Pfad der Götter - Jochem P. Kohl - E-Book

Pfad der Götter E-Book

Jochem P. Kohl

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Beschreibung

1967. Klaus und Marie begegnen in ihrem Urlaub in Italien zufällig dem jungen Paar Ruth und Ansgar – auf dem Pfad der Götter. Klaus und Ruth fühlen sich auf Anhieb zueinander hingezogen und verabreden ein Wiedersehen in genau 10 Jahren am gleichen Ort. Wie viel kann in 10 Jahren geschehen? Es sind Zeiten weltweiter politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, die die beiden auf ganz unterschiedliche Art miterleben. Klaus ist als erfolgreicher Anwalt in Frankfurt am Main tätig und Ruth studiert an der FU Berlin. In beiden Städten sind die Umbrüche spürbar. Was für ein Leben führen die beiden innerhalb von 10 Jahren? Werden sie sich verändern? Werden sich überhaupt beide im Jahr 1977 wieder auf dem Pfad der Götter treffen?

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Seitenzahl: 434

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-902935-93-9

ISBN e-book: 978-3-902935-94-6

Lektorat: Juliane Johannsen

Umschlagfoto: Uschi Kohl

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

www.vindobonaverlag.com

– 1 –

In der Herbstsonne löste sich der Morgendunst nur langsam auf und gab zögernd den Blick auf das zu Füßen der Monti Lattari liegende Meer frei. Die Konturen der in der Ferne auftauchenden Inseln wurden immer schärfer, bevor die Sonnenstrahlen sie farbig aufleben ließen.

Als sie vor das Haus traten, glitzerte zwischen den Feigenbäumen das Mare Tirreno, aus dem sich die steilen und kalkgrauen Felswände erhoben. Die bergan strebenden bunten Weinberge weckten in den Wanderern gute Laune und der säuerliche Geruch der letzten, noch nicht geernteten Trauben, die langsam Fäule ansetzten, durchzog die frische Morgenluft.

Den Bauern, der bis zu den Schultern zwischen den Weinstöcken stand, erkannten die Wanderer erst, als dieser ihnen einen morgendlichen Gruß zuwarf, der fröhlich erwidert wurde. Die Frage nach der Güte der diesjährigen Weinernte beantwortete der Bauer nur zögernd positiv und schnitt mit einem kleinen krummen Messer eine sorgfältig ausgesuchte Traube ab. Sie lag dunkelbau in seiner groben Hand, die sich Marie entgegenstreckte. „Nimm sie“, forderte er sie auf, „probiere sie.“

Lachend nahm sie das Geschenk entgegen, ergriff mit der anderen Hand den Stängel und hielt die perfekt gewachsene Traube in die Höhe. Ein Morillo hätte sie nicht schöner malen können.

Plötzlich erstarrte Marie in ihrer Bewegung und schrie laut auf. Ihre weit aufgerissenen Augen richteten sich auf den hinter Klaus liegenden Berghang. „Eine Schlange!“, rief sie, „Da ist eine Schlange!“

Die beiden Männer folgten der Richtung ihres Zeigefingers. Auf dem lehmfarbigen Boden wand sich eine dicke schwarze Schlange. Klaus nahm Marie schützend in den Arm und als er die zweite und auch noch die dritte armlange Schlange unter den nächstliegenden Weinstöcken erkennen musste, schrie auch er lauthals.

„Sie sollten den Weg nicht weitergehen, Signori“, meinte der Bauer, „die Schlangen verbringen die Nacht im Rabennest, wie wir die Höhle dort oben nennen. Sehen Sie rechter Hand das große Loch, das in der Felswand liegt. Da nächtigen die Schlangen und kommen morgens um diese Zeit aus ihren Löchern, um sich in der Sonne zu erwärmen und sich von ihrem Rausch zu erholen.“ Beide schauten ihn fragend an, keiner bewegte sich. Als würde die Zeit für einen Augenblick stillstehen.

Der Bauer erklärte, dass die süßen, auf die Erde gefallenen Trauben, die zu gären beginnen und den ersten Alkohol bilden, von den Schlangen verzehrt werden und sie trunken machen. Der Wanderer, der sich ihnen nähert, der ihnen dieses Vergnügen nehmen könnte, wird von ihnen als Feind betrachtet und wird daher blindlings angegriffen.

„Nehmen Sie lieber die Stufen rechts im Hang und laufen Sie oberhalb des Rabennestes, bis Sie an den Waldrand gelangen. Dann den ersten Weg links und Sie sind auf dem Pfad der Götter.“

Der Bauer begleitete die beiden aus dem Weinberg. Sie fühlten sich von ihm vor den Schlangen geschützt und schüttelten ihm dankend die Hände. „Ciao, gracie!“, riefen sie ihm zum Abschied zu. Und vorsichtig um sich schauend setzten sie einen Fuß vor den anderen, immer schnelleren Schrittes.

Es ging bergan. Durch kniehohes ausgedörrtes Gras und verwelkte Schafgarbe. Es roch nach Thymian und Rosmarin, nach Myrte und Wermut. Langsam legte sich die Angst vor den Schlangen. Und wenn die beiden sich luftholend umdrehten, teilten sie das Glück mit den Bergschwalben, die über ihren Köpfen und über dem zu ihren Füßen liegende blaue Meer elegant ihre Kreise zogen.

Die beiden Wanderer fanden schließlich den schmalen Eselspfad unterhalb der Esskastanienwälder, die den Berg bedeckten. Wie grüne Hauben strecken sie sich über den Bergrücken und spenden den Bauern im Herbst glänzende Früchte, die sie in großen Säcken quer über die Schultern bergab in ihre Dörfer tragen.

Festen Schrittes setzten die beiden ihre Wanderung fort. Das Gezwitscher der Vögel war mittlerweile verstummt. Nur der Schrei des Falken unterbrach die himmlische Ruhe, die über der Landschaft lag. Der Pfad krümmte sich um einen Berghang und aus dem über dem Meer liegenden Dunst tauchte plötzlich dunkel die hoch aufgerichtete Insel Capri auf. Wie auf einem Gemälde, auf dem noch der das Bild vervollständigende Punkt gefehlt hatte. Marie nahm Klaus an die Hand und drückte sie fest. „Warte“, sagte sie zu ihm, „der Anblick ist zum Niederknien schön –, mein Schatz – ich möchte die Welt in die Arme nehmen und nicht mehr loslassen.“ Er umarmte sie.

Je näher sie der Insel kamen, desto größer wuchs sie und tauchten hinter ihr ihre Schwesterninseln auf.

Beinahe hätten die beiden das am Wegrand stehende kleine Türmchen übersehen. Zwei Handbreit wuchs es Stein auf Stein gelegt in die Höhe. Wie aus einem Baukasten waren die größeren Steine zunächst nebeneinandergelegt und sodann an Größe verlierend Stück für Stück aufeinandergesetzt, bis sie zu einem Turm herangewachsen waren, der auf seine Entdeckung wartete.

Was sollte er bedeuten? Ohne eine Antwort zu finden, setzten die beiden rätselratend ihren Weg fort, bis sie auf das nächste Türmchen stießen und dann auf ein weiteres. Der Weg nahm eine Biegung und die beiden Wanderer vernahmen nach Stunden das erste Mal wieder menschliche Stimmen, die nicht die ihren waren. Auf einem Felsen, der sich wie eine große Nase über das Meer schob, saßen eine Frau und ein Mann im Gespräch. Klaus und Marie näherten sich diesem himmlischen Aussichtspunkt und grüßten zurückhaltend. Der junge Mann holte mit seinem Arm weit aus, schlug einen Bogen über das ergreifende Panorama und meinte: „Das muss die Stelle gewesen sein, von der die Götter zu den Sirenen herabgestiegen sind.“

„Und“, ergänzte Klaus, „Odysseus an den Mast seines Schiffes festgebunden an ihnen vorbeigesegelt ist.“ Die vier lachten heiter und glücklich über dieses Bild, das sich vor ihren Augen aufgetan hatte.

