Pray - Meine Rache findet euch - Lisa Jackson - E-Book + Hörbuch
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Pray - Meine Rache findet euch Hörbuch

Lisa Jackson

4,0

Beschreibung

New Orleans wird von Morden erschüttert. Kristi Bentz überlebt nur knapp ... Der Thriller »Pray – Meine Rache findet euch« ist der 9. Teil von Lisa Jacksons knallharter Thriller-Reihe um die Detectives Rick Bentz und Reuben Montoya. Keine leichten Zeiten für Rick Bentz: Seine Tochter Kristi überlebt nur knapp eine brutale Attacke. Gleichzeitig sind dunkle Tage in New Orleans angebrochen. Wieder werden Prostituierte mit einem Rosenkranz erwürgt, neben den Leichen liegt ein 100-Dollar-Schein mit Brandlöchern anstelle der Augen von Benjamin Franklin. Bentz und sein Kollege Reuben Montoya ermitteln unter Hochdruck. Alles deutet darauf hin, dass Vater John, der berüchtigte Rosenkranz-Killer, wieder in der Stadt ist. Aber steckt er auch hinter dem Angriff auf Kristi – oder treibt ein weiterer Killer sein Unwesen in New Orleans, der es gezielt auf die True-Crime-Autorin abgesehen hat? Die amerikanische Bestseller-Autorin Lisa Jackson mischt auch in ihren Bentz & Montoya-Thrillern geschickt knallharten Nervenkitzel mit prickelnder Romantik. Die Thriller um die Detectives aus New Orleans sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Pain – Bitter sollst du büßen - Danger – Das Gebot der Rache - Shiver – Meine Rache wird euch treffen - Cry – Meine Rache ist dein Tod - Angels – Meine Rache währt ewig - Mercy – Die Stunde der Rache ist nah - Desire – Die Zeit der Rache ist gekommen - Guilty – Doppelte Rache - Pray – Meine Rache findet euch

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Zeit:15 Std. 20 min

Sprecher:Ulla Wagener

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Jennifer31

Gut verbrachte Zeit

Ich lese Lisa Jackson immer wieder gerne. Gerade die Bentz/Montoya Reihe habe ich verschlungen. Doch diesmal wurde vieles von der Schriftstellerin auf den Seiten wiederholt. Hat mich etwas irritiert, wenn auch das Buch ganz gut war. Hoffe es kommt noch ein weiteres aus der Reihe
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Lisa Jackson

PRAY Meine Rache findet euch

Ein neuer Fall für Bentz und Montoya

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eines Nachts wird Kristi Bentz auf dem Nachhauseweg angegriffen. Sie überlebt die Attacke – ihr Ehemann, der ihr zu Hilfe kommt, nicht. Kristi schreibt als True-Crime-Autorin regelmäßig über verurteilte Verbrecher, auch über den berüchtigten Rosenkranzmörder, der ihrem Vater Detective Rick Bentz das Ermittlerleben vor Jahren zur Hölle machte. Als nach und nach Todesopfer in New Orleans auftauchen, die die typische Handschrift des Killers tragen, befürchtet Rick Bentz das Schlimmste. Könnte es sein, dass er den Rosenkranzmörder damals in den Sümpfen Montanas nicht ausgeschaltet hat? Immerhin wurde die Leiche des falschen Priesters »Vater John« nie gefunden. Hat er es nun auf Bentz und seine Familie abgesehen? Gemeinsam mit Detective Reuben Montoya und Kristi jagt Bentz seinen größten Albtraum …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Quellenverzeichnis der Bibelzitate

Lisa Jacksons Romane bei Knaur

Leseprobe »Guilty – Doppelte Rache«

Kapitel eins

New Orleans, Louisiana

Schneller!

Ich renne, bewege die Beine, so schnell ich kann.

Renne durch den prasselnden Regen.

Durch die Straßen und Gassen der Stadt.

Verborgen in den nächtlichen Schatten.

Schneller!

Mein Herz hämmert, das Blut pumpt durch meine Venen. Pfützenwasser spritzt auf, ich blinzle gegen den in Bindfäden fallenden Regen an.

Der allgegenwärtige, erdige Geruch des Mississippi steigt mir in die Nase.

Dumpfig. Vertraut.

Mit wehendem Regencape stürme ich durch die Straßen und Gassen des French Quarter. Immer wieder trete ich mit meinen Stiefeln in tiefe Pfützen.

Schneller!

Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich verwaschen in den Motorhauben einiger in der Nähe des Jackson Square parkender Fahrzeuge, Regenwasser gurgelt in den Gullys, überspült die Straßen, sammelt sich in den Schlaglöchern.

Diese Stadt ist mein Zuhause. Immer schon gewesen.

Und ich liebte diese Stadt.

Bis ich sie nicht mehr liebte.

Ihretwegen.

Ich laufe durch die fast menschenleeren Straßen auf die St. Louis Cathedral zu. Wie ein Leuchtfeuer erhebt sich die Kathedrale vor mir, ihre weiß getünchten Wände sind in helles Licht getaucht, die drei vertrauten Türme ragen in den finsteren, aufgewühlten Himmel. Aus Gewohnheit bekreuzige ich mich, als ich, ohne stehen zu bleiben, einen Blick auf den höchsten Turm werfe, den in der Mitte, mit dem Kreuz darauf. Aus dem Augenwinkel sehe ich die schmiedeeisernen Zäune, die den Jackson Square umgeben.

An der Rückseite der Kathedrale schlüpfe ich in die Pirate’s Alley, eine enge Gasse mit Geschäften. Einige Schaufenster sind erleuchtet, aber die Straße an sich ist leer, alle Fußgänger sind in den Gebäuden und warten darauf, dass das Unwetter vorüberzieht.

Das ist okay, rede ich mir ein. Nein, nein, es ist sogar gut, denn sie wird kommen, trotz des schlechten Wetters.

Ich kenne ihren Tagesablauf in- und auswendig. Außerdem habe ich mich doppelt versichert, dass sie heute Abend nicht davon abweichen wird, dass ihr Wagen dort steht, wo sie ihn drei Mal pro Woche um dieselbe Uhrzeit parkt. Heute ist es so weit. Jetzt, da der Regen, ein nasses Leichentuch, so viel verbirgt, habe ich mehr Zeit, außerdem sind die Chancen, beobachtet – oder, schlimmer noch, erwischt – zu werden, weitaus geringer.

Mein Herz hämmert, meine Brust wird eng vor atemloser Erwartung, als ich das Ende der Gasse nahe der Place de Henriette Delille erreiche. Hier, beim Park, die Kathedrale im Rücken, warte ich, zusammengekauert unter meinem schwarzen Cape, und versuche, wieder zu Atem zu kommen. Ich wische mir die Regentropfen von der Stirn und aus den Augen und starre zur Royal Street hinüber, in der es für gewöhnlich von Fußgängern nur so wimmelt, aber heute Abend sind glücklicherweise nur ein paar vereinzelte Seelen unterwegs, die sich tapfer durch das Unwetter kämpfen, darauf bedacht, so schnell wie möglich aus dem Wolkenbruch raus und ins Trockene zu gelangen. Niemand bemerkt mich oder wirft auch nur einen Blick in meine Richtung. Der sintflutartige Regen schimmert im dunstigen, gelben Licht der Straßenlaternen wie ein Perlenvorhang. Schön. Unheimlich.

Ich schaue auf meine Armbanduhr und vergewissere mich, dass ich pünktlich bin. Als ich den Arm hebe, rinnt Wasser an meinem Cape hinab auf das Kopfsteinpflaster. Meine Skimaske bedeckt Nase und Kinn, die Kapuze umschließt eng mein Gesicht, doch auch das dürfte bei diesem Wetter niemandem auffallen, nur die dunkle Sonnenbrille wirkt etwas fehl am Platz. Aber wir sind in New Orleans, hier gibt es nichts, was wirklich auffallen würde. Hier ist alles erlaubt.

Noch einmal bekreuzige ich mich, dann atme ich langsam aus, um mein wild pochendes Herz zu beruhigen.

Unter dem Regenumhang tastet meine rechte Hand nach dem Griff des Messers, eine scharfe Waffe mit einer dicken, breiten Klinge, die mühelos durch die Haut eines Alligators gleiten und Muskeln und Sehnen durchtrennen könnte.

Ich habe so verdammt lange auf diesen Abend gewartet.

Jetzt, da die Zeit gekommen ist, koste ich ihn aus, den ach-so-süßen Geschmack der Rache. Ich lecke mir die Lippen und richte die Augen auf das Gebäude mit der roten Tür in einer schwach beleuchteten, gewölbten Maueröffnung. Darüber flattert eine gestreifte Markise im stürmischen Wind. Ich warte. Ein Mann mit Aktentasche, den Kopf gebeugt gegen die heftigen Sturmböen, geht an mir vorbei. Eilig ziehe ich mich weiter in die Dunkelheit zurück. Der Mann, darauf bedacht, so schnell wie möglich ins Trockene zu gelangen, wirft nicht mal einen Blick in meine Richtung.

In der Ferne höre ich eine Sirene und erstarre für einen kurzen Moment, doch dann sehe ich einen Rettungswagen vorbeirasen. Das Heulen wird leiser. Bei einem Unwetter wie diesem herrscht nicht viel Verkehr.

Ungeduldig starre ich auf die rote Tür.

»Komm schon, komm schon«, wispere ich.

Aber sie kommt nicht.

Inzwischen nervös, blicke ich wieder einmal auf die Uhr.

Sie ist spät dran.

