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"Da weiß ja die eine Hand Gottes nicht, was die andere tut!" Der Berliner Anwalt-Richard Anton Punzel verzweifelt an der Kirche, die er aus guten Gründen eigentlich zum Teufel wünscht. Aber sie zahlt gut, damit er den wieder auferstandenen Geistlichen Memo in Italien findet. Doch Punzels "Eilige Investigation" droht zu scheitern, denn nicht nur der Bischof, sogar der Vatikan schein mit ihm Böses im Sinn zu haben. Einige An- und Niederschläge machen die Verfolgungsjagd Punzels und seiner Freunde zu einem riskanten Kreuzzug - gegen Rom.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2022
Tom Gear
Priesterweg
Tom Gear
Priesterweg
Ein Auftrag des HERRN
© 2022 Tom Gear
Umschlaggestaltung/Fotos: Siegfried Reinecke
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg,
Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-65427-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-65429-7
ISBN E-Book: 978-3-347-65431-0
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1
„… doch da war der Tote verschwunden. Eine ältere Dame sagte gegenüber der Polizei, Gott sei ihr Zeuge, dass sie nur wenige Minuten vorher die Leiche eines Geistlichen gesehen habe. Mit einem Loch in der Stirn. Die Polizisten vor Ort suchten die Gegend vergeblich nach einem Toten ab.“
Ja, ist denn heute schon Ostern?, fragte sich RichardAnton Punzel unwillkürlich, als der Radiosprecher zur nächsten Nachricht überging. Wiederauferstehung? Bei allen Heiligen, wer glaubt denn an sowas! Ungern fühlte er sich erinnert an seine letzte, ganz persönliche Konfrontation mit dem Klerus vor ein paar Wochen. Da hatte er Besuch von höchster Stelle bekommen, konnte mit juristischem Rat in einem Fall schnell helfen, in einem anderen, den ihm der Bischof und seine Gefolgsleute vortrugen, jedoch nicht. Punzel hatte nicht einmal ganz verstanden, worum es ging, die Sache schien erst in der Entwicklung begriffen. So wimmelte er die versammelten Talare erst einmal ab. Nach seiner Begegnung mit der Welt des Adels und jener der Geldaristokratie wollte er nichts mehr mit sich außergewöhnlich dünkenden Gentlemen zu tun haben.
Statt also einem Bischof und seinen Schafen zu dienen, widmete sich Punzel dem Kleinvieh. Das macht bekanntlich auch allerhand Mist – im Sinne von Geld. Trotz seiner großen Erfolge in zwei Mordsachen wollte er sich niemals vorwerfen lassen müssen, er sei abgehoben.
Zwar konnte er es sich inzwischen leisten, nicht mehr jeden Mist – jetzt im Sinne von Bullshitjob – anzunehmen, wie noch in jenen trüben Tagen, als er kurz vor der Verabschiedung aus der Sozietät mit Kühne und Dr. Schult stand. Aber dem einen oder anderen reizvollen oder zumindest lukrativen Mandat stand er immer aufgeschlossen gegenüber.
Als sowohl reizvoll wie auch lukrativ hatte sich die Sache Kremer gegen Kremer dargestellt. Eigentlich hatte-Punzel ja jegliche Ambitionen hinsichtlich der Überprüfung ehelicher Treue und ähnlicher delikater Delikte für allezeit entsagt, doch kam die Mandantin so einnehmend daher, dass er sich den Aussichten auf ansehnliche Einnahmen seinerseits einfach nicht verschließen konnte.
Die betrogene Ehefrau hieß in diesem Fall Beatrix Kremer geb. Rodenbach. Hintergangen fühlte sie sich aber keineswegs wegen der Fremdschnackselaffären ihres Ehemannes, sondern wegen des von ihr dringlich vermuteten Verheimlichens großer Kapitalreserven, die er aus der Konkursmasse ihrer Ehe hatte heraushalten wollen.
Tatsächlich waren von dem ohnehin vermögenden Ehegatten mehr als eine Million in ETFs und Anleihen versteckt worden. Mit tatkräftiger Unterstützung des Finanzgenies in ihrem Anwaltsterzett, also Dr. Schult, waren sie dem Kapitalstock auf die Spur gekommen. Laut Ehevertrag bekam Frau Kremer, bzw. inzwischen wieder Rodenbach, die Hälfte davon, und auch Punzels Kompagnon hielt sich am ebenfalls hälftigen Anwaltshonorar schadlos. Wobei es sich bei diesem im Vergleich zu den Sphären, in denen er normalerweise finanziell schwebte, um Peanuts handelte. Die Summen, die aufgerufen wurden, nahmen sich für Punzels Verhältnisse hingegen ganz anders aus.
Natürlich waren dem immer noch untersetzt wirkenden, inzwischen aber durch leichtes, aber regelmäßiges Training schon etwas drahtigeren Schöneberger Anwalt seine großen Fälle lieber gewesen. Schon deshalb, weil er sie gemeinsam mit seinem gemischten Team aus Entrepreneurs, Zahnärzten, ReNo-Angestellten und Geliebten gelöst hatte. Abgesehen davon – man sollte von so etwas eigentlich niemals absehen –, dass es dabei um Mord- und Totschlag ging, war das gemeinsame Ermitteln ein Heidenspaß gewesen, erinnerte sich Punzel. Jedenfalls im Nachhinein. Warum aber, reflektierte er sprachkritisch weiter, es immer eine Freude der Ungläubigen sein muss und niemals eine von Gottesfürchtigen, erschloss sich dem Anwalt nicht. Möglich, dass es damit zusammenhing, dass Spaß und religiöser Eifer ganz einfach nicht zusammenkommen.