„Ist das nicht ein wunderschöner Tag“, meinte der Mann und legte seine Hand auf die Schulter der lachenden Frau. „Einen schöneren Geburtstag kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Ruth ist heute 20 Jahre alt geworden und wir feiern ihren runden Geburtstag auf dem schönsten Fleck der Erde.“

Marie und Klaus gratulierten der glücklich strahlenden Frau, die inzwischen aufgesprungen war und erklärte, ihr Freund sei Architekt und hätte sich heute Nacht, als sie nichts ahnend schlief, aus dem Zimmer geschlichen und den Weg von der Trattoria, wo sie eine Unterkunft gefunden hatten, mit den Türmchen besetzt, damit sie am Morgen den Weg hierher fände. „Ist das nicht sagenhaft“, rief sie aus voller Seele und umarmte den stolz lächelnden Erbauer dieser Turmwelt.

Klaus und Marie hatten während dieses Gesprächs einen Blick gewechselt. „Wissen Sie“, sagte Marie sodann, „dass wir heute sogar zwei Geburtstagskinder haben.“ Zögernd legte sie ihren Arm um die Schultern ihres Mannes. „Klaus ist heute nämlich 30 Jahre alt geworden, ist das nicht ein wahnsinniger Zufall!“

„Nein, das darf doch nicht wahr sein“ und „das gibt es doch nicht“, fielen sie sich gegenseitig ins Wort und mit großer Freude nahmen die beiden Geburtstagskinder sich an den Händen und sprachen sich die besten Geburtstagswünsche aus. Wenn sie jemand Anderem von diesem Zufall erzählten, darüber waren sie sich einig, würde man ihnen kaum glauben. „Aber so ist das einmal“, sagte Klaus und die Frauen schlugen begeistert in die Hände.

„Und ich habe kein Geschenk“, rief die junge Frau aus, „gib mir doch mal meinen Rucksack“, sagte sie zu ihrem Freund, und zog ein in goldenes Papier verpacktes Schokoladenherz heraus. Sie hielt es freudig in die Höhe und drückte es sodann Klaus mit dem nachdrücklichen Wunsch in die Hand: „Möge es Ihnen Glück bringen.“

Er bedankte sich herzlich und steckte es etwas schüchtern in seine Hemdtasche mit der freudigen Feststellung: „Jetzt liegt es über meinem Herzen und reist mit mir zurück nach Frankfurt.“

„Sie kommen aus Frankfurt? Ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen.“

„Und wo leben Sie jetzt?“, fragte er sie.

„Eigentlich in Paderborn, aber momentan in Berlin.“

„Ach ja, in meiner Vaterstadt“ sagte Klaus. Und auf ihre Frage nach dem Stadtteil: „In Frohnau bin ich mit Spreewasser getauft worden.“

„Na, da müssen wir uns doch einmal wiedersehen oder“, sie zögerte, „wir treffen uns ganz bald wieder hier auf diesem himmlischen Platz. Was halten Sie davon?“

„Gute Idee, aber wie soll das gehen?“, antwortete er, „Sie wohnen in Berlin und ich in Frankfurt, da kreuzen sich unsere Wege im Zweifel nicht. Und hier an diesen herrlichen Fleck der Erde kommt man leider auch nicht alle Tage. Selbst unsere Geburtstage werden uns nicht hierherführen. Also ich weiß nicht.“

„Und was halten Sie von der Idee, dass wir uns an unserem nächsten runden Geburtstag, also in zehn Jahren, hier wieder treffen – alle vier. Wir können dann unsere Erlebnisse aus diesem Lebensabschnitt gemeinsam austauschen, haben viel zu erzählen und genießen einen herrlichen Geburtstagsabend oben in der Trattoria.“

Klaus blickte zu Marie, die unentschlossen mit den Schultern zuckte, aber auch nicht widersprach. Und als der Freund der ideenreichen jungen Frau zustimmend nickte, willigte Klaus ein: „Das ist ein toller Vorschlag! Das machen wir, versprochen.“

Marie erinnerte Klaus: „Wir müssen uns auf den Weg machen, sonst bekommen wir unser Schiff in Positano nicht.“ Sie warfen einen letzten Blick auf das unter ihnen liegende Meer und versuchten, dieses göttliche Panorama fest in ihr Gedächtnis aufzunehmen.

„Tschüss und auf Wiedersehen“, riefen sich die vier zu und winkten, bis Klaus und Marie in einer Wegbiegung verschwunden waren.

„Du spinnst ja auch ein bisschen“, meinte Ansgar, „dich mit diesem Mann in zehn Jahren zu verabreden. So schnell wie der mit seiner Frau dort unten in der Kurve verschwunden ist, hat er auch die Verabredung vergessen. Ich hoffe, das war von dir auch nur ein Scherz oder was hast du dir dabei gedacht?“

„Na ja“, zögerte Ruth mit ihrer Antwort, „das war so eine spontane Idee, das hat keiner von uns so richtig ernst genommen. Vergiss es. Aber nett waren die beiden.“

Ansgar nahm Ruth bei der Hand und zog sie von dem Felsen auf den steinigen Pfad. „Du bist mit der Suche noch nicht fertig. Da gibt es noch zwei, drei weitere Türmchen und wenn du sie findest, hast du jedes Mal einen Wunsch frei – vergiss nicht, du hast Geburtstag!“

„Jawohl, Herr Architekt“, rief sie und sprang übermütig von einem Fuß auf den anderen. Sie legte ihren rechten Arm um seine Taille, reckte sich zu seinem Kopf und gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. „Es war so schön heute Nacht, mein Älsking. Du bist so zärtlich und dann wieder so leidenschaftlich. Ich möchte dich nicht loslassen. Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt und die erste Nacht gemeinsam verbracht haben? Das bleibt mir unvergesslich.“

Ansgar hatte sie während ihrer Worte an sich gezogen und küsste sie auf die Stirne. „Mein großer Liebling, das werde auch ich nie vergessen. Und ich weiß heute noch nicht, wer von uns damals auf der Versammlung des SDS den anderen zuerst gesehen hat, du oder ich. Ich meine fast, dass wir uns beide gleichzeitig in die Augen geblickt haben. Du hattest auf den Stufen gesessen. Mit neugierigen Augen hörtest du dem Redner zu und klatschtest Beifall. Ich hatte mich auf die Kante der Bühne gesetzt und den Blick auf die Genossen gehabt, als sich unsere Blicke kreuzten und hängen blieben, einfach so – ungewollt.“

Er streichelte sie über den Kopf. „Es war furchtbar eng in dem vollen Saal und als ich meine Rede gehalten hatte, habe ich dich noch nicht gesehen. Das war ein Meer von Menschen, die alle von den Studentenunruhen in den USA wie elektrisiert waren, die mich mit Beifall und Zwischenrufen bedachten, die klatschten und pfiffen, die trommelten und buhten. Erst als ich fertig war und nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens stand, fand ich Gelegenheit, mich umzuschauen, und da sah ich dich in deiner hellblauen Bluse mit deinem blonden Wuschelkopf inmitten deiner Freunde, zu denen auch ein Schwarzer zählte, mit dem ihr gerade heftig diskutiertet.“

„Ich hatte meine beste Freundin dabei, die mich dann ablenkte“, sagte Ruth, „aber als ich wieder zu dir rüber schaute, hattest du mich immer noch angeblickt, was mich irritierte und mich dann wieder beeindruckte. Schon am Rednerpult hatte mir deine stattliche Figur gefallen, dein selbstbewusstes Auftreten, deine ruhige Art zu sprechen, deine anschauliche Ausdrucksweise und dass du schon in den USA gewesen bist, das hatte in mir Neugierde geweckt. Ich war dann bass erstaunt, dass du am Ende der Veranstaltung, wir gingen schon raus, plötzlich hinter mir standest und,Hi‘ sagtest, während du deine Hand auf meine Schultern legtest. Wir sind dann rüber ins Café gegangen. Deine Blicke verrieten mir, dass dir mein Minirock gefiel, und du schautest nicht nur einmal auf meine nackten Beine. Ich spürte, wie du – hee, da ist ja der nächste Turm“, unterbrach sie sich, „jetzt habe ich einen Wunsch frei.“

Sie stand ihm gegenüber, strich mit ihren Händen liebevoll über seine Brust, spürte seine Brustwarzen, schaute in seine Augen, aus denen der Schalk blitzte, und sagte lachend: „Aber ich verrate dir nicht, was ich mir wünsche, sonst geht es nicht in Erfüllung.“ Scherzend kehrten sie um, es war ihnen inzwischen in der strahlenden Sonne zu heiß geworden.

