Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. - Kristine Getz - E-Book
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Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. E-Book

Kristine Getz

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Beschreibung

Nichts ist zu privat, um auf Instagram geteilt zu werden. Auch nicht die Entführung deines Kindes  Vier Stunden nachdem die berühmte Influencerin Lotte Wiig ein Bild ihrer zweijährigen Tochter Poppy gepostet hat, verschwindet das Kind. Die Entführung erschüttert ganz Norwegen, denn Millionen von Menschen folgen dem Leben des bezaubernden Mädchens Tag für Tag. Erst vor kurzem wurde ein anderes Kind entführt, das zwölf Stunden später wieder auftauchte. Ist es der gleiche Täter? Kommissarin Emer Murphy erfährt von der Entführung aus den Medien, doch wegen einer psychischen Erkrankung darf sie im Moment nicht arbeiten. Aber Emer will dieses Kind unbedingt finden, denn Poppy berührt etwas in ihr. Etwas, das sie längst vergessen wollte.

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Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu.

Die Autorin

Kristine Getz, Jahrgang 1983, hat Architektur und Ernährungswissenschaften studiert und arbeitet als Publizistin. Sie lebt in Colorado in den USA mit einem norwegischen Ehemann und italienischen Hunden. Poppy ist ihr Debütroman.

Das Buch

Vier Stunden nachdem die berühmte Influencerin Lotte Wiig ein Bild ihrer zweijährigen Tochter Poppy gepostet hat, verschwindet das Kind. Die Entführung erschüttert ganz Norwegen, denn Millionen von Menschen folgen dem Leben des bezaubernden Mädchens Tag für Tag. Erst vor kurzem wurde ein anderes Kind entführt, das zwölf Stunden später wieder auftauchte. Ist es der gleiche Täter? Kommissarin Emer Murphy erfährt von der Entführung aus den Medien, doch wegen einer psychischen Erkrankung darf sie im Moment nicht arbeiten. Aber Emer will dieses Kind unbedingt finden, denn Poppy berührt etwas in ihr. Etwas, das sie längst vergessen wollte.

Kristine Getz

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu.

Thriller

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein

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1. Auflage Juli 2022© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© Kristine Getz 2021Titel der norwegischen Originalausgabe: PoppyFirst published by Aschehoug, Oslo, NorwayUmschlaggestaltung: zero-media, MünchenTitelabbildung: arcangel/ © ALMA GONZALEZAutorinnenfoto: © Julie HarrisE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2703-7

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

ERSTER TAG

Jens Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Lotte Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Marie Wiig. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Theatercafé, Oslo

Emer Murphy. Polizeipräsidium, Oslo

Lotte Wiig. Samana Spa, Holmestrand

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Lotte Wiig. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Marie Wiig. Ullevål-Krankenhaus, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Polizeipräsidium, Oslo

ZWEITER TAG

Emer Murphy. Polizeipräsidium, Oslo

Emer Murphy. Polizeipräsidium, Oslo

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Emer Murphy, Gamlebyen, Oslo

Lotte Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Emer Murphy. Von Vika nach Skillebekk, Oslo

Emer Murphy, Skillebekk, Oslo

Emer Murphy. Präsidium, Oslo

Emer Murphy. Bygdøy, Oslo

DRITTER TAG

Marie Wiig. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Frogner, Oslo

Emer Murphy. Akersgata, Oslo

Emer Murphy. Präsidium, Oslo

Lotte Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Emer Murphy. Präsidium, Oslo

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Emer Murphy. Majorstuen, Oslo

VIERTER TAG

Lotte Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Emer Murphy. Majorstuen, Oslo

Emer Murphy. Majorstuen, Oslo

Emer Murphy. Gamlebyen, Oslo

Emer Murphy. Vinderen, Oslo

Emer Murphy. Vinderen, Oslo

Marie Wiig. Bygdøy, Oslo

Emer Murphy. Von Majorstuen nach Bygdøy

Marie Wiig. Bygdøy, Oslo

Carmen Haugen. Hvaler

Emer Murphy. Von Bygdøy nach Hvaler

Emer Murphy. Hvaler

EINE WOCHE SPÄTER

Lotte Wiig. Málaga, Spanien

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

ERSTER TAG

Widmung

Für die Giraffe und den Elefanten.I did it.

Widmung

I promise you will get oldI promised you everythingTo protect you wherever you goI’ll give you this diamond ring

Aus »Promises« von Badly Drawn Boy

Prolog

Das Mädchen liegt regungslos da, nur der Schimmer der Zigarettenglut fällt auf das Gesicht. Die Augen geschlossen. Die kleine Hand unter der Wange zur Faust geballt. Die rosa Lippen etwas geöffnet, sodass die Milchzähne zu sehen sind. Das Kleid ist hellblau, die Schuhe schwarz, und die Söckchen haben einen Spitzenrand. Sie ist eine kleine Puppe.

Der seidenweiche Arm leistet keinerlei Widerstand. Lässt man ihn fallen, klatscht er einfach so auf den Boden. Alles ist perfekt.

ERSTER TAG

SONNTAG, 16. JUNI 2019

Jens Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Sonntagmorgen

Dicke Regentropfen peitschten auf den Fjord und prasselten auf die Veranda. Jens Wiig stand am bodentiefen Fenster und starrte auf den Platz unterhalb der Wohnung. Eine Touristengruppe hatte unter dem Vordach des Fischrestaurants auf der anderen Seite des Kanals, ganz am Ende von Aker Brygge, Zuflucht gesucht. Er reckte den Hals, aber von seiner Frau und seiner Tochter war noch nichts zu sehen.

Es war bereits fünf nach zehn. Wo blieben sie nur? Sie waren doch nur einkaufen gegangen.

Das Telefonat mit der Reporterin von Radio Norge lag bereits hinter ihm. Wie alle anderen hatte auch sie sich für die »Stalkeraffäre« interessiert, wie der Vorfall inzwischen von allen genannt wurde, und wissen wollen, wie es der Familie nach all der Dramatik der vergangenen Woche ginge und ob Lotte Zeit für ein paar Fragen habe.

