Pride und Prejudice und Pittsburgh - Rachael Lippincott - E-Book

Pride und Prejudice und Pittsburgh E-Book

Rachael Lippincott

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Beschreibung

Was wäre, wenn du eine einmalige Liebe gefunden hättest ... nur nicht in diesem Leben? Audrey Cameron hat ihre Begeisterung verloren. Nachdem sie von ihrer ersten Liebe verlassen wurde und dann noch auf der Warteliste ihrer Traumkunstschule gesetzt wurde, hat sie allerdings nicht die Absicht, ihr Herz noch einmal aufs Spiel zu setzen, um sie zurückzubekommen. Eine sonderbare Begegnung mit dem noch sonderbareren Mr. Montgomery, der plötzlich im Laden ihrer Familie in Pittsburgh auftaucht, stellt alles auf den Kopf. Audrey weiß nicht, was genau sie erwartet hat ... aber ganz sicher nicht, dass sie ins Jahr 1812 zurückversetzt wird, um eine Regency-Romanheldin zu werden. Lucy Sinclair hat nicht damit gerechnet, auf dem Anwesen ihrer Familie ein seltsam gekleidetes Mädchen vorzufinden, das behauptet, aus der Zukunft zu stammen und zweihundert Jahre alt zu sein. Aber sie muss zugeben, dass es eine willkommene Ablenkung davon ist, von einem potenziellen Ehemann umworben zu werden, von dem ihr Vater erwartet, dass sie ihn heiratet. Damit sie eine Zukunft hat, an der sie nicht weniger interessiert sein könnte. Seit dem Tod ihrer Mutter, der Lucy's Begeisterung für alles überschattet hat, hat sich niemand mehr dafür interessiert, was oder wen sie wirklich möchte. Während die beiden Mädchen versuchen zu verstehen, was passiert ist und wie sie Audrey wieder nach Hause schicken können, springt der Funke auf höchst unerwartete Weise wieder über. Denn während sie beide immer wieder versuchen, sich in ihre Verehrer zu verlieben und das Glück zu finden, das alle von ihnen erwarten, stellen sie fest, dass sie sich gar nicht bemühen müssen, um sich ineinander zu verlieben. Aber kann eine höchst unerwartete Liebesgeschichte sogar noch unmöglichere Umstände überstehen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Zwei Herzen – zwei Zeiten – eine wahre Liebe.

Bei Audrey Cameron läuft gerade alles schief. Nicht nur, dass ihre erste Liebe sie verlassen hat, auch ihre Traum-Uni lehnt sie ab. Als eines Tages der sonderbare Mr. Montgomery in dem kleinen Laden ihrer Eltern in Pittsburgh auftaucht und ihr seine Hilfe anbietet, wird ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Plötzlich wacht sie auf einer Wiese auf, in England, im Jahre 1812!

Lucy Sinclair ist nicht weniger verwundert, das seltsam gekleidete Mädchen auf dem Anwesen ihres Vaters vorzufinden. Erst recht kann sie es kaum glauben, dass Audrey zweihundert Jahre aus der Zukunft stammen soll. Die beiden ahnen nicht, dass das Schicksal sie zueinander geführt hat. Denn Lucys Herz schlägt nicht für den Mann, den ihr Vater für sie ausgewählt hat, sondern für Audrey.

 

 

 

Für Alyson und Poppy

Kapitel 1

Audrey

15. April 2023

»Wenn du nicht auf der Stelle runterkommst, bist du gefeuert!«, dröhnt es laut durchs Treppenhaus. Ich verdrehe die Augen, schlüpfe in meine abgetragenen Converse und verknote die Schnürsenkel gleich doppelt.

»Na, das will ich sehen!«, rufe ich zurück und reiße die Tür auf. Am Fuß der Treppe steht mein glatzköpfiger Dad und grinst, zu seinen Füßen schwanzwedelnd unser Hund Cooper. »Viel Erfolg dabei, find erst mal jemanden, der für umsonst arbeitet.«

Während ich mit Schwung die Stufen nehme, tippt er mit hochgezogenen Augenbrauen auf seine Armbanduhr. »Eine Minute nach sechs. Du bist spät dran.«

Ich zerre mein Handy aus der hinteren Hosentasche und halte es ihm entgegen. »Punkt sechs! Deine Uhr geht falsch.«

»Na gut, dann darfst du noch einen Tag länger bleiben.« Sein angegrauter Schnurrbart zuckt, als er sich an mir vorbeischiebt, um nach der Nachtschicht endlich eine Runde zu schlafen. »Vergiss die Getränkelieferung um zwölf nicht«, ruft er noch über die Schulter.

»Geht klar.« Im Vorbeigehen tätschele ich Coopers Kopf, dann betrete ich durch die Seitentür Cameron’s Corner Shop, wo meine üblichen Samstagmorgenpflichten auf mich warten.

Beim Kaffeemachen schaue ich verträumt aus dem Fenster, betrachte die neuen Gebäude, modernen Wohnungen und hippen Restaurants auf der Penn Avenue, die seit meiner Kindheit dort entstanden sind, als mein Vater noch den Kaffee kochte und ich auf seinen Schultern saß. Die Straße hat sich, wie weite Teile von Pittsburgh, in den letzten achtzehn Jahren verändert.

Nicht verändert hat sich dagegen Cameron’s Corner Shop mit dem abgewetzten Boden, durchhängenden Regalbrettern und dem rostenden Ladenschild. Unser kleines Stückchen Pittsburgh ist geblieben wie immer, auch wenn die Kundschaft gewechselt hat. Stammkunden holen sich Kaffee und Rubbellose. Freitagabends kaufen Studierende haufenweise Snacks und Softdrinks zum Mischen. Touristen fragen nach dem Weg und bitten um Empfehlungen. Und für die Schickimicki-Leute aus den überteuerten Wohnungen sind wir die letzte Rettung; wenn sie vergessen haben, Biovollmilch und Urkornbrot zu kaufen, geben sie sich nämlich auch mit fettarmer und mit Papptoast zufrieden.

Viel ist es nicht, dafür aber der ganze Stolz meines Vaters. Hier hat er sich seinen Kindheitstraum verwirklicht, in der Straße, in der er aufgewachsen ist, einen Laden zu eröffnen, nachdem in das Geschäft, in dem er früher immer einkaufte, eine Drogeriemarktkette eingezogen ist. Etwas Einfaches und Hausgemachtes und Konstantes, etwas für die Nachbarschaft, die Menschen, die immer schon hier waren und immer hier sein werden. Und dieser Traum wurde irgendwie zum Traum meiner ganzen Familie, weil er mit seiner Liebe zu dieser Ecke und der Kundschaft und den ungewöhnlichen Arbeitszeiten auch meine Mutter und mich angesteckt hat.

