Play & Pretend - Nena Tramountani - E-Book
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Play & Pretend E-Book

Nena Tramountani

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Beschreibung

Briony & Sebastian: Sie fühlt sich in ihrem Leben wie eine Statistin. Doch für ihn spielt sie die Hauptrolle ...

Auf der Bühne kann Briony alles sein, was sie im echten Leben nicht ist. Die Schauspiel-Studentin liebt es, in fremde Rollen zu schlüpfen, doch kaum jemand kennt den wahren Grund dafür. Nur ihr attraktiver Schauspielkollege Sebastian versucht hartnäckig herauszufinden, was sie im Rampenlicht vergessen will. Ausgerechnet mit ihm muss sie sich auf die Hauptrollen eines Theaterstücks vorbereiten. Der Gedanke, dass sie darin das Liebespaar spielen sollen, lässt Brionys Herz höher schlagen. Sie will sich nicht eingestehen, dass sie Sebastians Nähe genießt – denn gleichzeitig macht er ihr Angst. Besonders in den Momenten, wenn sich sein Blick plötzlich verdunkelt und Briony ahnt, dass sie nicht als Einzige ein Geheimnis verbirgt …

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Seitenzahl: 561

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Nena Tramountani, geboren 1995, liebt Kunst, Koffein und das Schreiben. Am liebsten feilt sie in gemütlichen Cafés an ihren gefühlvollen Romanen und hat dabei ihre Lieblingsplaylist im Ohr. Nach ihrem Studium der Sprachwissenschaften arbeitete sie als freie Journalistin und zog anschließend nach Wien. Inzwischen lebt sie wieder in ihrer Heimat Stuttgart, wenn sie gerade nicht auf Inspirationsreisen ist.

Außerdem von Nena Tramountani lieferbar:Fly & ForgetTry & Trust

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Nena Tramountani

Play & Pretend

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

Die Shakespeare-Zitate stammen aus folgender Ausgabe: William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum. Eine Komödie. Universal-Bibliothek Nr. 73. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel. Reclam Verlag 1957.

Copyright © 2021 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd GmbH

Umschlagmotiv: www.buerosued.de

Redaktion: Melike Karamustafa

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25912-9V002

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis. Nena Tramountani und der Penguin Verlag

Für alle mit Monstern in ihren Köpfen. Ihr seid nicht allein.

1. KapitelTell the mirror what you know she’s heard before

BRIONY

Erster Akt. Neuer Tag, neues Glück.

Erste Szene. Du schaffst das.

Ein WG-Wohnzimmer in London, Soho. Das schönste Wohnzimmer überhaupt: silberne Tapete, von der Decke hängende Pflanzen, Vintage-Möbelstücke, Lichterkette, roter Perserteppich.

Mein Wohnzimmer. Unseres. »Hab ich mich selbst übertroffen oder hab ich mich selbst übertroffen?«

Aus unserer kleinen Küchennische trat mein Mitbewohner, mit dem ich bis vor einigen Wochen noch kaum ein Wort gewechselt hatte, obwohl wir seit zwei Jahren zusammenwohnten. In einem fleckigen schwarzen Shirt und tief sitzender Jogginghose: Noah, 21, angehender Autor und überraschenderweise sehr begabt in der Küche, wie sich ebenfalls erst vor ein paar Wochen herausgestellt hatte. Außerdem der beste Freund von …

Nein. Streich das. Daran denkst du heute nicht. Sonst wird das nichts mit dem Neuanfang.

Ich zwang mich zu einem Lächeln.

Zwei Pancake-Türme. Einer mit Himbeeren und Vanilleeis, einer mit Bananen und Karamellsoße garniert. Daneben dampfendes Apfel-Porridge mit goldbrauner Zimtkruste. Hash Browns. Avocado auf Toast. Eggs Benedict. Frisch gepresster Orangensaft. Schwarztee mit Milch. Duftender Kaffee. Jeder Millimeter unseres Wohnzimmertischs war mit Frühstück bedeckt, dabei hatten wir weder Wochenende noch Semesterferien.

Mein Magen rebellierte, während ich mich aufs Sofa fallen ließ. »Das sieht grandios aus.«

Noah schenkte mir einen dankbaren Blick und gab Mitbewohnerin Nummer zwei einen Kuss auf die Nase. Sie war gerade gähnend aus seinem Schlafzimmer geschlurft gekommen und riss jetzt die dunklen Augen auf. Ihr Lächeln war echt, da war ich mir sicher.

Liv, 20, angehende Journalistin, eine echte Bereicherung für die WG und der Grund, aus dem Noah so aus sich herausgekommen war.

»Ich hab mich schon gefragt, wieso du nicht mehr im Bett liegst.« Sie schlang einen Arm um seine Mitte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

Noah verwuschelte liebevoll ihren Pony und strahlte sie an. »Hab mein Manuskript beendet und dachte mir, das ist ein Grund zum Feiern.« Seine Augen waren rot gerändert und die Bartstoppeln länger als sonst, aber seine Züge spiegelten pure Glückseligkeit.

»O mein Gott, was?«, quietschte sie und schlang ihm beide Arme um den Hals. »Es ist fertig? Es ist wirklich, wirklich fertig? Das heißt, ich darf es endlich lesen?«

Für einen Moment schnürte es mir die Kehle zu. Es lag nicht an den beiden. Nicht direkt jedenfalls. Sie waren Kindheitsfreunde, nein, mehr noch, Seelenverwandte, und bis vor Livs Einzug hatte jahrelang Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Nach einigem Hin und Her waren sie wieder ein Herz und eine Seele geworden. Es störte mich eigentlich kein bisschen, mit einem Paar zusammenzuwohnen. Der Stimmung tat es gut. Wir waren zum ersten Mal überhaupt eine richtige WG.

Doch meine Miene schien Bände zu sprechen. Als mich die beiden ansahen, wirkten sie auf einmal betreten.

Liv löste sich von Noah und setzte sich zu mir aufs Sofa. »Wie geht’s dir?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.

Oh, nein. Nein, nein, nein.

Befänden wir uns tatsächlich in einem Theaterstück, wäre die Rolle, die man mir zugeteilt hatte, klar umrissen: Briony, 21, angehende Schauspielerin, einziger Single in der WG, todunglücklich. Aber diese Gedanken würde ich nicht zulassen. Nicht heute. Heute war wichtig.

Mein Lächeln wurde breiter. »Bin etwas nervös wegen später.« Ich schaute wieder zu Noah. »Aber noch mal zu dir: Glückwunsch zum vollendeten Manuskript! Wie fühlt es sich an?«

Sein Blick war voller Mitgefühl.

Auf einen Schlag befanden sich Glassplitter in meinem Bauch, sie bewegten sich aufwärts, und ich musste wegsehen, um das Schlimmste zu verhindern.

Nach einer viel zu langen Pause antwortete er etwas, doch seine Worte gingen in der lauten Stimme unter, die aus dem Flur zu uns hinübertönte.

»Was riecht hier so geil?«

Wenige Sekunden später trat unsere schwarzhaarige WG-Schönheit ins Wohnzimmer und blinzelte verschlafen in die Runde. Ich war aufgewacht, als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war. Egal, wie viel Mühe sie sich gab, leise zu sein zählte nicht zu ihren Stärken. Mir war klar, wo sie die Nacht verbracht hatte und weshalb sie nach Hause gekommen war, anstatt dort zu schlafen.

Mitbewohnerin Nummer drei: Matilda, 21, Psychologiestudentin und … all das spielte keine Rolle. Es gab viel wichtigere Begriffe: Lieblingsmensch. Beste Freundin. Mein Ein und Alles.

Die Übelkeit in mir verstärkte sich trotzdem.

Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich innerhalb von Sekunden, als sie mich erblickte.

»Guten Morgen«, rief ich, so fröhlich ich konnte. Täuschen konnte ich sie auf Dauer nicht, dafür kannten wir uns zu gut, aber ich musste es zumindest versuchen. »Noah hat sein Manuskript beendet und uns dieses tolle Frühstück gezaubert!«

»Hast du gut geschlafen?« Liv griff nach der French Press und verteilte den duftenden Kaffee auf vier Tassen, nachdem sie Matilda ein Lächeln geschenkt hatte.

Ich blendete ihre Gespräche aus. Griff nach der Tasse, die sie mir hinhielt, trank, verbrannte mich prompt, trank weiter, lächelte, griff nach einem Teller, den Noah mir hinhielt, häufte Pancakes darauf und begann zu essen, obwohl jeder Bissen die Übelkeit verstärkte. Ich gab die passenden Geräusche von mir, während sie redeten, und jedes Mal, wenn Matildas Blick mich streifte, lächelte ich noch breiter.

Ein Neuanfang. Es ist ganz einfach.

Ich kaute und schluckte und erwiderte ihren Blick. Es war wichtig, dass ich sie dabei ansah. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Wenn ich wegschaute oder zu essen aufhörte, würde sie noch mehr Verdacht schöpfen. Nein, es gab keinen Grund zur Sorge. Himbeeren. Apfel-Porridge. Ein bisschen Obst war okay. Leider hatte Noah beides in Zucker getränkt.

Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen.

Noch war nicht entschieden, wie der Tag laufen würde. Ich hatte die Kontrolle darüber. Ich würde bestimmen, ob er zu einer Tragödie oder Komödie wurde.

Claires Assistentin streckte den Kopf aus einem der Proberäume. »Clifford! B25!«

Ich zuckte heftig zusammen. Erleichterung durchfuhr mich, dicht gefolgt von Panik. Seit zwei Stunden tigerte ich im ersten Stock vor den Proberäumen auf und ab und wartete darauf, dass mein Name aufgerufen wurde, während ich meinen Text wieder und wieder vor mich hin murmelte – und gleichzeitig versuchte, mich vor meinem Kommilitonen zu verstecken. Dem Kommilitonen, vor dem ich mich seit Katys Party versteckte. Bisher war meine Sorge unbegründet gewesen, doch jedes Mal, wenn jemand um die Ecke geschlurft kam, beschleunigte sich mein Puls. Und jedes Mal verfluchte ich mich dafür, dass ich so früh in die Uni gefahren war. Andererseits war die Stimmung in der WG so seltsam gewesen, dass ich es keine weitere Sekunde dort ausgehalten hätte. Alle drei hatten sie mich angesehen, als würde ich jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Das war vielleicht berechtigt, auch unabhängig von den Geschehnissen der letzten Tage war ich sehr nah am Wasser gebaut, aber Mitleid war da eher kontraproduktiv. Am liebsten hätte ich ganz normal weitergemacht, doch das schien keine Option zu sein.

Ich lief zum Ende des Flurs, vorbei an Werbeplakaten für die anstehenden Theateraufführungen und Flyer für die neuen Seminare des Trimesters – Voice & Movement, Acting Lab, Gesangstraining und viel mehr –, bis ich vor einer Tür zum Stehen kam, auf der ein schlichter weißer Zettel klebte. In großen Lettern war ein einziges Wort darauf gedruckt, das mein Inneres mit der gewohnten Mischung aus Nervosität und freudiger Erregung erfüllte: Casting.

Ich schlüpfte in den Raum und schloss die Tür hinter mir.

Das Studio war rechteckig geschnitten, hatte hohe runde Fenster, durch die wegen des Regengusses, der gerade draußen niederging, allerdings nur wenig Licht fiel, und eine komplett verspiegelte Wand, vor der Claire und Andy saßen. Beide zählten zu den angesehensten Gastprofessoren an der Royal Academy of Dramatic Art und hatten schon in riesigen Produktionen in London und international mitgewirkt. Außerdem waren sie dafür bekannt, nichts Geringeres als Bestleistungen gelten zu lassen.

Für einen Moment fiel mein Blick hinter sie auf mein Spiegelbild. Ich hatte meine langen hellblonden Haare zu einem seitlichen Fischgrätenzopf gebunden und mich dezent geschminkt. Zu einer cremefarbenen Seidenbluse, die ich in eine weite hellbraune Stoffhose gesteckt hatte, trug ich spitz zulaufende Budapester.

Alles okay. Ich sah normal aus. Alles okay.

Claire rückte ihre türkisfarbene Cateye-Brille zurecht und blinzelte mir über die Ränder hinweg zu, während Andy nach den Namenslisten vor sich griff und sich eine Notiz machte. Zwischen ihnen konnte ich eine ziemlich zerfledderte Ausgabe von Shakespeares Ein Sommernachtstraum erkennen.

»Hermia, richtig?«, fragte Claire.

Eine der wichtigsten weiblichen Rollen im Stück.

Ich nickte.

Nun schaute auch Andy auf und röntgte mich mit seinen eisblauen Augen von oben bis unten. »Der Text sitzt?«

Erneutes Nicken meinerseits.

»Gut.«

Claire und Andy tauschten einen Blick.

»Den kannst du heute vergessen«, sagte Claire dann und lächelte. »Wir wollen deine authentischen Emotionen.«

»Improvisation«, ergänzte Andy. »Und Spontanität.«

Ich runzelte die Stirn. In der Rundmail fürs Casting hatte es geheißen, dass wir den Text unserer Wunschrolle proben sollten. Aber gut, unsere Uni war für Last-Minute-Entscheidungen bekannt, um uns vom Standardweg auf ungeahnte Pfade zu führen, wie Claire zu sagen pflegte.

»Briony, beziehungsweise Hermia, du bist mit dem Kerl verlobt, in den deine beste Freundin Helena seit geraumer Zeit verschossen ist«, sagte Andy. »Aber die Verlobung wurde von deinem Vater in die Wege geleitet; du liebst nicht ihn, sondern einen anderen. Was deiner Freundin egal ist, sie ist trotzdem eifersüchtig auf dich, hält dich für schöner und besser. Wieso sonst sollten dir gleich zwei Männer verfallen sein, während sie von niemandem beachtet wird?«

»Dir ist die Beziehung zu deiner Freundin sehr wichtig«, klinkte Claire sich ein. »Und du möchtest ihr bewusst machen, dass sie ebenso schön ist wie du. Als sich allerdings später im Stück das Blatt wendet und du nicht mehr von deinem Angebeteten beachtet wirst, beginnst du ebenfalls Minderwertigkeitskomplexe wegen deines Äußeren zu entwickeln und dich mit Helena zu vergleichen.«

Minderwertigkeitskomplexe wegen meines Äußeren. Eifersucht auf die beste Freundin. Mit aller Macht wehrte ich mich gegen die Gedanken und Bilder, die sich in den Vordergrund drängen wollten.

Normalerweise fiel es mir kein bisschen schwer, in fremde Rollen zu schlüpfen. Je weiter entfernt die Figuren von meinem Leben waren, desto besser. Egal, was mich in meinem Alltag beschäftigte und runterzog, sobald ich spielte, konnte ich alles ausblenden. Leider war die Beziehung zwischen Hermia und Helena momentan alles andere als weit weg von meinem eigenen Leben.

Matilda und ich. Beste Freundinnen, seit wir uns in der Oberstufe der King’s College Privatschule kennengelernt hatten, auf die meine Eltern mich geschickt hatten, nachdem ich in meiner alten Schule mehrmals in Ohnmacht gefallen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tilda jede freie Sekunde mit Malen und Zeichnen verbracht. Ihr Vater war ein bekannter Galerist, und die beiden hatten dieselbe Leidenschaft für Kunst geteilt. Ich hatte sie so dafür bewundert. Sie hatte ganz genau gewusst, was sie im Leben wollte. Sie war schön, sie war selbstbewusst. Sie war das exakte Gegenteil von mir. Doch dann hatte ihr Dad eine Affäre mit einer seiner Künstlerinnen angefangen, und Tilda hatte nicht nur den Kontakt zu ihm abgebrochen, sondern sich auch die Kunst verboten, weil die damit verbundenen Erinnerungen zu schmerzhaft für sie gewesen waren. Bis sie einen Deal mit Anthony, ebenfalls Künstler, eingegangen war, um mich zu schützen. Anthony, der zu dem Zeitpunkt noch mich gedatet hatte. Anthony, der erste Mann, vor dem ich mich ausgezogen und mit dem ich geschlafen hatte. Anthony, in den ich mich so sehr reingesteigert hatte, obwohl er mir von Anfang an klargemacht hatte, dass er keine Beziehung wollte. Weil er kein Beziehungstyp sei. Tja, wie sich herausgestellt hatte, war er sehr wohl einer – nur nicht der Typ für eine Beziehung mit mir. Tilda hatte Aktmodell für ihn gesessen und sich Stück für Stück erst wieder in die Kunst und dann in ihn verliebt. So ähnlich hatte er es mir auf jeden Fall gebeichtet. Aus ihr bekam ich kaum Infos heraus.

»… wegen eines fehlgeleiteten Zaubers … Hermia … verletzt und wütend …« Die Wortfetzen drangen wie durch Watte an meine Ohren.

Ich atmete tief durch.

Konzentration!

Das Casting war unglaublich wichtig. Es war das letzte Stück vor meinem Bachelorabschluss, und bei den Aufführungen würden jede Menge Vertreter aus Film und Theater anwesend sein.

»Und … bitte!« Andy schenkte mir ein kühles Lächeln. »Wir sind bereit, sobald du es bist.«

Ich war kein bisschen bereit. Doch das war für gewöhnlich genau der Moment, in dem ich beginnen musste.

Ich dachte an alles, was ich über Hermia wusste. An alles, was ich mit felsenfester Überzeugung über Matilda wusste. Beide würden niemals freiwillig ihrer Freundin wehtun.