Zu spät.

Ganze fünf Minuten!

Verdammt!

Komm schon. Jetzt komm endlich raus!

Ich fange an zu schwitzen. Mein Herzschlag dröhnt in den Ohren.

Mein Atem geht viel zu schnell.

Beruhige dich!

Hab Geduld!

Aber meine Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, die Muskeln in Nacken und Schultern schmerzhaft verkrampft. Meine Finger umschließen fest den Griff des Messers.

Ich weiß, dass sie da drinnen ist.

Ich bin an ihrem Auto vorbeigegangen, einem kleinen Subaru, der auf demselben Parkplatz steht wie immer, wenn sie ins Fitnessstudio geht.

Jetzt höre ich ein Geräusch.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ein Pärchen eilt hektisch durch das Unwetter. Ich drehe mich zum Park um, nur für den Fall, dass die beiden in meine Richtung blicken und meine Sonnenbrille bemerken. Aber sie schauen nicht zu mir, als sie lachend und mit wehenden Mänteln, eng zusammengerückt unter einem flatternden Regenschirm, an mir vorbeihasten.

Meine Nervosität steigt. Ich schaue auf die Uhr. Schon wieder.

Sieben Minuten.

Sieben Minuten zu spät!

Mein Puls schießt in die Stratosphäre. Meine Pläne drohen zu scheitern. Warum ändert sie ausgerechnet heute Abend ihre Routine? Sie ist immer pünktlich. Ich habe sie beobachtet, bei vielen verschiedenen Gelegenheiten. Zuverlässig wie ein Uhrwerk kommt sie sonst aus der Tür heraus, höchstens um ein, zwei Minuten verspätet.

Plötzlich gerate ich in Panik. Spüre, wie Unsicherheit in mir aufsteigt. Ob sie das Fitnessstudio durch eine andere Tür verlassen hat? Vielleicht wegen des Unwetters? Ist sie womöglich gewarnt worden? Aber nein. Das ist unmöglich. Niemand weiß, was ich vorhabe. Niemand.

Ich überquere die Pirate’s Alley, um das Gebäude aus einer anderen Perspektive im Auge behalten zu können, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass sie nicht aus der roten Tür kommt. Ich nehme die Sonnenbrille ab, kneife die Lider gegen den Wolkenbruch zusammen und schaue zu dem Fenster im ersten Stock hinauf. In dem dahinterliegenden Raum findet ihr Yogakurs statt. Die Lichter brennen noch.

Und dann öffnet sich die rote Tür. Endlich.

Sie tritt aus dem Schutz der gewölbten Maueröffnung unter die Markise.

Wenn überhaupt möglich, beschleunigt mein Puls noch mehr. Das Blut rauscht in meinen Ohren und übertönt die Geräusche des Unwetters, die Geräusche der Stadt. Alles, was ich höre, sind dieses Rauschen und das Pochen meines Herzens.

Sie wirft einen prüfenden Blick in den pechschwarzen Himmel, öffnet ihren Schirm, überquert die Royal Street und biegt in die Pirate’s Alley ein. Unter ihren Füßen spritzt das Wasser auf, der Wind reißt den Schirm nach vorn.

Sie kommt direkt auf mich zu!

Ich sende ein Stoßgebet zum Himmel, ziehe das Messer unter meinem Umhang hervor und spanne die Beinmuskeln an, bereit zum Sprung.

Plötzlich hält sie inne und weicht zur Seite aus.

Was? Nein!

Hat sie mich etwa gesehen? Meine Pläne vorausgeahnt?

Nein. Eine magere, klatschnasse schwarze Katze überquert vor ihr die Straße und sucht unter einem geparkten Fahrzeug Schutz vor dem prasselnden Regen.

Fluchend setzt sie sich wieder in Bewegung, ihren Schirm wie einen Schutzschild vor sich haltend.

Keine wirksame Waffe, denke ich. Nein. Damit wird sie keinen Kampf gewinnen. Sie ist kaum drei Meter von mir entfernt, als ich am Eingang zur Gasse eine Gestalt bemerke, die durch den Regen hinter ihr hereilt.

Das darf doch nicht wahr sein!

Jetzt ist sie fast bei mir.

Ich krümme mich zum Sprung zusammen.

»Kristi!«, ruft die Gestalt hinter ihr, und sie dreht sich halb um.

Beim Klang der Stimme zucke ich zusammen, verliere die Konzentration.

Wer ist das? Jemand, der sie kennt? Ich kann keine Zeugen gebrauchen!

Nein, nein, nein!

Ich drücke mich in eine Nische.

Sie geht an mir vorbei.

Das wird ja immer schlimmer!

Die Gestalt ist noch ein gutes Stück entfernt, daher nehme ich die Verfolgung auf.

Fange an zu laufen. Schneller und schneller.

Die Zeit ist gekommen. Heute Abend.

Es darf jetzt nicht schiefgehen. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.

Und ich werde ihn nicht vermasseln.

Ich bin nur noch einen Schritt hinter ihr, auf Höhe der Kathedrale.

Auf einmal wirbelt sie herum. Völlig überraschend. Sieht mich an.

Mein Herz setzt einen Schlag aus.

»Wer sind Sie?«, fragt sie mit fester Stimme. »Folgen Sie mir etwa?«

Verdammt!

Für eine Antwort ist jetzt keine Zeit.

Das Überraschungsmoment ist vorüber.

Ich stürze nach vorn, das Messer in der Hand, hole aus und schlitze das Dach ihres Regenschirms auf.

Im selben Augenblick stößt sie mir die Schirmspitze entgegen, zielt direkt auf meine Augen.

Ich ducke mich und kann gerade noch ausweichen.

Trotzdem streift die Spitze meine Wange. Ich gerate ins Stolpern. Blut spritzt auf die weiße Wand der Kathedrale, als ich hart auf den nassen Kopfsteinen aufpralle.

Sie sticht erneut mit ihrer improvisierten Waffe zu, legt ihr ganzes Gewicht in den Angriff.

Gerade noch rechtzeitig rolle ich zur Seite, dann komme ich auf die Füße und stürze mich erneut auf sie.

Treffe mit dem Messer ihre Schulter.

Sie heult auf vor Schmerz und taumelt zurück, den kaputten Schirm vor sich haltend. Ich stoße ein weiteres Mal zu, so tief die Klinge reicht, drehe das Messer in der Wunde. Sie schreit.

»Kristi!«, ruft eine tiefe Männerstimme. »Kris?«

Verflucht! Ich habe zu lange gewartet, der Mann, der ihr gefolgt ist, hat zu uns aufgeschlossen.

»Lauf, Kristi!«, brüllt er aus voller Lunge. »Lauf weg!«

Ich muss das hier zu Ende bringen.

Ich reiße das Messer aus ihrer Schulter, das sich mit einem schmatzenden Geräusch löst, und ramme es mir unglücklicherweise selbst in die Hand.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Das war nicht so geplant, ganz und gar nicht! Eigentlich wollte ich ihr mit einem Streich die Halsader durchtrennen oder ihr das Messer ins Herz stoßen. Sie sollte in meinen Armen sterben, und ich wollte meine Rache genießen, während sie mir in die Augen sieht und in ihren letzten Minuten begreift, wer ihr das Leben nimmt und warum.

»Laaauuuf!«, schreit der Mann erneut.

Ich schlage den Schirm weg, den sie auf mich gerichtet hat, und drücke sie mit dem Gewicht meines Körpers gegen die Mauer der St. Louis Cathedral. Blut fließt über den weißen Putz. Diesmal ihr Blut.

»Du verfluchter Scheißkerl …« Sie reißt das Bein hoch, tritt mit aller Kraft nach mir und trifft mit ihrem Stiefelabsatz meinen Solarplexus. Schlagartig weicht sämtliche Luft aus meinen Lungen. Das Messer in der Hand, schlage ich wie besessen um mich. Die Klinge schneidet durch die Luft, dann gehe ich zu Boden.

Halt das Messer fest! Du darfst das verfluchte Messer nicht loslassen!

Keine Chance, es rutscht mir aus den Fingern.

Sie macht sich bereit für einen weiteren Tritt, aber ich komme ihr zuvor und reiße ihren Fuß weg.

Sie stürzt gegen die Mauer, schlägt mit dem Hinterkopf dagegen und rutscht langsam zu Boden, wobei sie eine rote Spur auf dem weißen Putz hinterlässt.

»Nein!«, brüllt der Mann und lässt die Blumen fallen, die er in der Hand hält. Rosen und Einwickelpapier wehen von dannen.

Gerade, als ich das Messer aus einer Pfütze fische, packt mich Kristis Retter und legt seine starken Finger um meinen Hals.

Ich bäume mich auf, hole aus und steche zu.

Die Klinge gleitet in seine Brust, durch Fleisch und Knochen bis ins Mark.

»Aaahhh!«, schreit er.

Ich spüre seinen Atem, vermischt mit Speichel und Blut.

Jetzt drehe ich die Klinge. So fest ich kann. Dann reiße ich sie nach oben.

Er lässt meinen Hals los.

Ich zerre das Messer aus seinem Oberkörper, um erneut zuzustechen.

Er blinzelt. Wut tritt an die Stelle von Entsetzen. Er rammt mir die Faust ins Gesicht.

Der Schmerz lässt meine Beine weich werden. Ich sacke auf die Knie.

Er umrundet mich. Unsicher. Seine Beine scheinen ebenfalls zu zittern.