»Vermutlich nicht, ich bedaure das sehr«, hatte Jens geantwortet, »aber als Geschäftsführer von LottesLooks kann vielleicht ja auch ich Ihre Fragen beantworten.«

Gleich nachdem sie die Drohung per E-Mail erhalten hatten, ergänzt durch Nahaufnahmen von seiner Frau und seiner Tochter, hatte er Kontakt mit der Polizei aufgenommen. Kurz darauf war ein hünenhafter Beamter bei ihnen aufgetaucht, Mons Tidemand, dessen schroffes Verhalten seiner Körpergröße in nichts nachstand.

Jens erzählte der Reporterin von Radio Norge, dass die Polizei den Fall sehr ernst nehme und Lotte den Rat gegeben habe, den Inhalt der Drohungen nicht an die Presse zu geben.

Auf die Frage, ob es eine Theorie für mögliche Täter gebe, hatte er der Journalistin nach einer Kunstpause gesagt: »Dazu kann ich Ihnen leider keine Auskünfte geben.« Nach ein paar Jahren im Business kannte er das Spiel: Was teilen Polizei und Familie der Öffentlichkeit nicht mit? Die Presse würde zu spekulieren beginnen, und Spekulationen führten zu mehr Aufmerksamkeit, wogegen er nichts einzuwenden hatte.

Jens stieg über die Kabel der Scheinwerfer und des anderen Equipments und klappte an der Kücheninsel seinen Laptop auf. Das Foto von seiner Frau im Bett mit der Geburtstagskrone auf dem Kopf hatte bereits fünftausend Likes. Seit Poppys Geburt war auf Lottes Blog nicht mehr so viel los gewesen. Damals, vor etwas über zwei Jahren, hatte die Boulevardzeitung VG in ihrer Onlineausgabe getitelt: »Ein rauer Start – Lottes neugeborene Tochter kämpft ums Überleben!« Jetzt, zehn Tage nachdem dieselbe Zeitung über den Stalker berichtet hatte, brodelte es noch immer in den Kommentarbereichen der sozialen Medien.

Endlich hörte er die beiden auf den Flur poltern. Er klappte den Laptop zu und vergewisserte sich, dass der Akku der Kamera geladen war. Bevor er seine Frau mit einer romantischen Geburtstagsfeier überraschen konnte, mussten sie ein paar Werbefotos schießen.

Jens stand auf und ging zu ihnen in den Flur. Lotte legte die Sicherheitskette an der Tür vor, noch ehe sie ihrer Tochter aus der nassen Jacke half. Sie hatte diese Kette am Tag ihres Einzugs vor fünf Jahren installieren lassen. Schließlich zog auch sie ihre Jacke aus und streifte die winzigen Schuhe ab. Ihre Füße waren wirklich so klein wie die eines Kindes. War im Laden irgendetwas vorgefallen? Jens’ Kiefer spannten sich an. Sollte das einer der schwierigen Tage werden? Keine der beiden würdigte ihn auch nur eines Blickes. Poppys große grüne Augen waren auf ihre Mutter gerichtet.

Er sog Lottes Duft ein, als sie ohne jede Art von Gruß an ihm vorbeiging. Am Ende des Flurs warf sie einen Blick über die Schulter, als fürchtete sie, dass jemand plötzlich durch die Tür brechen könnte. Ihre Paranoia war in der Woche nach der Stalkeraffäre noch stärker geworden, neu war sie mitnichten. Doch er hatte nie erfahren, was oder wer Lotte so beunruhigte. Sie wollte nicht darüber reden: »Die Vergangenheit ist vergangen. Was jetzt zählt, sind wir drei, Jens.«

Poppy hatte sich noch nicht gerührt, sie stand noch immer mit klitschnassen Haaren im Flur, die Puppe, die ihr bis aufs Haar glich, fest an die Brust gedrückt.

»Freust du dich darauf, Mama zu überraschen, Popps?« Jens sprach betont laut, um sicherzugehen, dass seine Frau ihn hörte, und sah mit flehendem Blick zu seiner zweijährigen Tochter. Vielleicht war das Geburtstagsfest ja doch noch zu retten. Dann streckte er seine Arme aus, um sie in die Luft zu werfen, damit Poppy alle mit ihrem trillernden Lachen beglückte.

Zauberhaft, kommentierten die Leute, wenn es Jens gelang, Lotte und Poppy in solchen Momenten einzufangen: Ihr zwei Engel bringt Licht in meinen Tag! Heute hatte seine Tochter aber eigene Pläne. Mit ernster Miene schob sie sich an ihm vorbei, hastete ihrer Mutter hinterher und setzte sich dicht neben Lotte auf den Hanfteppich, der nur wenige Stunden, nachdem sie ihn ausgerollt und den Link zu dem Hauptsponsor des Blogs, Bambus, geteilt hatten, ausverkauft gewesen war.

Wir sollten jetzt mit den Fotos beginnen, dachte Jens, blieb aber stehen und studierte die Mädels. Die Züge der Kleinen waren schön und weich, und Lotte wirkte neben ihr eher wie eine große Schwester als wie ihre Mutter.

Beide trugen weiße Loungeanzüge, der seiner Frau war am Bauch etwas zu kurz. Sein Blick ruhte auf dem kleinen weißen Polster rund um ihren Nabel. Er spürte ein Zucken in seiner rechten Hand, mit der er die Photoshopwerkzeuge für die Bildbearbeitung steuerte, und sein Zeigefinger drückte ganz von selbst in die Luft, als wollte er Lottes Haut straffen und sie auch in real life perfektionieren.

Die beiden flüsterten miteinander, steckten die Köpfe zusammen und lachten. Jens fiel ein Stein vom Herzen. Die Party ist gerettet, dachte er, es wird doch noch der perfekte Geburtstag werden.

Er war ein guter Fotograf und hatte es diesen Fähigkeiten zu verdanken, dass er die Magie zwischen Mutter und Tochter immer wieder perfekt einfing und sie die Freude und Liebe so auch mit anderen teilen konnten. Die beiden lachten noch immer. Jens hatte keine Ahnung, über was sie sprachen oder was so lustig war. Früher hatte ihn so etwas eifersüchtig machen können, eifersüchtig auf Poppy, da sie Lotte auf eine Weise verstand, die ihm selbst fremd war, und weil sie immer, absolut immer in ihre Nähe durfte.