Das tat ja auch gar nichts zur Sache, solange auf diese Weise ein Frauenmörder und ein Trio geld- und machtgeiler Betrüger- und Mörder: innen ding- sowie gerichtsfest gemacht den anschließend endlich ermittelnden und am Ende auch urteilenden Instanzen übergeben werden konnten. In seinen beiden Fällen hatte sich Punzel voll und ganz auf die besonderen Qualitäten seiner Kompagnons in der Kanzlei am Südwestkorso verlassen können. Der eine, der besagte Dr. Schult, war ein äußerst ertragreicher Spezialist für alles, was am Gelde hängt oder wenigstens danach drängt, der andere hieß Gustav Kühne und war in seinem Fachgebiet zwar anerkannt, aber nicht annähernd so wohlhabend geworden. Warum es ihn zu seinem Unglück ins Arbeitsrecht verschlagen hatte, konnte er selbst nicht mehr nachvollziehen.
Es war eben dieser Gustav, den Punzel bei einem offenbar munteren Gespräch mit ihrer gemeinsamen Sekretärin Romy antraf. Die beiden verstanden sich richtig gut, so wie er selbst sich eines außergewöhnlich intensiven Chef-Angestellten-Verhältnisses zu Romy geradezu rühmen durfte. Die blonde Endzwanzigerin war Punzel ans Herz gewachsen, gar eine Freundin geworden, und darüber hinaus ein unersetzliches Mitglied seines Ermittlerteams, wenn es mal wieder ernst wurde. Wie ernst es in den nächsten Wochen tatsächlich werden würde, davon ahnten alle drei in diesen Momenten noch nichts. Die Vorhersehung aber war schon im Anmarsch.
Der Freund und Kompagnon mit dem wie eh und je immer noch kleinsten Zimmer in der Kanzlei, also Punzel, löste das traute tête-a-tête von Gustav und Romy mit seinem Hinzutreten umgehend auf.
„Gustav, hier wird von Zeit zu Zeit gearbeitet!“, raunzte er den über diesen ungewohnt harschen Ton verdutzten Kollegen an. „Du weißt selbst am besten, wie schnell man vor die Tür gesetzt werden kann.“
„Mach mal halb-, besser noch viertellang, du Erfolgsanwalt“, fasste sich Gustav, nachdem er die aufkommende Verärgerung heruntergeschluckt hatte. „Arbeit ist nicht das Leben, und ob einer vor der Tür bleibt, da habe ich immer noch ein Wörtchen mitzureden. Und zwar in jeder Hinsicht.“
„Ab aufs Arbeitsgericht!“, insistierte Punzel.
„Da komme ich gerade her.“
„So früh? Ist euch die Arbeit ausgegangen?“
„Keineswegs, im Gegenteil. Massenentlassungen sind an der Tagesordnung, wie du wiederum wissen solltest. Nein, ich nehme mir einfach dich als Vorbild.“
„Immerhin, daran kann ich nichts Falsches finden.“
„Ich trödle herum, genieße auch mal das Leben und warte auf den nächsten großen Fall, bei dem alle wieder an Bord sind.“
„Ob ich dich noch mal mit auf die Brücke lasse, das weiß ich nicht. Du hast mich zu sehr genervt mit deinem penetranten Würfelglück beim Malefiz-Spiel. Aber a propos hohe See: Deshalb bin ich überhaupt gekommen. Ich plane etwas Neues, etwas, was dieses Unternehmen noch nie gesehen hat: einen Betriebsausflug!“
„Eine, zugegeben, besonders schlechte Idee von dir“, seufzte Gustav in Erinnerung an Besäufnisse und rituelle Fremdgehereien bei solchen Anlässen in seiner kurzen Zeit als Sozius einer mittelständischen Firma. Einer dieser beiden Verlockungen hatte er immerhin tapfer widerstanden.
„Wieso nicht eine Schifffahrt? Die kann lustig sein, gesetzt den Fall, wir nehmen noch einige weniger lahme Gäste dazu, und überhaupt: Sowas stärkt den Zusammenhalt in der Firma.“
„Noch mehr Zusammenhalt geht ja gar nicht, seit unser lieber Kollege hier immer öfter mal den Boss markiert“, wandte sich Gustav an Romy, „jedenfalls solange Dr. Schult nicht da ist und jedem den Marsch bläst.“
„Musik!“, rief Romy dazwischen und notierte sich gleich diesen Einfall. „Ohne fetten Livesound keine Party auf Deck.“
„Unter Deck, liebe Romy, obenrum würde es ja jeden Ton wegwehen“, gab Gustav zu bedenken. „Im Mai über den Wannsee zu juckeln, kann gefährlich sein. Da hat es manchmal noch Minustemperaturen. Ich muss aber noch lange Unterhosen vom Skiurlaub anno '99 haben.“
„Ich sehe da nicht so schwarz, eher weiß“, warf Punzel ein. „Letztes Jahr haben wir sogar Mitte Dezember doch noch auf den Terrassen der Eisbars um die Wette geschwitzt. Winter gibt's nicht mehr, der Klimawende sei Dank.“
„In Gottes Namen“, willigte Gustav seufzend ein.