Klaus und Marie waren nach ihrem Abschied von den beiden bergab nach Positano gelaufen. Ihre Beine waren müde. Sie hatten damit zu kämpfen, dass die Stufen der gepflasterten Treppe, die für die großen Schritte der Esel in langen Absätzen gebaut war, von ihnen eine unbequeme Gangart verlangten. Sie kamen immer wieder aus dem Schritt und befürchteten schon, das Schiff nach Amalfi zu verpassen. Aber die Zeit vor dessen Abfahrt reichte dann doch aus, um sich im Hafen noch ein erfrischendes Eis zu kaufen, das in der Hitze fast schneller zerrann, als sie es schlecken konnten.

Sie genossen eine himmlische Fahrt entlang der felsigen Küste, an der sich die Wellen brachen. Kleine Dörfer mit weiß gekalkten Häusern, die ihre Kirche umringten, saßen wie Schwalbennester in den Berghängen. Klaus war immer wieder versucht, vom Schiff aus den Felsen ausfindig zu machen, auf dem er Ruth getroffen hatte.

Marie entging dieses Ausspähen nicht. Sie fand Klaus‘ Verhalten reichlich merkwürdig und sagte es ihm auch: „Findest du nicht, dass es etwas kindisch ist, wenn du den Felsen unseres Treffens mit den beiden anderen ausfindig zu machen versuchst, was bei dieser Entfernung schlicht unmöglich ist. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, dich auf einen Zeitpunkt in zehn Jahren zu verabreden. Das haben die längst wieder vergessen und als Joker betrachtet.“

„Natürlich, du hast Recht“, antwortete Klaus, „ich fand den Vorschlag einfach nur eine blendende, eine ausgefallene Idee. Sie hätte von mir kommen können, so gut war sie. Okay, vergiss es.“ Er nahm Marie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf den Mund. „Ich bin dann vierzig Jahre alt und habe bis dahin mit Gewissheit eine bessere Idee, wie ich meinen nächsten runden Geburtstag feiern werde.“

Durch die offenstehende Eingangstür zur Tenuta kam ihnen die Wirtin mit ihren Händen wedelnd und laut rufend entgegen: „Signori, wir hatten einen Anruf aus Germania für Sie. Sie sollen sofort zu Hause anrufen. Sie können das Telefon in der Küche benutzen.“

Marie wählte die Telefonnummer ihrer Mutter. In ihrer Aufregung verwählte sie sich prompt. Erst kam das Besetztzeichen. Ein Tuten ohne Unterbrechung. Sie fuhr sich mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Sie versuchte es noch einmal und hielt dann Klaus den Hörer ans Ohr – kein Ton kam aus der Leitung. Marie gab nicht auf und machte einen weiteren Versuch. Die Wahlscheibe eierte und war klebrig von all den Fingern, die sie benutzt hatten.

Endlich hörte sie ihre Mutter am Ende der Leitung: „Marie, gut dass du anrufst. Ich befürchte, du musst kommen. Unser Schätzchen hat die Windpocken. Sie hat seit zwei Tagen hohes Fieber. Sie weint und ruft nach dir. Das ist eine Situation, in der nur noch die Mutter helfen kann. Die Ärztin kommt zweimal am Tag und meint auch, das Kind müsse wieder zur Ruhe kommen und da helfe alle meine Mühe und Liebe nicht, da müsse die Mutter her.“

Marie wandte sich an Klaus, der mit einem Ohr über dem Hörer zugehört hatte. „Schatz“, sagte sie, „ich muss unbedingt nach Hause, so schnell wie möglich“, und wieder zu ihrer Mutter am Telefon gerichtet, „Mami, ich komme morgen mit der ersten Maschine, in der ich einen Platz bekomme. Ich rufe dich wieder an, wenn ich die Ankunftszeit weiß. Sag meinem Schatz alles Liebe, ich wäre bald bei ihr und nehme sie in meine Arme.“

„Als erstes telefoniere ich jetzt mit der Alitalia“, sagte Klaus. „Die Lufthansa-Maschine geht erst morgen Abend. Hoffentlich bekommen wir einen Flug.“ Marie überlegte. „Klaus, wir haben noch die nächsten drei, oder sind es vier, Tage hier gebucht, haben einen Mietwagen und das Retour-Ticket. Du könntest noch gut die letzten Tage hier verbringen und dich noch ein bisschen erholen. Du kommst noch früh genug in dein Büro und hast die Ruhe nötig. Ich komme schon allein zurecht.“

„Ja“, sagte Klaus zögernd, „Du hast ja Recht, aber auf der anderen Seite möchte ich dich nicht gerne allein lassen. Ich mache mir natürlich auch hier Sorgen und werde nicht so entspannt leben, wenn ich dich allein lassen muss.“

„Also komm“, sagte Marie, „ich packe das schon alleine und richtig helfen kannst du mir in dieser Situation auch nicht. Wenn alles mit dem Flug klappt, bist du morgen Nachmittag wieder hier, kannst die Beine ausstrecken und dich noch die Tage ausruhen.“

Für das Abendessen hatten sie sich einen besonders schönen Tisch reservieren lassen. Von ihm bot sich der beste Ausblick auf die in der Abenddämmerung liegende Küste und auf Positano. Über das Meer zogen die Schiffe ihre weißen Heckwellen hinter sich her und unten im Ort gingen die ersten Straßenlaternen an, die wie glitzernde Glasperlen an einer langen Schnur Positano durchzogen. Die Wirtin hatte Ruth einen Geburtstagsstrauß auf den Tisch gestellt und ihr gratuliert. „Tanti auguri“, hatte sie ihr gewünscht und ihr fest die Hände geschüttelt.

Ansgar und Ruth hatten glücklich die Arme über die Schultern des anderen gelegt und übermütig eine Flasche Asti Spumante bestellt. Die junge Wirtstochter kam bald mit dem Sekt, den sie strahlend in einem Kübel vor sich hertrug. Sie stellte ihn schwungvoll auf den Tisch. Das Klappern der Flasche und das Klingeln der Eiswürfel steigerten die Vorfreude auf den Sekt.

Das Mädchen zog die Flasche, an der das kalte Wasser herabperlte, aus dem Kübel und stellte sie vor sich auf den Tisch. Sehr geübt an der Öffnung von Sektflaschen war die Signorina offenkundig nicht. Sie ging ihre Aufgabe sehr vorsichtig an, schaffte es aber immerhin, den über dem Korken angebrachten Draht nach vielem Drehen in beide Richtungen zu entfernen, ohne sich die Fingernägel abzubrechen.

Dann wollte sich aber der Korken nicht lösen. Sie hielt die Flasche mit einer Hand am Hals und versuchte, mit dem rechten Daumen den Korken zu lockern und in Bewegung zu bringen. Gespannt beobachteten Ansgar und Ruth die Bemühungen der Wirtstochter, als ihr plötzlich die nasse Flasche aus der Hand glitt. Sie versuchte zwar noch, die Flasche aufzufangen, aber ihre Hände kamen zu spät. Die Flasche rutschte über die Tischkante und prallte auf Ansgars nackten Fuß, der aus der Sandale herausschaute. Die schwere Glasflasche traf voll das Gelenk seines rechten Zehs. Ansgar schrie auf und griff nach seinem Fuß, während der Sekt schäumend aus der am Boden liegenden Flasche strömte.

