Polatexte - Nadine Hilmar - E-Book

Polatexte E-Book

Nadine Hilmar

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Beschreibung

Frauen, die auf Fotos auftauchen, obwohl sie beim Auslösen nie da gewesen sind. Menschen, die in endlosen Reihen von Badewannen erwachen. Faltige Hände, die das Leben einer alten Frau ertasten. Ein verirrter Blinder. Vom Leben und Sterben, dem Vergessen darüber, dass man hin und wieder vergisst. Und vom Warten. Davon handeln die Geschichten. Als Vorlage zu jeder Geschichte diente ein Polaroid. Analoge Fotografie für analoge Geschichten. Direkt aus dem Leben in das Leben. Mitten im Geschehen landet man in der nebligen Weite Islands oder in einem Saal voller rostiger Badewannen, in denen Menschen liegen. Jede Geschichte spielt in einer fremden Welt, die doch die unsere sein könnte. Oder? So nah erzählt, dass sie selbst erlebt sein können und doch so absurd, düster oder fremd, dass man wünscht und hofft, alles sei frei erfunden.

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Seitenzahl: 69

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für meinen Bruder in sehnsüchtiger Erinnerung.

Inhaltsverzeichnis

Angekommen

Frau in Weiß

Kursalon Hübner

Ihre Hände

Das Fenster

Sieben Stationen

Seine Schuhe

Ihr Schatten bleibt

Stummer Dialog im Regen

Vergessen

Fotos erzählen Geschichten. Geschichten aus

der Sicht der Fotografierenden. Geschichten über

die Menschen, die im Foto festgehalten sind.

Und Geschichten in den Köpfen derer, die die

Fotos betrachten.

Keine Geschichte gleicht der anderen. Jede ist

wundersam. Und auf ihre Art reich.

Angekommen

Das erste, was er sah, als er erwachte, waren seine Füße. Seine Nackten Füße. Die Haare auf dem großen Zeh. Ein Muttermal direkt über dem rechten Knöchel.

Er wackelte mit den Zehen, als würde er sich zuwinken. Wie beweglich sie waren. Und wie perfekt geschnitten die Zehennägel waren. Wann hatte er...? Bevor er zu Ende denken konnte, spürte er einen stechenden Schmerz im Brustkorb. Er hielt inne und schloss die Augen. Er hörte laute Sirenen in seinem Kopf. Ein Hämmern und blaues Licht blendete seine Augen. Dann war der Schmerz verschwunden, der Kopf ruhig und still. Der Gedanke an seine perfekt geschnittenen Zehennägel vergessen. Wieder schaute er sich an. Seine Zehen. Seine Füße und die gesamte Nacktheit seines Körpers, der hier in dieser Badewanne lag.

Im Augenwinkel sah er jemanden aufstehen. Einen Mann mit grauen Haaren und einer sehr großen Nase. Er beobachtete, wie der Mann einen weinroten Leinenumhang mit einer gelben Schnur fest um sich schnürte und, ohne sich umzublicken, langsam davon ging. Dann schaute er zurück auf seine Füße. Seine Zehen. Wackelte noch einmal kurz und hatte schon vergessen, worüber er sich gerade noch gewundert hatte. Er betrachtete seine Finger. Dass auch diese Nägel perfekt und rund geschnitten waren, bemerkte er nicht mehr. Stattdessen strich er langsam mit dem rechten Zeigefinger über die Rostflecken der alten Badewanne, in der er lag. Sie waren orange-braun. Und bröselig. Die Badewanne war einmal silbern, aber überall blätterte die Farbe ab und die Rostflecken übernahmen die Farbherrschaft.

Neben ihm stand die leere Badewanne des Mannes mit den grauen Haaren und der großen Nase. Der Mann war bereits verschwunden und er wunderte sich nun, wohin er wohl gegangen sei. Er schaute sich um aber er konnte ihn nirgends entdecken. Da spürte er plötzlich wieder diesen stechenden Schmerz, schloss wieder die Augen für ein paar Sekunden und sah grelles blaues Licht schimmern. Immer und immer wieder. Dann war es ruhig in seinem Kopf und in seiner Brust. Er öffnete die Augen und schaute sich um.

Um ihn herum standen noch unzählige Badewannen. So weit er schauen konnte, standen unendlich viele Badewannen in scheinbar perfekt gerader Anordnung. Alle silbern. Alle rostig. Alt irgendwie. Manche waren leer. In anderen schliefen Menschen. Tief und fest. Hier und da hingen ein paar Füße über den Rand, weil die Wannen zu klein waren für diejenigen, die in ihnen lagen.

Neben jeder Badewanne stand ein Holzhocker, weiß lackiert. Auf jedem Hocker lagen ein weinrotes Stück Stoff und eine gelbe Schnur. Weit entfernt sahen die weinroten Stoffstücke nur noch aus wie Punkte in diesem weiten Grau. Denn obwohl er kein Fenster erblicken konnte, war dieser Raum hier, dieser Saal, dieses riesige Etwas, hell. Weit und hell. Die Decke des Raumes war ungreifbar hoch oben. Es hingen Farbstücke herab, kurz davor, jeden Moment laut scheppernd zu Boden zu fallen. Doch nichts fiel. Und nichts schepperte. Überhaupt war kein Geräusch zu hören.