Außerdem lässt man sich leicht locken, wenn man gratis Chips und Limo dafür bekommt, an der Kasse zu stehen oder die Regale zu füllen. Zu einer Tüte Cheetos und einer Cherry Coke kann man einfach nicht Nein sagen. Jedenfalls nicht als Kind, bevor Ausschlafen und eigene Träume Einzug halten. Aber darüber will ich gerade nicht nachdenken.

Als der Kaffee fertig ist, verfalle ich in den öden, aber gleichmäßigen Morgenrhythmus und sitze hinter dem Tresen auf dem knarzenden Barhocker, den Dad über eine Kleinanzeige organisiert hat, mit Cooper zu meinen Füßen. Zwischendurch schmökere ich immer mal wieder in einem Liebesroman mit buntem Cover, während ich diesen und jenen begrüße, der zur Tür hereinspaziert, bekannte und unbekannte Gesichter. Gary, der Busfahrer, kommt vorbei, um seine übliche Portion Zucker-Donuts zu kaufen. Anscheinend staut sich der Verkehr wegen eines Unfalls auf der 376 bis zum Flughafen! Die coole junge Künstlerin, die ein paar Häuser weiter über Vince’s Pizza eingezogen ist, holt sich ein gelbes Päckchen American-Spirit-Zigaretten und zahlt in zerknitterten Dollarscheinen und Vierteldollarmünzen. Wieder mal will ich sie fragen, woran sie derzeit arbeitet, und wieder mal schaffe ich es nicht. Ein Typ, den ich vorher noch nie gesehen habe, stürmt herein, schnappt sich eine Packung Klopapier, knallt einen Zwanziger auf den Tresen und haut ab, bevor ich das überhaupt eintippen kann.

Und pünktlich um acht Uhr klingeln dann endlich die Türglöckchen, und mein grummeliger Lieblingskunde schlurft herein, die knochigen Finger um den Griff eines Gehstocks gekrümmt.

»Hallo, Mr. Montgomery!«, rufe ich, und er grunzt mir seinen üblichen Morgengruß entgegen, ehe er sich seine Zeitung holt.

»Na, schon was gezeichnet?«, fragt er über seine Schulter, und mir wird flau.

»Ähm …« Mein Blick fällt auf das abgenutzte, inzwischen staubbedeckte Skizzenbuch, das ich seit Jahren im Regal unter der Kasse aufbewahre. »Nein, noch nicht.«

»Will die Rhode Island School of Design nicht alle Unterlagen bis zum ersten Mai vorliegen haben?« Er wirft einen Blick auf seine analoge Armbanduhr. »Es ist schon der –«

Ich falle ihm ins Wort. »Das weiß ich, glauben Sie mir.« Seitdem ich vor einigen Monaten bei meiner Wunsch-Uni auf die Warteliste gekommen bin und man mir mitgeteilt hat, ich solle eine Mappe mit fünf »neuen und unterschiedlichen« Werken vorlegen, weil meine Kunst »vielversprechend« sei, aber »zu passiv, zu wenig selbstbewusst und ohne starke persönliche Perspektive«, ist mir das Datum täglich schmerzhaft bewusst.

Und, tja, wenn die schon vor dieser glanzvollen Rückmeldung fanden, ich hätte zu wenig Selbstbewusstsein, dann kann man sich vielleicht denken, wie es jetzt damit aussieht.

Ich greife nach dem Skizzenbuch und blättere durch die älteren Seiten. Gesichter und Hände und Körper flimmern vor meinen Augen, alle gehören zu Kundinnen und Kunden, die über unsere Schwelle getreten waren. Irgendwie kommt es mir schon gar nicht mehr wie meine Kunst vor, ich habe das alles vor so langer Zeit gemacht, dass ich nicht einmal mehr sicher bin, ob ich noch weiß, wie es sich angefühlt hat, den Bleistift aufs Papier zu setzen und zuzuschauen, wie eine gerunzelte Stirn oder zerzaustes Haar oder knorrige Finger darauf erscheinen.

Unter meinem Blick weichen die gefüllten Seiten halb fertigen Skizzen und leeren Flächen und dann …

Nichts. Eine leere Seite nach der anderen. Das elende, überwältigende, hilflose Gefühl durchströmt mich, während ich dabei zusehe, wie meine Inspiration, meine Leidenschaft, meine Aufregung vertrocknet und vollständig verschwindet.

Ich blättere zu einer der letzten markierten Seiten und halte inne, als ich eine winzige hingekritzelte Zeichnung aus dem letzten Sommer finde, deren Stil sich von der aller anderen unterscheidet, ein als Cartoon gezeichneter Cooper mit einer Denkblase, in der »Ich liebe dich!« geschrieben steht.

Charlie.

Ich schneide eine Grimasse und klappe das Buch zu.

Wie soll ich denn bitte zeichnen, wenn ich mir mein Skizzenbuch noch nicht einmal anschauen kann, ohne an ihn zu denken?

Als wir uns vor drei Jahren bei einem Sommerprogramm der Rhode Island School of Design kennenlernten, zu dem unsere Highschool die besten Kunstschaffenden aus den neunten und zehnten Klassen geschickt hatte, kam es mir vor, als wäre es das Beste, was mir je hätte passieren können. Ich wollte erst gar nicht aus Pittsburgh weg, aber als sich unsere Wege kreuzten und ich entdeckte, wie viele Möglichkeiten es anderswo gab, jenseits dieses durchgesessenen Barhockers, war ich froh, dass ich es gewagt hatte. Erst war er derjenige, der mich kritisieren durfte, dann derjenige, der mir spätabends und leicht überdreht beim Zeichnen Gesellschaft leistete, und von jener ersten lauen Sommernacht an, als wir nach einem ganzen Tag im Studio unter dem dunkler werdenden Himmel im Gras lagen, fühlte ich mich gesehen. Er war ein Jahr älter als ich, aber er … na, er kapierte halt, wie ich tickte. Verstand, wie viel mir die Kunst bedeutete. Wie sehr sie Teil von mir war.

Zumindest glaubte ich, er würde mich verstehen.

Danach unternahmen wir alles gemeinsam. Eigentlich sollten wir auch zusammen an die RISD gehen, dorthin, wo alles angefangen hatte.

Aber dann hat er im letzten Frühling eine Absage bekommen und die Sache mit der Kunst ganz aufgegeben und mich gedrängt, das Gleiche zu tun. Ich sollte das Ganze nicht mehr so ernst nehmen und mich auf etwas Praktischeres konzentrieren, als ob er es von vorneherein nie gewollt hätte. Ben, Hannah und Claire saßen zustimmend nickend am Esstisch, als hätten sie mich nicht noch in der Woche davor angebettelt, ich sollte sie zeichnen. Vielleicht, weil sie zuerst mit ihm befreundet gewesen waren. Oder weil sie geahnt haben, dass wir uns nach dem Abschluss auseinanderleben und ich übrig bleiben würde. Und genau das passierte dann auch, aber ich dachte immer noch, Charlie und ich würden es schaffen. Dass er mich wieder sehen würde, auch wenn er diesen Teil von sich nicht mehr sehen wollte.