„Mein Gott“, rief Ruth und sprang auf, „können Sie denn nicht besser aufpassen?“, ihre Stimme war alles andere als freundlich. „Es kann doch nicht so schwer sein, eine Sektflasche zu öffnen, ohne gleich die Gäste umzubringen!“ Sie lief um den Tisch herum zu Ansgar, der seinen Fuß auf den linken Oberschenkel gelegt hatte und seinen Zeh mit schmerzverzerrtem Gesicht begutachtete. Sobald sich seine Finger der geröteten Stelle näherten, zog er sie mit einem Aufschrei zurück. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Verdammt!“

Die Wirtstochter entschuldigte sich mit vielen unverständlichen italienischen Worten. Ihre Hände wechselten währenddessen von ihrem weißen Gesicht, das sie aufgeregt umfasst hatte, zu ihrer Brust, da, wo das Herz schlägt, um ihr Bedauern zum Ausdruck zu bringen.

Ruth griff nach dem Sektkübel, holte einige Eiswürfel heraus und reichte sie Ansgar, damit er die Prellung kühlen konnte. Sie selbst wollte der Schmerzstelle nicht zu nahe kommen, weil sie befürchtete, ihm noch mehr Qualen zu bereiten. Sie streichelte ihm über den Kopf und tröstete ihn: „Das wird wieder besser, du wirst sehen.“

„Sekt kann mir die nächste Zeit gestohlen bleiben“, sagte Ansgar und gab der immer noch auf dem Boden liegenden Flasche einen Kick in Richtung des Wirtes, der inzwischen herbeigeeilt war und das Missgeschick seiner Tochter bedauerte. „Darf ich Sie auf Kosten des Hauses zu einem besonders schönen Wein einladen, den besten aus dieser Region, um Sie wenigstens etwas trösten zu können“, und machte sich auf den Weg ins Lokal.

Es lag vor allem an Ansgar, dass die anfänglich heitere Stimmung nicht mehr aufkam. Ruth versuchte ihn aufzumuntern, aber Ansgars gute Laune ließ sich auch durch das Streicheln und liebe Worte nicht wiederherstellen. Weder der knackige Salat noch das zarte Saltimbocca, nicht einmal die köstliche Cassata vermochten die Stimmung zu verbessern.

„Wir wollten doch morgen den Pfad der Götter gehen“, sagte Ruth, „aber mit diesem Fuß wird das schwerlich zu machen sein. Dein Zeh ist inzwischen ganz schön angeschwollen und wird morgen in keinen Schuh passen.“

„Dann musst du eben allein gehen. Wenn die beiden hierher gefunden haben, wirst du den Weg auch in Richtung Amalfi finden. Ziehe nur die festen Schuhe an, denn hier soll es auch Schlangen geben. Hast du keine Angst so alleine?“

„Ach was“, meinte Ruth, „ich passe halt auf, bleibe auf dem Weg und meide unwirtliches Gelände. Es wird schon nicht so wild sein, sonst drehe ich um.“

– 2 –

Ruth war am nächsten Morgen immer noch entschlossen, den Pfad der Götter alleine zu gehen. Die Wirtin machte ihr zwei Panini mit Käse und Schinken, legte eine Birne und einen Apfel daneben und stellte eine Flasche Wasser dazu. Ruth verstaute den Proviant zusammen mit einem dünnen Anorak in ihrem Rucksack.

Ansgars Schmerzen hatten über Nacht weiter zugenommen, so dass Ruth ihn mit einem nassen kühlen Umschlag um den Fuß auf der Terrasse zurücklassen musste. „Mach’s gut, mein Schatz.“ Sie küsste ihn auf die Stirne, „mach dir keine Sorgen um mich. Das kann heute Abend etwas später werden, bis ich wieder mit dem Bus in Positano bin. Ich leiste mir dann ein Taxi, um wieder zu dir hier hochzukommen. Lese so lange den Max Frisch, den du schon angefangen hast, und löse das Rätsel des Homo Faber. Du kannst mir dann den Fortgang der Geschichte erzählen. Bis dahin! Ich liebe dich.“ Sie warf ihm eine Kusshand zu, die er ebenso herzlich erwiderte, und sprang leichtfüßig die Stufen herab, die in Richtung ihres Wanderweges führten.

Ruth fühlte sich frei und unbeschwert. So sehr sie auch Ansgar liebte, so gut fand sie es, einmal einen Tag ohne ihn zu verbringen und ihren Gedanken ungestört nachsinnen zu können. Sie war jetzt über drei Monate mit Ansgar zusammen und genoss diese Gemeinsamkeit, diese Nähe zu einem Mann, dem sie uneingeschränkt vertrauen und mit dem sie sich ohne Zurückhaltung austauschen konnte. Aber jetzt freute sie sich darauf, ungebremst losmarschieren und diesen Pfad der Götter auf eigene Faust entdecken zu können.

Sie fand den Weg sehr bald. Zunächst brauchte sie nur den Türmchen zu folgen, die Ansgar für sie gebaut hatte und die jetzt ein wenig verloren in der Landschaft standen. Nach kurzer Zeit öffnete sich das dichte Gebüsch und vor ihr lag der Felsen, auf dem sie gestern ihren Geburtstag gefeiert hatten. Sie lehnte sich an ihn und genoss seine Kühle, die er sich noch aus der Nacht bewahrt hatte.

Ruth verschränkte ihre Arme und blickte durchatmend auf die Weite des Meeres, das sich zu ihren Füßen ausbreitete und sich nicht zu bewegen schien. Die Insel Capri lag noch schier unerreichbar im Dunst. Da musste sie unbedingt einmal hin. Die Insel von Axel Munte. Sein Buch stand in der Bibliothek ihres Vaters und hatte ihre Sehnsucht nach Kampanien und seinen Inseln bei ihr geweckt.

Jetzt geht es aber weiter, sagte sie sich und machte sich auf den Weg. Sie schritt weit aus und atmete die noch immer frische Luft tief ein. Über dem grünen Bergrücken stand die Sonne und versprach einen weiteren schönen Herbsttag. Hoch über ihr kreischten zwei Habichte und zogen ihre Bahnen nach einem unergründlichen Muster. Sie wartete darauf, dass wenigstens einer von ihnen eine Beute erspähte und sich dann wie ein Stein herunterfallen ließ, um sich seine Morgenspeise zu greifen. Aber die beiden da oben zogen ihre Kreise in unermüdlicher Geduld und Zweisamkeit, wie sie sich das Leben mit Ansgar wünschte – ungestört, und ohne Sorgen und Feinde.

Der Weg stieg kaum an und forderte von ihr keine Anstrengung. Er streckte sich vor ihr in langgezogenen Windungen und folgte den Rundungen der Bergrücken, die Abwechslung und neue Ausblicke auf die Küste boten. Es wurde allmählich wärmer und hinter einem Wacholderbusch legte sie den Rucksack ab, knöpfte ihre ärmellose Bluse auf und zog ihren Büstenhalter aus, der sie schon längere Zeit beengte. Sie erfreute sich ihrer festen weißen Brüste, unter die sie ihre Bluse nur noch knotete, so dass ihr jetzt genügend Luft zum ungehinderten Durchatmen blieb. Sie schulterte ihren Rucksack, pfiff ein Lied und marschierte gut gelaunt weiter.

Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten, als unterhalb des Waldrandes in der Ferne die Silhouette eines Dorfes mit einem viereckigen Kirchturm sichtbar wurde. Sie wähnte schon ihr Ziel vor sich, als die rote Wegmarkierung sie jedoch links den Berghang entlang und direkten Weges nach Amalfi führte, wie sie hoffte. Vor ihr reihten sich Weinberge, deren buntes Laub das ursprüngliche Grün der Weinstöcke überdeckte. Stare flogen auf und ließen sich nach einigen Schwüngen durch die Luft wieder in geordneter Schar in den Weinbergen nieder. Ihr Gezwitscher machte Ruth glücklich.

