücken und sagte, vielleicht könnten wir uns einmal wiedertreffen und übers Land reden. Ich war einigermaßen verwirrt von diesem abrupten Stimmungsumschwung, schob es indes auf den Wein zum Mittag und – vielleicht ein wenig – auf meine Diplomatie.

»Meine Empfehlung an Lord Stonehouse«, sagte er und tat, als wollte er aufbrechen.

Ich wandte mich ab und rechnete damit, dass Sir Lewis und Stalker ohne Umstände losreiten und den Karren samt dem Gefangenen den Hohlweg entlang eskortieren würden, um den Soldaten nicht zu begegnen. Doch dann hörte ich Scogman vor Schmerz aufschreien.

Ich ritt zurück und sah, dass der Karren am Anfang des Weges angehalten hatte. Stalker und Sergeant Potter hievten Scogman herunter und zogen gerade ein Seil durch seine Ketten, um es an Stalkers Sattel zu befestigen. Ich eilte zu ihnen.

»Sir Lewis, zeigt Erbarmen und lasst ihn auf dem Karren! Ihr werdet meine Soldaten reizen!«

Er sah mich erstaunt an, doch seine bebenden Wangen straften ihn Lügen. »Die New Model Army? Das ist doch ein Vorbild an Disziplin, oder nicht, Major?«

Scogman riss sich los, stolperte und fiel. Seine Kniehosen waren zerrissen, und dort, wo sich die Ketten ins Fleisch geschnitten hatten, bluteten seine Beine.

»Lasst ihn los. Ihr nehmt ihn im Karren mit oder gar nicht.« Nur mit Mühe gelang es mir, meine Stimme ruhig klingen zu lassen.

Stalker zögerte. Sir Lewis hob den Kopf. Als er mir einen Blick von unnachgiebiger Feindseligkeit zuwarf, begriff ich, warum man ihn einen Galgenrichter nannte. Doch seine Stimme blieb freundlich, sogar jovial, als er den Brief hervorholte, den ich ihm geschickt hatte.

»Ist das nicht Eure Unterschrift, Sir? Euer Siegel? Ihr habt mir den Mann überlassen, und ich behandle ihn, wie ich will. Ich wünsche Euch einen guten Tag, Sir. Mach weiter, Stalker! Worauf wartest du, Mann?«

Stalker riss Scogman mit einem Ruck zu seinem Pferd und band das Seil am Sattel fest. Ich stand machtlos daneben. Was für ein einfältiger, naiver Dummkopf ich war, zu glauben, ein Mann wie Challoner sei jemals geneigt, Zugeständnisse zu machen. Er wollte seinen Gefangenen durch den Ort zerren, um seine Macht zu demonstrieren. Man würde Scogman mit Steinen, verrottetem Gemüse und Scheiße bewerfen. Er konnte von Glück sagen, wenn er es lebendig ins Gefängnis schaffte.

Diplomatie? Statt die Gräben zwischen der Bevölkerung und den Soldaten überwinden zu helfen, würde Scogmans Auslieferung diese nur noch vertiefen.

Zumindest hatte Gott, der mich ewig hoffend geschaffen hatte – oder unendlich naiv –, mich auch mit einem raschen Verstand gesegnet, der mir aus der Klemme, in die ich mich selbst hineinmanövriert hatte, wieder heraushelfen musste. Oder vielleicht war es auch, wie manche seit meiner Geburt behaupteten, nicht Gott gewesen, sondern der Teufel.

Und in der Klemme steckte ich wahrhaftig. Krähen erhoben sich flatternd, als die Soldaten, aufgeschreckt von Scogmans Gebrüll, von der Bauernstelle herbeirannten. Will hielt sie halbherzig zurück, aber ich sah den Lauf einer Muskete durch die Hecke ragen. Stalker ritt langsam, Scogman stolperte hinterher und geriet beinahe unter die Hufe von Challoners nachfolgendem Pferd. Als sie die Soldaten erblickten, trieb Stalker sein Pferd zum Trab an. Scogman stolperte und fiel. Er gab keinen Ton von sich, als er aus dem Graben auf den Weg und wieder zurück in den Graben geschleift wurde. Vielleicht wollte er vor seinen Kameraden nicht laut schreien. Wahrscheinlicher war indes, dass er kaum mehr bei Bewusstsein war.

Ich schob mich durch die Hecke, konnte den Musketier jedoch nicht sehen. Es musste Bennet sein. Wenn er es war, war Sir Lewis so gut wie tot. Dann hätten wir es nicht länger mit einer kleinen Unruhe zu tun, sondern mit einer handfesten Krise, die von der presbyterianischen Mehrheit im Parlament gegen Cromwell ausgeschlachtet werden würde. Ich hörte das Klicken des Steinschlosses, mit dem der Abzug gespannt wurde.

»Wartet!«, rief ich Sir Lewis zu. »Ihr habt das Beweisstück vergessen!«

Ich zog den Löffel aus meiner Tasche. Den lächerlich aussehenden, leicht verbogenen Löffel. Das Leben eines Mannes. Sir Lewis, der an seinem Gericht größten Wert auf Korrektheit legte, zügelte sein Pferd.

»Steigt von Eurem Pferd, wenn Ihr nicht erschossen werden wollt«, sagte ich.

»Fahrt zur Hölle.«

»Steigt ab, Mann, oder ich kann nicht für Euer Leben garantieren.«

Er sah den Musketenlauf. Er hatte Mut, das musste ich ihm lassen. Er versuchte weiterzureiten, die Vorderhufe waren einen Zoll von Scogmans Gesicht entfernt, doch im selben Moment schnappte ich mir die Zügel seines Pferdes, und Stalker, der die Muskete ebenfalls entdeckt hatte, glitt aus dem Sattel. Sir Lewis schwankte und fiel schwerfällig zu Boden. Die Soldaten, die zusahen, jubelten, bis Will sie zum Schweigen brachte.

Ich versuchte, Sir Lewis aufzuhelfen, doch er stieß mich fort. Die Lippen und Wangen bebten, und sein Gesicht war vor Wut so puterrot, dass ich meinte, ihn hätte der Schlag getroffen. Ich entschuldigte mich bei ihm und sagte, ich glaubte, es sei ein Fehler gemacht worden.