Die Trennung erwischte mich also völlig unerwartet, als er kurz vor Halloween endlich von der Penn State nach Hause kam. Auch wenn ich sie rückblickend hätte kommen sehen müssen.

Er behauptete, die Entfernung wäre zu groß. Tief in mir drinnen wusste ich, dass er damit nicht die Meilen meinte.

Als ich meinen Mut zusammennahm und mich bewarb, nachdem er mich abserviert hatte, fühlte sich das deshalb an, wie … Na, wie eine Chance, ihm zu zeigen, dass er falschlag. Klar war ich am Boden zerstört, aber wenn ich aufgenommen werden würde, könnte ich dem Mädchen, das nachts lang aufblieb und unter der Bettdecke zeichnete, das sich bei jeder Gelegenheit ins Kunstmuseum schlich und das weiterzeichnete, als er ihr sagte, das hätte alles keinen Sinn, beweisen, dass das Ganze es eben doch wert gewesen war.

Weshalb es umso mehr schmerzte, als sich herausstellte, dass er recht gehabt hatte.

Nur anderthalb Monate, nachdem er mich sitzen gelassen hatte, wurde ich auf die Warteliste gesetzt und versank logischerweise in einer finsteren Traurigkeit, die sich anfühlte, als würde ich tatsächlich sterben und nie wieder Freude oder Glück empfinden.

Oder so was. Weiß auch nicht.

Er war meine erste Liebe und hatte mir als Erster das Herz gebrochen, da werde ich ja wohl ein bisschen dramatisch sein dürfen.

Das Schlimmste ist: Der Liebeskummer ist zwar größtenteils wieder weg, aber ich bin seitdem nicht mehr imstande, zu zeichnen. In den letzten paar Monaten habe ich stundenlang auf leere Blätter geglotzt, der Bleistift wie in der Luft eingefroren, und habe es nicht geschafft, mich dazu zu zwingen, mehr als nur ein Strichmännchen zu zeichnen.

Nicht einmal meine alten Tricks funktionieren noch. Auf meine Aufforderung hin zeigte mein Vater auf alle möglichen Objekte in unserer Wohnung, so als Anregung, auf die Pflanzen, die sich auf dem Fenstersims zusammendrängen, auf unsere knautschige Couch, ja sogar auf die verzierte französische Spieluhr im Wohnzimmerregal, die ich schon immer sehr geliebt habe, und ich komme nie weiter als bis zur ersten schwungvollen Linie. Die zeichne ich immer wieder, weil sie irgendwie nicht richtig aussieht. Es fühlt sich einfach nicht richtig an.

Ich fühle mich nicht richtig an. Der Funke, der mich beim Zeichnen immer begleitete, ist einfach … weg. Futsch. Von dem weißen Blatt vor mir fühle ich mich ebenso weit entfernt wie von Charlie an der Penn State. Vielleicht noch weiter. Deshalb scheint es völlig unmöglich, ein neues Bild für die RISD anzufertigen. Dabei wollen die fünf.

Ich seufze tief, als ich Mr. Montgomery seinen üblichen schwarzen Kaffee mit drei Päckchen Zucker über den ausgeblichenen gelben Tresen zuschiebe. »Ich werd wohl in Pittsburgh bleiben und Ihnen den Rest Ihres Lebens auf die Nerven gehen.«

»Sicher, dass du das willst?«

»Vermutlich.« Ich zucke die Achseln. Inzwischen habe ich mich damit so einigermaßen abgefunden.

Ich liebe unser Lädchen und meine Eltern auch, und ich weiß, dass ich jederzeit Kurse am Community College belegen und etwas anderes anfangen kann. Schlimm wäre das nicht. Aber als ich es sage, wird mir klar, dass es keinen Sinn hat, das Schweregefühl zu verleugnen, das sich bei dem Gedanken, für immer hinter diesem Tresen zu sitzen, in mir ausbreitet. Bei dem Gedanken daran, meinen Traum von der Kunst aufzugeben, den ich doch schon lange vor Charlie und dem Sommerprogramm geträumt habe. Dieses Gefühl, dass hier für mich nie in dem Sinne genügen wird, wie es für Dad der Fall ist – auch wenn ich es gruselig finde, den Laden und die Stadt zu verlassen.

Er schnaubt. »Zu meiner Zeit hätte man das als ›die Flinte ins Korn werfen‹ bezeichnet.«

»Was, im 19. Jahrhundert?«

Er brummt etwas Unverständliches und wirft mir einen finsteren Blick zu, aber mir entgeht nicht, dass er ein Schmunzeln unterdrückt.

»Na, egal.« Er trinkt einen Schluck Kaffee, ehe er in seinen Taschen herumwühlt und eine neue Packung schwarzer Faber-Castell-Stifte hervorzaubert. Meine Lieblingsstifte. »Nur für den Fall, dass es dich überkommt.«

Er pfeffert sie auf das Skizzenbuch und nimmt sich seine Zeitung, während ich mir Mühe gebe, mir meine Rührung nicht anmerken zu lassen.

»Danke, Mr. Montgomery«, bringe ich krächzend hervor, während er zur Tür geht. Erst winkt er zur Antwort nur mit seinem Gehstock, dann aber dreht er sich noch einmal um, die Hand schon am Türgriff.

»Die Audrey Cameron, die ich kenne, würde sich ihre verwegenen Kunstträume nicht von irgendeinem Jungen verpfuschen lassen. Von diesem Kram redest du doch schon, seit du deine Zahnspange los bist.« Wir lächeln einander verstohlen zu, weil er damit natürlich nicht falschliegt. »Gib nicht auf, Kleine. Wenn du den Funken nicht wiederfindest, werde ich mir noch was überlegen müssen!«

Ehe ich fragen kann, was das wohl sein könnte, ist er draußen und schlendert zurück zu seinem Stadthaus in Lawrenceville, wo er seit ungefähr tausend Jahren wohnt und mir und dem gesamten Stadtteil beim Großwerden zusieht. Seit ich mich erinnern kann, hat sich mein Dad für die Zeitung und den Kaffee kein Geld von ihm geben lassen, und zwar genau wegen Momenten wie diesem. Er mag der Griesgram der Nachbarschaft sein, aber er ist eben auch derjenige, der nach dem Tod meines Onkels eine Woche lang jeden Abend Essen vorbeibrachte. Derjenige, der Tanzaufführungen und Schulabschlussfeiern in der Nachbarschaft besucht. Derjenige, der Mom und Dad über eine Durststrecke hinweghalf, als ich in der Grundschule war, so erzählen es die beiden jedenfalls. Und jetzt ist er derjenige, der mir eine Packung meiner Lieblingsstifte schenkt, obwohl ich die Hoffnung schon fast vollständig aufgegeben habe.