Einige Schritte weiter erkannte sie eine große Tenuta, auf die der Weg zuführte. Das kam ihr gelegen, denn ihre Wasserflasche hatte sie längst geleert und das Obst war verzehrt, so dass sie Durst verspürte.

Enttäuscht musste sie feststellen, dass die Haustüre verschlossen war. Auch auf ihr Klopfen rührte sich nichts. Nach einigem Zögern entschloss sie sich, es auf der anderen Seite des Wohngebäudes zu versuchen. Sie ging um die Hausecke herum und stieß auf eine von Blumen umgebene Terrasse. Erst meinte sie, auch hier niemanden finden zu können, als sie auf einer Liege unter einem Sonnenschirm einen Mann sah, der eine Zeitung aufgeschlagen hatte und sie nicht bemerkte.

Ruth wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, entschloss sich dann jedoch zu einem „Hallo“, bevor sie sich den Stufen zur Terrasse näherte. Der Mann legte die Zeitung zur Seite und schaute auf.

Der unerwartete Besuch überraschte ihn und während er noch überlegte, ob er sitzen bleiben oder aufstehen sollte, erkannte er zu seiner Überraschung Ruth. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sind Sie es wirklich?“, fragte er zögernd und im selben Augenblick erkannte Ruth den Mann, dem sie gestern an dem Felsen begegnet waren.

„Wie kommen Sie denn hierher und wo ist Ihr Begleiter?“, fragte er sie.

„Ich bin alleine. Mein Freund hat sich gestern Abend am Fuß verletzt und konnte nicht mitkommen.“

Sie war inzwischen nähergetreten, ließ den Riemen ihres Rucksackes von ihren Schultern gleiten und sagte: „Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich, ich bin unheimlich durstig.“ Sie setzte sich, zog ihre Schuhe aus und massierte ihre Füße.

„Aber natürlich“, rief er, sprang auf und lief in das Zimmer, aus dem er bald mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser zurückkehrte. Er schenkte ein und erklärte: „Meine Frau musste plötzlich heute früh nach Hause reisen, weil unsere Tochter an Windpocken erkrankt ist und dringend ihre Mami braucht. Ich bleibe noch bis zum Wochenende hier.“

Klaus erinnerte sich an den Händedruck, den Ruth ihm gestern zum Abschied gereicht hatte. Er hatte deutlich etwas länger gedauert, als es notwendig gewesen wäre. Und abends hatte er das goldene Schokoladenherz, das Ruth ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, in seiner Hemdtasche gefunden und in Gedanken an sie gestreichelt, bevor er es auf seinen Nachttisch gelegt hatte.

Was war das für eine verrückte Verabredung, die sie so leichten Herzens getroffen hatten. Wie ernst sollte sie gemeint sein, fragte er sich. Und jetzt stand sie nach nur einem Tag plötzlich vor ihm, barfuß und mit dunkelrot lackierten Fußnägeln.

„Aber wir können doch nicht die ganze Zeit nur Wasser trinken, was halten Sie von einem Campari?“, sagte Klaus.

„Gerne“, antwortete sie, „wenn ich jedoch Ihre Toilette vorher benutzen darf.“

„Natürlich, gehen Sie nur vor“, er wies zur Zimmertür, „ich zeige Ihnen, wo es lang geht.“

Klaus folgte Ruth und konnte seine Augen nicht von ihrem kleinen runden Popo abwenden, der mit jedem Schritt von ihr sich einmal nach links und einmal nach rechts schob. Und wenn er sich nicht täuschte, trug sie auch keinen Slip unter ihren engen Jeans.

„Gleich rechts die Türe“, sagte er und öffnete den Kühlschrank, um zwei Fläschchen Campari Soda herauszuholen. Er setzte sich auf die Liege, nachdem er die Gläser eingeschenkt hatte.

Auf der Toilette erinnerte sich Ruth, dass sie die kräftige Statur von Klaus schon bei ihrem ersten Treffen bewundert hatte. Er war ein groß gewachsener Mann mit dichten dunklen Haaren, zu dem sie sich sofort hingezogen gefühlt hatte. Als sie vom Badezimmer zurückkam, setzte sie sich ohne zu zögern neben ihn auf die Liege. Sie nahmen ihre Gläser und Ruth sagte zu ihm: „Chin chin. Wollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Ruth.“

„Und ich heiße Klaus, chin chin.“ Ruth bot ihm ihre Wangen und sie küssten sich. Sie hatten sich dabei an ihren braunen Armen gefasst und schauten sich wortlos in die Augen. Ihre Lippen bewegten sich leicht, als ob sie etwas sagen wollten. Ihre Augen blieben ungläubig aufeinander gerichtet. Prüfend und fragend suchten sie nach einer Erklärung für die verwirrenden Gefühle ihrer Sinne.

Ruth nahm den männlichen Geruch seines Körpers wahr, etwas Schweiß und seinen warmen Atem. Ihre Hände glitten an seinen Armen herunter. Sie spürte seine Haare, hielt inne, um dieses wohlige Gefühl nicht aufgeben zu müssen, das sie in ihren Handflächen empfand. Sie spürte seine Hand, die von ihrer Taille zu ihrem Rücken herauf streichelte. Sie schloss ihre Augen und ließ zu, dass Klaus sie auf ihren Hals küsste.

Beiden war klar, dass sie ihre Liebkosungen jetzt sofort beenden mussten, weil sie wenig später dazu weder die Kraft noch den Willen haben würden. Aber sie waren bereits zu weit gegangen. Ihre leidenschaftliche Lust auf den Körper des anderen ließ sich nicht mehr bändigen. Ruth genoss die suchenden Blicke von Klaus auf die Rundungen ihrer Brüste und er fragte sich, ob er es wagen sollte, den Knoten ihrer Bluse zu öffnen.

„Lass uns reingehen“, sagte Klaus, stand auf und zog Ruth von der Liege hoch und weiter an der Hand ins Zimmer. Sie umarmten sich innig und küssten sich nicht mehr lange nur auf die geöffneten Münder, sondern genossen den salzigen Geschmack der verschwitzten Haut des anderen. Klaus fand die Knöpfe ihrer Jeans. Seine Hand näherte sich zielstrebig ihren Schamhaaren, während die Hände von Ruth nach seinen strammen Pobacken unter der Badehose griffen und nicht mehr losließen. Sie liebten sich in der leidenschaftlichen Freude, den Körper des anderen zu entdecken.

Es dämmerte bereits, als Klaus Ruth in einiger Entfernung von der Trattoria aus seinem Auto steigen ließ und sich sagen hörte „in zehn Jahren.“ Ruth lachte und wiederholte „in zehn Jahren“ – und keiner von ihnen glaubte ernsthaft an ein Wiedersehen.

– 3 –

Das Dämmerlicht hatte die Umrisse der Trattoria schon weich werden lassen. Bunt leuchteten die elektrischen Birnchen über der Terrasse vor dem Haus. Ruth nahm die ersten Stufen der Treppe noch mit Schwung, dann wurden ihre Beine schwerer und ihre Schritte langsamer. Wie sollte sie sich Ansgar gegenüber verhalten, schoss es ihr durch den Kopf. Würde sie ihm genauso ungezwungen in die Augen schauen können wie heute Morgen bei ihrem Abschied?

Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg und hoffte, Ansgar würde die leichte Röte, die in ihr aufstieg, unter ihrer sonnengebräunten Haut nicht bemerken. Sie atmete tief durch, als sie die Tür zu dem Gastraum öffnete. Das helle Licht blendete sie zunächst und sie versuchte, mit blinzelnden Augen unter den Gästen Ansgar zu erkennen. „Ihr Freund sitzt auf der Terrasse“, rief die Wirtin.