„Der bleibt aus dem Spiel.“ Punzel reagierte leicht über.
„Das kann er gar nicht, auch das solltest du wissen, du atheistischer Rechtsgelehrter: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in des HERRN Hand.“
„Zum Teufel damit, ich vertraue dem Strafgesetzbuch und dem Käpt'n“, wies Punzel jeden Aberglauben zurück.
„Ich schließe mich meinem Anwalt an“, sagte die gute Seele der Kanzlei und ergänzte: „Um die Einzelheiten kümmere ich mich. Ist das okay?“
Romys Chefs nickten, dankbar, von der Last solchen Organisationskrams befreit zu sein.
„Noch etwas anderes, Romy: Hat sich Gina hier in meiner Abwesenheit gemeldet?“, wollte Punzel wissen. „Eigentlich müsste ihre Italien-Tour sich dem Ende zuneigen, und dann wollten wir uns ja in der bewussten Lagunenstadt treffen.“
„Nein, hier hat sie nicht angerufen“, beschied Romy ihn. „Aber es kann sich wirklich nur um wenige Tage …“
Sie brach den Satz ab, weil ihr Chef einen Anruf auf seinem Handy entgegennahm.
„Wenn man vom Deubel spricht“, flüsterte Punzel Romy zu.
„Das habe ich gehört“, tönte es unwirsch aus seinem mobilen Computer. „Nenn mich Traumfrau, nenn mich Furie, aber lass den Quatsch mit diesen christlichen Mythen. Bin, zugegeben, auch keine Heilige, wenn auch verdammt, verdammt nah dran.“
„Hör auf zu fluchen“, mahnte der Anwalt seinerseits seine intensivste Freundin, „das macht hässlich. Lass uns lieber Pläne machen. Ich freue mich, von dir zu hören. Bleibt es bei unserer Verabredung? Und wo bist du jetzt?“
„Und ob es bei unserem Date in der schönsten Stadt der Welt bleibt. Ich bin bis morgen noch in Mantova, der Modellstadt der Renaissance, wie man so leichthin sagt. Also: Übermorgen um sechs, Turm der San Giorgio Maggiore, ganz oben. Pünktlich!“
„Naturelmente, Signora Gina, ische werdä … Pronto!?“
Punzel glotzte Romy an, verdutzt über das unerwartete Ende des Ferngesprächs.
„Finito, basta. Eingehängt, abgehängt!“
„Sie überrascht Sie immer wieder, Signor Scheffe“, meinte Romy. „Gewöhnen Sie sich besser endlich dran. Vor allem, wenn Sie ein paar Tage mit ihr zusammen Venedig unsicher machen.“
„Sie haben ausnahmsweise wie immer recht. Aber jetzt muss ich schnell Flug und Hotel buchen. Hoffentlich krieg' ich so kurzfristig noch was. Soll ja auch ein bisschen zum Wohlfühlen sein. Die Herberge meine ich.“
„Lassen Sie das mal meine Sorge sein, ich buche, und Sie machen Ihre Arbeit.“
„Das ist sehr nett von Ihnen, Romy.“
„Ich leite hier das Sekretariat, da macht man sowas, gewöhnen Sie sich auch daran.“
Ihr freundlich zunickend, trollte sich Punzel in sein Büro. Noch bevor er die Tür hinter sich zugezogen hatte, verlangte sein Handy doppelte Aufmerksamkeit: Zum einen traf eine Nachricht ein, derzufolge eine E-Mail eines auswärtigen Amtsgerichts zugestellt worden sei. Zum anderen rief ihn fast gleichzeitig Dr. Klimt, sein Zahnarzt, an. Das „sein“ war insofern das unpassende Pronomen, als der gute Mann mit Punzels elfenbeingleichem Gebiss rein gar nichts, mit seinen seit seinem letzten Fall erwachten politischen Ambitionen dafür um so mehr zu tun hatte. Dr. Klimt war Aktivist in der Transparenz-Initiative Communcity, die sich als Ziel die Begrenzung des überbordenden Lobbyismus auf die Fahnen, auf Wimpel und alle sonstigen Winkelemente geschrieben hatte.
In seiner Funktion als Vizevorsitzender lud er Punzel zum nächsten, sehr kurzfristig anberaumten Initiativentreffen ein. Der äußerte sein großes Bedauern, nicht dabei sein zu können, weil ihn dringende Geschäftsbesorgungen ins nahe Ausland zögen.