Erneut saust seine Faust auf mich zu, aber es gelingt mir, auszuweichen. Ich reiße das Messer hoch und steche es in den Schenkel des Angreifers. Werfe mich mit ganzem Gewicht dagegen.

Er flucht.

Ich ziehe die Klinge zur Seite.

Blut spritzt.

Schreie. Schritte, die sich eilig entfernen.

Kurz darauf Sirenengeheul in der Ferne.

Offenbar hat jemand beobachtet, was hier passiert, und den Notruf gewählt.

Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.

Ich stoße den nach Luft schnappenden Mann von mir und richte mich auf. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Kristi blinzelt. Ihr Gesicht ist aschfahl. »O Gott!«, ruft sie entsetzt und kriecht auf den sterbenden Mann zu. »Jay!« Sie zieht seinen Kopf in ihren Schoß. »Nein. Nein. O Gott. Nein, bitte nicht! Nein!«

Die roten, blauen und weißen Lichter mehrerer Einsatzwagen zucken über die Mauern der Kathedrale mit den blutbeschmierten Wänden und tauchen das verwundete Liebespaar und die verstreuten Rosen in ein gespenstisches Licht.

Ohne nachzudenken, hebe ich eine der langstieligen Rosen auf, dann besinne ich mich und fange an zu laufen. Weg von den Streifenwagen und Rettungsfahrzeugen.

Ich nehme die Route, die ich mir seit Monaten zurechtgelegt habe, sorgfältig den zuvor georteten Überwachungskameras ausweichend, den Kopf gesenkt, verhüllt von der Dunkelheit, dem dichten Schleier des Regens und meinem Cape.

»Jay!«, höre ich Kristi immer noch panisch schreien.

Ich bleibe nicht stehen, laufe weiter, durch Straßen und Gassen. Zwei Mal rutsche ich aus, doch ich fange mich gerade noch rechtzeitig. Aus einem Gestrüpp am Straßenrand folgen mir die leuchtend grünen Augen derselben Katze, die vorhin Kristis Weg gequert hat.

Schwarze Katzen von links nach rechts bringen Unglück, denke ich.

Kristi Bentz ist noch am Leben.

Ich habe versagt.

Für dieses Mal.

Aber das werde ich ändern.

Bald.

Lauf weiter. Lauf einfach weiter.

Keine Panik. Du darfst nicht in Panik ausbrechen.

Beim nächsten Mal, denke ich, wirst du nicht so viel Glück haben, Kristi Bentz.

Ich stolpere durch Wind und Regen. Das Messer unter dem Regenumhang in der einen Hand, stecke ich die andere in die Hosentasche und betaste die Perlen eines abgegriffenen Rosenkranzes. Betend haste ich vorwärts, immer weiter vorwärts. Mein Herz hämmert, mein Kiefer schmerzt, aber der wunderbare Adrenalinschub treibt mich an, mich so weit wie möglich von der St. Louis Cathedral zu entfernen.

Ich senke den Kopf, damit ich nicht doch von einer der zahlreichen Überwachungskameras erfasst werde, und flüstere im Laufen: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria …«

Und dann verschwinde ich in der Dunkelheit.

Kapitel zwei

Jay«, schluchzte Kristi. »Nein, nein, nein …« Jemand riss sie von ihrem Ehemann weg. Aber sie musste mit ihm reden! Ihm erklären, dass sie einen fürchterlichen Fehler begangen hatte. Ihn wissen lassen, dass sie ihn liebte. Dass sie ihn immer geliebt hatte …

Verzeih mir, Jay. Bitte, bitte, verzeih mir!

Aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen.

Konnte sich nicht konzentrieren.

Ertrank im strömenden Regen.

»Bringt sie in einen Rettungswagen!«, hörte sie über das Gurgeln des Regenwassers in den Abflussrohren der Kathedrale und in den Gullys hinweg.

Mühsam kroch sie das kleine Stück zurück zur Mauer, brachte sich in eine sitzende Position und lehnte sich mit dem Rücken an. Sie war nass bis auf die Knochen, ihr Kopf schmerzte. Es kostete sie große Anstrengung, bei Bewusstsein zu bleiben. Wie gern hätte sie sich der segensreichen Schwärze der Ohnmacht hingegeben, hätte diese grauenvolle Nacht einfach ausgeblendet! Alles verzehrende Traurigkeit stieg in ihr auf. »Ich muss bei ihm sein«, wisperte sie mit versagender Stimme. »Bitte, lieber Gott …« Nun hörte sie nur noch vage die Anweisungen, die die eingetroffenen Polizisten blafften. Sie spürte, wie sie auf eine Bahre gehoben und abtransportiert wurde, hörte das Jaulen einer Sirene, das immer schwächer wurde.

»Wir verlieren sie«, sagte eine gedämpfte Stimme.

War sie in einem Rettungswagen?

»Mrs McKnight? Ms Bentz? Können Sie mich hören? Bleiben Sie bei mir, Kristi! Kristi?«

Jemand sprach mit ihr, doch es war, als triebe sie durch ein anderes Universum. Und dann ließ sie los, ergab sich der süßen Bewusstlosigkeit, umhüllt von tröstlicher Schwärze.

 

Kristi Bentz-McKnight war jetzt Witwe.

Ihr Vater hatte den Arm fest um ihre Schulter gelegt, doch das merkte sie kaum. Sie hätte Schmerzen empfinden müssen wegen ihrer Verletzungen, doch das tat sie nicht. Bebend stand sie auf dem trostlosen Friedhof, konnte nichts fühlen, konnte nicht denken, konnte nur auf die Grabstätte starren, wo ihr Ehemann zur letzten Ruhe gebettet wurde. Taub gegen das Oktoberwetter, taub gegen den Wind und die vom Pfarrer der Gemeinde feierlich angestimmten Gebete, wartete sie und empfand nichts. Freunde und Familie hatten sich versammelt, alle in Schwarz, alle mit Trauermienen, alle bekundeten ihr Mitgefühl und Beileid, aber diese Familien waren noch intakt. Sie erkannte es an der Art und Weise, wie sich die Paare anblickten, die Finger verschränkten und sich so gegenseitig versicherten, dass sie noch zusammen waren. Dass sie noch am Leben waren. Dass sie noch eine gemeinsame Zukunft hatten.

Kristi hasste sie für ihre Normalität. Für ihre Gewissheit. Für ihre Erleichterung, dass Kristis Tragödie nicht ihre war. Sie blinzelte, um die Tränen der Trauer und des Zorns, ja, die Tränen des Zorns zurückzudrängen, denn genau das waren sie: zornige Tränen.

Warum Jay?

Warum ich?

Warum wir?

Lieber Gott, warum? Warum, warum?

Für eine Sekunde schloss sie die Augen, um sich zu erden. Über den Wind hinweg, der durch die Zweige der Steineichen entlang der Friedhofsmauern fuhr, hörte sie die Gebete des Geistlichen, spürte den Luftzug auf ihrer Haut und wünschte sich, all das wäre niemals passiert.

Es war ihre Schuld, dass Jay tot war.

Sie sollte in diesem Sarg liegen, nicht er.

Seit dem Überfall waren fast zwei Wochen vergangen, elf Tage, um genau zu sein, und in diesen elf Tagen hatte sie sich das Leben schöngeredet. Zwei Tage hatte sie im Krankenhaus bleiben müssen, wo sie an der Schulter operiert und ihr Schädel wegen des Aufpralls an der Mauer der Kathedrale auf mögliche Verletzungen untersucht wurde. Sie war glimpflich davongekommen, hatte der Arzt ihr mitgeteilt: Das Messer hatte weder eine Arterie noch eine Vene, noch wichtige Nerven durchtrennt, es würde nur eine Narbe zurückbleiben. Er hatte sie an eine Physiotherapeutin überwiesen, die ihr Übungen zeigte, um dem Muskelabbau vorzubeugen. Wenn sie diese fleißig durchführte, wäre sie »bald wieder ganz die Alte«.

Was sie nicht glaubte.

Jay hatte nicht so viel Glück gehabt wie sie.

Er hatte sein Leben für sie geopfert, hatte sich auf den Angreifer gestürzt und war in ihren Armen verblutet, während der Mörder in die Nacht floh. Die Wunde an Jays Oberschenkelarterie war tödlich gewesen, und kein noch so hoher Berg an Schuldgefühlen, keine Gebete konnten ihn zurückbringen, genauso wenig wie ihre absolute Verzweiflung.

Und jetzt wurde er hier beigesetzt.

Opfer eines äußerst brutalen Mörders.

Selbst die Tatsache, dass das Krankenhaus ihre Schwangerschaft bestätigt hatte, konnte ihre Verzweiflung nicht mildern.

Der Wind wehte ihr die Haare von den Schultern, und sie hob den Kopf, blickte vom Sarg auf die weite Fläche voller verwitternder Grabstätten und Mausoleen unter dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel, der ein weiteres Unwetter über die Stadt brachte.

Sie war kaum in der Lage zu funktionieren, aber sie hatte Glück gehabt.

Zumindest behaupteten das die anderen.

Immer wieder.

Doch das war Unsinn.

Sie mochte nichts essen und konnte nachts nicht schlafen, und wenn sie doch einmal eindämmerte, träumte sie von den grauenvollen Momenten in der Pirate’s Alley bei der St.Louis Cathedral, ein prachtvolles Gebäude, das ihr einst Trost gespendet hatte, ein Wahrzeichen, das ihr bei ihrem Kampf mit ihrem Glauben geholfen hatte, ein Symbol Gottes auf Erden.

