Philosophenzeit - Reiner Ruffing - E-Book

Philosophenzeit E-Book

Reiner Ruffing

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Beschreibung

Wage es, deinen Verstand zu benutzen. (Horaz)

- Praktische Philosophie für den Alltag
- Ein geistiges Fitnessprogramm für eine feste Geisteshaltung

Leben im Hier und Jetzt, die Gegenwart gestalten – das liegt in unserer Hand. Sinnlos ist es, der unwiderruflichen Vergangenheit nachzutrauern oder der ungewissen Zukunft entgegenzufiebern.
Der Philosoph Reiner Ruffing hat ein kleines Brevier zur Lebenskunst verfasst, das animieren möchte, den Sinn- und Wertefragen unseres Daseins auf philosophischem Wege nachzugehen. Dazu stellt der Autor philosophische Erkenntnisse und Praktiken vor und zeigt, wie mit ihrer Hilfe eine fundierte Geisteshaltung erworben werden kann. Denn eine so gestärkte Persönlichkeit kann den Stürmen des Lebens besser standhalten.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Carpe diem
Copyright
Reiner Ruffing, geb. 1955, promovierter Philosoph, Referent im Informationszentrum Berlin, Vorträge zur politischen, wirschaftlichen und kulturellen Lage Berlins, Lehrbeauftragter im Fachgebiet politische Theorie, Dozent in der Erwachsenenund Lehrerweiterbildung in Berlin und Rheinland-Pfalz, Studienrat in den Fächern Deutsch, Sozialkunde, Ethik und Philosophie, verschiedene Veröffentlichungen, verheiratet, 2 Kinder, lebt in Elmstein, Rheinland- Pfalz.
Vorwort
Warum sollten Gemälde, Literatur oder Musik, nicht aber unser eigenes Leben ein künstlerisches Projekt sein? In der Antike wurde der Begriff »ars vivendi« als »Kunst zu leben« entwickelt. Gut zu leben, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von geistiger Disziplin und Übung. Ähnlich wie an einem Kunstwerk können wir an uns selbst arbeiten. Insbesondere die Philosophen aus den hellenistischen Schulen der Stoa und des Epikur schlagen eine Vielzahl von Praktiken und Übungen vor - Gespräche mit Freunden, tägliche Meditationen, sich wichtige Lebensweisheiten in Notizbüchern (den hypomnemata) festzuhalten -, die zu mehr Lebensqualität führen können. Allzu leicht vergessen wir das Wichtigste im Leben, nämlich das Leben selbst. Um das eigene Leben wieder in den Blick zu bekommen bzw. zu intensivieren, werden in diesem Buch Übungen und Weisheiten zur Lebenskunst vorgestellt. Denn wie der Körper trainiert werden kann, kann man auch seinen Geist üben und in eine gute Form bringen.
Die antiken Lehrer geben eine Reihe psychologischer Hilfen zur Bewältigung von Lebensaufgaben. So können wir uns vornehmen, mindestens einmal am Tag innezuhalten, um uns der tiefsten Freude zu vergewissern, die wir haben: der Freude zu sein. Ein solcher Moment muss nicht lange andauern, wenn er nur intensiv genug ist. Es ist hilfreich, sich wertvolle Momente, Weisheiten, Sinnsprüche gut einzuprägen, um jederzeit auf sie zurückgreifen zu können. Wenn wir zum Beispiel Zorn in uns aufsteigen spüren, sollten wir uns fragen, ob das Problem überhaupt der Aufregung wert ist. Übe dich, deine Fassung zu bewahren, nimm dich zusammen! Zorn, wenn er warten muss, hört auf. (Seneca) Oft ist das vorgestellte Übel weitaus schlimmer als das wirkliche. Wenn wir etwas Zukünftiges befürchten, sollten wir prüfen, ob wir die Vorzeichen richtig einschätzen. Meist gibt es nur wenige Indizien für schlechte Erwartungen, und das befürchtete Ereignis erweist sich im Nachhinein als harmlos. Es können sich auch Faktoren verändern und dann zu unseren Gunsten auswirken. Wieviel Erwartetes ist nie erschienen? (Seneca)
Wenn dich jemand geärgert hat, empfiehlt Marc Aurel, zu überlegen: Kann dieser Mensch vielleicht gar nicht anders? Bedenke, dass auch du nicht unfehlbar bist und so, wie er dich ärgert, auch du andere Menschen verärgert hast. Überlege, ob du dir sicher sein kannst, dass dein Mitmensch nicht vielleicht recht hat, du müsstest vielleicht noch vieles mehr über ihn wissen, um sein Verhalten besser einschätzen zu können. Überlege weiter, ob deine Aufregung über ihn gerechtfertigt ist, ob er es überhaupt verdient, dass man sich über ihn Gedanken macht. Das Leben ist kurz, und wenn du dich noch länger ärgerst, hast du deine Zeit vergeudet. Bedenke, dass nur das eigene unsittliche Tun unsittlich ist und du mit dem falschen Tun eines anderen eigentlich nichts zu schaffen hast, es ist ja nicht dein Problem, wenn sich der andere nicht richtig benehmen kann. Güte ist letztlich unbesiegbar. Immer wieder können wir uns mit Epiktet sagen, es sind ja nicht die Dinge und Menschen, die uns ärgern, sondern unsere Bewertungen. Deshalb sollten wir, wenn wir aufgeregt sind, das Problem genauer analysieren!