Er lächelte, hatte, ohne es wirklich zu registrieren, Instagram geöffnet und die Kamera auf Frau und Tochter gerichtet. Jens war durch den Bildschirm Zeuge eines zauberhaften Moments geworden, gemeinsam mit 444.000 Follow­ern.

Lotte Wiig. Tjuvholmen, Oslo

Sonntagmorgen

Lotte Wiig drehte den Deckel von der Nuss-Nougat-Creme, starrte auf das Glas und dachte an die Sponsorenvereinbarung, die Jens ohne Rücksprache mit ihr eingegangen war. »Nicht gerade der ideale Partner, aber wir können es uns nicht leisten, auf die halbe Million Kronen zu verzichten. Erst recht, wenn wir dafür nur ein paar Bilder pro Woche posten müssen.«

Sie nahm das Buttermesser und versuchte, sich zu beruhigen. Das Unbehagen und die Unruhe, die beim Einkaufen über sie gekommen waren, hatten eigentlich nichts mit der Tatsache zu tun, dass ihre Tochter mit diesen Produkten posieren musste.

Nach der E-Mail von dem Stalker hatte die Polizei Lotte mit einem stillen Alarm ausgestattet und versichert, sie würden sofort zur Stelle sein, wenn sie diesen Alarm auslöste. Heute wäre es fast so weit gewesen, denn vor dem Laden hatte jemand ihren Namen gerufen. Vermutlich war das nur ein Fan, aber trotzdem war es ihr nur mit äußerster Mühe gelungen, die Contenance zu wahren. Sie hatte den Buggy mit ihrer weinenden Tochter hastig durch den Regen geschoben, während sie hinter sich hörte: »Lotte! Lotte! Lotte!« Als sie endlich im Fahrstuhl nach oben in ihre Wohnung gewesen waren, hatte sie das Gmail-Konto geöffnet, von dem Jens keine Ahnung hatte, und Alex eine Nachricht geschickt:

In Tjuvholmen hat gerade jemand meinen Namen gerufen. Mehrmals. Das muss er sein! Erst hat er unbemerkt Fotos von uns gemacht, und jetzt verfolgt er mich. Ich habe Angst!

Poppy saß auf dem hässlichen, aus irgendeinem Recyclingmaterial hergestellten Bambus-Sofa und hatte die beige Decke wie ein Zelt über sich gezogen, sodass nur ihr süßes ernstes Gesicht und ein paar dunkle Haarsträhnen zu sehen waren. Neben ihr lag die Tiara, die sie nicht aufsetzen wollte, trotzdem hatte Jens es irgendwie geschafft, sie unter dem Hashtag #prinzessin mit auf einige Fotos zu mogeln. Poppys Blick klebte an Lotte. Auch sie wirkte beunruhigt.

Lotte versuchte zu lächeln, damit ihre Tochter sich entspannte, aber die Angst steckte so tief in dem kleinen Körper, dass ihre Lippen nicht gehorchten. Das Handy lag neben dem Brotkorb, aber sie wagte es nicht zu überprüfen, ob Alex bereits geantwortet hatte. Nicht, wenn Jens so dicht neben ihr an seinem Laptop saß.

»Was machst du da eigentlich?« Lotte schnitt zwei Scheiben vom Brot und steckte sie in den Toaster, obwohl das eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre.

»Ich checke das Blog-Ranking«, antwortete er, ohne sie anzusehen. »Wir sind ganz an der Spitze, und das zum neunten Mal in Folge. Das ist echt unglaublich!«

Lotte warf einen Blick auf das gerahmte Foto über dem Esstisch: Jens auf dem Tenniscourt, Arme und Schläger in einer Siegerpose nach oben gereckt. Wie sehr sie seine aktive Zeit zurücksehnte. Erst nach dem Ende seiner Tenniskarriere hatte Jens dieses brennende Interesse an ihrem Business und ihrer Leidenschaft entwickelt. Der Modeblog, den sie in seiner aktiven Zeit als Leistungssportler begonnen hatte, war danach mit neuem Fokus zu einem Gemeinschaftsprojekt geworden, einem Familienbetrieb, der sie alle finanzieren musste. Der Blog war zu ihrem Leben geworden.

Die beiden Brotscheiben sprangen aus dem Toaster. Sie beschmierte sie mit einer übertrieben dicken Schicht Schokocreme, legte das Messer beiseite und holte tief Luft. Den nächsten Schritt wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Legen wir los?«

Jens nickte und lächelte übereifrig. Schon am Morgen, als er ihr Obst ans Bett gebracht hatte, war er ihr auf die Nerven gegangen. Geburtstag. Große Pläne. Überraschungen. Freust du dich? Bist du gespannt? Rate mal, was wir heute machen werden! Lotte wünschte sich einzig und allein, dass der Tag bald vorüber war.

Ihr Mann nahm die Kamera und schraubte das Teleobjektiv ab, das er draußen benutzt hatte. Sein Blick suchte nach dem Normalobjektiv. »So langsam wird die Zeit knapp! Bist du bereit, Poppy?«

Poppy flüsterte ihrer Puppe unter der Decke etwas zu, vielleicht erfuhr nur diese Puppe, was sie wirklich dachte.

Dass die Kleine mit zwei Jahren und zwei Monaten noch immer nur durch Blicke und einfache Laute kommunizierte, zum Beispiel eine Art Mmmm, das sie als »Mama« identifizierten, beunruhigte sowohl Jens’ Mutter Marie als auch die Angestellten der Kita.

Während Jens ein paar Testfotos schoss und den Scheinwerfer etwas anders ausrichtete, nahm Poppy die Scheibe in die Hand und führte sie zum Mund. Sie riss ihn unnatürlich weit auf, als wollte sie wirklich abbeißen. Ihr Blick sagte dabei mehr als deutlich: Ich tue das nur für dich, Mama. Weil du mich darum bittest. Lotte schnürte sich der Hals zu.

In diesem Moment leuchtete Jens’ Telefon auf dem Tisch auf. Auf dem Display erschien Marie/Mama. Lotte empfand eine wohlige Genugtuung dabei, das Handy einfach umzudrehen und sich die gestresste Reaktion ihrer Schwiegermutter vorzustellen, dass sie ihren Sohn jetzt nicht erreichen konnte. Zum ersten Mal, seit zerplatzende Luftballons sie am Morgen geweckt hatten, war ihr Lächeln ehrlich.

