Prediger der Wahrheit - Oliver Zimmer - E-Book

Prediger der Wahrheit E-Book

Oliver Zimmer

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Beschreibung

Die Reformatoren antworteten auf den Bauernkrieg und die Täuferbewegung, indem sie den Primat der Heiligen Schrift (sola scriptura) an ein herrschaftliches Prinzip zurückbanden. Als die Ernennung der Bibel zur alleinigen Richtschnur die gegebene Ordnung zu sprengen drohte, wurde ihre Auslegung erneut einem Milieu professioneller Prediger unterstellt. Diese post-reformatorische Kultur der religiösen Wissensvermittlung stellt jedoch etwas genuin Neues dar. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin ist sie dynamisch und nicht statisch, egalisierend und nicht hierarchisch. Anders als die platonische Idee der Philosophenkönige enthält sie ein Versprechen der Mobilität: Wer die katechetisch vermittelten Glaubenslehren befolgt, kann selbst in den Predigerstand aufsteigen. Diese Kultur prägt unseren Moraldiskurs bis heute.

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Oliver Zimmer

Prediger der Wahrheit

Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft

Ich verbiete euch nicht das Lesen. Nur das Denken, das verbiete ich euch. Doch verbiete ich euch dies nicht, sofern eure Gedanken gut und in Gottes Sinne sind. Was ich also nicht erlaube, ist alles Unzeitgemäße, was außerhalb des Maßvollen und der guten Ordnung liegt.

Thomas Cranmer, Englischer Reformator1

INHALT

 

Vorwort

Kapitel 1

Sola Scriptura

Kapitel 2

Der Verlauf der protestantischen Reformation

Kapitel 3

Widerstand im Namen der Freiheit

Kapitel 4

Zurück zu Moses: Inspektionen und Regulative

Kapitel 5

Die katechetische Offensive

Kapitel 6

Das Versprechen an die Laien

Kapitel 7

Von der Reformation zur modernen Epistokratie

Anmerkungen

Vorwort

Die protestantischen Reformatoren antworteten auf die Krisen der 1520er-Jahre – deutscher Bauernkrieg, Täuferbewegung, generelle Zunahme der Widerspenstigkeit biblisch inspirierter Untertanen –, indem sie den anfänglichen Primat der Heiligen Schrift (sola scriptura) an ein epistokratisches Prinzip zurückbanden. Als die Ernennung der Bibel zur moralischen Richtschnur die soziale Ordnung zu sprengen drohte, wurde ihre Auslegung erneut einem Milieu der Wissenden unterstellt. Somit wurde die Befreiungsideologie der frühen Reformation zunehmend eingeschränkt, wenn auch niemals vollständig verdrängt. Dabei spielten neben der Heiligen Schrift die ab dem 16. Jahrhundert von beiden christlichen Konfessionen in großer Zahl veröffentlichten Katechismen eine zentrale Rolle. Die epistokratische Wende verkörperte also – trotz ihrer protestantischen Wurzeln und konfessionellen Prägungen – eine gesamtchristliche Reformbewegung.

Die aus diesem innerchristlichen Glaubenskonflikt hervorgehende Kultur des Lernens und der Wissensvermittlung unterschied sich jedoch grundlegend von der traditionellen Epistokratie. Im Gegensatz zu dieser war sie dynamisch und nicht statisch, egalisierend und nicht hierarchisch bestimmt. Vor allem enthielt sie im Unterschied zur platonischen Herrschaftskonzeption der Philosophenkönige ein Versprechen der Mobilität: Wer die katechetisch vermittelten Glaubenslehren in sich aufnahm und ihre Verbreitung zu seiner Mission machte, konnte selbst in den Predigerstand aufsteigen. Nun war auch er imstande, sich an der Verkündigung letzter Wahrheiten zu beteiligen. Hier verband sich also, in spannungsvoller Weise, die epistokratische Forderung nach Akzeptanz eines moralischen Primats mit der meritokratischen Erwartung des Aufstiegs in ein neues Priestertum.

So gesehen lässt sich die Reformation als Wegbereiterin einer modernen Epistokratie begreifen, in der sich radikale und konservative, egalitäre und elitäre Elemente zu einer neuartigen Konstellation miteinander verbinden. Indem der vorliegende Beitrag diesen Vorgang in mehreren Schritten rekonstruiert, wirft er ein neues Licht auf die Wissensgesellschaft an der Schwelle zur Moderne wie auf unsere eigene Gegenwart. Wer begreifen möchte, warum die Idee, wonach den Wissenden und Weisen die Herrschaft im Staate zustehe, bis heute en vogue geblieben ist, kommt um das Reformationszeitalter nicht herum. Die meisten von uns mögen dem Gottesdienst selbst an religiösen Feiertagen fernbleiben; am langen Atem der Religion ändert das allerdings wenig. Gerade hier erweist sich William Faulkners Kommentar als nützlicher als die Behauptung einer angeblich säkularen Moderne, die das Selbstbild europäischer Gesellschaften seit gut zwei Jahrhunderten definiert. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.2