»Na gut, Cooper«, sage ich mit einem tiefen Seufzer. »Vielleicht wirken die ja.«

Aus seinen braunen Augen blickt Cooper bewundernd zu mir auf, und ich kraule ihm den flauschigen schwarzen Kopf, bis er fröhlich mit dem Schwanz wedelt.

Dann schlage ich eine leere Seite auf und warte auf den Funken.

Kapitel 2

Lucy

7. Juni 1812

So grässlich es klingen mag, muss ich doch zugeben, dass ich es bevorzuge, wenn Vater geschäftlich in London weilt und nicht hier in Radcliffe.

An die Einsamkeit habe ich mich gewöhnt; die Stille in unserem Haus ist nahezu komfortabel. Befreiend. Beim Frühstück lese ich Romane, die er nicht gutheißen würde. Am Pianoforte verfasse ich nachmittags eigene Lieder, anstatt zu spielen, was von den kultivierten Damen in London derzeit an Etüden oder Nocturnes erwartet wird. Während die Sonne gen Horizont wandert, unternehme ich lange Spaziergänge durch die Außenanlagen, ohne bei meiner Rückkehr mit Blicken der Abscheu auf meine verschmutzten Kleidersäume rechnen zu müssen.

Hält er sich jedoch, wie derzeit, hier auf, bleibt die Einsamkeit, doch die Stille ist eine andere. Sie ist erstickend – nein, ohrenbetäubend und übertönt sogar das Geräusch unseres Bestecks auf den Tellern beim Abendessen, währenddessen wir kaum ein Wort wechseln.

Früher war es anders. Vor Jahren wirkte das Haus … lebendig. Ehe Mutter starb. Während des Nachmittagstees erklang ansteckendes Gelächter, Möbelstücke wurden geräuschvoll beiseitegeschoben, wenn sie mir neue Tänze beibrachte, und kein Saum war wertvoller als ein Abenteuer an einem sonnigen Tag.

Niemals gesellte sich Vater zu uns. Seine Arroganz und seine offenkundige Missbilligung sind seit dem Tag meiner Geburt eine Konstante in meinem Leben. Doch er tolerierte das Ganze, nicht aus Liebe zu ihr, wie ich inzwischen begriffen habe, sondern wegen der enormen Höhe ihrer Mitgift und des Status ihrer Familie. Dies versah uns beide mit einem gewissen Wert in den Augen ihres Gatten, der für Liebe weder Verwendung noch Achtung besitzt.

Nun kann er es nicht erwarten, auch mich endlich loszuwerden. Das Einzige, was mich hier hält, ist die Aussicht meiner Heirat und deren Nutzen für ihn.

Unsere Hausdame, Martha, bemüht sich, die Lücke zu füllen, die Mutter hinterließ, indes …

Als Vater sich räuspert, schrecke ich hoch und sehe, wie mir gegenüber am langen Esstisch seine eisblauen Augen schmaler werden.

»In einem Monat veranstaltet Mr. Hawkins seinen alljährlichen Ball«, unterbricht er die gellende Stille und tupft sich dabei die Mundwinkel ab. »Trotz deiner größten Bemühungen und seines berechtigten Zögerns hat Mr. Caldwell dich eingeladen, ihn zu begleiten, und ich hoffe aufrichtig, dass du diese Gelegenheit nutzen wirst, um seinen Antrag zu sichern.«

Bei dem Gedanken daran rutscht mir das Herz in die Magengrube. Verheiratet zu sein. Mit mir. Caldwell.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich in der Kirche auf ihn zuschreite, und mein Magen verkrampft sich. Mr. Caldwell ist ein Narr. Ganz zu schweigen davon, dass er doppelt so alt ist wie ich.

Er ist jedoch außergewöhnlich reich. Genau genommen ist er der reichste Mann in der Grafschaft, Vater dagegen nur der neiderfüllte zweite. Eine Verbindung unser beider Familien wäre die Krönung, nicht allein für Vaters gesellschaftliche Stellung, sondern auch für seine unternehmerischen Anstrengungen. Alles, was mir zu tun bleibt, alles, was ich tun sollte, ist, das Gelingen des Vorhabens zu sichern. Und eine Veranstaltung von der Größe des Balles bei den Hawkins, der Abschluss der Saison, wäre gewiss der beste Ort dafür.

Dennoch habe ich in der Hoffnung, er würde das Interesse verlieren, in den vergangenen zwei Monaten mein Äußerstes gegeben, seinen Avancen unauffällig zu widerstehen. Ich gab mich als langweilige Gesprächspartnerin, brach, über schmerzende Füße klagend, einen Tanz ab, und als Vater ihn zum Tee einlud, verspielte ich mich sogar bei einem Klavierstück, das ich eigentlich auswendig kann. (Dies brachte mir eine Woche Üben des immer gleichen Liedes unter Vaters wachsamem Blick ein.) Doch angesichts dieser Einladung war dies alles wohl vergebens.

Heirat. In diesem Moment, mit Vaters Worten im Ohr, erscheint es mir völlig unausweichlich. Diesmal hat er seine Absicht nicht nur verschleiert zum Ausdruck gebracht, sondern ausgesprochen deutlich gemacht. Und mir bleibt keine Wahl; ich muss mich fügen.

Wozu sollte ich auch sonst gut sein? Wozu sind Frauen im Allgemeinen schon gut?

Mein ganzes Leben lang, insbesondere während der letzten Jahre, hat man mich zu diesem einzigen, alleinigen Zweck getrimmt und vorbereitet.

Um eine gute Partie zu machen. Nicht, um aus Liebe oder der Romantik wegen zu heiraten, wovon Mutter immer sprach, stets darauf hoffend, mein Schicksal würde sich von dem ihren erheblich unterscheiden, sondern um zumindest in geringem Maße den Schaden wiedergutzumachen, den ich damit angerichtet habe, als Frau zur Welt gekommen zu sein.

Also nicke ich, wie ich es tun werde, wenn Mr. Caldwell mich um meine Hand bittet, und blicke hinunter auf meinen Teller, konzentriere mich auf das aufwendige blaue Blumenmuster am Rand. »Ja, Vater. Das werde ich.«

»Und da ich mich auf deinen Liebreiz alleine nicht verlassen kann, wirst du dir morgen in der Stadt ein neues Kleid anfertigen lassen. Martha wird dich begleiten. Miss Burton erwartet dich um Punkt zwei Uhr«, fügt er hinzu. Oder befiehlt er vielmehr, doch diese Anweisung macht mir nichts aus. Miss Burton hat ihr Geschäft vor drei Jahren eröffnet und sich in sehr kurzer Zeit zu einer sehr gefragten Damenschneiderin entwickelt. Ihre Preise sind vernünftig, ihre Angestellten ungewöhnlich freundlich und ihre Arbeit exquisit. Ganz zu schweigen davon, dass ein Besuch bei ihr immer bedeutet, für ein paar Stunden der Einsamkeit Radcliffes und Vaters Zorn zu entfliehen. »Sie wird etwas entwerfen, das Caldwells Blicke auf sich zieht und hält, da es dir augenscheinlich so schwerfällt, dies alleine zu vollbringen.«

Ich sehe zu, wie er aufsteht und einen Blick auf seine Taschenuhr wirft, ehe er zur Tür eilt und somit unser Abendessen beendet, ohne mich auch nur zu fragen, ob ich bereits fertig bin. »Ich habe nicht die Zeit, weiter darüber zu sprechen. In einer Woche fahre ich nach London, aber ich werde rechtzeitig zum Ball zurückkehren.«

Und damit ist er fort, verschwunden, verschluckt von seinem Studierzimmer. Auf einmal ist mir, als hätte ich das ganze Essen über den Atem angehalten, und ich atme tief durch. Martha drückt mir kurz die Schulter, während sie mit einer Geste Abigail, eins der Küchenmädchen, auffordert, sein Gedeck abzuräumen.