Poppy hatte, wie es sich für ein professionelles Model gehörte, den Mund noch immer geöffnet, und Lotte träumte von all den wunderbaren Dingen, die einmal über die kleinen Lippen kommen würden: »Halt die Klappe, Oma« oder »Misch dich nicht ein, Marie Wiig« waren in Lottes Vorstellung die ultimativen ersten Sätze ihrer Tochter.

»That’s a wrap!«, rief Jens mit der überdrehten Fotografenstimme, die er sich inzwischen angeeignet hatte. »Ich hab total vergessen, dir zu sagen, dass Tante Carmen angerufen hat. Sie will schrecklich gerne mit dir feiern, und da haben wir überlegt, morgen nach der Kita Sushi zu holen?«

»Klingt nett«, sagte Lotte, räumte die Teller ab und warf die Scheiben mit der Schokocreme in den Mülleimer. Es verschaffte ihr ein Gefühl der Erleichterung, dass sie endlich fertig waren.

»Wunderbar, jetzt musst du hier aber warten, bis wir mit unserer Überraschung kommen.« Jens setzte sich Poppy auf die Schultern und verschwand mit ihr im Schlafzimmer. »Aber nicht gucken!«

Endlich allein! Mit klopfendem Herzen schloss Lotte hinter den beiden die Tür, ließ sich zwischen Kücheninsel und Anrichte auf den Boden sinken und drückte den Rücken an die Spülmaschine. Mit ihrem Fingerabdruck entsperrte sie das Handy. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein, es könnte aber wirklich der Stalker gewesen sein. »Lotte, Lotte, Lotte!«

Die Inbox zeigte eine Antwort von Alex an. Allein der Anblick des Namens beunruhigte sie. In den letzten zehn Tagen hatten sie zum ersten Mal seit drei Jahren wieder über E-Mail Kontakt. Ausgegangen war das von Lotte.

Vielleicht hat dich da nur einer deiner Follower erkannt? Ich bin noch immer auf der Suche, aber der ist echt verdammt schwer zu finden. Aber noch mal: Die Wahrscheinlichkeit, dass er tot ist oder irgendwo im Ausland im Gefängnis sitzt, ist größer, als dass er da bei dir in Tjuvholmen herumläuft. Ich halte dich auf dem Laufenden, sollte ich etwas finden. Ich hoffe, du kannst die Angst ein bisschen beiseiteschieben. Wenigstens heute.

PS: Guck dir mal das Bild an, das ich angehängt habe. Den Kuchen backe ich immer zu deinem Geburtstag. Wenn du ein Stück willst, treffe ich dich (oder euch?), wann und wo immer du willst.

Lotte drückte sich das Handy auf die Brust. Ihr Herz hämmerte, als sie sich für einen Moment vorstellte, wie es sein würde, wenn sie sich trafen oder wenn sie Alex Poppy vorstellte.

Sie lauschte dem Lachen ihrer Tochter aus dem Schlafzimmer und zog den eingelaufenen Baumwollpulli etwas nach unten. Als die Narben auf ihrer Brust zum Vorschein kamen, ließ sie den Stoff los, der sich gleich wieder zusammenzog. Vor drei Jahren, als die meisten Blogger noch Werbung für Billigklamotten gemacht hatten, die die begrenzten Ressourcen der Welt verbrauchten und schon nach einem Abend in der Stadt in die Tonne wanderten, hatte Jens darauf bestanden, umweltfreundliche Marken zu bewerben – und damit voll ins Schwarze getroffen. Nachdem sie einen Vertrag mit Bambus unterzeichnet hatten, war auf ihrem Blog schlagartig mehr los gewesen, und auf Instagram hatte sie innerhalb kürzester Zeit Tausende neue Follower gehabt: Cool, dass du dich engagierst. Super, Lotte! Das Problem war nur, dass sie in ihrer neuen Rolle als Vorkämpferin für die Umwelt draußen nun nicht mehr in anderen Sachen gesehen werden durfte und all ihre Schätze hatte wegpacken müssen – Taschen, Schuhe und Accessoires von angesehenen Designern, selbst genähte Kleider und einzigartige Vintage-Funde von Reisen mit Alex. Ihr wahres Ich konnte sie seither nicht mehr zeigen.

Für Jens zählte nur das Geld. Seine eigentliche Motivation war dabei, dass sie – nein, er selbst – besser verdiente als sein großer Bruder Jesper, der Arzt war: »So gut wie jetzt ist es dir doch wohl noch nie gegangen, nicht wahr, Lottemama?«

Sie öffnete den Anhang der E-Mail. Eine Schokotorte. Genau so, wie sie sein sollte. Die Glasur war dicker als der Boden, und oben auf dem Kuchen prangten fünfundzwanzig brennende Kerzen. Noch vor einem Jahr hatte sie Alex’ Glückwünsche nicht einmal gelesen und die E-Mails gelöscht, ohne sich die Bilder anzuschauen. Doch nach der Sache mit dem Stalker war der Kontakt notwendig gewesen. Niemand sonst wusste davon. Das Tapsen von Poppys Schritten auf dem Parkett erinnerte sie daran, dass sie lächeln und gespannt wirken musste, als hieße sie den Rest dieses großen Tages wirklich willkommen.

Ihre Tochter trug ein neues Kleid, und unter dem hellrosa Stoff erkannte sie die Blümchen des neuen Badeanzugs. Roter Mohn. Poppy flower. Ein Ausflug zum Strand oder ins Badeland? Dabei hätte sie ihre Kleine am liebsten nur an sich gezogen und ihr ins Ohr geflüstert: Sollen wir zwei zu Hause bleiben, einen Schokoladenkuchen backen, eine Kissenburg bauen und die Welt da draußen für einen Moment aussperren?

»Bist du bereit?« Jens lächelte geheimnisvoll. »Du wirst diese Überraschung lieben!«

Auszug aus dem MamaForum:

Vor 16 Minuten. Von FräuleinFein:Happy Birthday, Lotte! Fantastische Bilder von Mutter und Tochter auf der Bettkante. Ein Morgen mit Luftballons! Sie sehen sich vielleicht nicht besonders ähnlich, aber sie sind beide unglaublich hübsch. Wie zwei Puppen. Jens weiß sicher, was für ein Glück er hat. Er rückt seine Mädels immer ins beste Licht.