Einen Moment lang schien er seiner Stimme nicht zu trauen. Doch allmählich nahm sein Gesicht wieder seine übliche blassrote Farbe an, und er fand die frostige Stimme wieder, die er im Gerichtssaal einsetzte. »Ein Fehler! Sir, Ihr habt den Fehler Eures Lebens gemacht! Ich werde Euch in dieselbe Zelle werfen lassen wie ihn.« Er deutete auf Scogman, der langsam wieder zu sich kam und verwirrt zu uns aufblickte.

»Möglicherweise hat er gar kein Kapitalverbrechen begangen.«

»Möglicherweise …? Kein Kapital …? Er hat Silber gestohlen, Sir!«

»Blake!«, schrie ich über das Feld. »Wo ist Soldat Blake?«

Blake schob sich durch die Reihe der Soldaten, die sich mittlerweile auf dem Weg vor uns aufgebaut hatten. Er war ein merkwürdiger Mann, vorzeitig kahl geworden und mit einem leichten Buckel, doch die Männer respektierten ihn, weil er fast alles reparieren konnte, von einem undichten Topf bis zu einem kaputten Steinschloss.

»Beruf?«, sagte ich.

»Silberschmied, Sir«, sagte Blake und salutierte. »Mitglied der Goldschmiedezunft in London.«

Er richtete sich auf, sein Buckel verschwand beinahe, und die Augen funkelten vor Stolz. Dieser Stolz begann sich nach und nach in vielen der trotzigen, streitlustigen Gesichter um ihn herum widerzuspiegeln. Diese Männer hatten ihr Handwerk beinahe vergessen, ihr anderes Leben, und sie fragten sich in diesem Fegefeuer des Wartens, ob sie jemals dorthin zurückkehren würden. Jetzt begannen sie zu grinsen, als ich Blake den Löffel reichte.

»Was meinst du, was das ist, Blake?«

»Ein … es ist ein Löffel, Sir.«

Die Männer lachten dröhnend, bis Sergeant Potter sie mehr schlecht als recht zum Schweigen brachte.

»Nein, Mann! Ich meine, ist er aus Silber?«

Challoner fauchte mich an, sagte, ich würde Ausflüchte machen, gleichwohl sah er zu, wie Blake in den Löffel biss, ihn polierte und verbog. Schließlich spähte er kurzsichtig auf den Leopardenkopf auf der Rückseite des Griffs. Es herrschte vollkommene Stille, bis auf das Rasseln der Ketten, als Scogman taumelnd auf die Füße kam. Blake schien allein darauf bedacht, ein möglichst ehrliches und exaktes Urteil zu fällen, gleichgültig, ob das Leben eines Mannes davon abhing.

»Mm. Schwer zu sagen, Sir.«

»Deine Meinung, Mann!«

Mein scharfer Unterton entging Blake nicht, und langsam dämmerte ihm, dass ich von ihm verlangte, als Handwerker einen Meineid zu schwören. »Nun … der Kopf des Leoparden ist sehr grob gearbeitet … Ich würde sagen, es ist eine Fälschung.«

Jemand hielt Scogman fest, der zusammenzubrechen drohte. Challoner versuchte, sich den Silberlöffel zu schnappen, ehe er wieder in meiner Tasche verschwand. »Gebt ihn mir! Ich werde ihn prüfen lassen!«

»Lieutenant Gage!«, rief ich.

Gage schaltete wesentlich schneller als Blake. Er trat vor mein improvisiertes Gericht und erklärte, er sei von der Anwaltskammer Gray’s Inn, womit er den Eindruck erweckte, ein Advokat zu sein anstelle des Schreibers, der er war. Blake schätzte den Wert des Löffels auf ein paar Pence. Diebstähle über einem Schilling wurden mit dem Galgen bestraft. Ob ein Soldat für geringere Vergehen von der Armee oder einem zivilen Gericht bestraft wurde, war nicht klar geregelt. Ich teilte Challoner mit, dass ich Scogman selbst bestrafen würde. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits außer sich vor Wut.

»Gerechtigkeit? Das nennt Ihr die Gerechtigkeit nach neuem Vorbild? Ich werde Euch Gerechtigkeit verschaffen!«

Auf der einen Seite hatte ich Challoner, der mir drohte. Auf der anderen die grinsenden Soldaten und Will, der mir zuflüsterte, ich hätte salomonische Weisheit bewiesen. Ich ertrug weder das eine noch das andere. Ich war so töricht gewesen mir auszumalen, wie meine Diplomatie beide Seiten einander näherbrachte. Doch jetzt waren sie einander so fern, dass es zwischen dem Dorf und den Soldaten zum offenen Krieg kommen würde. Kalter, heftiger Zorn erfüllte mich. Stalker half Challoner zurück auf sein Pferd, als ich ihn aufhielt.

»Gerechtigkeit? Ich werde Euch zeigen, was Gerechtigkeit ist!«

Ich schnappte mir die Peitsche von Stalkers Sattel und befahl Sergeant Potter, Scogmans Ketten zu lösen.

»Zieh ihn aus!«

Es gab nicht viel auszuziehen. Seine Kniehosen hingen in Fetzen herunter, nachdem er über den Boden geschleift worden war, und sein Wams war entzweigerissen. Das helle Haar war vom Blut dunkel und verfilzt, und an den Hand- und Fußgelenken hatte er starke Schwellungen. Er taumelte wie betrunken, als Sergeant Potter ihn mit gespreizten Beinen an einen Zaun drückte. Aber er grinste seinen Kameraden zu, und als er Daisy am Rand der Menge erblickte, wackelte er mit seinem Gemächt in ihre Richtung. Jubel kam auf, als sie sich ins Bauernhaus flüchtete.

Challoner sah von seinem Pferd aus zu, sein verzogener Mund verriet, dass er dies ebenso für Theater hielt wie die Begutachtung des Löffels.

Ich warf die Peitsche Bennet zu, dem Mann, der meiner Ansicht nach die mittlerweile verschwundene Muskete gehalten hatte. »Zwanzig Hiebe.«

Bei aller Großspurigkeit hätte Scogman sich ohne die Seile, mit denen seine Hände an den Zaun gebunden waren, kaum auf den Beinen halten können. Seine Knie knickten ein. Blut sickerte aus einer frischen Kopfwunde und lief ihm langsam über den Rücken. Ben, der Wundarzt, machte einen Schritt auf mich zu, wandte sich indes ab, als er mein Gesicht sah. Er kannte diese Stimmung bei mir.