„Schade, aber du kannst dem guten Zweck ja auch anders als in langweiligen Besprechungen dienlich sein, wenn es stimmt, wovon man in deinem Umfeld spricht.“
„Wovon spricht denn mein Umfeld, und warum kann es nicht ausnahmsweise mal die Klappe halten? Ich werde ihm gleich mal …“
„Es stimmt also, dass du mit höchsten kirchlichen Würdenträgern verkehrst?“
„Ach, das ist des Punzels Kern. Willst du mich fragen, wie ich es mit der Religion halte?“
„Sehr gebildet, Faust Junior! Aber sag an: Will dich der Bischof dingen, in juristischen Fragen?“
„Er hat angekündigt, auf mich zuzukommen, wenn sich der Fall, um den es geht, zuspitzt. Das könne sehr bald sein. Mehr war da nicht.“
„Dann halte mal die Augen offen, wenn die Zuspitzung da ist. Es würde unserem Anliegen nützen, auch diese Brüder aufs Korn zu nehmen. Du weißt, dass die beiden Kirchen noch immer zu den größten Lobbyorganisationen zählen, mit erheblichen politischen Durchgriffsrechten? Ich erzähle dir mehr über das Reich Gottes auf Erden, wenn du bei denen unter Vertrag stehst.“
So verblieben sie. Nachdem auf diese Weise mein eines Standbein, das politische, angegangen wurde, dachte Punzel bei sich und belustigte sich kurz über seine sprachschöpferischen Fähigkeiten, könnte ich mich doch gleich auch noch dem anderen widmen. Das hat einige Wochen keine Fortschritte gemacht – wie könnte es auch, als Standbein! Es handelte sich dabei um sein literarisches, hatte er doch in den letzten Jahren einige Kriminalkurzgeschichten geschrieben, die seine Umgebung für ganz gelungen hielt. Es war jedoch überraschend Dr. Schult gewesen, der einen Verlag dafür hatte begeistern können; oder wenigstens ein bisschen interessieren.
Kurzerhand griff Punzel zum Telefon, um den Lektor anzurufen, den sein Kompagnon von Punzels schriftstellerischer Brillanz hatte überzeugen können. Er wollte wissen, wie viele Storys man in welcher Zeit von ihm erwartete und wie es danach weiterginge. Also wählte er, nicht zum ersten Mal, die Nummer des Dr. Wohlfeil.
„Trumm“, meldete sich unverhofft eine durchsetzungsstarke männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
Überrascht über den nicht erwarteten Gesprächspartner, stotterte Punzel, dass er eigentlich den Dr. Wohlfeil sprechen wolle.
„Das ist doch der Hohlvolt-Verlag?“
„Hohlvolt ist richtig, Wohlfeil ist es nicht“, gab der Mann kurz angebunden Auskunft. „Hat uns verlassen, ich führe jetzt die Geschäfte.“
Puh, dachte Punzel, ich rufe die Hochkultur an und werde mit ihrem Budgetverwalter verbunden.
„Was ist den nun, mit welchem Anliegen strapazieren Sie die Leitung?“
„Also, mein Name ist Punzel, Richard-Anton Punzel. Herr Dr. Wohlfeil hatte mir angeboten, meine Kurzgeschichten herauszugeben. Meines Wissens ….“
„Was Sie jedenfalls nicht wissen ist, dass daraus nichts wird. Man hat … wir haben … Also ich habe anders entschieden. Tut mir leid, wenn aus Ihren Ambitionen nichts wird. Einen Vertrag hatten Sie ja nicht, nicht wahr?“
„Nein, das nicht.“
„Sehen Sie. Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Was der heutige Kriminalroman braucht, ist der denkbar engste Bezug zu seinem Leser, auch seinen Leserinnen, ja sogar Leserinnen. Der Regionalkrimi ist tot, ohne dass er es wüsste. Wir müssen über ihn hinaus, wir bauen auf den Lokalkrimi. Verstehen Sie? Mord und Totschlag findet bei uns direkt, und ich meine direkt, um die Ecke statt, in der Einkaufspassage, an der Bushaltestelle, im Späti – you name it. Da geben Ihre Sachen nichts, gar nichts her, Herr … Insofern: Wir müssen schließlich alle leben, und der Erfolg eines Buchs ist der Erfolg an der Ladenkasse. Im besagten Kiez vornehmlich.“
„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit“, presste Punzel eine Spur gedemütigt heraus. „Dann bleibe ich halt bei meinen Leisten. Mord und Totschlag habe ich jeden Tag hier um die Ecke. Ihr Konzept ist bestechend.“
Er legte auf. Interessante Welt, in der der Mann da lebt, muss ich nicht auch bewohnen, waren des Anwalts Gedanken in der Stille nach dem Schuss, der so abrupt alle Träume literarischen Ruhms zerstört hatte. Wer hätte daran nicht zu knapsen? Aber Punzel machte kurz Inventur: 1. Es gibt noch andere Verlage, 2. Ich bin ein erfolgreicher Anwalt, 3. Ich kann immer noch politische Meriten erwerben, 4. Mein Freundeskreis ist 1a. 5. Was für ein Arschloch! Klagen auf hohem Niveau? Nicht mit Richard-Anton Punzel!
Gerade wollte er sich auf den Weg machen, um sich entweder von Romy oder Gustav bedauern zu lassen oder aber bei einem Spaziergang herunterzukommen, da fiel ihm die angekündigte E-Mail wieder ein. Die erregte wegen des Absenders seine Neugier, denn er korrespondierte höchst selten mit Juristen außerhalb Berlins. Er öffnete also die Mail. Und las, von Wort zu Wort ungläubiger werdend, den kurzen Text.