Kapitel 1 Sola Scriptura

Was bei den Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert als gestalterischer Kniff gerade noch vertretbar wäre – das Hervorheben einer Stadt, Region oder eines Landes als Auslöser oder Zentrum des Ereignisses –, ergibt bei der Reformation wenig Sinn. Auch wenn sie an vielen Orten homogenisierend und staatsbildend wirkte, so bezog sie ihre intellektuelle und gesellschaftliche Schubkraft doch von einer Vielzahl von Orten. Und zwar in einem Maße, dass manche Historiker den Begriff der Reformation nur mit Vorsicht verwenden. Trotz der berechtigten Forderung nach geografischer Differenzierung scheint mir diese Skepsis gegenüber einer Gesamtschau jedoch wenig hilfreich zu sein. Es erscheint mir deshalb keineswegs abwegig, die Thematik dieses Buches einleitend mithilfe eines regionalen Beispiels zu umreißen.

An Ostern 1524 ereignete sich im Osten der Alten Eidgenossenschaft etwas, was noch einige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Doch im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts begannen sich mit den religiösen auch die gesellschaftlichen Gewichte fast überall in Europa zu verschieben. Ort des Geschehens war mit St. Laurenzen die größte Kirche der unweit des Bodensees gelegenen Stadt St. Gallen. Ein Besucher des Gottesdienstes hatte sich unterstanden, dem Prediger offen zu widersprechen. Obschon die Quellen zum Motiv seines Widerspruchs schweigen, lässt sich dieses eruieren.3 Dies ist möglich, weil der Zwischenfall den Stadtrat zu einer Regulierung des Gottesdienstes veranlasste. Sein Beschluss lautete schlicht und einfach: „Zur Vermeidung weiterer Zwietracht sollen alle Priester in St. Laurenzen das heilige Evangelium predigen, klar und rein, so dass sie ihre Aussagen mit der Bibel begründen können.“

Eine Viererkommission, der neben dem St. Galler Reformator Joachim von Watt, genannt Vadian (1484–1551), auch der Stadtschreiber, ein Leutpriester und sein Helfer angehörten, sollte für die Umsetzung des Beschlusses sorgen. Damit hatte das protestantische Stadtregiment die Führung in geistig-kirchlichen Dingen übernommen. Die heilige Messe war in den Stadtkirchen ab sofort untersagt. Geistliche, die sich dem neuen Regime verweigerten, wurden entlassen. Und gleichzeitig stand es Laienpriestern ab sofort offen, in der Kirche zu predigen, immer unter der Bedingung, dass sie sich dabei auf nichts als die Heilige Schrift beriefen. Der Reformationsexperte Volker Leppin hat am Beispiel der lutherischen Reformation auf die Anziehungskraft dieses am Humanismus orientierten Modells auf tonangebende Kreise in den Städten aufmerksam gemacht: „Längst suchte man dort nicht mehr einfach den geweihten Kleriker, der zum Messvollzug beauftragt war, sondern den gebildeten Prediger, der in der Lage war, den Glauben angemessen zu erklären.“4

Wer gedacht hatte, die ergriffenen Maßnahmen würden St. Gallen zu Ruhe und Ordnung zurückführen, wurde indessen enttäuscht. Eher bewirkten sie das Gegenteil. Besonders im Frühling und Sommer 1525 erlebte die Stadt eine unruhige Zeit. Bauern aus dem Umland der klösterlichen Grundherrschaft zitierten Bibelstellen, um ihrer Forderung nach Abschaffung des Zehnten Nachdruck zu verleihen. Derweil machten sich die Bewegungen der Täufer daran, das reformatorische Stadtregime durch seine abweichenden religiösen Auffassungen zu hinterfragen. Anstatt die von den Reformatoren geforderte Kindstaufe zu akzeptieren, praktizierten Täufer die normalerweise erst im Erwachsenenalter vorgenommene Glaubenstaufe und solidarisierten sich mit bäuerlichen Protesten und lokalen Reformversuchen auf Gemeindeebene. Vadian und seine Verbündeten im Großen Rat reagierten auf die Herausforderung ihrer noch fragilen Herrschaft mit einer Mischung aus weiteren Regulativen und Zwang. So wurden sämtliche Laienpriester verpflichtet, ihre Loyalität gegenüber dem Stadtregiment mit einem Bürgereid öffentlich zu bekunden. Die beiden Frauenklöster St. Katharina und St. Leonhard mussten sich der Reformation anschließen. Nachdem das St. Galler Kloster 1528 die von den Protestanten geforderte Disputation nach Zwinglis Vorbild ausgeschlagen hatte, sicherte sich St. Gallen die Unterstützung Zürichs für den Fall zu, dass die katholischen Schirmorte des Klosters die Stadt bedrohen sollten.