»Helena, du bist wunderschön«, wisperte ich. »Und ich liebe Demetrius nicht, das weißt du. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er mich liebt.«

War ich jemals wirklich in Anthony verliebt gewesen? Oder hatte ich es mir bloß gewünscht, weil es die perfekte Ablenkung von mir selbst gewesen wäre? Er war nie in mich verliebt gewesen, daran bestand kein Zweifel. Bevor ich mit ihm geschlafen hatte, hatte er mir das ganz deutlich zu verstehen gegeben. Mit Worten, die sich tief in mir eingenistet hatten und jeden Abend, wenn ich die Augen schloss, wieder an die Oberfläche kamen. Ich wusste, dass er es nicht böse gemeint hatte, trotzdem schien mich der Schmerz auseinanderzureißen. Ich war nicht wütend, immerhin war er von Anfang an ehrlich zu mir gewesen. Aber das Gefühl des Verletztseins wurde dadurch nicht kleiner. Wenn Anthony über Matilda sprach … Das war nicht nur Verliebtheit. Es war etwas weitaus Stärkeres. Etwas, das auch Liv und Noah teilten. Ich sah es deutlich in ihren Gesichtern. Es war etwas, das ich niemals mit jemandem teilen würde.

Im nächsten Moment spürte ich die Tränen. Ich schüttelte den Kopf. »Schönheit spielt keine Rolle. Darum geht es nicht. Sie ist vergänglich. Unsere Seele ist es nicht.«

Worte, die so viel Wahrheit enthielten. Worte, an die ich selbst nicht glaubte. Doch ich kämpfte weiter, versuchte, den Schmerz in meinem Inneren mit fremden Gefühlen zu übermalen. Ich war Hermia. Ich war das Mädchen, das mit dem falschen Mann verlobt war.

»Selbst wenn ich es mir wünschte …« Meine Stimme brach. »Selbst wenn ich nur für ein paar Sekunden in ihm sehen könnte, was du in ihm siehst, Helena, würde ich mich gegen ihn entscheiden. Ich würde niemals unsere Freundschaft aufs Spiel setzen. Und ich weiß, wie es sich anfühlen muss. Ich weiß, wie es sich anfühlen muss, wenn man diesen einen Menschen vor sich hat.«

Ich hatte keine Ahnung, wie es sich richtig anfühlen musste. So oft hatte ich geglaubt, es zu erleben, und nie hatte es sich als real herausgestellt.

»Ich werde heute Nacht mit Lysander fliehen«, rief ich. »Sobald alle schlafen, bin ich weg. Ich halte dieses Versteckspiel nicht mehr aus. Ich kann nicht atmen, wenn er nicht bei mir ist. Ich werde dich so vermissen, aber das gerade, das hier, das ist kein Leben für mich.«

Wieder drängte sich Matildas Gesicht in meine Gedanken, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich hatte sie in den letzten Tagen schrecklich vermisst, obwohl unsere Zimmer in der WG direkt nebeneinanderlagen. Ich vermisste es, dass sie unangekündigt in mein Zimmer platzte, ich vermisste es, dass sie mir ungefiltert ihre Gedanken mitteilte. Und vor allem vermisste ich ihren Humor. Sie hatte immer einen blöden Spruch auf den Lippen, selbst wenn sie vollkommen verschlafen oder verkatert war, was beides oft genug vorkam. Jetzt fasste sie mich nur noch mit Samthandschuhen an.

Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Ich musste …

»Danke, das reicht«, erklang Andys kühle Stimme.

Mist, das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich hatte kaum angefangen.

Mein Herz zog sich zusammen. Ich gab mir alle Mühe, nicht allzu ängstlich dreinzublicken, doch gegen die Hitze, die in meine Wangen schoss, konnte ich nichts ausrichten.

Andy runzelte die Stirn, und Claire seufzte tief.

»Also?«, fragte sie, nachdem weitere Sekunden vergangen waren, in denen sich mein Herzschlag um ein ungesundes Maß beschleunigt hatte.

»Also?«, echote ich.

Sie rückte ihre Brille zurecht. »Was war das eben?«

Die Frage fühlte sich rhetorisch an. Ich biss mir auf die Unterlippe.

»Das war mittelmäßig«, antwortete Andy an meiner Stelle und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch.

O Gott, ich würde sterben. Auf der Stelle im Boden versinken und sterben.

In seinem Blick lag kein Mitleid. Das, was sich in seinem und Claires Gesicht spiegelte, war viel schlimmer. Es war Enttäuschung.

»Du willst Hermia sein«, sagte Claire. »Und du willst uns davon überzeugen, dass du die einzige logische Wahl bist. Ich werde ehrlich zu dir sein: Spätestens nach deiner letzten Alice-Performance war ich bereit, dir jede deiner Wunschrollen hinzuwerfen. Dein Gespür dafür, welche Rollen sich für dich eignen, ist überragend. Du bist mit dir im Reinen und hast keine Angst, Gefühle zuzulassen beziehungsweise sie für dich zu nutzen. Das sind Qualitäten, die wir sehr schätzen. Nicht nur hier«, sie machte eine raumgreifende Geste, »sondern auf all den großen Bühnen der Welt. Deswegen hoffe ich sehr, dass du dich gerade nicht auf deinen vergangenen Erfolgen ausruhst.«

Im Reinen mit mir selbst. Ha.

Heftig schüttelte ich den Kopf.

»Gut.« Andy fuhr sich über die Lippen. »Stagnation aufgrund von Hochmut ist die schlimmste Art von Versagen.«

Das letzte Wort schien von allen Seiten auf mich einzuhämmern. Mir wurde schlecht.

Bitte nicht. Das überlebe ich nicht. Nicht in dem einzigen Bereich, in dem ich etwas anderes als mittelmäßig bin.

»Wir wissen, dass du nicht mittelmäßig bist«, lenkte Claire mit einem milden Lächeln ein, das meine Scham nur vergrößerte. »In dem Fall wärst du gar nicht hier. Also!« Sie klatschte in die Hände, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. »Zweite Chance. Diesmal will ich, dass du es richtig machst. Ihr habt zehn Minuten Zeit, euch vorzubereiten.«

»Wir?«

»Vielleicht hilft es dir, wenn du nicht alleine bist«, erwiderte sie. »Ich schicke dir unseren Lysander. Gleiches Spiel wie gerade: kein Originaltext, sondern euren eigenen.«

Lysander war im Stück Hermias Liebhaber. Der Kerl, mit dem sie durchbrennen wollte, um der Verlobung mit Demetrius zu entkommen. Und anscheinend stand bereits fest, wer ihn spielen würde.

Andy stand ebenfalls auf und folgte Claire zur Tür, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Wie angewurzelt stand ich da und starrte den beiden hinterher. Es war normal, nicht immer konzentriert zu sein. Es war okay, Fehler zu machen. Und in meinem Fall absolut verständlich, bei allem, was in den letzten Wochen vorgefallen war. Trotzdem … Mein ganzes Studium über hatte ich nie etwas durchblicken lassen. Ich schaffte es immer, mich nach draußen zu schleppen oder in die Uni-Toilette oder in die WG, in Matildas Arme, bis ich auseinanderbrach. Weder die Professoren noch die Dozenten, die dafür verantwortlich waren, mir die Branchenpforten zu öffnen, bekamen je etwas von meinen wahren Gefühlen mit. Hier war ich perfekt. Nicht, weil es mir leichtfiel oder es meine große Bestimmung war. Sondern weil ich kämpfte und alles gab. Seit ich zum Vor-Casting für das Studium an der renommierten Royal Academy of Dramatic Art eingeladen worden war. Seit ich zum ersten Mal diesen Rausch gespürt hatte, wenn die Menschen vor mir erst das unscheinbare Mädchen sahen und dann wie durch Magie diese Verwandlung. Alles, was ich sie sehen lassen wollte. Seit ich verstanden hatte, dass es einen Ausweg aus meinem Körper gab.

Es war keine Magie. Es war harte Arbeit. Und ich würde garantiert nicht kurz vor der Ziellinie aufgeben, nur weil ich mir einen Fehltritt geleistet hatte. Sie hatten mir eine zweite Chance gegeben. Und ich würde sie nutzen.

Ich atmete tief durch.

Alles wird gut.

Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sie mir Hazem oder Raidon als Partner schickten. Die beiden waren nicht nur lieb und respektvoll, sondern auch sehr akkurat in ihrer Spielweise. Außerdem hatte man mit ihnen immer was zu lachen, was während intensiver Proben Gold wert war. Natürlich musste man unabhängig von seinem Partner sein Bestes geben und mit den unterschiedlichsten Menschen klarkommen, doch wenn ich überzeugend sein wollte, musste es mein Partner ebenfalls sein. Reuben oder Elijah wären auch noch in Ordnung, aber Mason wäre ziemlich problematisch. Er war talentiert, keine Frage, aber er hasste es, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Und er war dafür bekannt, seine Spielpartner absichtlich aus dem Konzept zu bringen, damit sie im Vergleich mit ihm schlechter dastanden. Tja, und dann gab es noch eine Option, an die ich nicht einmal denken wollte. Einen Spielpartner, der noch schlimmer als Mason wäre.

Mir war so unglaublich schlecht. Ich wünschte, ich hätte mir am Morgen einfach irgendeine Ausrede einfallen lassen, anstatt das süße Zeug in mich reinzuwürgen.

Nein. Nein, ganz ruhig.

Es war gut, dass ich gegessen hatte. Es war vernünftig. Die Übelkeit würde verschwinden.