Jetzt mied sie die Kathedrale, hasste das riesige weiße Schiff mit den drei in den Himmel ragenden Türmen, die aussahen, als wären sie riesige Finger, die auf Gott zeigten.

Doch Gott hatte Jay nicht beigestanden.

Jede Nacht kehrte der Albtraum zurück: Sie sah sich in der schmalen, schicksalhaften Gasse, wo sie um ihr Leben kämpfte, sah den namenlosen Angreifer vor sich, der im strömenden Regen brutal mit seinem Messer auf sie einstach. Und dann sah sie Jay, der sich auf die Gestalt stürzte, um sie zu retten. Sie sah, wie er zu Boden ging, und sie sah sich selbst, wie sie zu ihrem Ehemann krabbelte, seinen Kopf in ihrem Schoß barg und ihm mit blutverschmierten Fingern die Haare zurückstrich, sah, wie sein Gesicht grau wurde, wie das Leben aus ihm wich, hörte sich schreien. Nein! Nein! Nein! Nicht Jay. Nicht ihr Ehemann. Doch sie wusste, dass seine Seele diese Welt verließ, war schon so oft Zeugin geworden, wie ein Mensch starb, und nun sah sie ihm beim Sterben zu.

Ein Horrorfilm in Endlosschleife.

Es war so falsch. Ganz und gar falsch. Ihre Seele hätte an jenem Abend die Erde verlassen müssen, nicht seine. Nicht Jays Seele.

Denk an das Baby. Du musst leben. Für das Baby.

Gott steh mir bei! Wenn schon nicht wegen Jay, dann wegen des Ungeborenen!

Sie hatte ihm ihre Liebe geschworen, als er in ihren Armen verblutet war, hatte ihn angefleht, bei ihr zu bleiben, hatte ihm versichert, dass ihr Leben noch vor ihnen lag. Ihr gemeinsames Leben. Ob er ihre Worte gehört hatte? Hatte Jay gewusst, wie sehr sie ihn geliebt hatte? Immer? Trotz der ständigen Aufs und Abs in ihrer Beziehung, der Leidenschaft und dem Schmerz? Sie wusste, dass es oft Zweifel gegeben hatte, eine Vergangenheit voller Trennungen und Versöhnungen, aber tief im Innern hatte sie ihn immer geliebt. Das musste er gewusst haben.

Oder?

Bestimmt hatte er vor seinem Tod gehört, wie sie ihm ihre Liebe versicherte. O Gott, sie hoffte es so sehr.

Sie nahm an, dass er sie nach dem Yogakurs mit Blumen überraschen wollte, dass die verstreuten roten Rosen seine Art waren, sich nach dem letzten Streit bei ihr zu entschuldigen.

Bei diesem Gedanken bildete sich ein Kloß in ihrer Kehle. Erneut blinzelte sie gegen die Tränen an.

Als die ersten Regentropfen fielen, drückte ihr Vater vorsichtig ihre Schulter, und sie drehte ihm das Gesicht zu. Er stand kerzengerade da, die Haare mittlerweile eher Salz als Pfeffer, das Kinn noch immer kantig und markant. Ein Netz feiner Fältchen umspann Mund und Augen, die sie voller Sorge anblickten. Genauso gerade stand Olivia neben ihm, seine Frau, eine umwerfende Blondine mit Lockenpracht in einem langen schwarzen Mantel, ihre Tochter auf der Hüfte eng an sich gedrückt. Die kleine Ginny, mit blonden Locken wie ihre Mutter, war Kristis Halbschwester. Sie war noch viel zu jung, um hier zu sein, dachte Kristi. Zu jung, um das Ausmaß all dessen zu begreifen, was hier vor sich ging.

Kristi kämpfte gegen die Tränen an, vergeblich. Unerwünschte, große Tropfen füllten ihre Augen und rollten über ihre Wangen. Ihre Beziehung mit Jay war zwar nicht perfekt gewesen, aber sie waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen, und sie vermisste ihn.

Der Kloß in ihrer Kehle wurde noch größer, als sie an die schroffen Worte dachte, die bei ihrer letzten Auseinandersetzung gefallen waren. Bei der Erinnerung daran wurden ihre Knie weich, nur der starke Arm ihres Vaters hielt sie aufrecht.

Jetzt sprachen sie das Schlussgebet. Kurz darauf spürte Kristi die Hand des Geistlichen auf ihrer Schulter. Leise sprach er ihr sein Beileid aus und rief ihr vor Augen, dass Jay nun bei Gott war. Sie sah, wie sich die Gruppe der Trauernden auflöste, erleichtert, diesen letzten Abschied hinter sich gebracht, die Verpflichtung gegenüber dem Verstorbenen und dessen Hinterbliebenen erfüllt zu haben. Nun konnten sie ihr Leben weiterführen wie zuvor. Bald wäre Halloween, und sie würden das Fest gut gelaunt im Kreis ihrer Freunde und Familien verbringen.

Kristi spürte, wie Neid in ihr aufstieg.

Sie lauschte den hastig gemurmelten Beileidsbekundungen, dann sah sie zu, wie die Trauergäste zu ihren Fahrzeugen gingen. Motoren wurden angelassen, Reifen surrten über den Asphalt, und die Trauergemeinde war verschwunden. Nicht verschwunden aber waren der grauenvolle Schmerz und die finstere Leere in ihrem Herzen.

Sie warf einen Blick auf Reuben Montoya und seine Frau Abby, die ihr Kind zu Hause gelassen hatten. Montoya war der langjährige Partner ihres Vaters, sehr viel jünger als Bentz, mit pechschwarzem Haar, einem gepflegten Kinnbart und durchdringenden tief liegenden Augen. Die roten Haare seiner Frau lugten unter einem schwarzen Schal hervor, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte. Montoya bekreuzigte sich, dann nahm er die Hand seiner Frau und trat von der Grabstätte zurück.

»Zeit, zu gehen«, flüsterte Kristis Vater ihr ein paar Minuten später ins Ohr, als nur noch sie und ihre kleine Familie auf dem Friedhof standen. Die Totengräber hatten sich, einige Schritte von ihnen entfernt, vor dem oberirdischen Mausoleum einer anderen Familie postiert und warteten darauf, Jays Sarg in die Grabstätte schieben zu können, um sie danach zu verschließen. Sie rauchten und wichen ihrem Blick aus, als sie am Arm ihres Dads an ihnen vorbeiging.

Heiße Tränen brannten in ihren Augen.

»Komm, Liebling.« Die Stimme ihres Vaters war sanft. Verständnisvoll.

Lass mich in Ruhe. Lasst mich einfach alle in Ruhe!

Niemand konnte ihre Qualen nachvollziehen, die physische Pein des Herzschmerzes, die seelische Pein des Bewusstseins, dass sie in dem Sarg liegen sollte, nicht Jay. Er war tot. Sie war am Leben.

Allein.

Vor ihr lag ein Leben voller Plattitüden, Gebete und Trauer.

Ein Leben ohne Zukunft.

Kristi blieb stehen.

»Komm, Liebes«, drängte ihr Dad erneut. »Wir können nicht ewig …«

»Lass mich. Lass mich bitte in Ruhe.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Ich möchte – ich brauche – etwas Zeit, allein mit meinem Ehemann.«

»Aber …«

»Schon gut, Rick.« Olivia warf ihrem Mann einen Blick zu. Ihre Augen waren die einer Frau, die schon viel zu viel gesehen hatte, weit mehr, als einem einzelnen Menschen im Leben zugemutet werden sollte. »Gib ihr die Zeit, die sie benötigt.«

Ihr Vater öffnete den Mund, um zu protestieren, dann schien er zu verstehen und klappte ihn wieder zu. Er ließ Kristis Arm los. »Wir warten im Wagen auf dich«, sagte er mit rauer Stimme und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Kristi unterdrückte ein Schluchzen und drehte sich wieder zum Sarg um.

Stellte sich vor, ihr einst so lebendiger Ehemann könnte sie hören.

»Ich kriege ihn«, schwor sie ihm. »Ich werde ihn kriegen. Und er wird dafür bezahlen.« Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie blutete, dann bückte sie sich und küsste das glatte Holz von Jay McKnights Sarg. »Für das, was er dir angetan hat.« Sie richtete sich wieder auf. »Und unserem ungeborenen Kind.«

 

Sie hätte ihm von dem Baby erzählen sollen, und zwar rechtzeitig, dachte Kristi, als sie jetzt zusammengerollt auf der Couch in ihrem Wohnzimmer lag. Jay hätte wissen sollen, dass sie im kommenden Sommer Eltern wurden. Doch sie hatte das Geheimnis für sich behalten. Worauf hatte sie gewartet?

Auf den »richtigen« Moment?

Um ihn zu überraschen?

Wie albern sie gewesen war. Sie berührte ihren Bauch, der noch immer flach wie ein Brett war, das winzige Leben in ihr äußerlich noch unsichtbar, acht Wochen nach der Zeugung. Sie hatte es gerade erst erfahren, und dann …

O Gott. Und dann war es zum Streit gekommen. Sie hatten einander angeschrien, und Kristi hatte das Haus verlassen und war zu ihrem Yoga-Kurs gefahren, am Abend des Überfalls.

Wie immer waren sie wegen ihrer Arbeit aneinandergeraten – die ewig gleiche Leier. Sie hatte ihm von dem Baby erzählen wollen, doch dann hatte sie den Mund gehalten, denn ihre Schwangerschaft hätte ihm nur in die Hände gespielt bei seinen Argumenten, warum sie ihren Job an den Nagel hängen sollte.