»Ich wünschte, er würde gar nicht wieder zurückkommen«, flüstere ich eben laut genug, dass sie es hören kann.

Sie schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. »Nun, meine Liebe, ich könnte nicht behaupten, dass Sie mit diesem Wunsch alleine sind.« Abigail, die soeben mit klapperndem Tablett das Zimmer verlässt, nickt zustimmend.

Wenn ich nicht wäre, hätte Martha Radcliffe schon lange den Rücken gekehrt und sich eine neue Stelle gesucht. Als ihr Ehemann Samuel, unser ehemaliger Verwalter, starb, war ich überzeugt, sie würde uns verlassen.

Doch den Leuten gegenüber, die ihr wichtig sind, ist Martha unerschütterlich treu. Meiner Mutter und mir. Also bleibt sie, was mir nur noch mehr Schuldgefühle verursacht, da es bedeutet, dass meine Existenz jemanden so Nettes wie sie dazu zwingt, ebenfalls hier festzusitzen.

Das mag das einzig Gute daran sein, Mr. Caldwell zu heiraten.

Dann ist Martha endlich frei.

 

Nachdem ich bis zum Einbruch der Dunkelheit im Salon Fordryces grässliche Predigten gelesen habe, wie es von mir erwartet wird, ziehe mich früh zurück und gehe zu Bett. Doch unwillkommene Gedanken an Mr. Caldwell halten mich wach, und so werfe ich mich schlaflos herum. Seine schweißglänzende Stirn, das widerliche, beklemmende Gefühl, das mich überkam, als wir auf dem Ball einer gemeinsamen Bekanntschaft in Langford vor zwei Monaten zum ersten Mal miteinander tanzten. Ich dachte, ich wäre lediglich höflich, doch die Absichten meines Vaters wurden mir bewusst, als ich das berechnende Glitzern in seinen Augen sah, während er uns beim Tanzen beobachtete und den Blick einzig abwandte, um sich mit Mr. Caldwells Schwester zu unterhalten. Meine Befürchtungen wurden bestätigt, als er Mr. Caldwell in der darauffolgenden Woche zum Tee einlud.

Meine Finger krallen sich ins Bettlaken. Ich balle sie zur Faust. Wieder spüre ich es, dieselbe Enge in der Brust, dasselbe Unwohlsein.

Werde ich den Rest meines Lebens so fühlen? Fühlen sich alle jungen Damen so, deren Ehen ohne ihre Mitsprache geschlossen werden, gezwungen, Männer zu heiraten, deren Anblick sie kaum ertragen können?

Auch meine Mutter?

Zwar habe ich noch bei keinem der Männer, denen ich je begegnet bin, auch nur einen Anflug von Verliebtheit oder Anziehung verspürt, doch nun schmerzt mich die Tatsache, dass ich dies niemals je erleben werde, zutiefst. Niemals zu erleben, wie es ist, sich in jemanden zu verlieben. Jemanden zu begehren.

Schließlich gebe ich es auf, mich mit diesen Gedanken umherzuwälzen, und schlüpfe aus dem Bett. Ich entzünde die Kerze auf meinem Nachtschrank und betrachte die Flamme, die bei jedem meiner Atemzüge tanzt und sich windende Schatten auf die Wände wirft. Ich hülle mich in mein Schultertuch, nehme die Kerze an mich und schleiche auf Zehenspitzen in den vom Mond beschienenen Korridor. Die Stille im Haus, die lediglich von den knarrenden Dielenbrettern unter meinen Füßen durchbrochen wird, beruhigt mich, während ich durch einen Flur nach dem anderen wandere.

Schließlich lande ich in dem am weitesten entfernten Flügel, in dem an einer Wand Porträts hängen, so weit das Auge reicht, noch weit über den Schein der Kerze hinaus. Mein Vater und sein Vater und dessen Vater. Alle mit der gleichen Habichtsnase. Den gleichen stolzen, breiten Schultern. Den gleichen kalten blauen Augen, die mir den Eindruck vermitteln, als würden sie mich selbst jetzt beobachten.

Ich schaudere und ziehe mein Schultertuch fester, schlüpfe durch die Tür am Ende des Ganges und hinein in die Bibliothek, um mir das einzige Porträt anzuschauen, das mir in diesem Hause wichtig ist.

Das meiner Mutter.

Ich hebe die Kerze hoch, und in ihrem Licht erwacht ihr Gesicht zu neuem Leben: hohe Wangenknochen und goldenes Haar. Um ihren zarten Hals trägt sie eine Goldkette mit einer einzigen tropfenförmigen Perle, und das tiefe Braun ihrer Augen ist so ganz anders als Vaters Blick. So viel wärmer.

Während ich ihre Gesichtszüge studiere, betasten meine Finger meine Kehle, auf der Suche nach dem Geist einer Halskette, die ich nie finden konnte. Die Leute sagten immer, wir sähen uns so ähnlich, und sie lächelte darüber, streichelte mir den Kopf und nickte zustimmend.

Dennoch sehe ich ihn immer noch. In meinen Augen. In meinen Mundwinkeln. In der Art, wie ich mich bewege.

Selbst wenn ich hier ausziehe, werde ich ihn nie ganz ablegen können.

Die Flamme der Kerze in meiner Hand flackert und erlischt in der Zugluft, die durch die offene Tür hereinströmt. Übrig bleiben einzig der glühende Docht und ein Fädchen Rauch, das sich im Mondlicht ringelt.

Heute erscheint es mir nahezu wahnsinnig, dass ich ihr Glauben schenkte, als sie mir sagte, ich sei dazu bestimmt, aus Liebe zu heiraten. Töricht, zu glauben, die Liebe könnte schwerer wiegen als Pflicht und Erwartungen, wo dies doch für sie ganz gewiss nicht der Fall gewesen war. Wenn ich die Liebe denn je fände …

Nun bleibt mir nur dieser eine Gedanke: Ach, wie froh bin ich, dass sie nicht mehr sieht, wie sehr sie irrte.