„Sehr geehrter Herr Punzel, nach unseren Unterlagen kommen Sie als Erbe eines hierselbst kürzlich Verstorbenen infrage. Bevor wir Ihnen weitere Auskünfte geben und Ihre ggf. Ansprüche prüfen können, bitten wir Sie, Kontakt mit der hiesigen Behörde aufzunehmen. Mit freundlichen Grüßen“
Irritierend war neben der Nachricht als solcher der Ort, von dem die Kunde seines künftigen Reichtums ausging: Es handelte sich um Langeoog. Nun war Punzel geografisch recht beschlagen, was seinen Heimatbezirk und die an ihn angrenzenden Kieze betraf, große Teile Deutschlands waren ihm dagegen im wahrsten Sinne terra incognita. Nur so viel meinte er sich zu erinnern: Langeoog war eine Insel. Oder doch gar nur eine Hallig? Das herauszukriegen war aufgeschoben zugunsten der Frage: Wer um Gottes Willen hatte Anlass gehabt, ihn zu seinem Erben einzusetzen?
2
Punzel griff nach seinem Hut und suchte erst einmal das Weite. Dafür hatte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal den Friedhof an der Stubenrauchstraße ausgesucht, gleich schräg gegenüber der Kanzlei. Durch die Haustür tretend setzte er sich den guten, inzwischen schon mittelalten und etwas abgetragenen Trilby auf, sein treuer Begleiter seit dem Triumph in seinem ersten großen Fall und insofern auch sein Talisman.
Die Grabsteinparade des Steinmetzes im Vorgarten nahm er an diesem Tag ab, ohne sich ihr näher zu widmen. Auch derjenigen auf dem Friedhof galt sein Interesse nicht, wie so oft führten ihn seine Schritte direktemang – wie längst kein Berliner mehr sagt – zu den Gräbern der hiesigen Prominenz. Aber seine stille Einkehr vor den letzten Ruhestätten der Marlene Dietrich und des Helmut Newton führten weder dazu, dass er sich von den Aufregungen des Vormittags erholte, noch verschaffte sie ihm Klarheit darüber, wer der geheimnisvolle Erblasser sein mochte.
Nur sein literarisches Engagement wollte er sich nicht so leicht von einem windigen Buchhalter zerstören lassen. Schließlich hatte nicht er sich als mehr oder weniger grandioser Texthersteller empfunden, vielmehr hatten ihm seine Freundinnen, Freunde und Kollegen empfohlen, angesichts der Qualität seiner Geschichten die Öffentlichkeit zu suchen. Dies sich Gedächtnis rufend, schlenderte er auf dem Friedhof noch ein wenig herum und war schon auf dem Weg zum Ausgang, als er ein Grab passierte, das etwas mehr Blumenschmuck als andere zierte und vor dem sich drei Männer versammelt hatten.
Er trat näher und entzifferte auf dem nicht sehr alten hellen Grabstein die Worte: „Prof. Dr. Horst Bosetzky *1.2.1938 †16.9.2018 Schriftsteller aus Leidenschaft“. Der Name sagte ihm nichts, was nicht Wunder nahm, schließlich war Punzel in der deutschen Literatur nicht sonderlich gut bewandert. Als zwei der Männer sich zum Gehen wandten, wagte er es, neugierig geworden ob der großen Aufmerksamkeit, die diesem Verblichenen zuteil wurde, sich an den Zurückgebliebenen zu wenden.
„Verzeihen Sie, es ist sicher eine Bildungslücke, aber was für Werke hat dieser Herr Bosetzky denn geschaffen?“
„Nun“, eröffnete der alte Mann bedächtig seine Antwort, „in die Geschichte der Weltliteratur wird er ganz sicher nicht eingehen.“ Punzel musterte fasziniert das Haupt seines Gesprächspartners, ein in Ehren gealterter Charakterkopf, das Gesicht mit tiefen Furchen versehen, die sicherlich die Entbehrungen und Herausforderungen eines nicht immer leichten Lebens hineingegraben hatten. Reste einer vielleicht einmal vorhandenen weißen Haarpracht bedeckten diesen Kopf.
„Ihre Unkenntnis wäre auch ganz und gar entschuldbar“, fuhr er fort, „wenn Ihnen der Name, unter dem er bekannt wurde, mehr sagte.“
„Würden Sie mir ihn verraten?“
„Es ist eigentlich gar kein Name, es ist ein Kürzel. Seine ersten Romane wurden mit „-ky“ in der Autorenzeile veröffentlicht. Vielleicht, weil das Schreiben zunächst nur eine Nebentätigkeit war, eigentlich war er Soziologe. Er schrieb Kriminalromane, eine Gattung, die damals in Deutschland noch geradezu als Schundliteratur angesehen wurde. Von Zeit zu Zeit lese ich sowas gern.“
„Auch diesen Namen, ich bedaure, kenne ich nicht.“
„-ky war einer der Wegbereiter für den, nun, sagen wir literarischen Krimi. Was da heute so alles in dieser Richtung auf den Markt geworfen wird, ist dagegen kaum zu ertragen.“
„Wie recht Sie haben“, flüsterte Punzel, so dass es für den Alten unverständlich war. Der bat ihn deshalb, lauter mit ihm zu sprechen.