Mein Blick blieb unwillkürlich an der Spiegelwand hängen. Ich zwang mich, hinzusehen. Mein Gehirn erfasste alle Details, bevor es eins nach dem anderen ausblendete.

Halb so schlimm, halb so schlimm, halb so schlimm.

Es war egal, was mein Spiegelbild mir zeigte. Wichtig war einzig und allein, was ich empfand.

»Hast du gedacht, ich reite jetzt drauf rum, wieso du noch nie Sex hattest, obwohl du so heiß und intelligent und interessant bist?«

Heiß. Vor Anthony hatte mich noch nie jemand als heiß bezeichnet. Süß, ja. Lieb. Still. Heiß bedeutete begehrenswert. Begehrenswert bedeutete besonders.

Aus meinem Zopf hatte sich eine widerspenstige Strähne gelöst. Ich spürte seine warmen Finger, die sie mir hinters Ohr strichen. Schatten lagen unter meinen blassblauen Augen, das war selbst aus der Entfernung zu erkennen. So wie am Morgen danach, als ich über seinem winzigen Waschbecken in den Spiegel mit Sprung geschaut hatte. Völlig übermüdet und so glücklich, dass ich zu platzen drohte.

Abrupt riss ich mich von meinem Anblick los. Meine Augen brannten. Ich blinzelte heftig. Nicht jetzt. Das war so was von nicht der richtige Zeitpunkt.

»Ich bitt Euch sehr … Um meinetwillen, Lieber«, murmelte ich Hermias Text zur Ablenkung, obwohl er mir fürs Casting heute nichts brachte. Es beruhigte mich, die auswendig gelernten Worte wie ein Mantra immer wieder auszusprechen. »Liegt nicht so nah! Liegt weiter dort hinüber …«

»O ärgert Euch an meiner Unschuld nicht«, erklang eine tiefe, dunkle Stimme.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Stimme war mir nicht fremd.

2. KapitelI don’t wanna be you anymore

BRIONY

Ich hob den Kopf und schaute in zwei schokoladenbraune Augen. Sie funkelten vor Vergnügen.

Wieso hatte ich ihn nicht näher kommen gehört?

»Die Liebe deute, was die Liebe spricht«, fuhr er fort. Samtweich.

Dunkle Korkenzieherlocken fielen ihm in die Stirn. Sein Teint war olivfarben, und er hatte einen Dreitagebart. Ein schiefes Grinsen zierte seine Lippen.

Mein Magen rutschte eine Etage tiefer.

Nein.

Er gab mir keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Stattdessen presste er eine Hand auf seine linke Brusthälfte und trat näher. Er trug einen gemusterten Strickpullover, genau wie vor ein paar Wochen auf Katys Party. Nur dass dieser heute auf mein Outfit abgestimmt zu sein schien – Erdtöne. Er war fast zwei Köpfe größer als ich. Jetzt trennte uns kaum mehr eine Armlänge. »Ich meinte nur, mein Herz sei Eurem so verbunden, daß nur ein Herz in beiden wird gefunden.«

Hitze stieg mir in die Wangen. Binnen Sekunden stand mein Gesicht in Flammen.

»Ha-Hallo.«

Ich hasste meine Stimme. Ich hasste es, dass sie nicht einfach laut und klar und selbstbewusst klingen konnte. Und ich hasste es, dass ich mich an ihn erinnerte. An jedes einzelne Detail. Ich wünschte, ich erinnerte mich an gar nichts aus den letzten Wochen. Einfach aus meiner Haut schlüpfen und eine neue überziehen. Alles wegschieben. Meine Abfuhr, nachdem er sich auf Katys Party so nett vorgestellt hatte. Mein fieses Verhalten. Anschließend war ich den Moment wieder und wieder in Gedanken durchgegangen. Scham hatte mich überschwemmt. Scham und Wut und Ohnmacht. Es war keine große Sache. Meine Kommilitonen hatten es als Witz abgetan. Die schüchterne Briony, die endlich mal das Maul aufgerissen hatte. Tja, leider nur zum falschen Zeitpunkt. Ob es eine große Sache für ihn war? Für mich schon.

Sebastian. Der Kerl, vor dem ich mich den ganzen Morgen versteckt hatte, war Lysander. Natürlich. Bei meinem Glück.

Sein Grinsen wurde breiter, und er streckte eine Hand aus. »Hi, ich bin Sebastian. Und du?«

Ich starrte auf seine Hand. Dann in seine Augen. Dann wieder auf die Hand.

»Du sprichst doch für Hermia vor, oder?« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. »Claire und Andy wollen uns zusammen sehen.«

Wie ferngesteuert griff ich nach seiner Hand. Er erinnerte sich nicht an mich? Aber wie passte das mit seinen Worten auf der Party zusammen?

»Ja, ich weiß, wer du bist. Man muss schon ein besonders großer Idiot sein, um auf eine Uni mit dir zu gehen und das nicht zu wissen.«

War das nur eine plumpe Anmache gewesen, die er am nächsten Tag bereits vergessen hatte, weil er es immer so machte, und ich hatte sie zu ernst genommen? So wie ich immer alles zu ernst nahm?

Meine Wangen wurden, wenn möglich, noch heißer. Ich sollte mich glücklich schätzen, erleichtert sein, dass er unser letztes Zusammentreffen vergessen hatte.

Mach den Mund auf, Briony, sag irgendwas! Fang mit deinem Namen an, um Himmels willen, so schwer kann das doch nicht sein!

Doch plötzlich veränderte sich etwas an seiner Miene. Ein Glitzern trat in seine dunklen Augen. Er ließ meine Hand los, presste die Lippen aufeinander, kämpfte dagegen an, verlor. Sein Lachen war kehlig, es schien tief aus seiner Brust zu kommen, und seine Augen wurden zu kleinen Halbmonden.

»Du solltest dein Gesicht sehen.«

»W-Was?«

Er legte den Kopf schief und musterte mich, als hätte er den Spaß seines Lebens. »Sorry, das musste sein.«

»Ich bin Briony«, sagte ich tonlos.

»Und ich dein Spielpartner«, erwiderte er mit einem Nicken. »Aber ich glaube, dieses Gespräch haben wir bereits geführt.«

Ich musste etwas antworten. Eine Herausforderung, da er mich mit seinem Blick durchbohrte und nicht vorzuhaben schien, mich in absehbarer Zeit davon zu erlösen.

Gut, das war dann wohl meine verdiente Strafe.

»Auf der Party«, brachte ich heraus. »Ich war nicht ich selbst. Was ich zu dir gesagt habe …«

Wieso hatte ich mein Erröten nach all den Jahren nicht im Griff? Es war mir bis heute ein Rätsel, wie ich meine Gefühle perfekt in Schach halten und in die gewünschte Richtung lenken konnte, wenn ich eine Rolle spielte, und im Alltag jedes Mal die Kontrolle darüber verlor.

»Was genau meinst du?«, fragte er unschuldig.

Er spielte mit mir. Er machte sich einen Spaß daraus, mich vorzuführen.

Matildas Stimme hallte in meiner Erinnerung wider.

»Niemand hat das Recht, dir ein Scheißgefühl zu geben, nur weil du schüchtern bist.«

Sie hatte die Worte damals auf der Privatschule zu mir gesagt, als ein paar unserer Klassenkameraden immer wieder versucht hatten, mich aus dem Konzept zu bringen. Meistens hatten sie mich nicht beachtet, ich war eine Meisterin darin gewesen, mich in der Masse unsichtbar zu machen, doch einer hatte es auf mich abgesehen. Stanley. Immer, wenn ich von den Lehrern aufgerufen wurde, flüsterte er mir Obszönitäten zu, bis ich so sehr errötete, dass kein Wort mehr über meine Lippen kam, während seine Kumpels sich schlapplachten.

Clover, meine Zwillingsschwester, hatte es zu Grundschulzeiten nicht ganz so nett formuliert: »Bry, wenn du einfach mal den Mund aufmachen und dich verteidigen würdest, würden sie dich nicht so herumschubsen. Bei mir trauen sie sich das nie.«

Ich schluckte heftig und reckte das Kinn. »Ist ja auch vollkommen egal, oder? Die Zeit läuft, wir sollten uns auf die Szene vorbereiten. Ich … Ich darf sie nicht versauen. Also wäre es mir recht, wenn du es mir nicht unnötig schwer machst.« Zu meiner Erleichterung zitterte meine Stimme nicht mehr.

Er hob eine Braue. Kurz huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, allerdings erwiderte er nichts mehr, sondern zog stattdessen sein Handy aus der Hosentasche.

»Was sind deine Grenzen?«, fragte er nach ein paar Sekunden, während er weiter auf dem Display herumtippte.

»Was?«

Er lächelte breiter, ohne mir in die Augen zu schauen. »Hermia und Lysander. Seelenverwandte. Liebhaber. Ich muss dich nicht anfassen, damit die Funken zwischen uns sprühen, aber es wäre doch sehr von Vorteil, wenn wir überzeugend sein wollen.«

»Ich habe keine Grenzen«, platzte ich heraus, bevor mein Gehirn richtig in die Gänge kommen konnte.