Kapitel 3

Audrey

16. April 2023

Frühlingswochenenden in Pittsburgh liebe ich, schon immer.

Wenn ich mit dem Fahrrad durch die Stadt düse, wenn die Blumen gerade zu blühen beginnen, sehe ich, wie die Straßen nach einem langen Winter wieder lebendig werden, wie bei fast allen Restaurants die Klappfenster aufgestellt werden und die Gäste sich auf den Gehwegen ausbreiten. Und irgendwo steht spürbar der Sommer in den Startlöchern.

Mit einem Knopf in einem Ohr flitze ich um die Kurven und lasse mich auf meinem Weg von der Playlist leiten, die ich heute Morgen während meines Kassendiensts zusammengestellt habe, um Zeit totzuschlagen.

Diese Tour ist wichtig.

Ich suche, wie ich es früher schon immer gemacht habe, vor dem miesen Film, der in meinem Leben in den letzten Monaten ablief, suche nach dem Etwas, das mir zu genug Inspiration verhilft, die leeren Seiten in meinem Skizzenbuch zu füllen. Gerade für die Bewerbung und auch gerade jetzt, wo mir Mr. Montgomery diese teuren Stifte geschenkt hat.

Mich selbst will ich zwar auch nicht wieder enttäuschen, aber vor allem der Gedanke daran, ihn zu enttäuschen, könnte der ausschlaggebende Impuls sein, es doch noch einmal zu versuchen und nicht, wie er es sagen würde, die Flinte ins Korn zu werfen.

Während ich die Farben und Linien und Formen jeder Straßenlaterne, jeder gut besuchten Bar, jedes Pärchens, das Arm in Arm durch die Straßen schlendert, auf mich wirken lasse, nehme ich ein leichtes Jucken in meinen Fingerspitzen wahr. Und als mein Blick auf ein blondes Mädchen in einem bunten Blümchenkleid fällt, perfekt vom Sonnenlicht in Szene gesetzt, zuckt doch tatsächlich mein Zeigefinger am Lenker. Ich sehe es förmlich, wie die leere Seite sich vor mir auftut. Die langen Striche jeder goldenen Strähne, der Schattenwurf unter ihrem Kinn, die ovale Form ihrer –

Scheiße.

Ich steige in die Eisen, versuche noch, mit dem Rad einen Haken zu schlagen, als vor mir eine blaue Autotür aufgerissen wird, rase aber geradewegs hinein, das Gesicht schön mitten aufs Fenster, während es das Fahrrad unter mir wegreißt. Ich knalle auf den Asphalt und stöhne laut auf. Als ich mich auf den Rücken rolle, blicke ich in den weiten Abendhimmel, zuckerwattepink und blau.

Schöner Sonnenuntergang eigentlich.

Gar kein schlechtes Ende.

»Ach du liebes bisschen, das tut mir jetzt aber leid!« Auf einmal erscheint ein Kopf in meinem Gesichtsfeld. Ich stelle meinen Blick scharf und erkenne ein besorgt dreinschauendes asiatisches Mädchen. Cooler Nasenring. Blondiertes Haar. Der Arm ist über und über tätowiert. In meinem Bauch flattert es auf einmal, auf eine ganz altbekannte und gleichzeitig völlig unbekannte Weise. Anstatt über das Warum nachzugrübeln, setze ich mich auf und drücke mir eine Hand gegen den Bauch, um das Gefühl abzustellen. »Ist alles in Ordnung? Soll ich einen Krankenwagen rufen oder –«

Ich schüttele den Kopf. Ich fühle mich lädiert und benommen, aber nicht krankenhausreif.

Anscheinend werd ich noch den einen oder anderen Sonnenuntergang mehr erleben.

»Nein, schon gut. Ich bin soweit okay, aber …« Indem ich mit meiner rechten Hand über meine linke Seite greife, zeige ich ihr, wie sie die Tür hätte öffnen sollen. »Kennst du den holländischen Griff? Den solltest du dir besser mal angewöhnen. Sonst verlierst du noch eine Autotür. Oder einen Arm. Besonders auf dieser Straße … Manche rasen einfach vorbei …«

Meine Stimme wird immer leiser, als auf der Beifahrerseite ein junger Mann aussteigt, zu dem Reiß-die-Tür-auf-ohne-hinzuschauen-Mädchen rennt und sie bei der Hand nimmt.

Charlie.

»Alles klar bei dir, Jules?«, fragt er sie, als ob sie gerade einen deutlich sichtbaren Abdruck ihres Gesichts auf dem Fenster der Fahrertür hinterlassen hätte.

Taumelnd komme ich auf die Beine, und seine braunen Augen werden groß, als er mich erkennt. Seit Oktober hat er sich einen echt unvorteilhaften Schnäuzer stehen lassen. Überrascht klappt er den Mund auf. Als wäre ich diejenige, die nicht hier sein sollte.

Was macht er hier zu Hause überhaupt?

Vermutlich war die Entfernung nie wirklich das Problem.

»Audrey«, sagt er, während wir uns viel zu lange und natürlich ü-ber-haupt nicht unbeholfen anstarren. »Du, ähm, du blutest …«

Er zeigt auf meine Stirn, gleich über meinem rechten Auge.

Ich fasse hin und zucke zusammen, als ich die Wunde berühre. Hinterher ist meine Hand so blutig, dass mir beinahe schlecht wird.

Aber nicht so schlecht wie bei dem Anblick vor mir.

Mein Blick fällt auf ihre Hände, und ich rechne nach.

Charlie ist mit der Autotürentussi zusammen. So im Sinne von hat’s-hinter-sich-gelassen-, Heimatbesuch-, Sonntag-Abend-Essensverabredung-, ballere-zum-Spaß-mit-Autotüren-mäßig zusammen.

»Äh, wie geht’s denn so?« Schnell wische ich mir die blutige Hand an der Hose ab, um sie dann ach-so-lässig in die Hüfte zu stemmen.

»Ähm«, antwortet Charlie und schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Gut.«

Die darauffolgende längere Pause wird nur dadurch unterbrochen, dass mir ein Blutstropfen ins Auge kullert. Ich wische ihn mit dem Handrücken weg und nehme das als Hinweis, dass es Zeit ist, mich zu verkrümeln und irgendwo einen Erste-Hilfe-Kasten aufzutreiben. Und vielleicht eine tiefe Erdspalte, in der ich versinken kann.

»Ich sollte dann mal …« Ich bücke mich und hebe mein Fahrrad an, das aussieht wie frisch von der Schrottpresse ausgespuckt. »… sollte besser mal nach Hause …«

»Lass mich dich wenigstens fahren«, bietet meine Zweitbesetzung an.

Jules.

Scheiße. Sogar ihr Name ist cool.