Und dann sah sie durch die offenstehende Tür Ansgar draußen sitzen. Er breitete weit seine Arme aus und rief „Da bist du ja!“ Er umarmte sie fest und Ruth war erleichtert, dass sie während der Begrüßung ihren Kopf an seine Brust legen konnte. So beruhigte sich ihr Herzklopfen langsam und sie küssten sich beide in fester Umarmung.

„Wo bist du denn geblieben?“, fragte Ansgar. „Ich habe mir Sorgen gemacht und den Wirt schon gefragt, was ich nur machen soll. Denn langsam wird es draußen dunkel und in dieser unbewohnten Gegend verläuft man sich recht schnell einmal.“

„Ja, du hast Recht“, antwortete sie, „die letzte Stunde bin ich auch ganz schön schnell gelaufen, als die Sonne hinter Capri unterging. Ich hatte aber den Vorteil, dass ich denselben Pfad zurückgelaufen bin, wie auf dem Hinweg, auch wenn die Landschaft auf dem Rückweg immer anders aussieht als hinwärts. Aber auf dem Hinweg habe ich mich immer mal wieder umgedreht, wie mein Vater es mir beigebracht hat, um auch den Rückweg sicher finden zu können. Und natürlich haben mich auf dem Pfad die Götter geschützt“, fügte sie lächelnd hinzu und wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, ihren Freund so detailliert anzulügen.

Eigentlich, dachte sie, lehne ich es doch ab, so zu lügen – von kleinen Notlügen einmal abgesehen, die sind normal und erlaubt. Ich bin zur Ehrlichkeit erzogen worden und ich sage lieber die Wahrheit, auch wenn sie manchmal unbequem ist und Ärger nach sich zieht, der dann aber auch umso schneller verfliegt. Ich betrüge Ansgar im Grunde genommen jetzt schon ein zweites Mal, nachdem ich mich mit einer Leidenschaft, die so überraschend schnell aufflammte und über die ich mich selbst wunderte, einem anderen Mann ohne irgendeine Scham hingegeben habe. Aber eine Alternative habe ich nicht, will ich Ansgar nicht verlieren, und das wäre die unabwendbare Folge. Ruth, sagte sie sich, das darf dir nicht noch einmal passieren.

Ihr ungutes Gefühl ließ sie nicht los. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank, lehnte sich an ihn und nahm seine Hand. Er roch frisch rasiert nach seinem Lieblings-Rasierwasser, das sich Tabac nannte und auch danach duftete. Ruth genoss die Männlichkeit, die Ansgars Medium ausstrahlte, und sie fragte ihn mit einem Blick unter den Tisch: „Wie geht es deinem Fuß? Ich habe so an dich denken müssen. Wie schön wäre es gewesen, wenn du hättest dabei sein können. Der Pfad! Der ist wirklich himmlisch, und der herrliche Ausblick auf das Meer!“

„Nein, mir geht es schon besser. Die Wirtin hat meinen Fuß im Stundentakt mit Quarkumschlägen versorgt“ – und dabei hob er sein Bein – „Schau mal, ich kann meinen Zeh auch schon wieder etwas bewegen.“ Er versuchte währenddessen, seinen Fuß etwas zu drehen, musste dann aber doch sein Gesicht verziehen, weil ihm sein Zeh diese Strapaze offensichtlich übelnahm. „Aber wird schon“, sagte er, „wollen wir nicht einen Wein bestellen und eine große Flasche Wasser, denn du musst einen unheimlichen Durst haben nach dem langen Marsch.“

„Ja, bitte“, antwortete sie, „und ich gehe gerade mal kurz auf unser Zimmer, dusche mich und bin gleich wieder da. Ich mache ganz schnell.“

Ruth drehte den Wasserhahn der Dusche voll auf und ließ das Wasser durch ihre Haare und über ihren ganzen Körper laufen. Sie seifte sich kräftig ein und rieb den Schaum über ihre Haut, vom Scheitel bis zur Sohle, als wollte sie die leidenschaftlichen Berührungen von Klaus Körper, von seinem Schweiß und seinem Samen wegwaschen, vergessen machen.

Als sie dann erfrischt und in ihrem kurzen blauen Kleidchen mit den weißen Tupfen wieder vor Ansgar stand, fühlte sie sich innerlich beschwingt und erleichtert, wieder bei ihm zu sein. Aber so selbstsicher, wie sie sich gab, war sie auch wieder nicht. Die Angst, sie könnte sich verraten, wurde sie nicht los.

„Und was essen wir jetzt?“, fragte sie. „Ich habe einen Bärenhunger und könnte einen großen Teller Spaghetti verputzen.“

„Ich auch“, sagte Ansgar, „ich habe heute Mittag nur einen Mozzarella mit Tomaten gegessen, weil wir doch heute Abend zusammen essen wollten. In Berlin kenne ich keinen einzigen Italiener, der so gut kocht wie unser Wirt.“

Sie gaben ihre Bestellungen auf und stießen mit ihren Weingläsern an. „Und wie ist das bei euch in Kiel, habt ihr dort keine guten Italiener?“ fragte Ruth. „Nee“, meinte Ansgar, „bei uns gibt es zwar noch etwas anderes außer Kieler Sprotten, aber wenig Abwechslung in der Küche, obwohl meine Mutter eine gute Köchin ist. Sie macht einen köstlichen Kartoffelsalat zur gebratenen Scholle mit Speckwürfeln – das ist eine wahre Freude.“

„Und was macht eigentlich dein Vater von Beruf“, fragte Ruth.

„Mein Vater ist Bootsbauer für kleine Yachten und betreibt noch zusätzlich eine Bootsschule. Dort habe ich von der Pike auf Segeln gelernt. Die Kieler Woche kennst du ja bestimmt. Und auch die Liebe zur Technik in der kleinen Werft meines Vaters. Nur wollte ich eines Tages vom Wasser weg, und ich habe mich entschlossen, Architektur zu studieren. Berlin hat eine gute TH und den Vorteil, dass dort keine Wehrpflicht besteht. Denn ich lehne jede Art von Gewalt, geschweige denn Krieg, ab. Wie kann man denn nur jungen Menschen beibringen, wie man andere umbringt. Die ganze Bundeswehr und die Nato sind doch nur darauf angelegt, Krieg zu führen und darüber hinaus die Waffenindustrie samt ihren kapitalistischen Industriellen reich, dick und fett zu machen.“

Er nahm einen Schluck Wein und fuhr fort: „Sieh doch, was da in Vietnam passiert. Nachdem der Vietkong die französischen Kolonialisten vertrieben hatte, hatten die Amerikaner nichts Besseres zu tun, als mit ihrer ganzen Kriegsmaschinerie einzumarschieren und die Leute umzubringen. Keiner hat sie gerufen. Schon in Korea hatten die Amis nichts ausrichten können.“

„Genau!“, sagte Ruth.

„Ich kann diese den Krieg propagierenden Wochenschauen in den Kinos und diese Fernsehberichte nicht mehr sehen. Da kann man mir nicht mit dem Wehrdienst kommen, und das in einem Land, das Atom-Raketen bunkert.“

Er holte tief Luft und fuhr sich mit seiner Hand durch seine hellblonden Haare. Seine blauen Augen schauten zornig, ja fast verzweifelt. Er schüttelte seinen Kopf: „Mich haben sie zwar in Kiel noch gemustert, aber dann bin ich so schnell wie möglich nach dem Abitur nach Berlin. Und ich bleibe auch beruflich weiter dort, selbst wenn es in Berlin zu viele Architekten gibt und ich als Zeichner mein Brot verdienen muss. Nur darf mir keine Prosecco-Flasche auf die Finger fallen, sonst bin ich berufsunfähig.“

Beide lachten. „Und warum willst du ausgerechnet in Berlin Erziehungswissenschaften studieren?“, fragte er Ruth. „Das ist ganz einfach“, antwortete sie, „ich habe eine Freundin, die dasselbe Berufsziel hat wie ich und in Berlin ihren Freund, sodass nur die dortige Uni in Frage kommt. Und da wir schon vor langem beschlossen haben, unbedingt gemeinsam zu studieren, bin ich an der Uni in Berlin. Weißt du, Erika hat mir auch das Zimmer in der WG besorgt, was natürlich auch prima war – so können wir zusammenwohnen, auch wenn sie viel bei ihrem Freund ist, der noch bei seinen Eltern in Berlin wohnt.“

„Willst du denn auf Dauer in einer Frauen-WG wohnen?“, fragte Ansgar. Bevor sie antworten konnte, legte er seinen Arm um ihre Schultern, „ich könnte mir auch vorstellen, mit dir zusammen zu leben.“ Er schaute Ruth erwartungsvoll an.