Abrupt sah er auf. »Cool. Dann haben wir was gemeinsam. Ach, und Briony?« Ich öffnete den Mund, doch er fuhr schon fort. »Wir werden es nicht versauen.«

Meine Antwort ging in der lauten Musik unter, die im nächsten Moment aus seinem Handylautsprecher dröhnte.

»More than just a dream«, sang die männliche Stimme, während fröhliche Klänge im Hintergrund spielten.

Völlig entgeistert sah ich ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. »Was?«, rief er über das Lied hinweg. »Ich bereite mich immer mit Musik vor!«

Wir hatten zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen wir einen Schlachtplan entwerfen mussten, wie wir Claire und Andy vom Hocker hauen konnten. Zehn Minuten, um uns aneinander zu gewöhnen. Zehn Minuten, die er offenbar damit verbringen wollte, mich auf die Palme zu bringen.

»Es tut mir leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe«, gab ich in derselben Lautstärke zurück. »Das war nicht meine Absicht. Können wir uns jetzt bitte auf die Szene konzentrieren?«

Das Lied war inzwischen beim Refrain angelangt, und erst jetzt registrierte ich wieder den Text.

You were out of my league

All the things I believed

You were just the right kind

Yeah, you were more than just a dream

Es gab keinen Zweifel, wieso er dieses Lied ausgewählt hatte. Wäre dieses Casting nicht so wichtig für mich gewesen, wäre ich mit Sicherheit vor Scham im Boden versunken.

»Gefällt’s dir nicht? Okay, ich sehe schon, wir brauchen was Dramatischeres. Ich glaube, Lysander wusste, dass er nicht in Hermias Liga spielt, aber an dem Punkt war ihm das vollkommen egal. Du hast recht. Er hat sich einfach glücklich geschätzt, weil er neben ihr liegen durfte.«

Bevor ich reagieren konnte, tippte er auf den nächsten Song. Die beschwingten Laute verstummten, stattdessen zerfetzten lauter Bass und Schlagzeugklänge die Luft. Blitzschnell ging er in die Knie und legte das Handy auf den Boden, ehe er sich wieder aufrichtete und einen Schritt auf mich zutrat. Die Handflächen nach oben gedreht, streckte er die Hände in meine Richtung. Abwartend.

So much is going on

But you can always come around

Why don’t you sit with me for just a little while?

Tell me, what’s wrong

»Das soll kein Racheakt sein, weil du meine Gefühle auf der Party verletzt hast«, murmelte er plötzlich. So leise, dass ich mich konzentrieren musste, um seine Stimme trotz der Musik zu verstehen, auch wenn die Worte jetzt sanfter gesungen wurden. »Du darfst jederzeit gerne meine Gefühle verletzen«, fuhr er fort, und seine Mundwinkel zuckten leicht. »Ich wollte nur die Spannung zwischen uns lösen.«

Er fixierte mich so intensiv aus seinen dunklen Augen, dass mir abwechselnd heiß und kalt wurde.

If you just gimme all your love

Gimme all you got, baby

Gimme all your love

Die Zeit lief. Ich schob meine Unsicherheit beiseite, gab mir einen Ruck und legte meine Hände in seine. Sie waren warm, trocken und so riesig, dass meine darin zu verschwinden schienen. Unsere Blicke verketteten sich ineinander, und plötzlich ging mir die Musik nicht mehr auf die Nerven. Sie drang in mein Inneres und kribbelte in meinem Bauch.

Früher hatte ich mich immer gefragt, wie es die Schauspieler in meinen Lieblingsfilmen machten. Stundenlang hatte ich mir Interviews mit den beiden Co-Stars angeschaut und versucht herauszufinden, wie sie es schafften, die romantischsten Szenen miteinander zu spielen, ohne etwas füreinander zu empfinden. Ich verknallte mich ja schon, wenn mir jemand drei Sekunden am Stück in die Augen sah, wie sollte es dann werden, wenn ich tatsächlich jemandem nah war, ihn berührte, ihn küsste? Tja, dann war ich an der RADA angenommen worden und hatte die Antwort auf meine Frage bekommen: Ich empfand immer etwas. Egal, ob ich die Person attraktiv oder sympathisch fand – sah meine Rolle vor, dass ich mich in sie verliebte, dann verliebte ich mich in sie. Wenn ich anschließend in die Realität zurückkehrte, konnte es Tage dauern, bis ich mich von dem Gedanken befreit hatte, tatsächlich auf Wolke sieben zu schweben.

Mit einem Ruck zog Sebastian mich näher zu sich. Er löste seine Hände von meinen und umschlang meine Taille.

In meinem Bauch kribbelte es, während ich meine Finger wandern ließ. Seine warme, harte Brust hinauf bis zu seinem Hals und in seine weichen Locken. Sein Geruch hüllte mich ein. Sandelholz und etwas Zitroniges. Als meine Wangen diesmal warm wurden, lag es nicht daran, dass ich verunsichert war. Es war jene Hitze, die meinen gesamten Körper ausgefüllt hatte, wenn Anthony in meiner Nähe gewesen war. Wenn er mich mit diesem ganz speziellen Blick angesehen hatte.

Nein. Du bist nicht Briony. Du bist Hermia.

Hermia, die sich ihrem Vater widersetzte, obwohl ihr Leben so viel einfacher verlaufen könnte, wenn sie sich seinem Willen beugen würde. Hermia, die bereit war, mit der Liebe ihres Lebens durchzubrennen.

»Ich hab dich so vermisst«, flüsterte ich.

Sebastian umarmte mich fester und hob mich ein Stück vom Boden, sodass wir auf Augenhöhe waren. »Wie kann es sein, dass du jedes Mal, wenn wir uns sehen, noch schöner geworden bist?« Sein Blick flackerte für den Bruchteil einer Sekunde zu meinem Mund, bevor er mir wieder in die Augen sah. Seine Lippen teilten sich, während sein warmer Atem sanft über mein Gesicht strich.

Mein Herz klopfte wild in meiner Brust.

»Ich hab dich damals bei deiner zweiten Vorauswahl gesehen«, flüsterte er, sein Mund nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Wie hypnotisiert starrte ich darauf. »Du hast auf dem Flur neben ein paar anderen gewartet und bist vermutlich vor Nervosität fast gestorben. Trotzdem hast du alle gefragt, woher sie kommen, wie es ihnen geht, hast sie abgelenkt, anstatt dich um dich selbst zu kümmern. Ich war mit einem Freund unterwegs, wir waren schon zu spät dran für unser nächstes Seminar, aber ich konnte nur wie ein Idiot dastehen und dich anstarren. Nicht nur, weil du umwerfend schön bist, sondern weil du so verdammt nett und höflich warst. Ich erinnere mich noch genau an mein zweites Vorsprechen. Jeder hat versucht, den anderen auszustechen und zu verunsichern.«

Während er gesprochen hatte, hatte ich in der Bewegung innegehalten. Wie gelähmt ruhten meine Hände auf seiner Brust.

»W-Wie bitte?«

Hatte er sich das gerade ausgedacht? War das seine Art, sich auf die Szene vorzubereiten? Natürlich war mir Method Acting, das Schöpfen aus den eigenen Erfahrungen und Gefühlen, nicht fremd, aber wie sollte ich mich auf meine Rolle konzentrieren, wenn er sie auf uns übertrug? Ich liebte es, mich vollständig in einer Figur aufzulösen. Das war der Grund, aus dem ich überhaupt erst mit der Schauspielerei angefangen hatte. Um eben nicht ich zu sein.

Konnte es stimmen? Konnte er mich damals wirklich gesehen haben? Die Erinnerung an meine Vorsprechen war sehr verschwommen, weil ich so aufgeregt gewesen war, außerdem lag das inzwischen über drei Jahre zurück. Von Katy und ein paar meiner anderen Kommilitoninnen hatte ich auf der Party erfahren, dass Sebastian ursprünglich einen Jahrgang über uns studiert hatte, nach einer vermasselten Prüfung nun aber bei uns gelandet war. So etwas hatte es, soweit ich wusste, in der Geschichte der RADA noch nie gegeben. Unsere Uni gehörte zu den besten der besten, und die Regeln waren streng. Zweite Chancen wurden normalerweise nicht erteilt. Ich hatte ihn vorher nie wahrgenommen, vielleicht weil die Jüngeren nichts mit den Älteren zu tun hatten, vielleicht weil ich zu sehr mit meinem Studium beschäftigt gewesen war.

Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. Darüber sollte ich mir momentan wirklich keine Gedanken machen.

Sebastian schien zu bemerken, dass er mich aus der Szene gerissen hatte, und stellte mich kurzerhand wieder auf die Füße. Seine Hände blieben allerdings, wo sie waren. Die Berührung schien sich durch meine dünne Kleidungsschicht zu brennen.

Wie durch Watte drang der Songtext an meine Ohren.

So tell me what you wanna do

You say, the world, it doesn’t fit with you

Why don’t you talk to me for just a little while?