Obwohl wir es in der heutigen komplexen Welt mit Problemen zu tun haben, die die Menschen in früheren Epochen nicht kannten, behalten einige grundlegende Weisheiten ihre Gültigkeit: z. B. dass das Leben unberechenbar ist und man sich intellektuell rechtzeitig auf seine Härten vorbereiten sollte. Gelassenheit war eines der höchsten Ziele der stoisch-epikureischen Lebensform. Wir sollten es nicht zulassen, dass uns die Ereignisse überrollen oder in die Enge treiben. Nicht nur im fernen Osten, sondern auch im Westen gibt es eine lange spirituelle Tradition, um Weisheit zu erlangen. Die abendländische Philosophie kann als eine reiche Quelle an Übungen und Anleitungen begriffen werden, wie wir unser Leben verändern und innerlich gefestigter werden können. Bester Mann, sagte Sokrates einmal zu einem der reichsten und angesehensten der Athener Bürger, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen,... und für Ruhm und Ehre, für Einsicht (phronesis) aber und Wahrheit (aletheia) und für deine Seele (psyche), dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht... Für sich selbst und seine Seele zu sorgen ist eine Haltung zum Leben, die es wertvoller und tiefer werden lässt. Recht verstanden ist die Philosophie ein Schlüssel zu mehr Lebensglück, allerdings nur, wenn wir bereit sind, die Erkenntnisse anzuwenden. Wir müssen uns jeden Tag aufs Neue vornehmen, nicht alles so nah an uns herankommen zu lassen, den Blick für das Wesentliche zu behalten, gelassen zu bleiben. Es bedarf langer und ausdauernder Übung, bis man auf dem Weg zur Weisheit auch nur ein kleines Stück vorangekommen ist.
Carpe diem
Carpe diem (wörtlich: Pflücke diesen Tag) gehört zu den bekanntesten Sprüchen der Antike. Oft wurde er in den Sonetten der krisenhaften Barockzeit aufgegriffen, zum Beispiel in den Gedichten von Andreas Gryphius. Den Tag pflücken / nutzen, heißt, in der Gegenwart zu leben und sowohl der Zukunft als auch der Vergangenheit nicht zu viel Gewicht beizumessen. Sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit entziehen sich unserer direkten Einflussnahme. Was geschehen ist, ist unwiderruflich vorbei, und was die Zukunft bringt, ist prinzipiell ungewiss. Doch die Gegenwart zu gestalten liegt größtenteils in unserer Hand, nur unsere Gegenwart können wir spontan verändern. Man muss versuchen, den folgenden Tag besser als den vergangenen zu machen, solang wir unterwegs sind..., sagt der griechische Philosoph Epikur. Der römische Dichter Horaz, von dem das carpe diem stammt, legt uns nahe, die uns zur Verfügung stehende Zeit so intensiv wie möglich zu nutzen. Die berühmte Wendung befindet sich am Schluss der im Jahre 23. v. Chr. veröffentlichten 11. Ode im ersten von drei Büchern seiner Lieder (Carmen). Hier antwortet das lyrische Ich einer Frau namens Leuconoe - vielleicht die Geliebe Horaz’ -, die offenbar von ihm die Zukunft geweissagt haben will. In der Übersetzung von Winfried Tilmann lautet die hier gekürzt wiedergegebene Ode:
Du sollst nicht fragen, Leuconoe,auch nicht verbotenes Wissen,was mir, was dir für ein Ende die Götterbestimmt,forsch nicht in den Sternen.Dulde es besser so, wie es kommt,...Pflücke den Tag (carpe diem), setze,so wenig du kannst,leichtgläubig auf morgen.