Vor 15 Minuten. Von Anonym:Bin ich die Einzige hier, die das ein bisschen zu idyllisch findet? Ein bisschen ZU perfekt?

Vor 11 Minuten. Von BabyMama:Sie macht das genau richtig, wenn du mich fragst. Ich bin all die Mütter echt leid, die für ihren »Mut« gerühmt werden, ihre Monster von Kindern mitten in einem Wutanfall vor einem Berg Abwasch zu filmen. Lotte zeigt, dass das Mama-Sein im Großen und Ganzen etwas Fantastisches ist und Spaß macht!

Vor 9 Minuten. Von Neuer Nutzer:Ganz deiner Meinung, BabyMama! Was für ein herrlicher Geburtstagsmorgen. Eine Frage an alle, die Lotte besser als ich kennen (ich bin hier noch neu): Wo kommt sie eigentlich her, ich meine, was hat sie für einen Background? Der Blog hat zwar eine »Über mich«-Seite, auf der sie schreibt, dass ihr Leben angefangen hat, als sie Jens getroffen hat, und dass er ihr Märchenprinz ist? Romantisch ist das ja schon, aber neugierig wird man trotzdem.

Vor 2 Minuten. Von FräuleinFein:Keine Ahnung! Scheint, als wäre ihre Vergangenheit geheim. Sollte sie bewusst versucht haben, diese Zeit in ein mystisches Licht zu rücken, ist ihr das wirklich gelungen. Bin selbst auch neugierig.

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Sonntagmorgen

Es war drei Minuten nach elf. Zeit für die Medikamente. Emer drückte die beiden Pillen aus der Blisterpackung auf die Küchenarbeitsplatte: die blaue gegen die Angst und die weiße gegen die psychotischen Schübe. Auf den ersten Blick unschuldige kleine Dinger, dabei waren die Pillen in Wahrheit der Grund dafür, dass sie wie ein Zombie hier he­rumstand, in löchrigen Tights und mit nachlässig hochgesteckten weißen Haaren, und fast schon stolz darauf war, einen Karton Saft geöffnet zu haben.

Seit sie vor sieben Tagen die Psychiatrie nach sechs langen Wochen verlassen hatte, waren die Stunden und Minuten nur in Zeitlupe vergangen. Gegen die Anweisung ihres Arztes war sie die ganze Zeit über in der Wohnung geblieben und kein einziges Mal rausgegangen. Der Arzt hatte ihr Luft, Sonne, Normalität verschrieben, vor allem Normalität, nur arbeiten sollte sie noch nicht. Ihre Arbeit im Präsidium schien in immer weitere Ferne zu rücken.

Auf der Anrichte lagen die frischen Küchenkräuter, mit der Frøya am Abend zuvor die Tagliatelle dekoriert hatte. Die Pastamaschine stand noch im Spülbecken, und auf dem Boden, der plötzlich zu schwanken schien, klebten noch Reste des Mehls, mit dem sie die Nudeln gemacht hatte. Emer hielt sich an der Anrichte fest und heftete den Blick auf das rote, leise summende Radio. Sie atmete so, wie der Pfleger es ihr gezeigt hatte, bis die Wellen verebbt waren. Zum tausendsten Mal stellte sie fest, dass die Pillen die Normalität – die Normalität – unmöglich machten.

»Sie müssen sich erst daran gewöhnen«, hatte der Psychiater gesagt, als Emer ihm zu erklären versucht hatte, dass sie mit diesen Pillen nicht sie selbst war. »Haben Sie ein bisschen Geduld, Sie werden sich bald besser fühlen.« Lügen, alles Lügen. Nach mehreren Wochen, in denen sie nur so dahingedämmert war, erwog sie wirklich, die kleinen Scheißer im Klo runterzuspülen, um endlich einen klaren Kopf zu bekommen. Die »Episode« zu verdrängen, an die sie sowieso keine Erinnerung hatte, und weiterzumachen wie zuvor. Emer starrte auf die Tabletten, während sie das Saftglas leerte. Neunzig Prozent der Flüssigkeit fand den Weg in ihren Mund, der Rest triefte auf den Beipackzettel, den sie so oft gelesen hatte, dass sie den wichtigsten Teil – die Nebenwirkungen – auswendig kannte. Sie konnte akzeptieren, dass ihre Feinmotorik eingeschränkt war und sie aufgrund der Medikamente einen solchen Durst hatte, dass ihre Zunge ganz trocken und rissig wurde. Ja, sogar den Schwindel ertrug sie. Nicht aber diese träge Benommenheit. Ihr Hirn lief in einem viel zu niedrigen Gang, alle Bewegungen musste sie gegen einen unsichtbaren Widerstand ausführen. Sie, die es gewohnt war, mit Highspeed durch die Tage zu hetzen, lebte jetzt wie in zähem Sirup.

Sie stellte das Radio lauter, um das Brummen von Frøyas Föhn im Badezimmer zu übertönen. Als Emer sich vor ein paar Stunden aus dem Bett geschlichen hatte, hatte ihre Lebensgefährtin sie für einen Moment festgehalten, als hätte sie etwas auf dem Herzen gehabt. Doch dann hatte sie sie losgelassen. Hatte sie den Mut verloren?

Ein übertrieben freundlicher Wettermann berichtete, dass der Regen, der sich über die Hauptstadt ergoss, nur ein Schauer war und die Sonne schon bald wieder zum Vorschein kommen werde. Es sollte sogar ein außergewöhnlich warmer Sonntag werden.

Dann zwitscherte eine andere Stimme, dass die Ermittlungen der Polizei in Zusammenhang mit dem Drohbrief, den die populäre Mama-Bloggerin Lotte Wiig vor zehn Tagen erhalten hatte, noch zu keinem Ergebnis geführt hätten. »Wir haben mit dem Ehemann und Manager von LottesLooks gesprochen, Jens Wiig.« Emer zog die Augenbrauen zusammen. Warum kam der Name ihr so bekannt vor? Sie legte die Stirn an die Scheibe und sehnte sich nach dem Alltag im Präsidium, während dieser Jens Wiig unterstrich, dass Emers Kollegen den Fall sehr ernst nähmen, er aber natürlich nichts über die Theorien der Polizei sagen könne.