Das kam für Ruth überraschend. Sie war zwar gleich nach dem Abitur nach Berlin gereist, um das Zimmer in der WG zu belegen, hatte auf einen Urlaub verzichtet und stattdessen den Sommer in der Großstadt verbracht. Sie hatte Berlin und ihre Freiheit von zu Hause, ihre Unabhängigkeit genossen. Endlich keinem verantwortlich zu sein, zu machen, was sie wollte oder es auch nicht zu machen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, war ihr großes Glück.

„Weißt du“, und sie legte auch ihren Arm um seine Schultern, „ich fände das eine gute Idee, doch möchte ich, dass wir uns noch ein bisschen näher kennenlernen, bevor wir so weitreichende Entscheidungen treffen. Du hast dein schönes Zimmer in Charlottenburg, wo wir jederzeit zusammen sein können, soviel und solange wir wollen. Die Jungs dort sind okay. Und ich, mein Schatz, möchte mein Leben auch noch etwas alleine führen.“ Und dabei schoss ihr der Gedanke an Klaus wie ein Blitz durch den Kopf, den sie noch vor wenigen Stunden umarmt hatte. Ein Gedanke, den sie sogleich wieder abschüttelte, den sie nicht ernsthaft aufkommen lassen wollte, denn sie liebte Ansgar, das war gewiss. Aber das Erlebnis mit Klaus hatte ihr gezeigt, dass das Leben auch anders spielen kann. Diese Möglichkeit wollte sie sich nicht gleich nehmen lassen.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, nicht mehr in meinem Elternhaus und in diesem verstaubten Paderborn leben zu müssen“, sagte sie. „Du musst dir meinen geliebten Vater vorstellen. Ein gestandener und ernster Schuldirektor, der seinen Beruf als Gymnasiallehrer über alles liebt. Der seinen Lateinunterricht und diese sture Grammatik ebenso liebt wie seinen Geschichtsunterricht. Der nie alle Fünfe gerade sein lassen kann. Der seinen eingefahrenen Tagesablauf nicht nur fünf Minuten ändern würde, der immer alles besser weiß als du, auch wenn du davon überzeugt bist, dass du endlich einmal Recht hast.“

„Und dann meine arme Mutter!“, sie schlug mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch. „Schon als junge Frau musste sie sich meinem Vater beugen, der 1935 in die NSDAP eintritt, um nicht seinen Beamtenstatus und seine Tätigkeit als Lehrer zu verlieren.

Meine Mutter, eine feingeistige Frau, die Musik in Wien studiert hatte und Klavierunterricht gab, hatte während ihres Studiums einen vermögenden Juden kennen und lieben gelernt, der an der Musikhochschule Dirigat studierte. Ein hoch gebildeter und von den Frauen Wiens umschwärmter Mann, der mit seinen Eltern nach Frankreich verschwand, als Österreich sich politisch an das Deutsche Reich annäherte und es für die Juden zunehmend gefährlich wurde. Meine Mutter hatte ihr Studium abgeschlossen und ist nach Paderborn in ihr Elternhaus zurück, das ebenfalls jüdisch war. Ihr Vater war Rebbe und ihre Mutter Schneiderin. Auf einem Konzert, in dem meine Mutter als Pianistin auftrat, lernten sich meine Eltern kennen und fanden vorsichtig, aber unbeirrbar zueinander. Ihre Eltern hatten bereits ihr bisschen Vermögen verkauft und vom Erlös Schiffskarten für die Überfahrt in die USA gekauft, als meine Mutter sich entschloss, meinen Vater zu heiraten. Sie war von ihm schwanger und wollte, dass ihr Kind einen Vater hat. Die Eheschließung hatte den Vorteil, dass meine Mutter nicht deportiert wurde, zumal sie vorsichtshalber zur katholischen Kirche konvertiert war. In dieser Atmosphäre sind meine beiden älteren Brüder aufgewachsen und zum Kriegsende meine Schwester geboren, während ich erst nach dem Zusammenbruch des tausendjährigen Reichs zur Welt kam.“

Ruth hatte lebhaft mit beiden Händen gestikulierend zu Ansgar gesprochen. „Aus diesem beengten Familienleben und dieser kleinbürgerlichen Bischofsstadt musste ich so schnell wie möglich raus. Ich möchte nicht mehr auf diesen traditionellen Jubiläumsbällen Walzer tanzen müssen, sondern Boogie-Woogie in einer Großstadt die Nacht durch, ohne Polizeistunde, ich möchte keine Konventionen – rein gar nichts, was mir die Luft rauben könnte. Ich fühle mich in Berlin wie losgebunden und kann mich nicht einfach schon wieder binden – verstehst du? Warte bitte auf mich, bis ich dir auf deine Frage, die mich sehr glücklich gemacht hat, vielleicht anders antworte. Ich bitte dich, hab Geduld.“

Er nahm ihren schmalen Kopf in seine große Hand, zog ihn zu sich und küsste sie auf die Stirne – ganz langsam und innig. „Ich kann warten, mein Liebling, denn ich liebe dich. Lass uns noch ein Glas Wein trinken und erzähle mir von deinen Plänen, erzähle mir, wie du dir dein Leben vorstellst und wie du die Zukunft siehst. Du machst mich neugierig.“

„Ich freue mich auf mein Studium und auf meinen Beruf als Lehrerin. Gerade die antiquierten Vorstellungen meines Vaters, die er als Lehrer exerziert, beflügeln mich, Kinder anders zu erziehen. Sie sollen sich frei entwickeln können, ohne gegängelt zu werden. Sie sollen nicht von Verboten drangsaliert werden, sondern nach ihren Veranlagungen leben und sich entwickeln können. Keine Strafen, keine Noten, sondern die Chance zu mehrgleisigem Lernen in einer Gesamtschule, in der jeder denselben Unterricht erhält und seine Fähigkeiten entwickeln kann. Nur so hat jedes Kind die Chance, nach seinen Veranlagungen das Beste für sich zu lernen und zu erreichen. Das würde mich als Pädagogin glücklich machen. Und ich wünsche mir einen Mann, mit dem ich ohne einseitige Vorgaben, ohne Zurechtweisungen und mit gemeinsam durchdachten Ideen leben werde. Und Kinder wünsche ich mir, das Glück des Lebens überhaupt. Das muss doch zu machen sein, Ansgar, was meinst du?“

„Das deckt sich genau mit meinen Vorstellungen von meiner Lebensgefährtin. Und wenn ich dann noch beruflich Erfolg habe und mit meiner Frau die finanzielle Basis für unser gemeinsames Leben erarbeiten kann, umso besser. Lass uns an unseren gemeinsamen Wünschen weiter feilen, an ihnen arbeiten und alles gemeinsam erleben – das wünsche ich mir.“

Die beiden blieben noch zwei Tage in der Trattoria. Sie unternahmen kleine Spaziergänge, soweit Ansgars verletzter Fuß mitmachte, sammelten Esskastanien, die sie mit den Zähnen knackten, und schwammen im Meer. Keine Wolke trübte den ewig blauen Himmel, kein unpassendes Wort verdarb die gute Stimmung, die ihnen den Abschied schwer machte.