Bennet ließ die Peitsche durch seine Finger gleiten. Er überprüfte seinen Stand. Die Menge verstummte. Die Peitsche knallte. Scogman zuckte und kniff die Augen zusammen, obwohl die Peitsche seine Haut kaum berührt hatte. Bennets angeborener Hang zur Gewalt wurde durch das Wissen in Schach gehalten, dass seine Kameraden zusahen. Vielleicht zog er stattdessen ein perverses Vergnügen daraus, Stalker und Challoner zu verhöhnen, indem er Scogman nicht bis aufs Blut peitschte. Die Peitsche knallte erneut, ohne großen Schaden anzurichten. Scogman spielte mit und zuckte und krümmte sich theatralisch.

Voller Verachtung und Abscheu wendete Challoner sein Pferd.

Ich riss Bennet die Peitsche aus der Hand und ließ sie ungeschickt auf Scogmans Rücken niedersausen. Er stieß einen erstaunten Schrei aus und verstummte dann. Ich wollte ihn schreien hören, brüllen, doch während er für Bennet gespielt hatte, tat er mir den Gefallen nicht. Nach dem ersten blutigen Streich verschwanden die Gesichter der Zuschauer, und ich sah und hörte nichts mehr, bis jemand mich am Arm packte. Ben. Verständnislos starrte ich ihn an, dann die Peitsche, dann das, was ich zuerst für ein rohes Stück Fleisch hielt. Ben zog mich fort. Ich konnte gerade noch das Erbrochene herunterschlucken, das in meiner Kehle aufstieg.

Ich schleuderte Challoner die Peitsche entgegen.

»Zufrieden?«

3. Kapitel

Während der nächsten Tage bedrängte Challoner mich unablässig, ihm Scogman auszuliefern, doch ich weigerte mich. Ben erklärte mir, dass er vermutlich nicht mehr lange leben würde. Das mindeste, was ich für ihn tun konnte, war, ihn unter Daisys Obhut sterben zu lassen, denn solange auch nur ein Fünkchen Leben in ihm war, würde Challoner ihn gewisslich aufhängen.

Ben wollte mir Entschlackungsmittel geben, sagte, meine Körpersäfte seien ernstlich aus dem Gleichgewicht, aber ich wollte nichts davon wissen. Ich erhielt einen kurzen Brief von Lord Stonehouse aus Newcastle, in dem er mich nach Hause beorderte. Colonel Wallace sei wieder genesen und würde zu seinem Regiment zurückkehren.

Ich ritt allein von Essex nach London. Die Landschaft wirkte nackt, auf vielen Feldern wucherte das Unkraut, während die Straßen nach den ganzen Truppenbewegungen aussahen, als sei ein gigantischer Pflug darüber hinweggegangen. In einer Welt, die kopfstand, blieben nicht einmal die Jahreszeiten verschont. Der Frühling kam nicht nur spät, es sah aus, als würde er niemals kommen. Als die Royalisten Newcastle blockiert hatten, damit keine Kohlenschiffe London erreichen konnten, waren die meisten Bäume gefällt worden, um Feuerholz zu gewinnen.

Alles, was ich vor Augen hatte, waren Scogmans roher, blutiger Rücken und die mürrischen, verbitterten Gesichter meiner Männer. Nein – es waren nicht länger meine Männer. Ich hatte sie verloren. Ich hatte mich selbst verloren. Als ich London erreichte, hatte diese Erinnerung mich in vollkommene Dunkelheit gestürzt. Meine Frau Anne kannte diese Stimmung, diese sonderbare Düsterkeit, die mich überkam, und sah sie in meinem Gesicht, als ich von meinem Pferd halbwegs in ihre Arme fiel. Ihre Umarmung war heilsamer als jede Arznei und merzte die Erinnerung an den blutigen Rücken bald aus.

Tagelang schlief ich oder wanderte durch den Garten unseres Hauses in der Drury Lane, in dem Anne mit ihrem grünen Daumen einen Apfelbaum gepflanzt hatte. Der Apfelbaum im Half Moon Court, unter dem wir als Kinder gespielt und später unseren ersten Kuss getauscht hatten, war im letzten bitteren Kriegswinter gefällt worden. Ich ertastete die ersten, schwellenden Knospen des jungen Baumes. Sie waren noch dunkel und warteten auf die wärmende Sonne. Irgendwann würde es in diesem kleinen Garten Frühling werden, und vielleicht trug der Baum dieses Jahr zum ersten Mal Früchte.

Cromwell lebte in derselben Straße, und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, um ihn zu besuchen. Doch man sagte mir, er sei krank, eine Eiterbeule am Kopf, die nicht abschwellen wollte. Die Nachricht ließ mich noch mehr verzweifeln.

»Ihr seid nicht Ihr selbst, Sir«, sagte Jane, die Haushälterin.

Ich versuchte, ihre Worte mit einem Lachen beiseitezuwischen. »Genau, Jane! Ich bin nicht ich selbst. Ich muss mich finden! Wo bin ich?«

Gehörte ich zu den mürrischen, verbitterten Männern der Armee, oder gehörte ich zu Leuten wie Challoner, könnte ich überhaupt jemals zu ihnen gehören?

»Wo bin ich?«, sagte ich zu meinem Sohn Luke, der, als ich ankam, staunend diesen fremden Mann angestarrt hatte, der vom Pferd herab seiner Mutter in die Arme gefallen war. »Bin ich unter dem Stuhl, Luke? Nein! Unter dem Tisch?«

Luke rannte zu Jane und verbarg sein Gesicht in ihren Röcken. »Aber, Sir!«, lachte sie. »Tom ist Euer Vater!«

»Va… ter?«

Es bekümmerte mich, dass ich mein halbes Leben damit zugebracht hatte, herauszufinden, wer mein Vater war, und Luke seinen jetzt nicht erkannte. Er hatte dunkle Locken, in denen ich meinte, einen Hauch von Rot zu entdecken, und die typische Stonehouse-Nase. In meinen Tagen als Teil des Pöbels hatte ich sie eine Hakennase genannt, doch für Lord Stonehouse war es eine Adlernase. Obwohl Lukes Urgroßvater ganz vernarrt in ihn war, behandelte er den Jungen mit äußerster Strenge. Vielleicht rannte Luke deswegen so oft zu ihm, genau wie zu Adam, dem Stallburschen, der mit abgekauten Fingernägeln auf ihn zielte und ihm befahl, sich von seinen Pferden fernzuhalten, andernfalls würde er nicht für die Folgen geradestehen. Dann rannte Luke schreiend davon, kam gleich darauf geduckt wieder angeschlichen, um erneut den drohenden Finger auf sich gerichtet zu sehen, ehe Adam sich schließlich das schreiende Kind schnappte und es in den Sattel setzte. Ich empfand einen schmerzlichen Stich, weil er solcherlei Spiele nicht mit mir spielen würde, und ging hinauf ins Kinderzimmer, um nach meiner Tochter Elizabeth zu sehen.