Sie schrieb Bücher über wahre Verbrechen – True Crime.

Er hielt das für gefährlich, vor allem ihre Recherchen, und warnte sie immer wieder, dass ein verurteilter Mörder vorzeitig entlassen werden, Freigang haben oder entkommen könnte. Vielleicht hatte er auch Freunde, und Kristi malte sich mit jedem Buch eine immer größere Zielscheibe auf den Rücken.

»Diese Leute ticken nicht rational«, hatte Jay ihr mehr als einmal erklärt, die Lippen vor Sorge zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Man kann ihnen nicht trauen, ganz gleich, wie ›vorbildlich‹ sie sich während der Haft verhalten.« Wenn Kristi daraufhin trotzig das Kinn vorreckte, wie sie es in solchen Momenten immer tat, hatte er sich umgedreht und sich einen doppelten Scotch eingeschenkt. Pur. Sein Lieblingsdrink.

»Und sie haben immer Freunde«, fügte er auch am Abend ihres letzten Streits mit erhobenem Zeigefinger hinzu und nahm einen großen Schluck aus dem Tumbler. »Familienmitglieder. Menschen, die gierig darauf warten, sich an jedem zu rächen, der versucht, aus ihren Geschichten Kapital zu schlagen. Du verdienst dein Geld mit ihren Fehlern, dem Schmerz derjenigen, die sie lieben. Diese Leute sind verrückt. Und sie haben Waffen.«

»Ich schlage kein Kapital aus ihren Geschichten. Sie sind Mörder!«

»In ihren Augen beutest du sie aus.«

»Ach Jay, hör auf damit.« Das konnte er doch nicht ernst meinen! Sie würde Mörder ausbeuten? Was für ein Unsinn.

Kristi hätte selbst gern etwas getrunken. Keinen Whisky. Ein Glas Rotwein wäre schön gewesen, wie immer, wenn sie gestresst war, doch weil sie wusste, dass sie Mutter wurde, riss sie die Augen von der Flasche los und schenkte sich ein Glas Wasser ein.

»Das ist mein Job, Jay«, erwiderte sie ruhig. »Er ist nicht gefährlich.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Du aber auch nicht. Du bist bloß paranoid.«

»Tatsächlich?« Er wurde immer aufgebrachter. Kippte seinen Drink. »Was ist mit Roy Calhoun, der über den Würger von Chicago geschrieben hat? Er wurde in seinem Arbeitszimmer an einem Seil aufgeknüpft, wo er über seinem Buch baumelte, aus dem der Mörder sämtliche Seiten gerissen hatte.«

»Ein einziger Fall«, sagte Kristi abschätzig.

»Was ist mit Anne DeVille?«

»Das war ein Unfall«, hielt sie dagegen. Das Verlangen nach einem Glas Wein wurde immer stärker.

»Sie war beim Kanufahren, allein. Ihr Boot ist umgekippt, und sie ist ertrunken. Ihre Rettungsweste fehlte.«

»Sie war einfach zu sorglos.«

»Wie du?«, fragte er. »Du hast schon genug Bücher veröffentlicht, du musst nicht noch mehr schreiben. Mit jedem Buch holst du irgendwelche Leichen aus dem Keller, profitierst von der Tragödie, drängst die Betroffenen und ihre Familien ins Rampenlicht.«

»Ich dachte, Mörder lieben das Rampenlicht. Für gewöhnlich törnt es sie an, ihre Gräueltaten im Geiste noch einmal zu erleben. Sie lieben es, sich an den Qualen ihrer Opfer zu ergötzen, es geilt sie auf, Katz-und-Maus-Spielchen mit der Polizei zu treiben.«

»Das trifft bestimmt auf einige zu, und gerade deshalb ist deine Arbeit so gefährlich. Diese Leute sind zu allem fähig.«

»Ich weiß.«

»Trotzdem machst du sie berühmt.«

»Ich erzähle ihre Geschichten, Jay. Was wirfst du mir also vor?«, fragte sie streitlustig. »Dass ich sie glorifiziere? Mörder und Vergewaltiger?«

»Ich sage nur, dass sie dich ins Visier nehmen könnten, weil du Profit aus ihren Geschichten schlägst.«

»Du kapierst es nicht, oder?«, schnauzte sie ihn an. »Das ist für mich nicht nur ein Job, das ist mein Leben! Das, was ich mit meinem Leben anfangen möchte!«

»Such dir etwas anderes, weniger Gefährliches.«

»Ja, klar. Selbstverständlich. Wieso kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, wie du reagieren würdest, wenn ich dir vorschreiben würde, dir einen neuen Beruf zu suchen?«

»Ich würde dir zuhören und über deine Argumente nachdenken«, gab er zurück und leerte sein Glas.

»Und dann würdest du trotzdem tun, was du willst. Hör dir doch nur mal selbst zu!« Sie schnappte sich ihren Rucksack und die Yogamatte und stürmte zur Tür. »Und jetzt mache ich das, was ich will!«

»Nein, Kristi!«

»Was ›nein‹? Soll ich nicht gehen, oder soll ich nicht weiter an meinen Geschichten arbeiten? Nicht länger der Mensch sein, der ich bin?« Sie spürte, dass sie kurz davorstand, zu explodieren. »Soll ich Kristi Bentz aufgeben und mich damit zufriedengeben, nur noch Mrs Jay McKnight zu sein?«

»Nur noch?«, wiederholte er.

»Jetzt tu doch nicht so, als wäre das eine Wahnsinnsehre!« Und dann hatte sie es getan. Sie hatte die Worte ausgesprochen, die ihr in ihrer Wut durch den Kopf schossen. Hatte nach dem Türknauf gegriffen, sich zu ihm umgedreht und mit zornig funkelnden Augen hervorgestoßen: »Ich weiß nicht, warum ich dich überhaupt geheiratet habe!«

Damit war sie zur Tür hinaus in die Dunkelheit gestürmt.

Keine zwei Stunden später hatte Jay McKnight, der Mann, dem sie diese hasserfüllten Worte entgegengeschleudert hatte, die Liebe ihres Lebens, sterbend in ihrem Schoß gelegen. Sie fragte sich, ob er ihr je wirklich geglaubt hatte, dass sie ihn von ganzem Herzen liebte.

Sie hatte ihm ihre Liebe geschworen, als sie ihn in den Armen hielt, während er langsam verblutete, hatte ihn angefleht, durchzuhalten, hatte von ihrer gemeinsamen Zukunft gesprochen, von dem Baby. Ihrem gemeinsamen Baby. Hatte er ihre Worte gehört? Hatte er begriffen, dass er Vater werden würde?

Herrgott, was war sie für eine verbohrte Närrin! Was für ein alberner Streit! Immer wieder waren ihr Beruf und Jays Sorge um sie der Auslöser für Auseinandersetzungen gewesen, und immer öfter hatte sie Trost im Alkohol gesucht. Sie hatten sich gestritten, sich versöhnt, miteinander geschlafen, und für gewöhnlich hatte sie in diesen Situationen viel zu viel getrunken.

Tränen traten ihr in die Augen. Seit dem Überfall konnte sie kaum noch aufhören zu weinen. Sie stützte sich auf den Ellbogen und sah von der Couch aus zu Jays Jacke hinüber, die über der Rückenlehne eines der Küchenstühle hing, dort, wo er sie immer abgelegt hatte. Blinzelnd stand sie auf, brachte die Jacke ins Schlafzimmer und nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank. Doch anstatt Jays Jacke zu verstauen, verharrte sie. Ihre Finger schwebten über der Stange mit der Kleidung ihres Ehemanns. Diese Jacke war zuvor nicht in der Küche gewesen.

Da war sie sich ganz sicher.

Oder nicht?

Ihr geplagtes Hirn spulte zurück zum Abend ihrer letzten Auseinandersetzung. Dem Abend, an dem ihr Mann einem grausamen Mörder zum Opfer gefallen war. Hatte die Jacke dort gehangen? Sie war zu einem so alltäglichen Anblick geworden, dass Kristi sie längst nicht mehr bewusst wahrnahm. Dennoch … Sie hatte zwischendurch aufgeräumt, die Wohnung geputzt, einfach um sich abzulenken, allerdings war sie dabei weder sonderlich konzentriert noch gründlich vorgegangen. Dennoch meinte sie, die Jacke in den Schlafzimmerschrank gehängt zu haben. Sicher war sie sich allerdings nicht.

Vor lauter Unbehagen stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Es schien, als wäre die Temperatur im Raum um mindestens fünf Grad gefallen.

Hatte jemand unbemerkt das Haus betreten?

Unmöglich.

Sie sperrte doch immer sorgfältig ab, sogar wenn sie da war!

Langsam drehte sie sich um, ließ die Augen durchs Schlafzimmer schweifen. Sie blieben an Jays Nachttisch hängen. War jemand an seinen Sachen gewesen? Seine Uhr lag nicht dort, wo sie sonst immer lag, aber die hatte er an jenem schicksalhaften Abend getragen. Sein Handy hing nicht wie normalerweise am Ladekabel, denn auch das hatte er bei sich gehabt; es war noch bei der Polizei, genau wie seine Hausschlüssel, die früher meist auf dem Beistelltisch neben der Lampe im Flur gelegen hatten. Die Fernbedienung für den Fernseher hatte sie auf ihren Nachttisch gelegt. Ja, alles sah aus wie immer, bis auf …

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Die Stelle, wo stets ein kleines, gerahmtes Foto von Kristi und Jay an ihrem Hochzeitstag gestanden hatte, war leer. Auf dem Bild lachten sie, Kristi in weißem Brautkleid mit zurückgeworfenem Schleier, er im Smoking, die Fliege gelöst, unbefangen und glücklich. Es war Jays Lieblingsaufnahme gewesen.