„Ich sagte: Wie recht Sie haben. Und beinahe hätte ich mich beim weiteren Aufbau dieser Schwemme mitschuldig gemacht. Aber vor ein paar Minuten hat mein Lektor meine Arbeiten abgelehnt.“
„Ach, das heißt doch nicht, dass Ihre Texte nichts wert sind“, tröstete ihn der weise Alte. „Arbeiten Sie an Ihren Werken, suchen Sie sich Unterstützung. Nicht gleich aufgeben! Wollten Sie hauptberuflich Autor sein?“
„Bewahre, nein! Auch ich habe einen richtigen Beruf, bin Anwalt. Und das bin ich auch sehr gerne.“
„Gut, dann haben Sie Kontakt zum Leben und sind nicht so ein Schreibtischtäter, so Sie mir dieses Wort erlauben, wenn wir schon bei Kriminellem sind.“
„Sehr gern sogar, Herr …“
„Glass, Karl Glass. Eines können Sie einem alten Mann glauben, der ein ganz schönes Oeuvre zusammengebracht hat: Wer schreibt, braucht einen langen Atem. Und viel Selbstbewusstsein. Ich empfehle immer einen kurzen Text des hochgeschätzten Friedrich Nietzsche, erschienen in Ecce Homo. Brillanter Titel: Warum ich so gute Bücher schreibe.“
„Das hört sich wirklich überzeugend an“, lachte Punzel. „Das kann ich mir gut merken. Was ist Ihr Metier, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe das Glück, auch mit über 90 Jahren meinen Geist noch so weit beisammen zu haben, dass ich die Studien, die ich publizieren wollte, bisher immer noch zu einem glücklichen Ende gebracht habe. Zuletzt eine Arbeit über das Verhältnis von Christentum und Aufklärung.“
„Das ist ein hochinteressantes Thema, und ich beglückwünsche Sie zu Ihrem wachen Geist! Beschenken Sie die Welt weiterhin damit, ich jedenfalls werde Sie jetzt endlich lesen.“
Den greisen Mann hatte das Gespräch doch etwas mitgenommen. Punzel begleitete ihn bis zum Ausgang und half ihm dort in ein Taxi, das er zwischenzeitlich für ihn bestellt hatte.
Beeindruckt von seinem Zusammentreffen mit diesem Gelehrten legte Punzel die wenigen Meter bis zur Kanzlei zurück, die Hinweise, Mahnungen und Anregungen des Mannes noch einmal rekapitulierend. Und darauf überprüfend, wie sie ihm hilfreich sein könnten bei der Entscheidung, die er bezüglich der Zukunft seiner Schreiberei zu treffen hatte.
Als er an den marmornen Steinen vorbeikam, die vor dem Haus als Anregungen für die Grabgestaltung ausgestellt waren, war er sich sicher: Auf seinem Grabstein würde niemals eingraviert werden Schriftsteller aus Leidenschaft wie bei Prof. Bosetzky. Oder Gelehrter aus Hingabe, wie es dem Karl Glass angemessen wäre. Er hatte ja immer tendiert zu dem schlichten Man hat sich bemüht – aber da war ihm ein anderer Großer zuvorgekommen. Und deshalb stand sein Entschluss im Angesicht der Ewigkeit, an die die Grabmale gemahnten, für ihn fest: Die Welt brauchte keine weiteren mediokren Krimiautoren, was sie aber brauchte, waren ehrbare Juristen. Davon gab es nicht so viele.
Ziemlich davon überzeugt, dass das nicht immer ein Widerspruch sein muss, trat er seit langer Zeit wieder einmal vor die Messingtafel, die kundtat, dass die Kanzlei Dr. Schult, Kühne und Punzel hier ihre Dienste anbot, um mit einem sauberen Taschentuch darüber zu wischen und auf diese Weise für neuen Glanz zu sorgen. Und er vergaß dabei dieses Mal auch die Namen seiner Kompagnons nicht.
Entspannt grinsend betrat er das Büro, empfangen vom wie immer noch viel warmherzigeren Lächeln, das Romy zu vergeben hatte.
„Sie sehen sehr zufrieden aus, Herr Punzel“, stellte sie völlig zutreffend fest.
„Wenn Sie da nicht mal recht haben“, gab er zurück und setzte sie kurz über seine Begegnung wie auch über seinen Verzicht auf den zum Greifen nahen Nobelpreis für Literatur ins Bild.
„Der gute Mann scheint einen guten Einfluss auszuüben“, sagte Romy, nachdem Punzel seine Berichterstattung abgeschlossen hatte. „Ich denke, Sie wurden gut beraten.“
Ihr Chef nickte bestätigend und zog sich dann zurück, um in Sachen Erbe etwas in Erfahrung zu bringen.
Das war schnell erledigt, nachdem ihm nur ein einziges Mitglied der weiteren Familie eingefallen war, von dem einmal gesagt worden war, er sei auf eine einsame Insel gezogen. Er meinte, sich an ein -hoog am Ende ihres Namens zu erinnern. Konnte natürlich auch kürzer -oog gewesen sein, überlegte Punzel. Das weltweite Netz fand tatsächlich die Spur eines Abkömmlings der Kerr-Linie, also der seiner Mutter. Ronald Kerr, sein Großonkel, hatte tatsächlich seinen letzten Atemzug auf Langeoog getan. Jedenfalls tat dies eine Todesanzeige kund.
Merkwürdig, dass der ihn als Erbe einsetzen sollte. Punzels Erinnerungen an ihn beschränkten sich auf seine früheste Kindheit, als der Onkel die Punzels einige Male in Berlin besucht hatte. Sein Lebensmittelpunkt war damals, wie der des ganzen Kerr-Clans, in Bad Godesberg. Hatte Punzel als Winzling bei ihm einen so überwältigenden Eindruck hinterlassen, dass er ihn dreißig Jahre später reich machen wollte?