Sie war ein paar Monate alt. Anne war bitter enttäuscht gewesen, weil es kein Junge war. Es verging kaum eine Woche, in der nicht mindestens ein Kind in unserer alten Kirche von St. Mark’s zu Grabe getragen wurde, und Anne wollte so viele männliche Erben wie möglich, um Lord Stonehouse’ Versprechen zu untermauern, dass er mich zu seinem Erben machen wollte.

Lord Stonehouse’ ältester Sohn Richard war zu den Royalisten übergelaufen, und als Lord Stonehouse mich offiziell zu seinem Erben ernannt hatte, hatte ich törichterweise gehofft, es sei allein mein Verdienst gewesen. Womöglich hatte ich tatsächlich einen gewissen Anteil daran, aber vor allem hatte er sich zu diesem Schritt entschlossen, weil herausgekommen war, dass er Richard zur Flucht nach Frankreich verholfen hatte. Indem er mich zu seinem Erben machte, rettete Lord Stonehouse nicht nur seine Haut, sondern war zudem in der Lage, weiterhin auf beide Pferde zu setzen: Wer immer den Sieg davontrüge, ihm ging es einzig und allein um Erhalt und Ausbau seines prachtvollen Landbesitzes Highpoint und darum, dem Namen Stonehouse einen Platz im Zentrum der Macht zu sichern.

Elizabeth, die kleine Liz, sah nicht aus wie eine Stonehouse. In meiner gegenwärtigen rebellischen Stimmung war sie meine heimliche Verbündete. Oder war sie eine Waffe?

»Liz Neave«, flüsterte ich ihr zu und gab ihr jenen Namen, mit dem ich aufgewachsen war, als ich noch ein Lumpenkerl aus Poplar war, der nichts von den Stonehouse wusste. Sie hatte hier und da ein paar Haarbüschel, immer noch schwarz, doch ich bildete mir ein, es hätte einen rötlichen Schimmer. Ihre Nase war keine Adlernase, auch keine Hakennase, sondern ein niedlicher, kleiner Stups. Anne nannte sie aufsässig, aber ihr Geschrei erinnerte mich an meine eigene Wildheit.

Wenn ich meinen Finger ausstreckte, hörte sie auf zu brüllen und umklammerte ihn so fest mit der Hand, dass ich lachen musste. Ihre Lippen, auf denen sich kleine Speichelbläschen bildeten, formten sich zu ihrem ersten Lächeln. Ich hob sie hoch, drückte sie an mich und küsste sie. Aufsässig? Sie war nicht aufsässig! Ich schaukelte sie in meinen Armen, bis sie einschlief.

Ich ging in unsere alte Kirche, St. Mark’s, um mit dem Pfarrer, Mr Tooley, über Liz’ Taufe zu sprechen. Anne wünschte sich eine altmodische Zeremonie, mit Wasser aus dem Taufbecken, an dem auch sie getauft worden war, und mit Paten. Mr Tooley hielt immer noch solche Taufen ab, obwohl die Presbyterianer den Druck auf die Kirche verstärkten und beide Traditionen missbilligten.

Die Kirche war leer, bis auf einen alten Mann in der ersten Reihe, die zitternden Hände gefaltet und versunken in irgendeinen persönlichem Kummer. Die vertraute Kirchenbank entlockte mir das erste Gebet seit langem. Ich fürchtete, Scogman sei tot. Ich betete um Vergebung für mein bösartiges Naturell. Für Scogmans Seele. Er war ein Dieb, aber er hatte ebenso für andere gestohlen wie für sich selbst – wenn nicht sogar mehr für andere. Es gab so viel Gutes in ihm, er war freundlich und heiterte andere auf. Als ich das Gebet beendete, war er beinahe ein Heiliger, und ich war die Inkarnation des Teufels. Mir kam eine Gedanke. Ich beschloss, Scogmans Frau und Kinder aufzusuchen und für sie zu tun, was ich konnte. Ich schwor, nie wieder zuzulassen, dass mein düsterer Zorn mich übermannte.

Der Mann erhob sich zur gleichen Zeit wie ich. Es war mein alter Master Mr Black, Annes Vater. Nie zuvor hatte ich Tränen in seinen Augen gesehen. Als er mich erblickte, wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

»Tom … Mylord …«

Ich trug einen schwarzen, samtenen, mit Silber eingefassten Umhang. Mein Kurzschwert hatte einen silbernen Knauf, und ich trug meinen liebsten Federhut verwegen schräg.

»Nein, nein, Master … ich bin noch kein Lord … und für Euch immer Tom.«

Ich umarmte ihn und fragte ihn, was los sei. Er erzählte mir, dass er womöglich vom Tisch des Herrn verstoßen werden würde.

»Man will Euch aus der Kirche werfen? Warum?«

Er berichtete, dass die Presbyterianer einen Laien-Ältestenrat ins Leben gerufen hatten. Der bösartigste dieser Ältesten, der verdrießlich die moralische Disziplin in der Gemeinde überwachte, war niemand anders als Mr Blacks ehemaliger Druckergeselle, mein alter Feind Gloomy George.

Ich konnte es nicht fassen. Wir hatten einen langen, blutigen Krieg für Freiheit und Toleranz geführt, und am Ende hatten wir nichts gewonnen als Gloomy George? Ich musste lachen angesichts dieser Absurdität, doch ich hielt inne, als ich sah, in welcher Not Mr Black sich befand. Der Mr Black, den ich kannte, hätte in mein Lachen eingestimmt, doch dieser hier zitterte vor Bestürzung so sehr, dass ich ihn nötigte, sich zu setzen.

Mir fiel auf, wie die Kirche sich verändert hatte. Mr Tooley hatte ein paar Bilder gestattet, darunter ein Gemälde der Dreifaltigkeit, weil sie den alten Gemeindemitgliedern Trost spendeten. Doch jetzt war die Kirche so schmucklos und kahl, dass selbst das Licht sich zu fürchten schien und draußen blieb. Früher, so sagte Mr Black, habe Mr Tooley streng gepredigt, gleichwohl ging man mit dem Gefühl der Dankbarkeit für das, was man hatte. Jetzt, wo ihm die Presbyterianer im Nacken saßen, zählte man nach den Predigten nur noch seine Sünden.