Und jetzt war das Bild weg. Verschwunden.

Ungläubig schritt sie das Schlafzimmer ab, den Blick auf den Fußboden geheftet, ohne die Staubmäuse zu beachten, die sich dort tummelten.

Nichts.

Ach du lieber Himmel!

Mit zitternden Fingern öffnete sie die einzelne Schublade.

Der Rahmen lag mit dem Foto nach unten auf seinem E-Reader, neben einigen Kugelschreibern, Notizblöcken und Kopfhörern. Das Holz hatte eine Macke, das Glas war an einer Ecke gesprungen, als wäre der Rahmen auf den Boden gefallen.

Oder geworfen worden.

Sie dachte an ihren letzten Streit.

Ihre zornigen, hässlichen Worte mussten eine tiefe Wunde geschlagen haben.

War Jay so sauer auf sie gewesen, dass er das Bild gegen die Wand geschleudert hatte? Oder hatte er es umgeworfen – und dann was? Er würde es doch wohl kaum in die Schublade gelegt haben, nachdem er sich wieder abgeregt hatte.

Hatte sie es womöglich beim Putzen verräumt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen? Oder war sie mittlerweile unfähig, sich an ihre Handlungen in der ersten Zeit nach seinem Tod zu erinnern?

Bei der letzten gedanklichen Möglichkeit – dass tatsächlich jemand in ihrem Haus, in ihrem Schlafzimmer gewesen war – lief ihr ein eisiger Schauder den Rücken hinunter. Noch einmal drehte sie sich langsam um sich selbst, wie eine Ballerina auf einem Schmuckkästchen, der langsam der Saft ausging. Zentimeter für Zentimeter schweiften ihre Augen durchs Zimmer. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Sie fühlte sich verletzt, verängstigt und wütend. Sehr, sehr wütend.

Wer würde es wagen, in ihr Haus einzudringen? Sich an Jays Sachen zu vergreifen?

Beruhige dich, Kristi. Denk nach. Noch kannst du nicht beweisen, dass jemand hier war. Also gib dir Mühe und such nach Anhaltspunkten, die deinen Verdacht erhärten!

»Verdammt noch mal, das tue ich doch!«, sagte sie laut.

Beim Klang ihrer Stimme zuckte sie zusammen. Ihr Blick fiel auf ihr Konterfei in dem großen Ganzkörperspiegel in einer Ecke des Schlafzimmers. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Sie war blass, hatte sichtlich abgenommen und wirkte alles andere als lebendig. Ihre Haare standen zerzaust vom Kopf ab – sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sie zum letzten Mal gebürstet hatte. In der Hand hielt sie immer noch den Kleiderbügel mit Jays Jacke, so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

Reiß dich zusammen, Kris. Du musst dich konzentrieren. Du schaffst das.

Es gelang ihr, die Finger zu entkrampfen und die Jacke aufs Bett zu legen, dann straffte sie die Schultern und begab sich auf einen Kontrollgang durchs Haus. Nahm jeden einzelnen Raum unter die Lupe und überprüfte zudem, ob Türen und Fenster geschlossen waren.

Alles in Ordnung.

Alles war an Ort und Stelle.

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück, hängte die Jacke in den Schrank, schloss die Rollläden und zog zusätzlich die Vorhänge zu, dann ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich erneut auf die große Couch sinken. Ihre Schulter schmerzte. Vorsichtig strich sie über die verletzte Stelle. Der Arzt hatte ihr versichert, dass die Wunde gut heilte, dann hatte auch ihr Vater behauptet, sie habe »großes Glück« gehabt. Glück, das Jay nicht zuteilgeworden war.

»Ja, du bist wahrhaftig ein Glückspilz«, murmelte sie, hob den Arm über den Kopf und ließ ihn kreisen. Der Schmerz war längst nicht mehr so schlimm wie am Anfang.

Nach einer Weile griff sie zur Fernbedienung und schaltete die Lokalnachrichten ein. Der Mord an Jay war kein Thema mehr – Ereignisse, die länger als ein paar Tage zurücklagen, waren der Berichterstattung nicht wert. Leicht benommen stand sie auf und ging in die Küche, wo eine ungeöffnete Flasche Merlot auf sie wartete.

Seit dem Abend ihrer letzten Auseinandersetzung, dem Abend, an dem sie ihm eigentlich von dem Baby hatte berichten wollen, bevor er wieder mit ihrem Beruf angefangen hatte, stand die Flasche nun dort.

Sie verspürte das überwältigende Verlangen nach einem Glas Wein – gern auch zwei –, sehnte sich nach dem warmen, behaglichen Gefühl, das der Alkohol in ihr hervorrief.

Es war nicht nur das heranwachsende Leben in ihr, das sie zögern ließ, sondern auch der ewige Kampf mit der Abhängigkeit, den ihr Dad führte. Dabei war Rick Bentz gar nicht Kristis leiblicher Vater.

»Trotzdem ist er dein Dad«, murmelte sie. An die finstere Geschichte ihrer Zeugung wollte sie lieber nicht denken. Unweigerlich glitt ihre Hand zu ihrem noch flachen Bauch. Das Kind würde seinen Vater niemals kennenlernen, und diese Tatsache machte Kristi unsagbar traurig.

Sie öffnete eine Schublade, nahm den Korkenzieher heraus und öffnete den Merlot, dann atmete sie tief das Aroma ihres Lieblingsweins ein. Wie oft hatte sie abends mit Jay zusammengesessen und sich eine Flasche mit ihm geteilt?

Und jetzt war sie Witwe.

Eine schwangere Witwe.

Sie hob die Flasche an die Nase, um den Duft voll auskosten zu können, dann trat sie ans Spülbecken und schüttete die blutrote Flüssigkeit in den Ausguss. Sie dachte an all das Blut in jener Nacht. Ihr Blut. Jays Blut.

Sie dachte an Jays Warnung und erstarrte. Diese Leute sind zu allem fähig. Bislang hatte sie den brutalen Übergriff für einen Zufall gehalten, hatte gedacht, sie wäre einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, jemand hätte sie ausrauben oder vergewaltigen wollen, weil sie während des Unwetters mutterseelenallein durch die Gegend geschlendert war.

Doch vielleicht täuschte sie sich.

Vielleicht hatte der Angreifer sie bewusst ausgewählt.

Die Polizei wollte diese Möglichkeit nicht ausschließen, und vermutlich sollte sie das auch nicht tun.

Im Grunde war es gleich. Wer auch immer Jay mit dem Messer den tödlichen Stich verpasst hatte, würde nicht ungestraft davonkommen. So oder so: Sie würde den Bastard schnappen und ans Kreuz nageln.

Würde dafür sorgen, dass Jay Gerechtigkeit widerfuhr.

Kristi Bentz-McKnight war fest entschlossen, ihren ermordeten Ehemann zu rächen.

Kapitel drei

Es dauert nur eine Sekunde«, versicherte Detective Reuben Montoya seinem Partner und zwängte seinen Mustang in eine enge Lücke. Die Oktobersonne spähte durch den tief hängenden Wolkenschleier, schwache Strahlen trafen auf die mit Insekten übersäte Windschutzscheibe und wärmten den Fahrzeuginnenraum.

Bentz deutete auf ein Schild. »Du parkst in einer Ladezone.«

»Es gibt keinen anderen Parkplatz«, stellte Montoya fest und verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen, wobei er eine Reihe strahlend weißer Zähne entblößte. »Das geht schon klar, Bentz. Wir sind Cops, hast du das etwa vergessen?«

Bentz erwiderte nichts.

»Sollte es Ärger geben, mach einen auf Dirty Harry und zeig deine verdammte Dienstmarke. Du trainierst doch noch, oder? Schlägst ein paarmal die Woche auf den Boxsack ein?«

»Ja.« Bentz rieb seine Schulter. Sie schmerzte ein wenig, so zornig hatte er heute Morgen den Punchingball malträtiert.

»Na dann. Bin gleich wieder da!« Damit stieg er aus und eilte im Laufschritt zu einer Bäckerei, in deren Auslage alle möglichen Gebäcksorten zu sehen waren.

Bentz beobachtete, wie Montoya die Tür öffnete, kurz zögerte und sie dann für eine Frau aufhielt, die einen Kinderwagen mit zwei Mädchen hinausschob. Zwillinge, beide in Rosa gekleidet, beide mit lockigen schwarzen Zöpfen.

Sobald sie draußen war, ging Montoya hinein.

Wonach gelüstete es ihn denn diesmal? Donuts? Beignets? Kuchen?

Was zur Hölle dachte er sich eigentlich dabei? Bentz warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Elf Uhr fünfzehn. Etwas zu spät für eine Kaffeepause und etwas zu früh fürs Mittagessen. Bentz trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Kante des Beifahrerfensters. Er war sich bewusst, wie schnell die Zeit verstrich, ihnen durch die Finger glitt, Minute für Minute. Und in ebendiesen Minuten saß er tatenlos herum und wartete darauf, dass Montoya seine Zuckergelüste befriedigte, während der Mörder seines Schwiegersohns irgendwo weiterhin ungestraft sein Unwesen trieb.

Was kam als Nächstes?

Plante er einen weiteren Angriff auf seine Tochter?

Oder hatte er schon jemand anderes ins Visier genommen?