»Nein, nein. Ich pack das schon«, behaupte ich, doch als ich mich auf den Lenker stütze, entweicht leise zischend sämtliche Luft aus dem Vorderreifen. Das Ganze zieht sich bestimmt zehn Sekunden lang, während wir alle krampfhaft jeden Blickkontakt vermeiden.

»Audrey«, sagt Charlie. »Komm, lass uns dich doch nach Hause bringen.«

Uns.

Igitt.

Ich öffne den Mund, um noch mal zu protestieren, aber … mein verbeultes Rad und mein schmerzender Körper überstimmen meinen Stolz. Vor allem will ich in diesem Zustand nicht die zweieinhalb Kilometer bis nach Hause laufen.

Schwer seufzend nicke ich, und Jules hilft mir, das Rad im Kofferraum zu verstauen, während Charlie aus dem Restaurant nebenan eine Handvoll Papierservietten holt.

Ich rutsche auf die Rückbank, und Charlies neue Freundin fragt, wohin sie fahren soll.

»Einfach die Penn Avenue runter«, antworten wir beide gleichzeitig. Charlie wirft mir einen Blick zu, und ich presse mir die Servietten gegen die Stirn, um die Blutung zu stoppen und den Blickkontakt zu unterbrechen. Dann schaue ich aus dem Fenster, während wir schweigend nach Hause fahren.

»Kennt ihr euch aus der Highschool?«, fragt Jules schließlich fröhlich und bestätigt mit dieser Frage, dass Charlie nicht das Bedürfnis verspürt hatte, ihr etwas von mir zu erzählen.

»So in der Art«, antwortet Charlie, dessen braunes Haar vom Fahrtwind zerzaust wird.

»Wir waren zusammen«, sage ich, weil ich ein winziges bisschen sauer bin und möglicherweise eine klitzekleine Gehirnerschütterung habe und ganz ehrlich: Vor knapp einer Viertelstunde ist meine Würde mit mir zusammen über den Fahrradlenker geflogen, was also könnte ich noch verlieren, wenn ich jetzt ehrlich bin?

»Ach, echt?« Sie schüttelt lächelnd den Kopf. »Zufälle gibt’s.«

»Aber echt«, murmle ich und beuge mich vor, um auf die Ladenfront zu zeigen, der wir uns endlich nähern. Sie parkt auf einem freien Parkplatz direkt davor.

Wir steigen alle aus, und ich nehme mein Rad in Empfang. Dann stehen wir zu dritt verlegen auf dem Gehweg herum. Warum hauen sie nicht ab? Ich bin kurz davor, einfach so auf die Straße zu latschen und mich von einem Auto überfahren zu lassen, um dem Elend ein Ende zu machen.

»Also, von jetzt an übe ich auf jeden Fall den holländischen Griff«, versichert mir Jules lächelnd, während Charlie ihr den Arm um die Schultern legt und der Sache damit eine ganz neue Bedeutung verleiht. »Und falls du doch noch ins Krankenhaus musst oder so, dann sag Bescheid, die Rechnung geht definitiv auf mich.«

»Äh, ja, klar. Dann schreibe ich einfach kurz Charlie.« Ich lache beim Reden, in der Hoffnung, der schlechte Witz würde die Spannung ein bisschen rausnehmen, weil er besser als jeder andere weiß, dass ich viel zu stur bin, um ins Krankenhaus zu fahren.

Stattdessen glotzt Charlie verlegen zu Boden. »Ich habe deine Nummer gar nicht mehr«, sagt er, und ich widerstehe nur knapp dem größten Augenrollen seit Menschengedenken.

Typisch Charlie, echt. Alles oder nichts. Kunst, Kunstschule, ich.

Jetzt, wo ich ihn hier sehe, samt dem lächerlichen Schnäuzer und allem, habe ich das Gefühl, als würde ich ihn endlich richtig sehen, ohne den schimmernden, wechselhaften Filter der Erinnerung.

Und ich habe das Gefühl, als ob … na ja …

… als wäre ich über ihn hinweg.

»Tja, die mit der Krankenhausrechnung wäre dann ja wohl ich«, sage ich und kann mir einen gewissen Unterton nicht verkneifen. »Es sei denn, ihr habt vor, das Massaker heute Abend in Pittsburgh flächendeckend fortzusetzen. In dem Fall sind die letzten Ziffern meiner Versicherungsnummer 2357.«

Jules kichert nervenaufreibend entzückend; Charlie öffnet seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber nachdem er ihn mehrfach auf- und zugemacht hat wie ein Goldfisch, bleibt’s bei einem Hauch heißer Luft.

»Ich werd dann mal …« Mit einer vagen Geste winke ich Richtung Cameron’s Corner Shop, drehe mich auf dem Absatz um und will mich bloß noch drinnen verstecken. »Tschüss.«

Ungeschickt rumple ich zum Klang der Glöckchen mit meinem Fahrrad durch die Ladentür. Durch die Glasscheibe beobachte ich, wie Charlie und Jules knutschen und förmlich miteinander verschmelzen, ehe sie wieder ins Auto steigen und davonrauschen. Mein zerbeultes Rad und ich sind schon so gut wie vergessen.

Ich bin so damit beschäftigt, ihnen zuzuschauen, dass ich fast einen Herzkasper kriege, als Mom übertrieben dramatisch aufschreit und durch den Laden auf mich zupoltert.

»Oh, meine Kleine! Was ist passiert?« Besorgt umfasst sie mein Gesicht mit beiden Händen.

»Charlies neue Freundin hat mich mit dem Auto erwischt.«

»Absichtlich?«

»Nein«, gebe ich zu, und auf ihren Lippen erscheint die Andeutung eines Lächelns. »Und es war auch nur die Tür.«

»Himmel. Die Leute hier sollten wirklich dringend den holländischen Griff lernen. Schau sich einer deinen Kopf an!«, gurrt sie und untersucht die Platzwunde. »Glaubst du, du hast eine Gehirnerschütterung? Besser, wir bringen dich ins Krankenhaus, um …«

»Mom! Stopp. Mir geht’s gut.« Ich winde mich aus ihrem schraubstockartigen Griff und verschränke trotzig die Arme.

»Schön. Aber lass mich wenigstens die Wunde versorgen, okay?«, beharrt sie, tätschelt mir die Wange und ruft dann durchs Treppenhaus: »Louis! Schaff deinen Hintern hier runter, und setz dich an die Kasse. Ich muss eine Not-OP vornehmen!«

Ich verdrehe die Augen, muss aber trotzdem lächeln. Als ich klein war, war Mom Pflegefachkraft im Kinderkrankenhaus gleich die Straße runter. Als ich in der Grundschule war, kündigte sie, um meinem überarbeiteten Dad zu helfen und damit wir nach Jahren schlecht aufeinander abgestimmter Schichtpläne mehr Zeit als Familie miteinander verbringen konnten. Die Streitereien, die man früher durch die Wände unserer kleinen Wohnung hören konnte, hörten auf, und irgendwie ist dieses Lädchen auch zu ihrem Traum geworden. Jetzt flickt sie nur noch uns beide zusammen und gelegentlich auch ein Kind aus der Nachbarschaft, das mit einem aufgeschürften Knie oder Ellbogen hereinschaut, weil es weiß, Mrs. Cameron kann helfen.