I can only try to make it right

»Sorry«, sagte er, und diesmal war kein verschmitztes Funkeln in seinen Augen zu sehen. »Lass es uns auf deine Art probieren.« Er ließ mich los, hob das Handy vom Boden auf und beendete das Lied mit einem Klick, ehe er es zurück in seine Hosentasche steckte.

Die abrupte Stille dröhnte in meinen Ohren wie zuvor die Bässe.

Sebastian fuhr sich mit einer Hand durch die Locken und trat einen Schritt zurück. »Hör mal, ich wollte dich wirklich nicht …«

Seine Stimme ging in einem lauten Klopfen unter. Zeitgleich rissen wir die Köpfe herum und starrten die Tür an.

»Clifford? Du Pont? Bereit?«, ertönte Claires Stimme.

Sie wartete unsere Antwort nicht ab – im nächsten Moment flog die Tür auf, und sie marschierte mit Andy im Schlepptau in den Raum.

Während sie sich setzten, wanderte mein Blick zur verspiegelten Wand hinter ihnen. Zu Sebastians und meinem Abbild. Durch die ähnlichen Farbtöne unserer Kleidung war es noch offensichtlicher, aber auch unabhängig davon: Wir sahen gut zusammen aus. Unser Größenunterschied war perfekt, meine weißblonden Haare harmonierten gerade durch den starken Kontrast mit seinen dunklen.

Ja, ihr seht gut aus, genau wie Anthony und du gut zusammen aussaht. Und jeder andere Kerl davor, dessen Aufmerksamkeit du maßlos überinterpretiert hast.

Unvermittelt schossen mir Tränen in die Augen.

»Clifford? Alles in Ordnung?« Es klang, als hätte Claire davor noch etwas anderes gesagt. Etwas, das mir entgangen war, weil ich mal wieder in meinen Gedanken gefangen gewesen war.

Nickend senkte ich den Blick und blinzelte. Heute war wirklich nicht mein Tag.

Mit einem Mal spürte ich eine Berührung an meiner Hand. Ich schaute erst auf, als ich mir sicher war, dass ich nicht wirklich zu weinen beginnen würde.

Sebastian sah mich mit höchster Konzentration an und mit einem Lächeln, das nicht flirtend, nicht provozierend, sondern einfach nur aufmunternd war. Du schaffst das, schien es zu sagen. Wirschaffen das.

Eine gefühlte Ewigkeit verging. Nach einer Weile verschwanden die quälenden Gedanken und wurden von zwei Worten ersetzt. In Dauerschleife schwirrten sie nun in meinem Kopf umher: umwerfend schön, umwerfend schön, umwerfend schön, umwerfend schön …

»Wir sind bereit«, sagte ich, ohne den Blick von Sebastian zu lösen.

Jemand klatschte in die Hände, dann erklang Andys Stimme: »Los geht’s.«

Es war zwecklos. Ich würde es heute nicht schaffen, vor mir selbst zu fliehen. In letzter Zeit war einfach alles zu viel gewesen. Ich konnte nicht vergessen, wer ich war. »Hoffnungslose Romantikerin«, wisperte Matildas Stimme in meiner Erinnerung.

Sie hatte recht. Das war ich. Schon immer gewesen. Also würde ich das weiterführen, was Sebastian gerade in die Wege geleitet hatte. Auch wenn es riskant war. Ich musste einfach das tun, was ich immer tat. Eine kleine Aufmerksamkeit nehmen und sie in etwas Riesiges verwandeln.

Er fand mich umwerfend schön. Darauf musste ich mich konzentrieren. Ich war ihm schon damals aufgefallen. Und auf Katys Party hatte er den Mut zusammengenommen, mich anzusprechen. Was, wenn er seit meinem zweiten Vorsprechen an mich gedacht hatte? Was, wenn er mich, nachdem ich mit dem Studium begonnen hatte, regelmäßig auf den Uni-Fluren gesehen hatte? Und ich hatte ihn abgewiesen, weil ich zu sehr in meinem Herzschmerz wegen Anthony gefangen gewesen war. Aber das hier war nicht wie mit Anthony. Anthony hatte mich bloß bemerkt, weil ich die einzige Frau in Noahs WG gewesen war, die sich mit ihm unterhielt. Matilda hatte ihn von Anfang an aus Prinzip nicht leiden können, weil er mit Noah befreundet war, und unsere anderen Mitbewohnerinnen vor Liv waren nie lang genug geblieben, um ihm aufzufallen. Mit Sebastian war es anders. Er hatte mich gesehen. Wirklich gesehen. Er dachte, er spielte nicht in meiner Liga. Weil ich zu schön war, zu besonders.

Jetzt nahm ich ihn zum ersten Mal wirklich wahr. Ich liebte seine Haare, die wilden Locken, die ihm in die Stirn fielen. Die geschwungenen Brauen darunter. Ich liebte seine Augen, die kleinen bronzefarbenen Sprenkel im Tiefbraun. Die definierten Wangenknochen. Die leicht gekrümmte, etwas zu breite Nase. Ich liebte es, dass er so groß war. Er war alles, was ich jemals gewollt hatte. Unfassbar, dass er mir noch nie zuvor aufgefallen war.

Genau, Bry, du bist auf dem richtigen Weg. Her mit der Romantik …

Wie es sich wohl anfühlen würde, in seinen Armen einzuschlafen? Jede freie Minute mit ihm zu verbringen? Von meinem Schmerz abgelenkt zu werden? Selbst meine Reflexion mochte ich im Spiegel neben seiner. Ich sah nicht mehr schwach aus, nicht langweilig oder zu dick. Ich sah plötzlich gut genug aus. Weil ich mich durch seine Augen sah. So hatte ich es auch geschafft, meine Kleidung vor Anthony abzulegen, obwohl ich es vor ein paar Jahren noch für unmöglich gehalten hatte, mich jemals vor einem fremden Menschen und dann auch noch vor einem Mann auszuziehen. Ihre Blicke machten mich besonders, ihr Verlangen machte mich schön.

Zeitgleich traten wir aufeinander zu, fielen einander in die Arme, umklammerten uns, als hingen unsere Leben davon ab.

»Ich hatte damals keine Ahnung«, hörte ich mich sagen. Meine Stimme zitterte, aber nicht vor Angst, nicht vor Schüchternheit, sondern vor Leidenschaft. »Natürlich habe ich bemerkt, wie gut du aussiehst, aber ich war zu sehr … Ich habe mir nicht erlaubt, dich wirklich attraktiv zu finden, wenn doch jemand anderes für mich bestimmt war.« Ich wich ein Stück zurück und legte meine Finger an seine Wangen. Sein Blick glühte, eine seiner Hände lag an meinem Hinterkopf, die andere grub sich in meinen Rücken. »Aber bevor du in mein Leben kamst, wusste ich nicht, wie es sich anfühlen muss«, fuhr ich fort, wurde mit jedem Wort lauter. »Ich dachte, es sei normal, dass ich bei ihm nichts empfunden habe. Ich dachte, das kommt mit der Zeit. Und dann kamst du.«

Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, reagierte Sebastian sofort, indem er sich ein Stück zu mir herunterbeugte, als hätten wir es vorher abgesprochen.

Ich küsste seine weichen Wangen, sein kratziges Kinn, seine Nasenspitze, seine Stirn.

Zitternd atmete er aus.

Mein Herz schlug noch schneller als vorhin. Es wäre so verlockend, meine Lippen auf seine zu pressen, herauszufinden, ob er schmeckte, wie er roch, aber ich war noch nicht fertig.

»Vor dir wusste ich nicht, dass ein einziger Blick ausreicht, um zu zerfließen. Ich wusste nicht, wie es ist, wirklich gesehen zu werden. Vor dir hat es sich manchmal angefühlt, als würde ich überhaupt nicht existieren. Niemand hat mich tatsächlich wahrgenommen. Sie haben immer nur meine Schwester gesehen, verstehst du? Aber du … du hast in einem überfüllten Raum gestanden, und dein Blick lag ausschließlich auf mir. Als sei ich es wert, angesehen zu werden.«

O Gott. O Gott, was redete ich da? Es ging um Hermias Verlobten! Darum, dass sie nicht ihn heiraten wollte, wie ihr Vater es vorgesehen hatte, sondern Lysander. Nicht um meine Schwester.

»Du …« Sebastians Augen hatten sich geweitet. Seine Pupillen waren riesig. Erst als ich seine Finger an meinem Gesicht spürte, merkte ich, dass mir Tränen über die Wangen liefen. »Du bist unglaublich«, hauchte er, und ich war mir nicht sicher, ob er die Performance meinte oder auf meine Worte einging.

Panik machte sich in mir breit, doch ich drängte sie zurück. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich fühlte es.

»Du hast keine Angst, Gefühle zuzulassen und zu nutzen.« Das hatte Claire zu mir gesagt. Also musste ich ihr zeigen, dass sie sich nicht in mir täuschte.