War die tödliche Attacke zufällig erfolgt, oder waren Kristi oder Jay bewusst ausgewählt worden?

Wenn ja, warum? Diese Frage kreiste in Endlosschleife in seinem Kopf. Warum? Warum? Warum?

Sein Magen brannte, seine Augen ebenfalls.

Er hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Wenn er ehrlich war, nicht mehr seit dem brutalen Mord an Jay. Laut Kristi hatte ihr Mann ihr das Leben gerettet, indem er auf den Angreifer losgegangen war und sich dabei den tödlichen Stich eingefangen hatte. Die erste Stichwunde in der Brust hätte er wahrscheinlich überlebt, da die kurze Klinge die Lunge verschont hatte. Der Schnitt am Oberschenkel dagegen hatte die Femoralarterie durchtrennt und ihn so das Leben gekostet. Der Tatort, das viele Blut, das sich mit dem Regenwasser vermischte, sprach Bände und bestätigte Kristis Schilderung des schrecklichen Angriffs.

Nachdenklich rieb Bentz sich den verspannten Nacken. War sie wirklich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, oder hatte der Mörder sie bewusst ausgewählt? Sie gestalkt? Verfolgt? Auf sie gewartet?

Er war so tief in Gedanken versunken, dass er Montoya erst bemerkte, als dieser die Tür des Mustangs aufriss und hinters Steuer glitt, wobei er Bentz einen To-go-Pappbecher hinhielt. »Hier.« Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee füllte das Wageninnere.

Bentz hielt sich den Becher unter die Nase und atmete tief ein.

»Ein dreifacher Espresso.« Montoya stellte eine weiße Papiertüte aufs Armaturenbrett. »Genau das, was du jetzt brauchst. Du siehst echt scheiße aus.«

»Danke.«

»Im Ernst, Partner.« Er legte den Gang ein, warf einen Blick in den Rückspiegel und gab Gas, um sich in den Verkehr einzureihen. »Wann hast du das letzte Mal durchgeschlafen?«

»Ist schon eine Weile her.«

»Geht’s etwas genauer? Wie lang ist bei dir ›eine Weile‹?«

»Ein paar Stunden Schlaf kriege ich nachts auf jeden Fall.«

Montoya warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Dann frage ich mich, warum du hier rumhängst wie ein nasser Sack.« Bentz öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sein Partner schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Ich hab keine Lust auf Ausreden. Ich weiß schließlich, dass deine Tochter um ein Haar ermordet worden wäre. Ich weiß, dass dein Schwiegersohn es nicht geschafft hat, und ich weiß, dass es dir um etwas Persönliches geht. Du bist besessen davon, den Typen zu schnappen, bevor er erneut zuschlagen kann. Dir kreist die ganze Zeit über das ›Was wäre, wenn?‹ durch den Kopf. Was, wenn Jay nicht im entscheidenden Augenblick dazugekommen wäre? Was, wenn Kristi den Yogakurs ein paar Minuten früher verlassen hätte? Du treibst dich selbst in den Wahnsinn, weil du nicht aufhören kannst zu überlegen, wer diese brutale Tat begangen hat und warum. Das verstehe ich. Ich habe selbst ein Kind. Ich denke, ich würde das Gleiche tun. Aber ich sage dir, Partner: Du kannst im Augenblick nicht klar denken.«

»Ist das alles, Mom?«, fragte Bentz mit mehr als nur einem Anflug von Sarkasmus.

»Ach herrje.« Montoya raste über eine gelbe Ampel. »Nein, das ist nicht alles. Du hast es zwar bis jetzt nicht laut ausgesprochen, aber ich weiß, dass du davon ausgehst, dass Vater John hinter alldem steckt.«

Bentz schaute aus dem Seitenfenster und ertappte sich dabei, dass er so fest mit den Zähnen knirschte, dass sein Kiefer schmerzte. Montoya hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Vater John« war das Pseudonym für einen Serienmörder, der vor Jahren die Straßen von New Orleans unsicher gemacht hatte, ein Killer, der auch »der Rosenkranzmörder« genannt wurde, weil er seine Opfer mit den scharf geschliffenen Perlen eines Rosenkranzes erwürgt hatte. Bentz hatte gehofft, den Bastard bei seiner Flucht in die Sümpfe abgeknallt zu haben, aber ganz sicher war er sich nie gewesen, denn man hatte bis heute keine Leiche gefunden. Was die Kollegen, die Presse und meist auch er selbst dem Umstand zuschrieben, dass es in den Sümpfen rund um New Orleans von Alligatoren nur so wimmelte.

Aber offenbar hatten sie sich getäuscht.

Offenbar hatte er sich getäuscht.

Offenbar war der falsche Priester wieder aufgetaucht und versetzte erneut die Stadt in Angst und Schrecken. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie eine tote Prostituierte gefunden, Teri Marie Gaines alias Tiffany Elite. Das bedauernswerte Mädchen war scheinbar in Vater Johns Netz geraten, was sie das Leben gekostet hatte: ermordet, genauer gesagt, erwürgt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Rosenkranz, wie der psychopathische Pseudo-Priester ihn benutzte. Dieselben Male, einzigartige Male, Hämatome am Hals, dazu ein Muster feiner Schnitte, die nur von den Perlen des todbringenden Rosenkranzes stammen konnten. Genau wie bei den früheren Opfern. Außerdem hatte eine Hundert-Dollar-Note mit Benjamin Franklins Gesicht, die Augen geschwärzt, im Apartment der ermordeten Prostituierten gelegen.

Vater Johns Handschrift.

Eine ausgeklügelte Inszenierung, die dazu diente, Bentz zu verspotten und zur Jagd herauszufordern. Eine Inszenierung, die Bentz nicht zur Ruhe kommen ließ. Er wusste instinktiv, dass das Kapitel »Vater John« noch längst nicht abgeschlossen war.

Genauso instinktiv wusste er, nein, fürchtete er, dass der Übergriff auf Kristi und die Ermordung seines Schwiegersohns auf das Konto des Rosenkranzmörders gingen. Vater John war ein Phantom, Detective Rick Bentz’ ganz persönlicher weißer Wal.

Doch was, wenn sein Instinkt ihn täuschte? Was, wenn ein Trittbrettfahrer auf den Plan getreten war, der den Mord an Tiffany Elite genauso inszeniert hatte wie sein Vorbild und Mentor Vater John?

Aber warum? Um von sich selbst abzulenken und die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken? Um die Taten des falschen Priesters zu würdigen? Wer wusste schon, was in solchen Hirnen vor sich ging.

Und noch ein Gedanke wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen: Hatte der Killer tatsächlich beschlossen, dass Bentz’ Tochter das nächste Opfer sein würde?

Selbst wenn sie nicht gestorben war, hatte Kristi Wunden davongetragen, die niemals heilen würden. Nicht körperlich, aber ganz bestimmt seelisch.

»Herr im Himmel.« Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare.

Jedes Mal, wenn er Kristi seit Jays Tod besuchte, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Oh, sie setzte immer ein tapferes Gesicht auf, aber er kannte sie gut genug, um die Fassade zu durchschauen. Selbst tonnenweise Make-up konnte die Trauer und Erschöpfung nicht übertünchen, ihren blassen Teint, die dunklen Ringe unter ihren Augen, ihre blutleeren Lippen.

Als Kind war sie ein echter Wildfang gewesen, ungestüm, nicht zu bremsen. Sie war zu einer willensstarken, mutigen, mitunter etwas leichtsinnigen, draufgängerischen jungen Frau herangewachsen, doch nun erkannte er seine Tochter kaum wieder. Sie kam ihm vor wie die leere Hülle des Menschen, der sie einst gewesen war.

Obwohl sie das Gegenteil behauptete, ging er davon aus, dass sie an dem sogenannten Überlebenden-Syndrom litt, den Schuldgefühlen desjenigen, der dem Tod von der Schippe hatte springen können, während ein anderer dafür mit dem Leben bezahlen musste. Bentz kannte dieses beklemmende Gefühl nur zu gut. Jahrelang hatte er sich schuldig gefühlt, wann immer er an Jennifer, seine erste Frau, dachte, Kristis Mutter. Er verengte leicht die Augen und sah Jennifer vor sich. So schön. So selbstverliebt. So falsch. Ihre Lügen … Er schüttelte unwillkürlich den Kopf, als könnte er so die Gedanken an sie daraus vertreiben. Nein, diesen finsteren, verschlungenen Pfad der Erinnerung würde er nicht einschlagen, nicht jetzt, wo er sich voll und ganz auf die Gegenwart und die simple Tatsache konzentrieren musste, dass jemand Kristi zur Witwe gemacht hatte und ihr mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit nach dem Leben trachtete.

Er ballte die Hände zu Fäusten.

Dafür würde der kranke Hurensohn bezahlen.

Dafür würde er, Rick Bentz, sorgen.

Eine neuerliche Woge des Zorns brandete in ihm auf. Zorn, der mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einherging, einem Gefühl der Ohnmacht, das seinen inneren Aufruhr nur noch steigerte.

»In der Tüte sind Beignets«, riss ihn Montoya aus seinen Gedanken. »Ohne Füllung, zwei mit Apfel und ein paar mit Schokolade. Bedien dich. Ein kleiner Zuckerrausch kann dir nicht schaden.«

Bentz nahm einen Schluck heißen Espresso und wünschte sich insgeheim, es wäre Bourbon. Die weiße Tüte rührte er nicht an. Der starke Kaffee brachte seinen brennenden Magen auch ohne fettgebackenes Zuckerzeug auf Hochtouren, und noch mehr Säureblocker konnte er wohl kaum einwerfen. »Danke«, sagte er daher.