Im Gegensatz zu seinem Gönner Maecenas hielt Horaz nicht viel von der Astrologie, besonders ihr Anspruch, den Todeszeitpunkt eines Menschen anhand der Sternenkonstellation voraussagen zu können, war ihm suspekt. Man kann höchstens über den heutigen Tag verfügen, vielleicht noch beeinflussen, was morgen ist, aber nicht wirklich das, was im nächsten Jahr passieren wird. Der Mensch ist jederzeit Unfällen, Naturkatastrophen oder plötzlich auftretenden Krankheiten ausgeliefert. Er muss sein Todeslos tragen. Eigentlich sterben wir täglich ein bisschen, insofern am Ende eines Tages wieder Lebenszeit verstrichen ist. Deshalb ist es wichtig, den Augenblick zu ergreifen. Nur Toren haschen nach dem Abwesenden, das Gegenwärtige dagegen, wenn es auch vorteilhafter ist als das ihnen Entgangene, lassen sie umkommen. (Demokrit)
Gerade weil es so kurz und kostbar ist, müssen wir versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen, egal wie viele Winter man noch zu leben hat. Man wird nur einmal geboren, zweimal geboren zu werden, ist uns nicht erlaubt. (Epikur) Leucone soll sich am Leben freuen und sich nicht allzu sehr grämen. Es geht darum, »jetzt« glücklich zu sein. Es macht keinen Sinn, sich über vergangene Dinge, die es nicht mehr gibt und zukünftige Dinge, die es noch nicht gibt, den Kopf zu zerbrechen; was jedoch nicht heißen soll, dass man aus seinen Erfahrungen nicht lernen und reifen soll. Carpe diem bedeutet auch, sich Mußestunden zu gönnen und sie in die Lebenszeit bewusst zu integrieren. Wenn wir wirklich im gegenwärtigen Augenblick leben, machen wir uns weniger Sorgen, die erst dann entstehen, wenn wir an die Zukunft oder die Vergangenheit denken. In Zeiten der Muße wächst neue Kreativität, die Muße dient der geistigen und körperlichen Gesundheit. Der Mensch ist weder ein Arbeitstier noch der homo oeconomicus der liberalen Wirtschaftstheorie. Wir müssen für unser Seelenheil gelegentlich aus der Tretmühle aussteigen, um die Welt mit anderen Augen zu sehen. Die Muße ist die Mutter der Innovation, schreibt ausgerechnet der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm.
Seneca empfahl Lektürestunden und Reflexionen über unsere Lebensziele als sinnvolle Tätigkeiten. Doch heute wollen nur noch die wenigsten etwas vom Lob der Langsamkeit wissen. Es soll alles möglichst schnell und reibungsfrei funktionieren. Doch wollen wir wirklich die verplante, berechenbare und funktionale Welt? Das Leben ist kurz. Warum es dann noch zusätzlich beschleunigen? Wenn wir das Glück auf den morgigen Tag verschieben, haben wir schon verloren. Denn wer »jetzt« nicht das Glück zu ergreifen vermag, der wird es morgen auch nicht schaffen. Wer weiß, ob es ein Morgen überhaupt gibt: nimmer traue dem nächsten! Wir sollten uns jeden Augenblick bemühen, dem Leben den besten Sinn zu geben, was unsere ganze Interpretationskunst erfordert. Carpe diem bedeutet auf keinen Fall, sich sinnlos zu betrinken oder sorglos in den Tag hinein zu leben. Es bedeutet, belastenden Gedanken kein Gewicht beizulegen, der Angst vor der Zukunft keinen Raum zu geben und mit klarem Kurs sein Lebensschiff zu steuern. Im Gedicht heißt es, man solle den »Wein klären«, was nichts anderes heißt, als mit einem Siebtuch den Trester vom Wein abzutrennen. Horaz will damit sagen, dass wir uns jeweils um die naheliegendste Verbesserung kümmern sollten, zum Beispiel um die Qualität des Weines, den man gleich trinken will. Den Wein klären kann auch bedeuten, die Spreu vom Weizen zu trennen und sich nur um die Dinge zu sorgen, für die es sich zu leben lohnt.