»Ich will den Rest meines Leben mit dir verbringen«, brachte ich erstickt hervor und zog seinen Kopf näher zu meinem, drückte meine Stirn gegen seine, inhalierte seinen ungewohnten Duft. »Es ist mir egal, was die anderen sagen. Es ist mir egal, dass wir zu jung sind und ich meine gesamte Familie verliere, wenn ich mit dir fliehe. Ohne dich ergibt nichts in meinem Leben Sinn.« Immer mehr Tränen kamen nach, liefen ihm über die Finger, und er umklammerte mich umso fester.

»Du wirst es nicht bereuen.« In seiner Stimme lag genauso viel Hingabe wie in seinem Blick. Seine langen dunklen Wimpern kitzelten mich, als er mehrmals blinzelte.

Schwindel überfiel mich. Wir waren uns so unglaublich nah.

»Ich schwöre dir, dafür zu sorgen, dass du es keinen einzigen Tag bereuen wirst, dich für mich entschieden zu haben. Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand das Gefühl gibt, etwas anderes als perfekt zu sein.« Er streichelte meine Wange, fuhr meinen Hals hinab, meine Schulter. »Wir beide … zusammen … mehr brauche ich nicht.«

Wie vorhin hob er mich hoch. Doch diesmal schlang ich nicht nur meine Arme um seinen Hals, sondern auch meine Beine um seine Mitte. Ich presste meinen Körper an seinen, spürte ein wildes Pulsieren an meiner Brust, war mir nicht sicher, ob es sein Herzschlag oder meiner war.

Unsere Lippen waren kaum mehr einen Zentimeter voneinander entfernt. Eine Haarsträhne hatte sich aus meinem Zopf gelöst und fiel mir ins Gesicht.

»Du bist unglaublich«, hauchte Sebastian erneut, leiser, sodass nur ich es verstehen konnte, und diesmal wusste ich mit felsenfester Überzeugung, dass er mich meinte, nicht Hermia.

Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Das Bedürfnis, ihn zu küssen, nahm all meine Sinne ein.

Und dann, als ich es in seinem Blick sah, als ich mir sicher war, dass er dasselbe fühlte, als ich mich fragte, ob wir überhaupt nur eine Sekunde Hermia und Lysander gewesen waren, da ertönte ein deutliches Räuspern.

»Danke, das genügt«, erklang Andys Stimme.

Ein paar perfekte Sekunden verharrten wir, dann zwinkerte Sebastian mir zu und setzte mich vorsichtig ab.

Benommen starrte ich ihm in die Augen. Meine Knie waren butterweich, und der Raum rotierte leicht.

»Danke«, kam es auch von Claire. Sie klang so triumphierend, als sei dies ihr persönlicher Erfolg.

Widerstrebend löste ich den Blick von meinem unwiderstehlichen Spielpartner, um wieder nach vorne zu schauen. Wie so oft, wenn ich vollkommen in meiner Darbietung gefangen gewesen war, überraschte es mich, festzustellen, dass sich die Realität um mich herum kein bisschen verändert hatte.

Andy wirkte vollkommen überrumpelt und machte sich hastig Notizen, während er immer wieder zwischen Sebastian und mir hin- und herschaute.

Claire strahlte mich an. »Spielt ihr zum ersten Mal zusammen?«, wollte sie wissen und rückte ihre Brille zurecht, obwohl sie gar nicht verrutscht schien.

Ich nickte. Wenn ich jetzt den Mund öffnete, würde nichts als ein Krächzen herauskommen, da war ich mir sicher.

Ihr Lächeln wurde breiter. »Das war großartig.«

»Obwohl ich nicht weiß, wo genau im Stück du herausgelesen hast, dass Hermia eine Schwester hat«, fügte Andy hinzu, konnte sich aber ein kurzes Schmunzeln nicht verkneifen.

Mein Gesicht brannte mal wieder.

»Na ja, es gibt auch keine Stelle, in der steht, dass sie keine hat«, warf Sebastian ein.

Claire lachte.

Andy hob eine buschige Braue, ehe er Richtung Tür nickte. »Ab mit euch. Die finalen Castinglisten werden später veröffentlicht. Ihr wart die Letzten, die vorgesprochen haben.«

Wir verabschiedeten uns und verließen den Raum. Mit jedem weiteren Schritt kehrte ich zurück in meine Realität. Die Übelkeit war zurück, schlimmer noch als vorhin.

Sebastian schloss die Tür hinter uns. »Also, wenn sie dich nach diesem Auftritt nicht casten, fress ich ’nen Besen«, sagte er grinsend.

Ich fuhr mir über die Wangen, wischte die letzten Tränenspuren fort. »Danke«, murmelte ich. »Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«

»Quatsch, das warst ganz allein du. Und so eine Art von Chemie lässt sich nicht faken. Ich dachte, mein Herz bleibt stehen, als du dich vorgebeugt hast.«

Mein Magen schlug Purzelbäume. Wir waren allein auf dem Flur. In jeder anderen Situation hätte ich das Gespräch mit Sebastian hinausgezögert. Er schaute mich noch immer an, als könnte er sein Glück nicht fassen, dass er neben mir stand.

Ich wollte so sehr dieser Mensch sein, der diesem Blick glaubte. Der die Wahrheit nicht wieder und wieder und wieder auf die harte Tour gelernt hatte.

»Ich muss los«, würgte ich genau in dem Moment hervor, in dem er »Willst du vielleicht noch …« sagte.

Er verstummte sofort, registrierte meinen Gesichtsausdruck, und sein Lächeln schwand.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, drehte ich mich um und setzte mich in Bewegung. Zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, langsam, normal, nicht zu offensichtlich auf der Flucht, doch sobald ich um die Ecke gebogen war, rannte ich los. Ich nahm die Gesichter der Leute nicht wahr, ich wollte nicht wissen, ob ich sie kannte, ich wollte mit niemandem reden. Meine Beine trugen mich die Treppe nach oben, einen schmalen Flur entlang, bis das Unisex-Symbol in Reichweite kam. Ich schlüpfte durch die Tür, vermied es, in die Spiegel über den Waschbecken links von mir zu schauen, und kontrollierte alle drei WC-Kabinen. Sie waren leer. In die hinterste schloss ich mich ein, sank vor der Toilettenschüssel auf die Knie und beugte mich über die Klobrille.

»Wärst du mittelmäßig, wärst du nicht hier.«

»Du bist unglaublich.«

»Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand das Gefühl gibt, etwas anderes als perfekt zu sein.«

»Nicht nur, weil du umwerfend schön bist …«

Ich umklammerte das kalte Porzellan mit beiden Händen, kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf hin und her. Ein Schluchzen brach aus mir hervor.

Die Übelkeit war unerträglich. Ich wollte nicht daran denken, nicht an das verfluchte Frühstück, nicht an die Blicke, nicht an die vergangene Nacht, in der ich kaum ein Auge zugetan hatte. Nicht an Anthony, nicht an Sebastian, der mir nur wieder gezeigt hatte, wie leicht es war, mich der Illusion hinzugeben. Mein Gott, ich kannte ihn nicht mal! Und außerdem war er Schauspieler. Es war sein Job, solche Dinge zu sagen, obwohl er sie nicht empfand. Er konnte unmöglich wissen, was er mit seinen Worten angerichtet hatte. Ich hatte mich geirrt. Es war exakt wie bei Anthony. Es war exakt so, wie es bei jedem Mann wäre. Kein Mensch auf der Welt konnte dafür sorgen, dass es mir besser ging. Ich konnte meinen Selbstwert nicht von ihnen abhängig machen, denn wenn sie gingen, wenn sie mich im Stich ließen, dann war ich immer noch ich. Ihre Aufmerksamkeit überlagerte die Wahrheit nur für ein paar Momente. Und je länger ich mich einlullen ließ, desto schlimmer war der Schmerz hinterher.

Ich öffnete die Augen, den Blick auf das weiße Porzellan gerichtet. Es wäre ganz leicht. In der Uni hatte ich es noch nie getan, das hier war damals mein Neuanfang gewesen, meine gesunde Zone, aber was machte es jetzt schon für einen Unterschied? Es würde mir danach besser gehen. Es würde mir das Gefühl von Kontrolle geben. Wenn alles in meinem Leben auseinanderfiel, gab es immer noch diese eine Sache, über die ich die Macht hatte. Niemand konnte sie mir wegnehmen. Doch da war diese Stimme in meinem Hinterkopf, die mal wieder verdammt nach Matildas klang.

Tu es nicht, Bry. Bitte, tu es nicht.Du denkst, es macht es besser, aber das ist nur für den Moment. Du begibst dich damit tiefer in den Teufelskreis. Du hast es schon einmal geschafft, dich daraus zu befreien. Du bist stark genug. Du weißt, was das Richtige ist.

Ich atmete tief durch. Einmal, zweimal, dreimal. Zwang mich, Matilda auszublenden und an Dr. Kapoor zu denken. Es war jetzt eine Weile her, aber ihr freundliches rundes Gesicht war für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Ihre Augen hatten feucht geglänzt, als sie sich in der letzten Sitzung von mir verabschiedet hatte.