»Keine Ursache.« Montoya trat auf die Bremse, als ein Radfahrer unerwartet ausscherte und nur Zentimeter vor der Kühlerhaube seines Mustangs in eine Seitenstraße abbog. »Idiot!« Montoya schlug mit den Handflächen aufs Lenkrad. »Ich sollte ihn verhaften!«

Bentz glaubte schon, er würde das Gaspedal durchtreten und die Verfolgung aufnehmen, doch ausnahmsweise atmete sein Partner tief durch und fuhr in gemäßigtem Tempo weiter. Montoya war nach wie vor ein Hitzkopf, befeuert von Adrenalin und Testosteron, aber es bekam ihm gut, Vater zu sein, denn er war in vielen Situationen definitiv gelassener geworden, abgeklärter. Jetzt schloss er die Finger fest ums Lenkrad und wandte Bentz das Gesicht zu.

»Ich will bloß, dass du auf dich achtgibst, okay? Nur dann kannst du dich voll und ganz auf den Fall konzentrieren«, stimmte er die alte Leier wieder an.

Er hat recht, musste Bentz widerwillig zugeben. Die schlaflosen Nächte machten ihn fahrig und nervös, und auch wenn ihm rational klar war, dass der mörderische Übergriff nicht seine Schuld war, so fühlte er sich doch dafür verantwortlich. Und wenn auch nur deshalb, weil er nicht für die Sicherheit seiner Familie hatte sorgen können.

Er trank einen weiteren Schluck Espresso. »Botschaft angekommen.«

»Meinst du das ernst?«, fragte Montoya ungläubig. »Du nimmst meinen Rat an?« Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, seine dunklen Augen blitzten überrascht, als er die Spur wechselte und zum Überholen ansetzte.

»Vielleicht.«

»Vielleicht auch nicht, schon klar.« Montoyas Diamantohrstecker blinkte im fahlen Sonnenlicht, das durch die Windschutzscheibe ins Wageninnere fiel. »Warum glaubst du nicht an einen Zufallsangriff?«

»Weil mir das ein bisschen zu viel Zufall ist«, erwiderte Bentz. »Die Tochter eines Polizisten, deren Ehemann ebenfalls bei der Polizei arbeitet.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann kein Zufall sein.«

»Dann beweis es. Aber vorher solltest du dir unbedingt ’ne Mütze voll Schlaf holen.«

 

Montoya warf einen Tennisball über den Rasen seines langen, schmalen Gartens hinter dem Shotgun-Haus, in dem er mit seiner Frau und seinem Sohn Ben lebte. Abby redete schon länger davon, den etwas beengten Bau, dessen schmale, an eine Schrotflinte erinnernde Form typisch war für diese Gegend im Süden der Vereinigten Staaten, gegen ein geräumigeres Haus auszutauschen. Sie wünschte sich ein weiteres Kind. »Ich hätte so gern eine Tochter«, hatte sie ihm noch heute Morgen im Bett zugeflüstert. »Oder einen zweiten Sohn. Ein Geschwisterchen würde Benjamin guttun.«

Montoya war nicht überzeugt. Zumindest noch nicht.

Ihm gefiel es hier, zu dritt. Außerdem war die Welt, in der sie lebten, in letzter Zeit noch rauer geworden als sonst.

Überall kam es zu Unruhen und Kriegen. Die Folgen des Klimawandels ließen sich nicht länger leugnen. Die gesellschaftliche Schere klaffte immer weiter auseinander. Die Gefahr von weiteren Epidemien oder gar Pandemien stieg, was nicht zuletzt mit dem Problem der stetig wachsenden Überbevölkerung zusammenhing.

Wäre es klug, ein weiteres Kind in diese Welt zu setzen?

Hershey, ihr schokobrauner Labrador, der langsam in die Jahre kam, jagte dem Ball nach und verschwand im Gebüsch. Seine Schnauze wurde immer grauer, und in letzter Zeit verbrachte er viel Zeit damit, auf der Veranda in der Sonne zu liegen und zu dösen.

»Such!«, rief Montoya. »Du findest die Beute!« Von hier aus konnte er sehen, dass der gelbe Tennisball zwischen einer Kreppmyrte und Benjamins Rutschauto eingeklemmt war. »Na siehst du, klappt doch. Bring den Ball!« Die »Beute« im Maul, galoppierte Hershey zu seinem Herrchen zurück. »Braver Junge.« Montoya kraulte den Labrador hinter den Ohren, dann ging er ins Haus, in dem noch der Geruch des Abendessens hing: Schinken, Zwiebeln und Tomatensoße.

Vor dem Badezimmer wäre er beinahe mit Abby zusammengeprallt, die mit Ben, den sie in ein großes Badetuch gewickelt hatte, herauskam.

»He, mein Großer!«, sagte er und zauste seinem Sohn die nassen Haare. Ben grinste ihn an, und Montoya spürte, wie er dahinschmolz. »Und, bist du heute fleißig Auto gefahren? Wenn du so weitermachst, können wir dich bald zur Formel 1 anmelden!«

»Träum weiter.« Abby lachte, und wieder einmal stellte Montoya fest, wie sehr er ihr Lachen liebte. »Na schön, Daddy, wie wär’s, wenn du ihn in seinen Schlafanzug und ins Bett steckst? Dann kann ich unterdessen das Bad trockenlegen, das Hurrikan Ben überschwemmt hat.«

»Kein Problem.« Er zwinkerte seiner Frau zu, dann schob er seinen Sohn ins Kinderzimmer, einen Raum neben dem Schlafzimmer, der definitiv zu klein für ein zweites Bett war.

»Du süßer Windewurm«, neckte er seinen Sohn, als es ihm endlich gelang, Ben das Pyjamaoberteil anzuziehen und seine Ärmchen durch die Ärmel zu fädeln.

Ben kicherte.

Montoya bückte sich, nahm das feuchte Handtuch hoch und hängte es an den Haken an der Kinderzimmertür. Im selben Augenblick vibrierte das Handy in seiner Hosentasche.

Kurz überlegte er, einfach nicht dranzugehen, doch dann hob er die Bettdecke an, damit Ben darunterkrabbeln konnte, deckte den Jungen zu und zog das Telefon hervor.

Auf dem Display erschien eine unbekannte Nummer.

»Hallo?«, meldete er sich und reichte Ben ein Bilderbuch.

»Bro?«

»Cruz?«, fragte Montoya überrascht, als er die Stimme erkannte, die er seit mindestens einem Jahr nicht mehr gehört hatte.

»Ja«, flüsterte sein Bruder. Er atmete schwer, als würde er laufen.

»Cruz, wo zur Hölle steckst du?« Montoya konnte sich nicht erinnern, wann genau er das letzte Mal mit Cruz gesprochen hatte. Der Bruder war schon immer ein Einzelgänger gewesen, ein Hallodri, das schwarze Schaf der Familie.

»Ist doch egal«, keuchte Cruz gedämpft, als fürchte er, jemand anderes als Montoya könnte ihn hören. »Ich stecke in der Scheiße, Reuben, und zwar bis zum Hals.«

Montoyas Nackenmuskeln spannten sich an. »Was ist los?«

»Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Aber ich bin auf dem Weg zu dir.«

»Warum?« Das klang gar nicht gut.

»Weil ich deine Hilfe brauche. Zu keinem ein Wort, klar? Niemand aus der Familie muss davon erfahren, auch nicht Abby oder dein Partner. Hast du mich verstanden?«

Ach du heiliger Strohsack. »Das meinst du doch nicht ernst, oder, Cruz?«

»Nicht ernst? Klinge ich so, als würde ich lachen? Herrgott, Reuben, ich … hab Schiss, dass man mich einbuchtet! Wegen Mordes.«

»Was?« Montoya konnte es nicht fassen. Sicher, Cruz hatte sich mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht, aber Mord? Niemals. Dazu war sein Bruder nicht fähig. »Wegen Mordes?«, wiederholte er daher ungläubig. »Wovon redest du? Wer ist umgebracht worden?«

Seine Frage blieb unbeantwortet.

Die Leitung war bereits tot.

Kapitel vier

Bentz betrachtete den zunehmenden Mond, noch nicht ganz voll, der hoch über der Stadt stand. Nach einer Weile schloss er die Jalousien und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Schon nach Mitternacht. Er ließ den Kopf kreisen, schaute von den Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, auf den leuchtenden Computermonitor und wieder zurück, dann ging er zur Tür und den kurzen Flur entlang ins Schlafzimmer. Olivia hatte die Leselampe auf ihrem Nachttisch bereits gelöscht und sich auf die Seite gedreht. Er dachte, sie würde schon schlafen, doch da hörte er sie plötzlich leise sagen: »Lass es gut sein, Rick. Du musst heute Nacht kein Superheld sein. Komm ins Bett.«

Wenn das mal so einfach gewesen wäre. »Nur noch ein paar Minuten.«

Er zog die Tür hinter sich zu, bis nur noch ein Spalt offen stand. Olivia seufzte leise. Darauf bedacht, ja kein Geräusch zu machen, schlich er zum Kinderzimmer und spähte auch dort hinein.

Mondlicht fiel durch die Jalousien, was den gemütlichen kleinen Raum gestreift aussehen ließ. Unvermittelt fühlte sich Bentz an die Gitterstäbe in einer Gefängniszelle erinnert, doch er schob den Gedanken eilig beiseite.