Doch damit war der Konflikt noch keineswegs überwunden. 1529 veranlasste der inzwischen zum Stadtpräsidenten aufgestiegene Reformator Vadian die Ausweisung der Mönche und die Inbesitznahme des Klosters durch die Stadt. Trotz generalstabsmäßiger Organisation durch die städtischen Behörden artete die Entfernung heiliger Objekte wie Statuen, Relikte und Bilder in einen kaum noch kontrollierbaren Bildersturm aus. Nach der Niederlage der protestantischen Kantone im Zweiten Kappeler Krieg ging das St. Galler Kloster 1531 zurück in katholischen Besitz, wobei die Stadtbehörden für die 1529 erfolgte Zerstörung Schadenersatz leisten mussten. Trotzdem ließ sich die Reformation in St. Gallen nicht mehr rückgängig machen. Wie auch anderswo in Europa führten die Versuche der religiösen Homogenisierung durch Bekehrung und Zwang auch in St. Gallen zur Spaltung des Christentums in zwei Konfessionen. Wobei die Abspaltung und Vertreibung der Täufer als Vertreter der radikalen Reformation hier noch nicht mitgerechnet ist. 1560 wurde die nun großmehrheitlich protestantische Innenstadt durch eine Mauer vom Klosterbezirk getrennt, deren Überreste noch heute zu besichtigen sind.5

Im weltgeschichtlichen Umbruch, der sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts ereignete und unsere Gesellschaften bis heute prägt, spielte St. Gallen zweifellos eine weniger prominente Rolle als Wittenberg, Erfurt, Zürich oder Genf. In der Alten Eidgenossenschaft stellte die Stadt, rein chronologisch betrachtet, das zweite Zentrum der Reformation nach der Limmatstadt. Von seiner reformatorischen Ausstrahlung her lag es hinter Genf und Zürich an dritter Stelle. Trotzdem trugen sich damals in der grenznahen, je etwa 50 Kilometer von Konstanz und Bregenz gelegenen Stadt Dinge zu, die für die Reformation in Europa insgesamt typisch waren. Formaltheologisch lässt sich dieses Typische relativ einfach fassen: Von den sieben Sakramenten der katholischen Kirche übernahmen die Reformierten bekanntlich nur die Taufe und das Abendmahl; außerdem bildete die auf einen Bibeltext fokussierte Predigt nun den Kern des reformierten Gottesdienstes, wobei vor allem beim Abendmahl die Differenzen zwischen Luther und Zwingli ab 1524 deutlich hervortraten. Diese innerprotestantischen Unterschiede waren bekanntlich keineswegs auf Kontinentaleuropa begrenzt. Wer je an einem hohen Feiertag einen Gottesdienst der Church of England besucht hat, weiß, dass der Protestantismus trotz seiner Gemeinsamkeiten ein Haus mit zum Teil stark voneinander abweichenden Räumen geblieben ist.

Trotz dieser Differenzen – auch das zeigt das St. Galler Beispiel – gab es eine Gemeinsamkeit, die es uns erlaubt, von der Reformation als überregionalem Ereignis zu sprechen. Sie betrifft das, was man als die theologische Metaebene bezeichnen könnte: Ihr Dreh- und Angelpunkt war das Verhältnis der Menschen zur Heiligen Schrift. Diese Beziehung rückte mit der Reformation ins Zentrum von Theologie und religiöser Praxis. Im Vordergrund stand die Frage, wem die Deutung des Evangeliums obliegen sollte. Waren es die mittelalterliche Kirche und der von ihr ordinierte Klerus, die dafür zuständig waren? Oder waren es alle Christen, die sich die Heilige Schrift zur Richtschnur nahmen, ob sie nun theologisch geschult waren oder nicht. Welche Rolle durften Tradition, Gewohnheit und autorisierte Deutungen bei der Auslegung der Bibel spielen? War es tatsächlich nichts als das in der Bibel verkündete Wort Gottes – sola scriptura –, das von nun an gelten sollte?

Im historischen Rückblick lässt sich festhalten: Dass es hier eine theologische Frage vermochte, die gesellschaftliche und politische Landschaft in Europa derart tiefgreifend zu verändern, ist ganz außerordentlich.6 Dazu trug die Stigmatisierung der anderen Seite zweifellos bei, die von Anhängern wie Gegnern der Reformation betrieben wurde. Die Bilder, die diese Freund-Feind-Ideologie befeuerten, waren durch und durch organisch: Man nahm seine Umwelt zunehmend in Kategorien von rein und unrein wahr, von vergifteter und reiner Erde, von öffentlichen Räumen, die es vom Unglauben zu purifizieren galt; wobei Protestanten und Katholiken einander auch bezüglich Gewaltbereitschaft nur wenig schuldig blieben.7 Die religiöse Neuorientierung entsprang hüben wie drüben dem missionarischen Bedürfnis, das Christentum dem Boden des Aberglaubens, falscher Idole und scholastischen Regelzwangs zu entreißen, um es auf gereinigtem Fundament neu auferstehen zu lassen. Es handelte sich hier, in den Worten von Scott Hendrix, um nichts weniger als den Versuch der „Re-Christianisierung“ einer christlichen Kultur, die den Reformgeistern als verdorben erschien.8