»Es wird darüber spekuliert, dass der Stalkerfall in Zusammenhang stehen könnte mit dem Verschwinden von Isabella Baxter in Skillebekk vor vier Wochen. Haben Sie dazu einen Kommentar?«

Jens Wiig zögerte etwas mit der Antwort: »Es kann wohl nicht ausgeschlossen werden, dass es da womöglich eine Verbindung gibt.«

Der Föhn wurde ausgeschaltet. Emer öffnete den Kühlschrank und fand unten in der Schublade eine Packung Türkisch Pfeffer. Sie öffnete sie mit einer Schere, um Kraft zu sparen. Das erste Bonbon zerkaute sie direkt. Ein Vermisstenfall in Skillebekk und ein Stalker in Tjuvholmen?

Sie verfluchte die Medikamente, während sie zitternd die richtigen Tasten zu treffen versuchte, um Lotte Wiig zu googeln. Der erste Treffer führte sie zu dem Blog. Der zweite zu einem Artikel in der VG: »Stalker: Mama-Bloggerin und zweijährige Tochter erhalten Drohbriefe.« Emer klickte den Artikel an. Er war am Donnerstag der Vorwoche publiziert worden. Sie überflog die Bilder von Lotte, einer jungen Frau mit vollem blonden Haar. Auf dem ersten schob sie einen Buggy, auf dem zweiten stand sie mit einer Gießkanne in der Hand auf einem Balkon. Vor ihr am Geländer das kleine Mädchen. Es war etwas dunkler als sie. Sogar Emer, die in der Regel nicht registrierte, ob Kinder »süß« waren oder nicht, erkannte, dass dieses Kind außergewöhnlich hübsch war. Wie eine Puppe. Genau wie die Mutter, wenn deren Züge auch etwas schmaler waren. Als sie Lotte heranzoomte, wusste sie, dass es da irgendein Detail gab, das sie früher sicher gleich wiedererkannt hätte. Gerüche, Stimmen, Namen und Gesichtszüge wurden für gewöhnlich in ihrem Hirn archiviert, ohne dass sie dafür etwas tun musste. Frustriert rieb sie sich mit der Faust die Stirn. Die Bloggerin war sicher oft in den Medien gewesen, aber da war noch etwas anderes, etwas Konkreteres.

Emer ging zurück zu dem Google-Suchergebnis und klickte den Link an, der zu dem Blog führte. Poppy, kurz davor, in ein Brot mit Schokocreme zu beißen, Lotte mit grünem Saft in der Hand, vermutlich nach dem Training, weiter zurück, weiter … schließlich wusste sie, warum ihr der Name so bekannt vorgekommen war. Emer scrollte sich durch drei Jahre alte Blogbeiträge über Geburtsvorbereitungen und Ultraschallbilder. Lotte mit zunehmend dickem Bauch. Eine junge werdende Mutter mit einem Stubenwagen im Wohnzimmer. Ein Vater, der ein Bambus-Bett zusammenschraubte. Eine weiße Schaukel, nein, die weiße Schaukel, an einem geflochtenen Seil. Ihr Blick huschte zu dem Haken, der noch immer im Flur an der Decke verschraubt war, und konzentrierte sich dann wieder auf den Bildschirm. Den Body aus biologischer Baumwolle findet ihr hier, das Stillkissen mit Buchweizenfüllung hier, und die Stoffwindeln, die für die Umwelt so gut sind, könnt ihr hier bestellen. Ach ja, und eine Anleitung, wie man die einfach und schneller wieder sauber bekommt, gibt es hier.

Emer füllte ein Glas Wasser, lehnte sich an die Anrichte und versuchte, sich zu konzentrieren. Vor knapp drei Jahren hatten Frøya und sie einige dieser Links angeklickt. Sie hatten Lotte Wiigs Ratschläge gelesen, was alles mit in die Krankenhaustasche musste, und eine lange Liste ausgedruckt. Emer erinnerte sich, wie sie sich aus einer Besprechung mit ihrer Chefin Katja Wiberg gestohlen hatte, um zusammen mit der hochschwangeren Frøya im Zentrum nach einem Öl für wunde Brustwarzen und Stilleinlagen aus Lanolinwolle zu suchen, wobei sie ein völlig albernes und für sie vollkommen uncharakteristisches Bedürfnis verspürt hatte, mit absolut allen anwesenden Verkäuferinnen zu reden.

Im Gegensatz zu Poppy Wiigs Schaukel lag Lucias unberührt in dem gelben Zimmer. Emer musste ein paarmal blinzeln, sie hatte Angst, dass Frøya aus dem Bad kommen und sie beim Heulen erwischen könnte. Sie klickte sich noch einmal zurück zu dem VG-Artikel über den Stalker und scrollte zu dem Bild, auf dem Lotte und Poppy auf dem Balkon die Blumen gossen. Das kleine Mädchen mit den großen grünen Augen sollte einen Stalker haben? Mit zwei Jahren und zwei Monaten?

Auszug aus dem MamaForum:

Vor 22 Minuten. Von Ano:Erinnert sich noch jemand, in welchem Monat Lotte war, als sie den Notfall-Kaiserschnitt machen lassen musste? Ich frage nur, weil eine enge (und ängstliche) Freundin von mir heute ins Krankenhaus eingeliefert wurde und dringend einen Lichtblick braucht.

Vor 17 Minuten. Von BabyMama:Poppy wurde 14 Wochen zu früh geboren (SSW 26+2) und wog 845 Gramm. Ich meine, sie wäre 31 cm groß gewesen, vielleicht waren es aber auch 32? Für Wochen hieß es touch and go. (Gott sei Dank sind wir über Insta auf dem Laufenden gehalten worden!) Als sie das Krankenhaus endlich verlassen durften (von mir war übrigens die Mütze mit den Mohnblüten, die Poppy trug, ich hatte sie über einen Kurierdienst ins Krankenhaus schicken lassen), haben meine Schwester und ich eine Flasche Champagner geköpft. Alles, alles Gute für deine Freundin, @Ano. Es wird schon alles gut gehen!

Vor 10 Minuten. Von Ano:Vielen, vielen Dank @BabyMama. Eine ebenso schöne wie inspirierende Geschichte. Meine Freundin ist in der 29. Woche, und ich hoffe, dass es mit ihrer kleinen Prinzessin so gut läuft wie mit Lottes.