Was das Erbe am Ende genau umfasste, war natürlich abzuwarten. Punzel schickt noch eine Mail an die Nachlassstelle, worin er sich vorläufig autorisierte und darum bat, ihn über die weitere Vorgehensweise zu informieren.
Damit war der Arbeit und der Aufregungen genug an diesem Tag. Punzel klopfte deshalb an Gustavs Zimmertür, um ihm ein gemeinsames Abendessen vorzuschlagen. Darauf ging sein Kompagnon gerne ein, denn seine Frau war am Abend aushäusig, sodass er sich selbst etwas hätte kochen müssen.
„Schade, ich hatte mich schon auf die Dose gefreut, die ich zuzubereiten fest entschlossen war“, alberte Gustav, „aber ein Châteaubriand mit einem Fläschchen Château Laffitte tut es auch.“
„Wir nehmen das Wiener Schnitzel“, beschied ihn Punzel, „das ist im Miteinander bewährt gut.“
Einwände von Gustavs Seite gab es nicht, vielmehr schritt er, erst einmal auf der Straße, beherzt aus. Punzel musste seiner Eile kurz Einhalt gebieten, als sie an einer Buchhandlung vorüber kamen.
„Ganz kurz mal eben“, sagte er, „ich hole mir hier nur schnell etwas.“
Gustav musste tatsächlich nicht lange warten, dann war sein Geschäftspartner wieder bei ihm. Wie groß aber war seine Überraschung, als er den Namen des Autors auf dem Buchumschlag entziffert hatte.
„Friedrich Nietzsche. Hm, und du bist sicher, dass es sich bei diesen drei Titeln um Krimis handelt?“
Er nahm Punzel den voluminösen Band aus der Hand.
„Ecce Homo? Zur Genealogie der Moral? Was soll das sein? Bildung? Ach nein, destowegen: Jenseits von gut und böse sowie Der Fall Wagner. War das nicht diese grauenhafte Sache mit den zerstückelten Leichen und dem Kannibalen? Doch, doch, so war's.“
„Junge, red' dich doch nicht um Kopf und Kragen. Sobald wir vor unserem ersten Bier sitzen, erfährst du mehr über mein Verhältnis zu einem unserer größten Dichter und Denker. Ich habe mir, nebenbei gesagt, auch vorgenommen, mehr zu denken.“
Es kam dann doch noch zu einer größeren Verzögerung im Betriebsablauf, dergestalt, dass erst das erste Glas geleert sein wollte, bevor Gustav von Punzels Gespräch mit dem weisen Mann auf dem Friedhof erfuhr.
„Gut, wenn es der Wahrheitsfindung dient, lies den Schmöker. Aber ich finde es schade, dass du die Spur nicht weitere verfolgst, ich meine die zum Erfolg, zum Ruhm als Schriftsteller.“
„Es ist gut so, wie es ist, und ich verspreche dir: Für dich, meinen größten Fan, schreibe ich weiter. Aber ich habe noch etwas anderes auf dem Herzen. Hör zu!“
„Nein, hör du mir zu, es muss geben ein Teil reden und ein Teil horchen. Also machst du jetzt die Lauscher auf.“
Während Punzel seinen Kollegen, ja fast Freund gespannt ansah, nahm der einen tiefen Schluck aus seinem zweiten Glas Bier und wollte immer noch nicht so recht heraus mit der Sprache.
„Winde dir nich, Justav, sprich frei heraus!“
„Es ist nicht leicht, im Gegenteil, schwer. Aber gut: Meinst du, meine Ehefrau betrügt mich? Heute Abend ist sie wieder allein unterwegs, und sie sagt mir nicht, was sie vorhat. Das passiert seit Wochen mit schöner Regelmäßigkeit. Gewöhnlich kommt sie zwischen zwölf und eins zurück.“
„Kein Wort darüber, wo sie ist, mit wem sie zusammen ist?“
„Kein Wort. Ich habe jetzt auch nicht so sehr gedrängt.“
„Du willst die Wahrheit nicht hören, stimmt's? Gustav, sei ein Mann oder sowas und stell sie zur Rede. Wenn sich die Dinge zuspitzen, entwerfen wir eine Strategie, bis sich die Schlinge zuzieht.“
Das mit dem „Zuspitzen“ war ihm unwillkürlich in den Sinn gekommen. Schon einmal war der Begriff an diesem Tag gefallen. Aber die Formulierung mit der Schlinge war es, die Gustav mehr störte. Punzel und ein weiteres Bier sowie ein großes Kalbsschnitzel brachten es fertig, Gustav zu beruhigen.
Es gelang Punzel nach dem Mahl auch, den betrogenen Ehemann in spe auf sein nächstes Thema zu bringen. Und zwar plakativer, als er es gewollt hatte.
„Gustav, ich erbe!“
Der Angesprochene reagierte keineswegs überrascht, eher pragmatisch.