»Aber welche Sünden könnte er bei Euch finden?«, rief ich.

»Nehemiah.«

»Euer Lehrjunge? Er ist genauso fromm wie Ihr.«

»Sogar noch mehr. Aber er ist Täufer geworden und weigert sich, hierherzukommen.«

»Wenn er sich Euch verweigert, hat er seinen Vertrag gebrochen. Ihr könntet ihn entlassen.«

In Mr Blacks wässrigen Augen blitzte ein Rest seines alten Feuers auf. »Er ist ein guter Lehrjunge. Und er ist fromm. Ich werde keinen Mann wegen seines Glaubens auf die Straße setzen.«

Schweigend blieben wir eine Weile sitzen. Er starrte auf die nackte Wand, wo die Darstellung der Dreifaltigkeit gehangen hatte. Sein ganzes Leben lang war Mr Black ein zuverlässiges Mitglied der Gemeinde und der Gemeinschaft gewesen. Er war für Nehemiah verantwortlich wie ein Vater für sein Kind. Doch die Presbyterianer verdammten alle Sekten wie die Täufer als Ketzer, und solange Mr Black Nehemiah nicht wieder zurück zur Herde brachte, wurden ihm die Sakramente verweigert. Aufträge würden ausbleiben, Freunde sich abwenden. Selbst die Hölle drohte ihm am Ende, falls er weiterhin hartnäckig an seinen alten Vorstellungen von Loyalität und Pflicht festhielt.

»Wie lange läuft Nehemiahs Vertrag noch?«

»Neun Monate.«

Ich gab vor, nachzurechnen, und runzelte die Stirn. »Ihr müsst Euch irren, Master. Er endet nächste Woche.« Ich starrte ihn an und machte ein ehrliches Gesicht. »Sobald er freigesprochen ist, kann er gehen. Und sich eine neue Stelle suchen.«

Interessiert erwiderte er meinen unbewegten Blick. Wenn es um Zahlen ging, brauchte er weder Abakus noch Aufzeichnungen. »Ich weiß nicht, worauf Ihr hinauswollt«, fauchte er, »aber ich weiß, wie lange sein Vertrag läuft. Auf den Tag genau.« Er hob seinen Stock auf, und ich zuckte zusammen, wieder ganz der Lehrjunge, der sich vor dem Schlag fürchtete. Er humpelte aus der Kirche und blieb zwischen den Grabsteinen stehen, als blickte er in die Hölle.

»Bei der Druckerzunft liegt seine vollständige Akte«, sagte er.

»Akten können verlorengehen. Sobald er seine Ausbildung abgeschlossen hat, seid Ihr nicht mehr für ihn verantwortlich. Ist er gut genug, um freigesprochen zu werden?«

»Besser als die meisten Gesellen.«

»Also dann. Sobald er freigesprochen ist, kann ich ihm helfen, eine andere Arbeit zu finden, und Ihr könnt einen anderen Lehrjungen aufnehmen.«

»Das ist gegen die Regeln«, murmelte er.

»Wenn jeder sich an die Regeln gehalten hätte, Master, hätten wir den Krieg niemals gewonnen. Es gab nicht einmal halb so viele freigesprochene Waffenmeister und Hufschmiede, wie nötig gewesen wären, um alle Waffen anzufertigen, die wir brauchten.«

Er sah immer noch besorgt aus, als er sagte: »Nun denn, wenn das die Welt von heute ist … Aber ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.«

»Das übernehme ich. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen, auf mich wird er hören.«

 

Beschwingt von diesem, wie ich hoffte erfolgreicheren diplomatischen Vorstoß, machte ich mich auf die Suche nach Mr Tooley, um endlich mit ihm über Liz’ Taufe zu sprechen. Er war in einem Raum auf der anderen Seite des Korridors beschäftigt, und ich wartete in dem kleinen Vorraum. Ein Schrank enthielt, wie ich mich entsann, Bücher, mit denen ich mich vielleicht beschäftigen könnte. Er war abgesperrt, aber ich wusste, wo der Schlüssel lag, da ich mir früher Bücher ausgeliehen hatte, um mich im Lesen zu üben. Als ich den Schrank öffnete, fielen mir eine Reihe von Dingen entgegen, die einst in die Kirche gehört hatten.

Da waren alte, zerfledderte Ausgaben vom Book of Common Prayer, dem Gebetbuch der anglikanischen Kirche, das die Presbyterianer verbannt hatten, Kerzenhalter aus Messing mit Grünspanflecken, das Bild von der Dreifaltigkeit, das ich in der Kirche vermisst hatte, geborsten und rissig, sowie ein zusammengerolltes Chorhemd aus Leinen. Alles, was einst Licht und Farbe in die Kirche gebracht hatte, lag hier begraben. Ein unsägliches Gefühl der Traurigkeit überkam mich, als ich das Gebetbuch öffnete und der modrige Geruch die Erinnerung an das Licht und den Trost der alten Kirche wachrief.

In der Nähe wurde eine Tür geöffnet, und ein kalter Schauder durchlief mich, als ich die unverkennbare Stimme des Mannes vernahm, der mich als Kind so oft geschlagen hatte – zum Wohle meiner Seele, wie er behauptete. Ich legte das Gebetbuch auf einen Stuhl und ging zur Tür, um auch sie zu öffnen, damit die Männer wussten, dass ich dort war. Doch sie waren zu sehr in ihren Streit vertieft, um mich zu bemerken.

George stand auf der Türschwelle zu Mr Tooleys Studierzimmer und kehrte mir den Rücken zu. Er war fast kahl, und der Schädel glänzte, als sei er poliert.

»Sonntag im Gottesdienst müsst Ihr Nehemiah einen Ketzer nennen, Mr Tooley.«

Früher hatte George Mr Tooley stets mit schmeichlerischem Respekt angesprochen. Jetzt staunte ich über den tyrannischen Klang seiner Stimme. Noch mehr erstaunte mich, dass Mr Tooley es hinnahm, obwohl sein Gesicht gerötet war und er sichtlich Mühe hatte, ruhig zu bleiben. »Ich werde noch einmal mit Mr Black sprechen.«

»Er ist verstockt. Halsstarrig. Wie heißt es doch bei den Sprüchen, Mr Tooley: ›Mit der Not kommt die Schande für den, der nicht auf Warnungen hört.‹«

Die Jahre fielen von mir ab. Es war, als würde er wieder zu mir, dem Lehrjungen, sprechen. Meine Nägel bohrten sich in die Handflächen, meine Wangen brannten.