Als Horaz seine Verse schrieb, konnte er auf einen großen Erfahrungsschatz und ein bewegtes Leben zurückblicken. Geboren wurde er am 8. Dezember 65 v. Chr. in der Militärkolonie Venusia im süditalienischen Apulien als Sohn eines Freigelassenen. Die Mutter scheint früh verstorben zu sein, da sie von ihm nicht erwähnt wird. Zunächst zog er mit seinem Vater nach Rom, um dann alleine weiter nach Athen, der damaligen Kulturhauptstadt Europas, zu ziehen. Dort geriet er in den Sog der politischen Ereignisse. Er schloss sich 44 v. Chr. den Verteidigern der alten Republik an und stieg zum Militärtribun auf, doch seine Karriere endete nach nur ein paar Jahren mit der Niederlage von Philippi 42 v. Chr. Später wird er sagen, dass Philippi ihn zwar in die Armut gestürzt, aber auch den Anstoß gegeben habe, Verse zu schreiben. Nach einer allgemeinen Amnestie kehrte Horaz nach Rom zurück, um eine Stelle als Magistratsbeamter anzutreten. 38 v. Chr. wurde er von seinen Dichterfreunden Varius und Vergil in den Kreis des großzügigen Förderers Maecenas - von Maecenas leitet sich das Mäzenatentum ab - eingeführt und bekam von ihm ein Landgut in der Nähe von Tibur (Tivoli) in den Sabiner Bergen geschenkt. Hier endlich konnte er ungestört von der Hektik Roms an seinen Oden arbeiten.
Horaz, von dem auch das berühmte sapere aude - wage es, deinen Verstand zu benutzen - stammt, vertrat eine auf Unabhängigkeit zielende Lebensphilosophie, ohne jedoch die Politik zu vernachlässigen. In seinen Oden preist er die Freuden des ländlichen Lebens, der Mitmenschlichkeit sowie der Bescheidenheit; in der formalen Gestaltung seiner Poesie erweist er sich als Schüler der griechischen Dichterin Sappho und der griechischen Dichter Anakreon, Alkaios und Pindar. Auch sein Motto »carpe diem« entlehnte Horaz einem Griechen, nämlich dem auf der Insel Samos geborenen Philosophen Epikur (341-270 v. Chr.), dessen höchstes Ziel die Luststeigerung war und dessen Schule man auch als kêpos (Garten) bezeichnete, weil seine Schüler in einem Garten philosophierten. Philosophie war für Epikur nichts rein Theoretisches, sondern eine Methode, um im Leben glücklich zu werden. Wie Epikur vertritt auch Horaz eine Philosophie der Freude. Es ist ungewiss, ob man den »dies posterus« erleben wird, da man nicht weiß, wann man sterben wird. Aus diesem Grund soll man den heutigen Tag pflücken »carpere« und genießen. Wenn man etwas pflückt, so ist dies meist eine reife Frucht oder eine schöne Blume. Man erfreut sich an der Pflanze oder isst die Frucht, um sich zu stärken. Ebenso soll man es mit dem Tag tun. Leuconoe soll sich am heutigen Tag erfreuen und ihn derart nutzen, dass er ihr das größtmögliche Glück beschert. So wird auch die zweite Übersetzung für das Wort »carpere« offensichtlich - nämlich »genießen«. »Etwas zu pflücken« heißt deshalb im übertragenen Sinne »etwas zu genießen« - es zu nutzen und sich daran zu erfreuen.