»Ich halte Sie für eine sehr fähige junge Frau, Briony. Und ich halte Sie für stark genug, um Hilfe zu bitten, sollten Sie jemals wieder an den Punkt gelangen, es nicht alleine meistern zu können. Es ist keine Schande, um Hilfe zu bitten, vergessen Sie das nie. Es ist ein Zeichen von Stärke. Und Sie, meine Liebe, besitzen eine ganze Menge Stärke.«

Weitere Sekunden vergingen. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, fixierte die schmutzigen Fliesen. Schließlich hatte ich die Übelkeit so weit zurückgedrängt, dass ich wieder in der Lage war, aufzustehen.

Ich hätte es als Erfolg empfinden sollen, doch als ich die Kabine verließ, fühlte es sich nur nach einer weiteren Niederlage an.

Wie ferngesteuert lief ich zu den Waschbecken und wusch mir die Hände. Als ich den Wasserhahn abdrehte und nach den Papiertüchern greifen wollte, konnte ich es nicht verhindern. Mein Blick traf auf den Spiegel. Inzwischen hatten sich mehrere Strähnen aus meiner Frisur gelöst. Rote Flecken prangten auf meinen geschwollenen Wangen, meine Augen waren ebenfalls rot gerändert, durchzogen von schwarzen Mascara-Spuren.

Ich ließ den Arm sinken, stützte mich mit beiden Händen am Waschbeckenrand ab und beugte mich vor, bis mein Atem den Spiegel beschlug. »Du bist erbärmlich«, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu.

Die Worte waren keine Erleichterung, nur eine Variation der immer gleichen Melodie, die mich mein Leben lang begleitete und in den letzten Wochen wieder lauter geworden war. Ich hasse dich. Du bist wertlos. Warum kannst du dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen? Aber immerhin ließen sie mein Abbild vor meinen Augen verschwimmen, während mir erneut heiße Tränen über die Wangen strömten.

In genau diesem Moment flog die Tür auf.

Reflexartig wich ich zurück und drehte den Kopf.

Sobald ich die Statur und die dunklen Locken registrierte, wusste ich, wer er war, auch wenn es einige Sekunden dauerte, bis ich ihn richtig fokussieren konnte.

Sebastian stand im Türrahmen und starrte mich an. Seine Miene verriet mir, dass er nicht zufällig hier war. Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu.

Ich wischte mir die nassen Hände an der Hose ab. »Kannst du mich bitte durchlassen?« Meine Stimme klang dünn und hoch und zittrig, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.

Für einen Augenblick zögerte er noch, dann trat er einen Schritt vor und lehnte sich links gegen die Wand neben der Tür. Mit zusammengezogenen Brauen sah er mich an.

Gleich würde er etwas sagen. Mich fragen, ob alles in Ordnung sei. Ob er etwas falsch gemacht habe. Ob er helfen könne.

Wie könnte ich jemals anfangen zu erklären, was in mir vorging und wie er damit zusammenhing, obwohl wir bis vor Kurzem noch kein Wort miteinander gewechselt hatten?

Du bist erbärmlich, hallte meine eigene Stimme in mir wider. Er-bärm-lich.

Bevor er die Gelegenheit dazu bekam, den Mund zu öffnen, wandte ich den Blick ab und flüchtete auf den Gang.

Immerhin wusste ich jetzt, um was für ein Stück es sich bei dem heutigen Tag handelte. Ich war erfolgreich in Akt fünf der klassischen Tragödie angekommen: die Auflösung des Konflikts durch eine Katastrophe.

3. KapitelThings aren’t always what they seem to be

SEBASTIAN

»Wie ist es Ihnen seit letzter Woche ergangen?«

Dr. O’Sullivan schlug die Beine übereinander und sah mich abwartend an. Seine welligen, silbergrauen Haare waren kürzer als vor einer Woche, wenn mich nicht alles täuschte, und wie immer wirkte er munter und erfrischt, als sei er eben erst aus einem Yoga-Retreat zurückgekehrt. Es war mir ein Rätsel, wie ein Mensch mit seiner Profession so aussehen konnte.

Ich lehnte mich in dem schwarzen Samtsessel zurück und ließ den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Die Wand hinter ihm und somit direkt gegenüber von mir war von einem hohen Bücherregal in dunklem Mahagoni verdeckt. Auf einem Nierentisch neben seinem Bürosessel stand eine beigefarbene Vase mit getrockneten Wildblumen. Regen tröpfelte gegen die hohen ovalen Fenster. Als ich die Uni vor etwa einer halben Stunde verlassen hatte, hatte noch die Sonne geschienen. Typisch.

»Gut«, sagte ich schließlich und schaute zurück zu ihm. Nicht übermäßig besser als gut, nicht signifikant schlechter. Genau so, wie es sein sollte.

Normalerweise überlegte ich mir schon auf dem Weg hierher, was ich in der Sitzung ansprechen wollte, damit ich nicht ziellos drauflosquatschte, doch dafür war ich vorhin viel zu abgelenkt gewesen.

»Heute war der letzte Castingtag fürs Abschlussstück. Meine Dozentin hatte mir aber schon gestern im Vertrauen gesagt, dass sie mir die Rolle des Lysander geben werden.«

Dr. O’Sullivan nickte anerkennend. »Dafür haben Sie Anfang der Woche vorgesprochen, nicht wahr?«

»Yep.«

In der letzten Sitzung hatte ich ihm erzählt, wie sehr ich die Rolle haben wollte. Nicht, weil ich so wahnsinnig viel von dem Charakter hielt – in meinen Augen war Lysander ein testosterongesteuerter Vollidiot. Und auch nicht, weil er die wichtigste Rolle war – eine einzige große Hauptrolle gab es nicht. Es ging mir um die Entwicklung, die er in dem Stück durchmachte; sie war unglaublich vielseitig und außerdem für mich von persönlichem Interesse.

»Was haben Sie empfunden, als Ihnen die Rolle schon vor der offiziellen Auswahl zugesagt wurde?«, unterbrach Dr. O’Sullivan meine Gedankengänge.

Ich atmete tief durch. »Erleichterung. Ich habe es irgendwie als Beweis gesehen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es hat sich nicht nach einer Mitleidsnummer angefühlt. In den vergangenen Monaten war es ja eher so, dass sie mir nur die kleinen Rollen zugeteilt haben, um mich ja nicht zu überfordern. Und jetzt bekomme ich diese Chance, vermutlich weil es in letzter Zeit so reibungslos gelaufen ist. Ich bin nicht aufgefallen. Nicht negativ zumindest. Wissen Sie, ein Teil von mir hat geglaubt, wenn ich eine Weile die Medikamente nehme, dann werden nicht nur die Stimmungsschwankungen verschwinden, sondern auch das, was mich ausmacht. Das Positive. Vor allem beim Spielen.«

Stumm wartete er ab. Er kannte meine Sorgen, was dieses Thema anging. Und ich kannte seine Meinung dazu.

»Ich weiß, wir haben lange darüber gesprochen, aber … Also, irgendwie habe ich etwas anderes erwartet.«

»Inwiefern?«, hakte er nach, als ich nicht weitersprach.

Er schaute nicht von dem Block auf, auf dem er sich Notizen machte. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie mich das ganz am Anfang irritiert hatte. Es war ein bisschen, als würde ich mit mir selbst reden. Inzwischen empfand ich es eher als angenehm, weil es mir das Gefühl gab, freier sprechen zu können.

»Ich dachte, es wird eine viel größere Herausforderung«, fuhr ich fort. »Manchmal glaube ich, ich warte auf den großen Knall. Oder darauf, dass die Nebenwirkungen schlimmer werden. Aber bisher ist nichts davon eingetreten. Die letzten beiden Trimester sind fast ohne Zwischenfälle vergangen, ich komme gut hinterher, überfordere mich nicht, habe sogar neue Freunde gefunden, halte mich an meine Routine. Und jetzt ist der Bachelor fast geschafft, und mir geht es gut. Ich erinnere mich nicht daran, wann es mir das letzte Mal so … so normal gut ging.« Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme viel zu niedergeschlagen dafür, dass ich mir das alles nicht ausdachte. Ich versuchte ein Lächeln. »Ich schätze, ein Teil von mir vermisst die Unsicherheit. Und die Extreme. Und will sich nicht eingestehen, dass Sie recht hatten.«

»Recht womit?«

»Dass ich nicht meine komplette Persönlichkeit verliere, wenn ich das Zeug schlucke. Und dass mein Leben nicht vorbei ist, wenn ich einen Mittelweg finde.« Sobald die Worte ausgesprochen waren, verzog ich angesichts meiner Formulierung das Gesicht, doch Dr. O’Sullivan reagierte nicht darauf.

»Würden Sie sagen, dass Sie sich momentan etwas überfordert mit Ihrer neuen Situation fühlen?«, fragte er ruhig. »Gerade weil Sie diesen Gemütszustand nicht gewohnt sind?«

Heftig schüttelte ich den Kopf. »Das ist es ja gerade. Ich bin das Gegenteil von überfordert. Ich mache mir eher Sorgen, dass mein Kopf mich gerade in Sicherheit wiegt, bevor er dann umso härter zuschlägt.«

Okay. Das war Bullshit. Das wusste ich. Aber eben nur, weil es mir gerade gut ging.