Und noch bevor er sich wundern konnte, wie er hier her in diese Ruhe und Stille, diesen Raum aus Nichts aus so vielen Menschen und Badewannen und sonst nichts gekommen war, spürte er wieder einen Schmerz in seiner Brust. Diesmal hielt er nur kurz inne, ließ die Augen offen und spürte das Flackern des blauen Lichtes nur noch in seinen Augenwinkeln. Kurz darauf war der Schmerz verschwunden und mit ihm die Frage nach dem Wie und Warum. Er stand auf und stieg aus der Badewanne. Seine Füße berührten den grauen Fliesenboden, der sich weich anfühlte. Und warm. Angenehm warm.

Er nahm die gelbe Schnur vom Hocker und legte sie vorsichtig auf den Badewannenrand. Dann wickelte er sich in den weinroten Umhang, so, wie er es bei dem Mann mit den grauen Haaren und der großen Nase aus der Nachbarbadewanne gesehen hatte. Er knotete die gelbe Schnur um seine Taille und hielt mit der linken Hand das Ende der Schnur fest. Dann trat er auf den Gang zwischen zwei Badewannenreihen hinaus und blickte reglos in die Weite dieses Raumes. Dieses Saales. Dieses endlosen Nichts. Ohne Anfang, ohne Ende. Und ohne sich weiter darüber zu wundern, ging er ein paar Schritte. Er schaute nicht auf die Menschen in den Badewannen. Er wunderte sich nicht über sie und beachtete auch kaum die, die gerade, so wie er selbst, erwachten und aufstanden. Und sich nicht über ihn wunderten. Sie schnürten sich ebenfalls ihre roten Umhänge um und gingen scheinbar ziellos auf ein unscheinbares Ziel zu. So wie er.

Mit jedem Schritt sah er nach und nach eine Tür aus Metall im Nebel der Weite auftauchen. Eine Tür, die sich immer wieder öffnete und durch die immer wieder ein Mensch, der zuvor aus einer Badewanne entstiegen war, verschwand. Er wusste nicht, was hinter der Tür war, doch jedes Mal, wenn er sich fragte, was dort sein könnte, warum die Menschen dort hin strebten, schmerzte es in seiner Brust und er musste kurz innehalten. Auch die anderen schienen hin und wieder stehen zu bleiben. Um dann, wie von fremder Hand geschoben, weiterzugehen.

Die Tür in der Ferne quietschte jedes Mal, wenn sie sich öffnete oder schloss. Das Quietschen wurde lauter mit jedem Schritt, den er sich der Tür näherte.

Und mit jedem Quietschen wurde der Schmerz in der Brust immer schwächer und immer seltener. Und mit jedem Schritt schwand das Wundern über das, was war und was ist. Er wollte nur noch auf diese Tür zu und durch sie hinaus. Wollte weg aus diesem Raum und weg von dem Schmerz, der immer wieder leise, ganz leise auftrat. Doch das ohrenbetäubende Quietschen der Tür zog ihn an, es übermalte die Schmerzen, die er trug und irgendwann stand er vor keiner Tür, sondern einem riesigen Tor aus Metall. Ein letztes Mal schaute er sich um und sah in die Weite all dieser Badewannen und roten und gelben Punkte, sah all die Menschen und die Füße, die über die Wannenränder hinausragten.

Dann trat er einen Schritt nach vorn und die Tür öffnete sich mit lautem Quietschen. Was vor ihm lag war nichts, was er hätte erwarten können. Nichts, was er sich je hätte vorstellen können. Und jetzt, da er ohne Schmerzen und ohne Fragen war, konnte er hinaustreten.

Frau in Weiß

Er zog das Foto eingepackt in Folien aus der Kamera und legte es zum Entwickeln ins Gras. Dort lag es eine Weile, während er an seinem halb vertrockneten Brot kaute. Würden sie ihn im Büro jetzt sehen können, würden sie ihn wohl für verrückt erklären. Oder total durchgeknallt. Er starrte kauend in die Landschaft und lächelte abwesend über vergangenen Abende.

Als der das Brot aufgekaut und mit langen Wasserschlucken weggespült hatte, nahm er das Foto aus dem Gras und begann die obere Folie abzuziehen. Gespannt betrachtete das Ergebnis. Und als er die Folie ganz abgezogen hatte, schob er den Kopf näher zum Foto und das Foto näher zum Kopf. Dann wieder weg und noch einmal näher. Was er sah, konnte er nicht glauben und schon gar nicht begreifen. Er rieb sich die Augen und begriff noch immer nicht. Auf dem Foto stand eine Frau, mit dem Rücken zu ihm gewandt und dem Blick auf das Haus, das er fotografiert hatte. Er saß direkt vor diesem Haus, konnte aber niemanden sehen. Er konnte sich auch nicht erinnern jemanden gesehen zu haben, als er das Foto gemacht hatte. Es wäre ihm doch aufgefallen. Sie wäre ihm aufgefallen. Diese Frau in diesem weißen Kleid hier im grauen Nichts vor diesem grauen Haus. Er schaute sich um. Verwundert. Verwirrt.

Er glaubte nicht an Hokuspokus. Weder an einen Gott noch an irgendwelche mystischen Märchen. Er verachtete Esoterik und alles Wundersame, was nicht physikalisch, mathematisch oder sonst höchst wissenschaftlich zu erklären war.

Meditation und Yoga waren ihm so fremd wie sämtliche Religionen der Welt. Er glaubte, was er sah und das, was er fühlte. Die Realität. Das