»Wie der Essig den Zähnen und der Rauch den Augen tut, so tut der Faule denen, die ihn senden«, erwiderte Mr Tooley. »Wie ebenfalls in den Sprüchen zu lesen ist.«

Ich klatschte im Stillen Beifall. Als George Anstalten machte zu gehen, stellte ich fest, dass ich die Schranktür weit offen gelassen hatte. Mr Tooleys altes Chorhemd lag auf dem Boden. Hastig stopfte ich alles wieder zurück in den Schrank, schloss die Tür ab und versteckte den Schlüssel. Währenddessen feuerte George seinen letzten Schuss ab. Er klang eher bekümmert als wütend.

»Die Warnung dient nicht allein den Schafen, Mr Tooley, sondern auch dem Hirten.«

»Wagt es nicht, so mit mir zu sprechen!«

Mr Tooley war bleich vor Wut. George, als er sah, dass seine Drohung ins Schwarze getroffen hatte, drehte noch einmal das Messer in der Wunde. »Oh, nicht ich, ein demütiger Sünder, sagte das. Ich bin nur der armselige Bote des Ältestenrates, der Kraft der Verordnung von 1646 …«

Verordnung! Genauso gut wie seine Sprüche kannte George die Verordnungen, in denen die skandalösen Vergehen der Leugner des wahren protestantischen Glaubens aufgelistet waren. Mr Tooley machte einen Schritt auf George zu. Er hatte die Faust geballt, und in einer Ader auf seiner Stirn pochte das Blut. George rührte sich nicht von der Stelle. Er hob den Kopf mit einem Ausdruck des Kummers, beinahe, als würde er den Pfarrer einladen, ihn zu schlagen.

Aus Angst, Mr Tooley könnte ihn schlagen – und aus irgendeinem Grund fürchtend, dass George genau das wollte –, trat ich aus dem Korridor in die Kammer.

Die Wirkung auf die beiden Männer hätte unterschiedlicher nicht sein können. Mr Tooley sah mich so an, wie er mich immer angesehen hatte.

»Der verlorene Sohn«, sagte er mit einem schiefen Lächeln und streckte seine Hand aus.

George verbeugte sich. »Mylord, ich gratuliere Euch zu Eurem Glück. Ich gestatte mir die Hoffnung, Eure Lordschaft weiß, dass es in bescheidenem Maße auch mein Verdienst ist, da ich es nie an der Rute habe mangeln lassen, wie sehr es mich auch schmerzte.«

Es folgte noch mehr in der Art, doch ich nahm die Salbung entgegen, wie ich die Schläge ertragen hatte. Ich hatte Gott versprochen, nie wieder die Beherrschung zu verlieren. Keine weiteren Scogmans. Diplomatie, nicht Konfrontation. Ich erklärte ihnen, dass es nicht nötig sei, Nehemiah in der Kirche als Ketzer zu brandmarken.

»Er hat widerrufen?«, sagte George.

»Er wird Mr Black verlassen.«

»Hat er ihn entlassen?«

Ich verbeugte mich fast so tief, wie er. »Ich denke, die Menschen sollten auf die Weise zu Gott beten, wie ihr Gewissen es ihnen vorschreibt, aber Gesetz ist Gesetz. Nehemiah wird durch einen anderen Lehrjungen ersetzt, der dem Gottesdienst gebührlich beiwohnt.«

Ich zuckte zusammen, als er in die Hände klatschte und die Augen zum Himmel hob. »Gott sei gepriesen! Ich habe gelitten, weil ich Mr Black solche Qualen bereiten musste, genau, wie ich litt, als ich die Rute bei Euch benutzte, aber es war nur zum Besten Eurer beider Seelen.«

Er streckte die Hand aus. Sie fühlte sich so kalt und schlüpfrig an wie die Haut einer Kröte. Mit Mr Tooley vereinbarte ich einen Tauftermin in zwei Wochen. Als ich ging, meinte ich immer noch, Georges klamme Hand zu spüren. Matthew, der Hellseher und Heiler, der mich aufgezogen hatte, hätte gesagt, ich sei gezeichnet. Es war ein dummer Aberglaube, trotzdem wischte ich meine Hand im Gras ab.

Meine Stimmung hob sich, als ich zum Half Moon Court ritt. Der Apfelbaum war nur noch ein trauriger, verwitterter Stumpf, aber aus der Werkstatt ertönte das vertraute Klopfen und Seufzen der Druckerpresse. Sarah, die Magd, kam zu meiner Begrüßung heraus. Sie humpelte mittlerweile, doch an ihren Neckereien hatten sich nichts geändert, seit sie mir damals die schmerzenden Prellungen mit Schweineschmalz eingerieben hatte.

»Was hast du mit dem Master angestellt, Tom?«

»Angestellt?«, rief ich alarmiert.

»Seit Wochen läuft er mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter herum. Jetzt ist er wie ein Zweijähriger mit der Mistress davongehüpft, um ihr einen neuen Hut für die Taufe zu kaufen.«

»Ich habe nur mit ihm über seine Probleme gesprochen«, sagte ich bescheiden

»Ich wünschte, du könntest mit meinem Rheumatismus sprechen. Meine Knie machen mir zu schaffen.«

»Welches?«, fragte ich und streckte meine Hand aus.

»Bleib mir bloß weg! Ich kenne dich! Du glaubst, du könntest die Welt in einer Minute heilen, und musst dich danach erst einmal selbst behandeln.«

Sie drückte mich, wie sie es getan hatte, als ich ein Kind war, dann ging sie, ohne zu humpeln, zurück zum Haus, bis sie plötzlich stehen blieb und mich anstarrte. »He, Tom! Du hast mein Knie gesund gemacht!«

Ich starrte zurück, und mein Herz schlug schneller. Vielleicht hatte das etwas mit meinen Gebeten von heute Morgen zu tun.