Emer Murphy. Grünerløkka, Oslo

Sonntagmorgen

Frøya stand im Türrahmen und sah sie an. Emer wurde rot, als hätte sie etwas Dummes gemacht. Unter den engen Jeans ihrer Lebensgefährtin zeichnete sich ihr runder Po ab, und durch den Stoff des T-Shirts schien der rosa BH durch. Ihre Haut hatte einen goldenen Schimmer und war vollkommen faltenfrei, dabei war sie mit bald siebenunddreißig ein paar Jahre älter als Emer. Alles an ihr war sanft und zart, weshalb es für Emer vollkommen unverständlich war, dass Frøya von ihren Kollegen in der Anwaltskanzlei nur »das Messer« genannt wurde.

»Sag mal, ist nicht das Wichtigste an diesen Medikamenten, dass du sie auch wirklich nimmst?« Frøya nickte in Richtung der Pillen auf der Arbeitsplatte. »Du weißt doch, was sonst wieder passiert! Dagegen sind die Nebenwirkungen doch wohl Peanuts, oder? Verstehst du das, Emer?«

Frøya goss ihr ein Glas Orangensaft ein und stellte es mit einer ungeduldigen Geste vor sie auf die Anrichte. Demonstrativ steckte sich Emer die Tabletten in den Mund, schluckte und streckte die geschwollene Zunge, so weit es ging, heraus.

»Übertreiben musst du auch nicht.« Es tropfte etwas Saft auf den Boden, und Frøya nahm einen Lappen und wischte die Tropfen weg. »Ich will doch nur dein Bestes. Außerdem verstehe ich wirklich, wie schwer das für dich sein muss. Du bist es gewohnt, die Starke zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, und jetzt sollst du plötzlich akzeptieren, dass du krank bist.«

Frøya hatte leicht reden. Gemeinsam mit den Ärzten hatte sie die Führung übernommen, sie bestimmte die Regeln, sodass Emer sich geradezu entmündigt fühlte.

»Es würde dir guttun, mal loszulassen«, fuhr ihre Lebensgefährtin fort, »und zu lernen, zu deinen Gefühlen zu stehen.«

Emer starrte auf ihre Füße. Die Zehennägel waren lang geworden. Schon als kleines Mädchen hatte ein Teil von ihr sich immer danach gesehnt, sich fallen zu lassen und einer Sache ganz hinzugeben. Die Angst war aber immer stärker gewesen, und so hatte sie bis zu ihrem Zusammenbruch vor sechs Wochen allen Versuchungen standgehalten. Was war bei dem Fall, den Mons nur »den Albtraum« getauft hatte, so anders gewesen? Oder war sie komplett ausgebrannt? Hatte sie einfach keine Kraft mehr gehabt, Widerstand zu leisten? Die Konsequenzen hatte sie jetzt zu tragen.

Sie zwang sich, ihren Blick zu heben. Die Haut rund um Frøyas dunkle Augen zuckte. Da war noch mehr. Was traute sie sich nicht zu sagen?

Emer suchte nach irgendeiner Ablenkung, um sich dem Unbehagen nicht stellen zu müssen. »Du hast doch früher diesen Blog verfolgt, oder?«, fragte sie und schob ihr iPad über den Tisch. Auf dem Bildschirm trug Poppy Wiig ein Krönchen auf dem Kopf und stand neben einem überreich verzierten Marzipankuchen in Form einer riesigen roten Blüte, die beeindruckend naturgetreu aussah. Das Bild war an ihrem zweiten Geburtstag vor ein paar Monaten aufgenommen worden. Frøya warf kurz einen Blick in Richtung Schlafzimmer.

»Ja, ich habe den Blog verfolgt, als Lotte schwanger war. Und als sie dann auf die Neugeborenen-Intensivstation mussten, war ich … ja vielleicht ein bisschen besessen davon.«

»War Poppy eine Frühgeburt?«

»Ja, ein paar Wochen lang war ihr Zustand kritisch.« Frøya bekam hektische rote Flecken auf den Wangen. »Ist es nicht schrecklich, dass dieses Kind, das wirklich ums Überleben gekämpft hat, jetzt von seinen eigenen Eltern in Gefahr gebracht wird? Jeden Tag aufs Neue.«

»Wie meinst du das?«, fragte Emer, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch.

»Das arme Mädchen hat keinerlei Privatleben. Es wird von morgens bis abends gefilmt und lächelt mit gesponserten Kleidern mit gesponserten Butterbroten in der Hand.« Frøya holte tief Luft. »Zwei Jahre alt und ein lebendes Reklameplakat! Es ist wirklich so, als spielte sie die Hauptrolle in einer Realityshow, ohne sich da selbst angemeldet zu haben!«

Emer starrte ihre Freundin mit weit aufgerissenen Augen an. Frøya sprach für ihre Verhältnisse ungewöhnlich schnell. Sie erinnerte sie an eine junge Frau aus der Gruppentherapie, die bei ihrer ersten Begegnung voller Enthusiasmus über ihre eigenen Worte gestolpert war und dabei so frenetisch gestikuliert hatte, dass sie dem Patienten neben sich einen Schlag aufs Auge verpasst hatte. Drei Tage später hatte sie apathisch in sicherem Abstand von dem Mann mit dem blauen Auge gesessen, eine mit Medikamenten stillgelegte, betäubte Version ihres alten Ichs.

»Dabei sind sie vorher von einer Reihe von Leuten gewarnt worden«, fuhr Frøya fort. »Letzte Woche haben sie jetzt auch noch Drohbriefe bekommen, aber weißt du was, die machen trotzdem weiter!«

»Da kam gerade etwas über diese Stalkeraffäre im Radio.« Emer nahm sich ein weiteres Bonbon, um den fiesen Geschmack der Tabletten wegzubekommen. »Da war auch die Rede von einem Vermisstenfall in Skillebekk. Was ist da passiert?«

»Isabella Baxter.« Ihre Lebensgefährtin nickte. »Vier Jahre alt. Sie ist aus ihrem Garten verschwunden, um dann einen halben Tag später wieder aufzutauchen. Unverletzt.«

»Wo ist sie gewesen?«

»Das weiß niemand.« Frøya nahm eine Cremetube aus der Tasche am Boden, cremte sich die Hände ein und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Die Wiedervereinigung mit ihren Eltern ist auf Youtube von mehr als einer Million Menschen verfolgt worden.«

»War Mons dabei? Hatte er den Fall?«

Schon im nächsten Moment bereute Emer ihre Worte. Die Magie war gebrochen.