Hätte man den letzten Tag vor seinem Tod in nutzlosen Quälereien verbracht, so hätte man nicht nur das Leben, sondern eben auch diesen einen gestaltbaren Tag verloren. Die Quintessenz aus diesen Überlegungen könnte sein, dass wir jeden Tag für einen Moment innehalten und daran denken sollten, wie schnell alles vorbei sein kann. Von dem römischen Senator und Philosophen Seneca stammt der Satz: Ihr habt keine Gewähr für die heutige Nacht, doch diese Frist ist schon zu lang gedacht, nein auch nur für die nächste Stunde. Wir haben zwar schon viele Tage und Nächte unbeschadet überlebt, doch woher wollen wir wissen, dass es so weitergeht? Und doch machen wir so weiter wie bisher und verbringen einen Großteil unseres Lebens mit billigen Zerstreuungen und unfruchtbaren Aktivitäten, anstatt den Tag zu nutzen. Wenn wir unser spirituelles Leben auf morgen verschieben, stehlen wir uns am Ende selbst jeden einzelnen Tag, sagt der Buddhist Matthieu Ricard. Deshalb müssen wir für die gegenwärtige Situation wachsam sein und dürfen das Gute nicht auf eine ferne Zukunft verschieben. Du aber, der du nicht Herr über den morgigen Tag sein kannst, du schiebst die Freude auf später auf. Das Leben jedoch zehrt sich unter diesen Verzögerungen auf... (Epikur)
Das gute Leben lässt sich nicht bis ins hohe Alter aufschieben. Doch der Mensch ist ein Gewohnheitstier und lässt sich nur zu gerne einlullen, wenn die Schicksalsgöttin es für eine längere Zeit zu gut mit ihm gemeint hat. Dann sehen wir bald gar keine Unwegsamkeiten mehr. In Wahrheit jedoch ist die Welt voller Gefahren; auch in guten bzw. Friedenszeiten, wo es uns nicht bewusst ist, dass wir verletzbare, endliche Wesen sind. Man muss jederzeit die conditio humana (lat. die Bedingungen des menschlichen Lebens), das heißt, dass wir endliche, fehlbare, leicht verletzbare Lebewesen sind, berücksichtigen. Ein Autounfall oder ein Sturz von der Leiter kann alles verändern! Wir wissen nie genau, was als nächstes geschehen wird. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, heißt es bei Heraklit. Unglücke treffen uns existenziell viel härter, wenn wir nicht vorbereitet sind. Gerade das Unerwartete schlägt die tiefsten Wunden. Oft sind wir noch in einer anderen Hinsicht zu idealistisch, was nämlich die Zukunft bzw. die Menschen betrifft: Wenn wir zum Beispiel zu viel Hoffnung in die Dankbarkeit anderer Menschen setzen. Falls unsere Erwartungen enttäuscht werden, reagieren wir zornig. Es ist also ratsam, für den Tag dankbar zu sein, den wir unbeschadet und glücklich leben dürfen. Egal was man tut, ob man nun missmutig ist oder fröhlich, die Zeit vergeht.
Den Tag zu ergreifen bedeutet nicht, unsere Vergangenheit zu verleugnen. Das wäre eine schlechte Art, mit sich selbst umzugehen. Zurückschauen ist nicht immer umsonst. Um das zu verdeutlichen, erzählt der griechische Philosoph und Historiker Plutarch die folgende Parabel. Ein Mann dreht in der Unterwelt aus Binsen ein Seil und jedes Mal, wenn er ein Stück fertig hat, kommt ein Esel und frisst es auf. Ebenso geht es einem dummen Menschen, der jede glückliche Mußestunde, jede Tat und jeden Erfolg sofort hinter sich liegen lässt, um sich Neuem zuzuwenden. Indem er sein vergangenes Leben vergisst, zerstört er die Einheit seines Lebens, in dem nun einmal Vergangenheit und Gegenwart unauflöslich miteinander verflochten sind. Jemand, der nicht sehen will, dass auch das wichtig ist, was schon geleistet wurde, hat sich zu stark der Zukunft verschrieben. Er lässt aus Dummheit zu, wie seine gerade entstandene Arbeit verschlungen wird. Ein solcher Mensch wird im Laufe der Zeit handlungsunfähig, erfolglos und ungesellig, da ihm keine glückliche Muße (griech. skhole) vergönnt ist. Plutarch mahnt, dass man sich in der Erinnerung üben soll. Man sollte die Vergangenheit treu in seinem Gedächtnis bewahren, da sonst auch der heutige Tag zum Sklaven des Kommenden wird und keine Kontinuität im Leben entsteht. Über Plutarch sagt Max Pohlenz, dass er zwar keiner von den ganz Großen, aber eine der liebenswürdigsten Persönlichkeiten des Altertums war.
In seinen Lebenserinnerungen betont Giacomo Casanova: Heute, im Alter von 72 Jahren... wüsste ich mir keinen angenehmeren Zeitvertreib, als mich mit meinen eigenen Erlebnissen zu unterhalten. Man muss nicht wie Casanova gelebt haben, um sich schöne Erlebnisse oder heitere Stunden ins Gedächtnis zu rufen. In Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist es der angenehme Geschmack eines in Tee getauchten Gebäcks, der die alte Welt in ihrer vollen Pracht wiederentstehen lässt. Proust schrieb viele Jahre an seinen Erinnerungen; er hätte es sicher nicht getan, wenn es ihm nicht auch Freude bereitet hätte, in die Vergangenheit
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