Sarah lachte, dann zuckte sie zusammen, weil es so anstrengend gewesen war, normal zu gehen. Sie beugte ihr Knie und rieb es reuevoll, ehe sie wieder ins Haus humpelte. »Ach Tom, mein lieber Tom. Wenn du das geglaubt hast, glaubst du alles.«

 

Nehemiah war so gut wie jeder Geselle, das konnte ich sehen. Er war so in Anspruch genommen von dem, was einst mein täglich Brot gewesen war, dass er nicht bemerkte, wie ich in der Tür stand und ihn beobachtete. Er war größer als ich, und er hätte gut ausgesehen, wenn da nicht die Pickel um seinen Mund und am Hals gewesen wären. Es war nicht einfach für einen Mann allein, das Papier in die Druckerpresse zu legen und den Drucktiegel nach unten zu pressen, doch er bewältigte diese Aufgabe mit Leichtigkeit.

Aber warum legte er die Blätter nicht zum Trocknen aus, so wie er es hätte tun müssen? Stattdessen legte er sie zwischen saugfähiges Papier, ehe er sie vorsichtig in einen alten Tornister schob. Ich stieß einen überraschten Ruf aus, als ich feststellte, dass es mein alter Tornister von der Armee war. Nehemiah wirbelte herum, ließ ein bedrucktes Blatt fallen und packte mich. Ich hielt mich für kräftig und gut in Form, aber er verdrehte mir die Arme mit eisernem Griff, so dass ich mich zusammenkrümmte. Sein kräftiger Geruch nach Schweiß und Druckerfarbe war überwältigend. Ich brüllte heraus, wer ich war. Erst da gab er mich mit einer verlegenen Entschuldigung wieder frei.

»Ich … ich habe Euch nicht erkannt. Ich dachte, Ihr wärt ein Spion, Sir«, murmelte er.

Ich lachte. Der Half Moon druckte die langweiligsten Regierungsverordnungen. »Ein Spion. Was hat Mr Black denn zu verbergen?«

Ich beugte mich vor, um das Blatt aufzusammeln, das er fallen gelassen hatte, aber er schnappte es mir weg und stopfte es in den Tornister. Ich zuckte die Achseln. Während sein Master fort war, druckte er seine eigenen Sachen, aber deswegen dachte ich nicht schlechter von ihm. Die meisten Lehrjungen hielten es genauso. Als ich ein bedeutender Dichter werden wollte, hatte ich meine Gedichte an Anne heimlich auf genau dieser Presse gedruckt.

Wehmütig betrachtete ich den abgenutzten Tornister, von dem ich glaubte, man hätte ihn fortgeworfen.

»Ihr wollt ihn doch nicht wiederhaben, oder, Sir?«

Ich schüttelte den Kopf, und er dankte mir so überschwänglich, dass ihm mein Herz zuflog, denn dieser Tornister hatte einst, während meiner unglaublichen Reisen, alles enthalten, was ich auf der Welt besaß.

»Würde es dir gefallen, ein Geselle zu sein, Nehemiah?«

»Sehr, Sir. Davon träume ich schon lange.«

»Nun, dann sollst du einer werden. In ein paar Tagen.«

Ich lächelte über seinen erstaunten Gesichtsausdruck.

»Aber mein Vertrag läuft noch …«

»Neun Monate.«

»Und zwanzig Tage«, sagte er und blickte zum Fuß der Druckerpresse, wo er für jeden Tag bis zu seiner Freisprechung eine Kerbe eingeritzt und die bereits vergangenen durchgestrichen hatte.

Ich erklärte ihm, dass er nicht mehr lernen könnte, als er schon wusste, und dass der Papierkram nicht mehr war als eine Formalität. Ich würde mich darum kümmern. Als Geselle müsste er seine Religion lediglich mit seinem eigenen Gewissen ausmachen. Ich wollte schon zu den praktischen Details übergehen, doch er unterbrach mich. Er neigte zum Stottern, was er zwar nach und nach in den Griff bekommen hatte, doch jetzt war es wieder da.

»Ist mein M… master einverstanden?«

»Ja.«

»Es ist …« Er errötete, wodurch das blasse Blau seiner Augen intensiver wirkte. »U… unredlich.«

Ich erklärte ihm, dass die Regeln unredlich für Lehrjungen waren – mittelalterliche Regeln, geschaffen, um den Zunftmeistern so lange wie möglich kostenlose Arbeiter zu verschaffen.

»Was ist mit George?«

»Er wird keinen Ärger machen. Ich habe ihm gesagt, dass du fortgehst.«

»O… ohne m… mit mir darüber zu reden?«

Bei seinen Worten fühlte ich mich unbehaglich, denn er hatte recht. Ich war selbstherrlich gewesen. »Es tut mir leid, aber die Gelegenheit war gerade günstig. Und ich habe mir Sorgen gemacht, dass man Mr Black aus der Kirche wirft.«

»Das wäre eine gute Sache«, sagte er leidenschaftlich.

»Eine gute Sache?«

»Er könnte sich den Täufern anschließen und den Himmel schon zu Lebzeiten sehen.«

Die Vorstellung war absurd. Doch er legte sie mir ausführlich und mit brennendem Eifer dar, bis ich ihn unterbrach. »Nehemiah, Mr Black ist alt, und er betet schon sein ganzes Leben lang in St. Mark’s. Es tut mir leid, aber du musst gehen. Oder dich der Kirche deines Masters anschließen.«

»Und G… George gehorchen? So wie Ihr?«

Er kannte die Geschichte, wie ich George geschlagen und vielleicht sogar umgebracht hätte, wenn Mr Black nicht dazwischengegangen wäre. Danach war ich davongelaufen. Ich seufzte. Nehemiah zu helfen war nicht so einfach, wie ich es mir unbekümmert ausgemalt hatte, vor allem, da er ins Feld führte, dass ich früher genauso gewesen war wie er – oder sogar noch ungestümer. Ich ging nach draußen, um mein Pferd loszubinden. Er folgte mir, sagte, er h… hoffe, er habe nicht und … dankbar geklungen – ich hörte eine Hauch Sarkasmus in seinem Stottern –, aber s… selbst, wenn er seinen Gesellenbrief hätte, wüsste er nicht, wohin er gehen sollte.

Ich stieg auf mein Pferd. »Ich kümmere mich darum.« Ich erzählte ihm von einem Drucker, der ihm auf meine Empfehlung hin achtundzwanzig Pfund im Jahr zahlen würde.