Frøya sah sie lange an. Besorgt.

»Du sollst noch nicht wieder an die Arbeit denken, du bist krankgeschrieben. Und apropos …« Sie holte tief Luft, und Emer wandte sich halb ab und dachte here we go, jetzt kommt das, was sie sich vorher mir zu sagen nicht getraut hat. »Ich muss nach Bergen und werde die ganze Woche weg sein. Das hat sich ziemlich kurzfristig ergeben, aber Monica will mich bei einem Fall dabeihaben.«

Frøya arbeitete hart daran, Partnerin in der großen Kanzlei zu werden, in der sie angestellt war. Sie sagte etwas von einem gewaltigen Vertrauensbeweis, einer Riesensache.

»Du lässt mich allein?« Emers Finger umklammerten die Tischplatte. Die Knöchel traten weiß hervor. Frühere Lebensgefährten hatten ihr den Vorwurf gemacht, zu selbstständig zu sein. »Es ist so unsexy, dass du mich nie für irgendetwas brauchst«, hatte Bjørnar gesagt. Er wäre jetzt mehr als glücklich, dachte sie und spürte, wie sehr ihr der Gedanke, allein zu Hause zu sein, Angst machte.

»Ich weiß, das ist schlechtes Timing, wirklich schlecht«, sagte Frøya flehend. »Aber du verstehst das doch, oder? Du hast doch auch immer alles für deine Karriere getan.«

Emer fragte sich, was sie machen würde, wenn die Rollen vertauscht und Frøya die Kranke wäre. Würde sie ihre Freundin nur mit ihren blauen und weißen Pillen allein lassen?

Vielleicht. Höchstwahrscheinlich.

»Natürlich. Du musst fahren. Ist doch klar.«

»Meinst du das auch wirklich ernst?«

Emer nickte und fragte sich, ob Frøya den Rollkoffer im Flur wieder auspacken würde, wenn sie sie anflehte zu bleiben.

»Danke, dass du mich verstehst.«

Frøya stand mit hängenden Armen da, erleichtert und doch auch voller Scham. Gleichzeitig blitzte in ihren Augen eine beneidenswerte Erwartung auf. Sie sollte an einem Riesenfall mitarbeiten und vielleicht sogar befördert werden.

Nie zuvor hatte sich die Wohnung derart klaustrophobisch angefühlt.

»Kannst du diese Tage nicht nutzen, um wieder zu dir zu kommen?« Frøya suchte ihren Blick. »Emer, ich verstehe ja, dass du deiner Großmutter gerne Glauben schenken würdest. Alles wäre so viel einfacher, wenn Marceline recht hätte und das, was dir widerfahren ist und was so viel in dir kaputt gemacht hat, eine … ja, eine Gabe wäre. Sollte das so sein, könntest du die Medizin ignorieren und einfach wieder an die Arbeit gehen. Weitermachen wie bisher, nicht wahr?«

Emer musste sich zusammenreißen, um nicht enthusiastisch zu nicken. In Gedanken war sie bereits zurück im Präsidium und stellte Mons tausend Fragen. Wo hatte Isabella Baxter sich in diesen zwölf Stunden aufgehalten? Gab es Verdächtige im Stalkerfall?

»Jeder versteht das …«, begann Frøya, wurde aber vom Telefon unterbrochen. »Das ist meine Chefin, sorry. Gib mir zwei Sekunden.«

Sie verschwand in den Flur.

Wenn Marceline recht hätte … Emer dachte an ihre Kindheit, in der es nur die Großmutter und sie gegeben hatte. Ständig hatten Fremde bei ihnen Schlange gestanden, wenn sie von der Schule nach Hause gekommen war, manchmal sogar im Hausflur. Damals war Mary Murphy noch nicht auf die Idee gekommen, sich einen Künstlernamen zuzulegen, Marceline Bandini. Damals hatte sie auch noch keine sozialen Medien gebraucht, um die Fans um sich zu scharen. Die Frauen – es waren wirklich ausschließlich Frauen – waren einfach in ihre blaue Küche gekommen, ohne dass in der Zeitung auch nur eine einzige Anzeige gestanden hatte. Jeden Tag hatte Emer auf dem Fußboden ihre Hausaufgaben gemacht und dabei dem erwartungsvollen Flüstern und Schluchzen all jener gelauscht, die über ihre Großmutter Kontakt mit geliebten Verstorbenen aufnahmen. Aber wie emotional diese Wiedervereinigungen auch waren, um Punkt sechs Uhr war der Arbeitstag zu Ende gewesen, und dann hatte ihre Großmutter alle vor die Tür gesetzt. »Morgen früh um neun geht es weiter. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Und Wechselgeld hab ich keins.«

Anschließend hatte Großmutter den wöchentlichen Stew aufgewärmt, eine Art Schmortopf mit Wurzelgemüse und einem ordentlichen Schuss Guinness. Emer kam immer die Ehre zu, die Hunderter zu zählen, bevor sie die Scheine zusammenrollten und gemeinsam mit der dicken Goldkette, die Großmutter von ihrer Oma geerbt hatte, in einer leeren Fischgratinpackung ganz hinten im Gefrierschrank versteckten: »Der letzte Ort, an dem jemand nach Wertsachen suchen würde.«

»Alles in Ordnung? Du bist so blass.« Frøya war zurück.

»Es geht mir gut.« Emer streckte ihren Rücken durch.

»Was ich sagen wollte, ist, dass jeder verstehen kann, wie verlockend es ist, die Symptome einfach zu übersehen«, sagte ihre Lebensgefährtin. »Aber Liebling, ist das auf lange Sicht wirklich richtig?«

Die Tränen kamen gegen Emers Willen.

»Als du eingeliefert wurdest, hattest du komplett die Kontrolle verloren«, fuhr Frøya fort, während sie ihre Tasche schulterte, in den Flur ging und den Griff ihres Rollkoffers nahm. »Willst du wirklich riskieren, dass das wieder passiert?«