Für Mom hat sich das Leben hier, das Lädchen, als »genug« erwiesen, und manchmal frage ich mich, ob ich nicht einen Weg finden könnte, damit es auch für mich wirklich, ehrlich »genug« würde. Obwohl tief in mir drin eine kleine Stimme sagt, dass es das nie sein wird.

»Also«, sagt sie, als sie, in der Wohnung angekommen, mit einem Alkoholtupfer meine Wunde bearbeitet. »War sie süß?«

»Mom!«, stöhne ich. Ich sitze auf dem Waschtisch und lasse meine Waden gegen den Badezimmerschrank baumeln, um mich von dem brennenden Schmerz abzulenken. Ganz bestimmt will ich mir nicht den Kopf über die unerwarteten Schmetterlinge im Bauch zerbrechen, die sich bemerkbar machten, eben weil sie süß war – auch wenn ich genau weiß, dass Mom das nicht meint. Also halte ich es knapp. »Ja, war sie. Nasenring. Tattoos. Echt cool.«

Als sie den Tupfer wegnimmt, wechsle ich das Thema und schaue sie von der Seite an. »Aber Charlie hat sich einen Schnäuzer wachsen lassen.«

Sie schnappt erschrocken nach Luft. »O nein! Der Junge hat doch gar nicht das Gesicht für einen Schnurrbart.«

Ich lache, während sie in unserem chaotischen Erste-Hilfe-Kasten herumwühlt und mir einen mütterlichen Blick schenkt. »Und, alles gut? Wie geht’s dir denn damit, ihn wiederzusehen? Mit einer anderen?«

Ich zucke die Achseln, aber jetzt, da die Verlegenheit weg ist, verfestigt sich die Erkenntnis, die ich schon draußen vor dem Laden hatte. Von dem schlimmen Schmerz über das Ende unserer gemeinsamen drei Jahre ist maximal noch ein dumpfes, distanziertes Ziehen übrig. »Weißt du, was … Klingt komisch, aber ich glaub, es ist wirklich alles gut.«

Ich habe wohl eher geglaubt, ich wäre am Boden zerstört. Ich hab gedacht, das müsste so sein. Aber nachdem ich anstatt der Fantasievorstellung, die ich mir in den letzten Monaten von ihm gemacht habe, ihn jetzt so gesehen habe, wie er ist, kommt’s mir vor, als wäre da jetzt so etwas wie ein Schlussstrich erreicht.

»Wenn da mal nicht der Schnäuzer geholfen hat.« Sie gluckst leise in sich hinein und wedelt mit einem Sesamstraße-Pflaster, so spröde, dass es schätzungsweise in dem Kasten gelegen hat, seitdem ich in den Windeln steckte.

»Denkst du drüber nach, selbst wieder loszuziehen? Jemand Neues zu treffen? Der Schulball ist doch schon bald.«

Ich ächze. »Ganz sicher nicht!«

»Könnte doch witzig sein!«, sagt sie, während sie die sich bereits in Auflösung befindliche Verpackung entfernt und mir das Pflaster auf die Stirn klebt.

»Du hast leicht reden«, necke ich sie ausweichend. »Du hast ja auch dein Highschool-Sweetheart geheiratet.«

Aber Schlussstrich hin oder her, nach der Begegnung mit Charlie und mit dem Gedanken an die nach wie vor hartnäckig leeren Seiten meines Skizzenbuchs habe ich irgendwie das Gefühl, in naher Zukunft ganz bestimmt keinen Sprung ins Ungewisse wagen zu wollen.

Nicht, wenn doch jetzt klar ist, dass auf der anderen Seite eh nur Wartelisten und Ablehnung und gebrochene Herzen warten. Vielleicht war der Zusammenstoß mit einer Autotür der Weckruf, der mir das endlich bewusst gemacht hat.

»Ach, Liebes, ein Sweetheart war dein Vater nie«, sagt sie und drückt einmal mehr mein Gesicht in ihren Händen. »Aber du bist eins. Und Charlie lässt sich ein echtes Juwel entgehen.«

Sie küsst mich auf die Stirn, wirft die blutigen Papierservietten weg und wäscht sich die Hände.

»Außerdem hat deine Oma immer gesagt, die beste Art und Weise, um über jemanden hinwegzukommen, ist, unter jem–«

»Mom!«

»War bloß ein Witz«, sagt sie und bespritzt mich mit Wasser.

Ich wische mir die Tropfen vom Arm, und wir beide schütten uns aus vor Lachen.

»Mach, was für dich passt, okay? Ausgehen, zeichnen, aus Pittsburgh wegziehen oder hierbleiben. Dir steht die ganze Welt offen, Liebes, und wenn es an der Zeit ist, wirst du schon noch jemanden zum Küssen finden und etwas, mit dem es sich lohnt, dein Skizzenbuch vollzumalen. Das weiß ich einfach.«

Ich schneide eine Grimasse. »Der Abgabetermin ist schon in zwei Wochen. Und eigentlich wollte ich mich bei meiner kleinen Spritztour durch die Stadt inspirieren lassen, und jetzt ist die so …«, ich zeige auf das Pflaster auf meiner Stirn, »… ausgegangen. Kommt mir vor wie ein Zeichen. Als sollte ich mir die RISD einfach abschminken.«

»Du findest deinen Weg schon, ja? Selbst wenn du die Frist verpasst. Und wenn schon – dann bewirbst du dich vielleicht nach einem Semester am Community College noch einmal. Vielleicht findest du auch einen neuen Traum. Vielleicht … ach, was weiß ich denn! Vielleicht machst du auch eine Rucksacktour durch Europa. Also, wenn ich es schaffe, mich in den schäbigen kleinen Laden da unten zu verlieben, dann weiß man doch wirklich nicht, was noch so alles möglich ist.«

Während sie ihre Hände abtrocknet, hüpfe ich vom Waschtisch und umarme sie. Das war jetzt dringend nötig! Mir kommt es vor, als hätte ich nicht den Mut, die Sicherheit dieses Hauses und des Lädchens hinter mir zu lassen, und schon gar nicht jetzt. Doch weil sie daran glaubt, ich könnte es eines Tages tun, und weil auch Mr. Montgomery das glaubt, fühle ich mich etwas besser. Auch wenn ich selbst momentan nicht daran glauben kann.

»Aber in der Zwischenzeit«, sagt sie und tätschelt mir den Arm, »finde ich, wir sollten uns ein Eis aus der Gefriertruhe stibitzen und Dad erzählen, was passiert ist.«

»Ich nehm zwei«, sage ich auf dem Weg nach unten. »Immerhin muss ich eine Kopfwunde auskurieren.«



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