Mit offenem Mund starrte er zu mir empor. »Und K… kost und Logis?«

Jeglicher Sarkasmus war aus seinem Stottern verschwunden. Geld. Letztendlich ging es immer ums Geld. Ich war ein Dummkopf gewesen, es nicht gleich zu Anfang zu erwähnen. »Und Kost und Logis.«

»Achtundzwanzig Pfund«, murmelte er vor sich hin. »Und Kost und Logis!« Er packte meinen Sattel. »Es ist einer von Lord Stonehouse’ Druckern. Somit wäre ich Lord Stonehouse verpflichtet.«

»Wir sind alle irgendjemandem verpflichtet, Nehemiah.«

»Nein!«, schrie er mit solch einer Heftigkeit, dass mein Pferd scheute. »Das sind wir nicht! Wir sind nur uns selbst verpflichtet!« Erneut sah er mich eindringlich an, doch dann senkte er abrupt den Kopf. »Es t… tut mir leid. Ich habe mich flegelhaft benommen, aber ich habe nicht mehr geschlafen, seit die Geschichte losging. Ich war ein Narr, zu glauben, Mr Black würde ein Täufer werden.« Er schenkte mir ein wehmütiges, schiefes Lächeln, und ich erwärmte mich für ihn, denn er erinnerte mich an all die Qualen, die ich durchlitten hatte, als ich in seinem Alter war. »Ich muss meine Brüder um Rat bitten. Und beten.«

»Und schlafen.« Freundlich bat ich ihn, Mr Black seine Antwort am Morgen mitzuteilen.

Wer hätte gedacht, dass Frieden so harte Arbeit sein konnte? Es war einfacher, auf offenem Feld der Kavallerie gegenüberzutreten, als widerstreitende Meinungen zu versöhnen. Und doch war ich voller Optimismus, als ich auf der Strecke, die ich einst als Laufbursche entlanggerannt war, an Smithfield vorbeiritt. Die Sache mit Challoner hatte ich vielleicht völlig vermasselt, aber ich lernte dazu.

 

Am nächsten Tag kam ein Brief von Mr Black. Nehemiah war verschwunden. Er hatte die letzte Druckform noch peinlich genau auseinandergenommen, hatte die Buchstaben wieder einsortiert und die Presse gereinigt. In der Nacht hatte er Sarah aufgeweckt, hatte sich entschuldigt, weil er ein Stück Brot mitnehmen würde, und versprochen, es später zu bezahlen. Er hatte das Brot in den alten Tornister gesteckt, zusammen mit seiner Bibel und einem Flugblatt, dessen Titel Sarah kannte, da er ihn ihr unaufhörlich vorgelesen hatte. Er lautete Englands beklagenswerte Sklaverei. Das Flugblatt trug kein Druckerzeichen und stammte von einer Gruppe, die sich selbst die Levellers nannten. Sie erklärten das einfache Volk zur obersten Autorität, der gegenüber weder der König noch die Lords ein Vetorecht hätten. Außerdem fand man in Nehemiahs Kammer die Abschrift einer Petition an das Parlament, die in der Armee kursierte. Darin wurde lediglich die Auszahlung des Soldes gefordert, die Zusicherung, für die während des Krieges begangenen Taten nicht bestraft zu werden, sowie das Versprechen, nicht zum Dienst in Irland gezwungen zu werden.

Nehemiah war mit dem ersten Tageslicht verschwunden und hatte seinen Vertrag gebrochen, so wie ich es vor vielen Jahren getan hatte.

4. Kapitel

Es ließ mir keine Ruhe. Was Nehemiah getan hatte, war vollkommen töricht. Er hätte Geselle werden und weit mehr verdienen können als die meisten Menschen in seinem Alter, dazu seine Religion frei ausüben dürfen – was wollte er mehr? Und warum bekümmerte es mich so sehr?

»Ich wäre Lord Stonehouse verpflichtet.«

Das war das Problem, natürlich. Er hatte mich daran erinnert, dass ich Lord Stonehouse verpflichtet war. Nehemiah war wie ein Stück Schrot im Brot, durch das ein fauler Zahn aufbricht. Wie oft ich mir auch sagen mochte, das sei Unsinn, er könne ruhig ein befreiter Sklave bleiben und sehen, wie weit er damit käme – der Schmerz blieb.

Anne wusste, wie sie es immer wusste, dass mich etwas beschäftigte, doch ich weigerte mich, mit ihr darüber zu reden. Sie würde mich auslachen, genau wie sie es getan hatte, als ich wie Nehemiah gewesen war. Also vertraute ich es flüsternd der kleinen Liz an, und sie rückte alles wieder ins Lot. Ich war Lord Stonehouse verpflichtet, weil ich Liz verpflichtet war, meiner ganzen Familie, dem Frieden.

»Das ist es, nicht wahr?«, flüsterte ich.

Sie gluckste und streckte die Hand aus, um mein Gesicht zu erforschen. Ich lachte vor Entzücken, hob sie hoch, küsste sie und wiegte sie in den Schlaf. Dann schlich ich mich davon, blieb jedoch erschrocken stehen, als ich sah, dass Anne mich beobachtet hatte.

»Mich küsst du nicht mehr so.«

Ich verbeugte mich. »Der Arzt hat mich davor gewarnt, Leidenschaft zu zeigen, Madame.«

Das war die Wahrheit. Liz’ Geburt war schwierig gewesen. Anne hatte viel Blut verloren und war anschließend noch von Dr. Latchford, Lord Stonehouse’ Arzt, zur Ader gelassen worden. Dieser Umstand zählte zu den Dingen, die ich am meisten daran hasste, ein Stonehouse zu sein. Ich fühlte mich nicht wie ein Liebhaber, sondern wie ein Zuchthengst, der nur auf die Stute durfte, wenn sie empfänglich war.

»Dr. Latchford«, sagte ich und ahmte das trockene, vertrauliche Hüsteln des Arztes nach, »sagt, es sei noch zu früh für ein nächstes Kind.«

»Dr. Latchford schwindelt!« Mein Spott war ihr nicht entgangen, und sie drängte sich eng an mich. »Du bist wieder da«, flüsterte sie.

Vielleicht lag es an Nehemiah, dem pochenden Zahnschmerz, der mich sagen ließ: »Tom Neave höchstselbst.«

»O, Tom Neave! Tom Neave! Ich hasse Tom Neave! Er ist garstig und ungehobelt und hat große Füße.«

Ich lachte, bis ich keine Luft mehr bekam. Das war genau die Art Spiel, die wir früher als Kinder gespielt hatten, als ich ohne Stiefel angekommen war und sie sich über meine Affenfüße lustig gemacht hatte. »Wie kann das sein? Tom Neave oder Thomas Stonehouse, meine Füße haben exakt dieselbe Größe, Madame!«