Die Zeit über der Küste der weißen Städte Positano und Amalfi war für beide so schön gewesen, dass Ruth nichts dagegen gehabt hätte, wenn der Motor nicht angesprungen wäre, als Ansgar den Anlasserhebel seines 2 CV umlegte. Die Erinnerung an ihre Liebesaffäre, die sie am anderen Ende des Pfades der Götter gelebt hatte, begann sich in Vergessenheit aufzulösen.

– 4 –

Obwohl Klaus die Strecke mit ihren vielen engen Kurven entlang der Küste und durch die kleinen Dörfer kannte, dauerte die Fahrt von der Tenuta zum Flughafen in Neapel länger als erwartet. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als der Mitarbeiter des Autoverleihs in aller Ruhe die Karosserie des Fahrzeuges nach Schäden absuchte. „Und?“, fragte Klaus ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung und wurde endlich entlassen.

Er zerrte seinen Koffer über die Straße, fand den Eingang zur Abflughalle wider Erwarten schnell und atmete auf, als er die Warteschlange von Passagieren vor dem Counter der Lufthansa stehen sah – also war das Einchecken doch noch nicht beendet.

Endlich an Bord der Maschine, ließ er sich in seinen Sitz am Fenster fallen und streckte die Beine aus. Er genoss das ihm gereichte Glas Champagner. Wenn ich mich recht entsinne, dachte er, habe ich immer wieder viel Glück in meinem Leben gehabt. Nicht nur heute, da ich den Flug doch noch geschafft habe. Ich bin zwar erst seit drei Jahren als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig, bin aber bereits gut angesehen und habe Erfolg. Am meisten genieße ich es, wenn ein neuer Mandant erklärt, er habe zwar seit Jahren einen renommierten Anwalt, aber er wünschte sich für die neue Aufgabe, die er zu bewältigen habe, jetzt doch einmal einen jungen tatkräftigen Mann. Und so habe er Klaus erlebt, als er ihn bei der letzten Versammlung in der Industrie- und Handelskammer oder wo auch immer erlebt habe.

Klaus schloss die Augen. Ich möchte mir eine große Anwaltspraxis aufbauen und in der Stadt eine Persönlichkeit werden, sagte er sich. Ich bin bereits Mitglied der Museumsgesellschaft, spiele Tennis bei Schwarz/Weiß und werde bestimmt bald genug Geld verdienen, um die hohe Aufnahmegebühr des Frankfurter Golf-Clubs zahlen zu können. Und wenn ich im Augenblick auch nur einen Opel fahre, so freue ich mich schon jetzt darauf, wenn ich einmal einen Mercedes in der Garage meines Hauses stehen habe, das ich mir auf dem Lerchesberg vorstelle.

Marie ist eine wunderbare Frau, ein rechtes Weib mit Rasse und Elan. Sie hat mir vor bald zwei Jahren ein süßes Töchterchen mit schwarzen Haaren geboren. Ich bewundere ihre Intelligenz und ihre Sportlichkeit. Und ich wünsche mir einen Sohn, der meine helle Freude sein wird, das weiß ich jetzt schon.

Während der letzten Bilder, die sich vor seinen Augen auftaten, erschien ihm eine andere Frau, die er erst vor wenigen Stunden leidenschaftlich in seine Arme geschlossen und geradezu wild geliebt hatte. Er vermeinte, die Wärme ihres Körpers und ihrer Lippen zu spüren. Als er sich dessen bewusstwurde, versuchte er, sich gegen das aufkommende sehnsüchtige Empfinden zu wehren und seine Gefühle den Wolken anzuvertrauen, um wieder ruhiger atmen zu können. Es war ihm eine Erleichterung, als die Stewardess ihm das Glas aus der Hand nahm, ihm das Essen servierte und ihn in die Realität zurückholte.

Wie konnte ihm das passieren. Er war doch kein Schürzenjäger. Marie und er, sie hatten es bisher mit der Treue ernst genommen, da konnte er sich auf seinen Schatz verlassen. Und jetzt dieses Erlebnis, das er Marie niemals offenbaren würde, da war er sich sicher. Wenn sie über ihre Ehe und ihre Liebe sprachen und ehrlicherweise nicht sicher waren, ob sie eine eheliche Treue wirklich durchhalten oder ihr Versprechen brechen würden, hatten sie sich versprochen, sich so zu verhalten, dass der andere nie verletzt werde. Seinen Fehltritt würde Marie als eine schwere Kränkung empfinden, wenn er ihr seine Affäre mit Ruth eingestehen würde, wie auch er sich nicht vorstellen konnte, dass Marie ihn mit einem anderen Mann betrügen würde. Unter keinen Umständen wollte er Marie wehtun. Er versuchte, langsam auch mit Erfolg, diese quälenden Gedanken zu vertreiben. Diesem Wesen vom Pfad der Götter würde er mit Sicherheit sein Leben lang nicht mehr begegnen, das schwor er sich.

Das Taxi rumpelte über das Kopfsteinpflaster der Waidmannstraße und rollte vor dem Haus Nummer 77 aus. Angermanns lebten im Erdgeschoss eines der schönen Altbauten, die seit der Gründerzeit die Straße rechts und links zierten. Roter Mainsandstein dominierte die Fassaden mit ihren hohen Fenstern und Balkonen. Sie strahlten die solide Zufriedenheit ihrer bürgerlichen Bewohner aus, die stolz ihre umzäunten Vorgärten und ihre Blumenkästen pflegten.

Im offenen Fenster des Schlafzimmers, das zur Straße lag, stand Marie. Sie hatte Franziska auf dem Arm. Als diese ihren Vater erblickte, schrie sie „Papi, Papi!“, und hopste vor Vergnügen auf dem Arm ihrer Mutter, die sie kaum festhalten konnte.

„Mein Liebling!“, rief Klaus, „bist du wieder gesund? Komm schnell in meine Arme, damit ich dich knutschen kann.“

Er nahm seinen Koffer und eilte ins Haus. Marie stand schon in der Türe und drückte Franziska in seine Arme. Er genoss die Küsse seiner Tochter und spürte in seinen Händen die nackten Beinchen des kleinen Mädchens, dessen zweiter Geburtstag bevorstand. Erst als Klaus ihr kleines Köpfchen in seine Hände nahm, um sie zu küssen, fielen ihm die vielen inzwischen getrockneten Pocken auf, die sich über ihr gesamtes Gesichtchen verteilten.

„Du armer kleiner Streuselkuchen“, sagte er. „Papi ist ganz traurig, dass du krank geworden bist. Deine liebe Mami ist ja gleich gekommen und schon geht es dir besser. Aber jetzt muss ich erst einmal deine süße Mami in den Arm nehmen und küssen.“

Er legte seinen freien Arm um die Taille seiner Frau und sie betraten die Wohnung. „Oh je, mein Koffer steht noch draußen“, fiel es ihm ein. „Ich habe doch meinem Püppchen etwas mitgebracht.“ Er holte sich seinen Koffer aus dem Treppenhaus, trug ihn in das Wohnzimmer und öffnete die Schlösser.

„Schau mal“, und er zog ein bunt bemaltes Männlein mit einem spitzen Hut und einer ganz besonders langen Nase heraus. „Das ist Pinocchio, wenn ich vorstellen darf, und das ist unsere liebe Franziska“, sagte er, während er das Männlein seiner Tochter überreichte. „Das ist ein lustiger Geselle, der nur Quatsch macht und die Leute zum Lachen bringt. Heute Abend, wenn die Mami dich ins Bett gebracht hat, erzähle ich dir eine Geschichte von ihm. Du wirst dich totlachen.“ Er stieß seiner Tochter mit seinem ausgestreckten Zeigefinger leicht in den kleinen Bauch und beide lachten lauthals.