„Warte! Merk' dir, was du sagen willst!“
Damit drehte er sich in Richtung Theke, schnippste mit den Fingern und rief: „Die Rechnung, bitte! Der Herr hier übernimmt das!“
Punzel tat nichts dergleichen, sondern wies nachdrücklich und sehr ernst darauf hin, dass die Messen hinsichtlich eines reichen Erbes längst nicht gelesen seien. Beim Aussprechen des Wortes „Messe“ verdrahteten sich in seinem Gehirn spontan einige Synapsen: Messe in der Kirche, Messe auf einem Schiff. Seltsame Kurzschlüsse! Jedenfalls mit der Folge, dass Erinnerungen aktiviert wurden. Erinnerungen an den teuren Erblasser, die sich auf Gesprächsfetzen bezogen, die ihn – Folge dieses elektrischen Impulses – daran erinnerten, dass der Onkel Ronald nach dem Tod seiner Frau wohl sehr zurückgezogen gelebt hatte. Dies wusste er noch zu verstärken durch einen Umzug aus dem auch schon nicht gerade pulsierenden Bad Godesberg auf eine kaum bewohnte ostfriesische Insel.
Auf Langeoog immerhin, inmitten eines zuweilen gemessen tobenden Meeres, fand er ein treffliches Ambiente, seinem Lebenstraum nachzuhängen. Denn Seemann hatte er eigentlich werden wollen. Allein: Außer in den letzten Wochen bei der Kriegsmarine hatte er sein gesamtes Leben an Land verbracht. Auf der Insel konnte er seiner geliebten hohen See wenigstens nahe sein. Er war sehr alt geworden. Ob er wohl ein Seemannsgrab bekommen hatte?
Punzel hatte an diesen seinen Erinnerungen, so wie sie ihm kamen, Gustav teilhaben lassen. Der ließ, konfrontiert mit der Größe des Todes, ab von seinen Albernheiten. Im Gegenteil, er fand jetzt gefasste Worte.
„Im Angesicht der Ewigkeit findet auch der größte Agnostiker zum Glauben zurück. Und Seeleute haben ohnehin oft allen Grund, in ihrer Not den HERRN anzurufen.“
Die beiden schwiegen eine Weile andächtig, dann verfiel Punzel auf die eher hilflose Idee, auf den so unbekannten, und genauso großzügigen Verblichenen einen Korn zu trinken.
„Er möge in Frieden ruhen.“
„Ein gottgefälliges Leben hat sich erfüllt“, ergänzte Gustav, um nur kurz darauf wieder Tempo in seine Gedanken zu bringen. „Bei dem Weg, will sagen by the way: Hast du mal wieder was von den Heiligen gehört, die dir aus den Kirchensteuern einen ordentlichen Anteil spendieren wollten? Du sagtest doch, da komme noch ein großes Ding auf dich zu.“
„Die melden sich fast jeden Tag, den der HERR werden lässt. Heute seltsamerweise noch nicht. Dabei hatte ich damit gerechnet, seit ich heute morgen von dem verschwundenen erschossenen Geistlichen gehört habe. Mir war sofort so, als gäbe es da einen Zusammenhang mit dem avisierten Auftrag. Kann aber auch Unsinn sein.“
„Das ist Unsinn, ganz bestimmt. Ich habe davon gelesen. Das gibt’s doch gar nicht, ein Toter, der sich innerhalb von ein paar Minuten in Luft auflöst. Nein, mein lieber Richard-Anton, dein nächster großer Fall ist das nicht.“
Gustav Kühne irrte sich nicht gerade selten, diesmal aber besonders gründlich. Was sich in dieser Nacht anbahnte, konnte er allerdings auch nicht wirklich ermessen. Während die beiden entspannten Anwälte weiter zechten und auch noch während ihres Nachtschlafs tagte an einer anderen Stelle der Stadt ein Krisenstab in Permanenz. Und auch im fernen Rom begann sich zur gleichen Zeit erhebliche Unruhe auszubreiten.
Der ahnungslose Punzel aber warf noch einen Blick auf die neuesten Nachrichten, die sein Handy ausspuckte, doch über einen toten Geistlichen war da nichts zu erfahren. Dafür sah er erst jetzt, dass Romy ihm schon seine Reiseunterlagen zusammengestellt hatte: Flug um 13:30 nach Venezia, Unterkunft in einem netten kleinen Hotel in San Marco.
Punzel gab noch eine Runde aus und war ganz zufrieden mit seinem Leben.
„Ein kleines Erbe in Aussicht, eine schöne Frau, die ich die meine nennen darf, und drei Tage Home Office in Italien: Was kann es Schöneres geben?“
„Ein reiches Erbe mit rassigen Italienerinnen für den Rest seines Lebens in Venezia verprassen? Avvocato in albergo erotica!“
Punzel wollte diese Anregung bei Eintreten einer stark entspannten Haushaltslage in Erwägung ziehen.
3
Mit unausgereiften Plänen über ein Dolce Vita mit anderen Frauen in südlichen Ländern hatte Punzel seine geliebte Estefania nicht belästigen wollen, als er zu später Stunde noch bei ihr aufschlug. Die junge, fast immer gut gelaunte schöne Frau mit dem dunklen Teint hatte sich gefreut, dass ihr inzwischen erfolgreicher Freund noch den Weg in ihre Wohnung in den schönen Prinzessinnengärten gefunden hatte; ein Quartier, das ganz weit weg schien vom umtriebigen, anstrengenden Berlin (Rest). Für ein gemeinsames Glas Wein reichten ihre Energien nach einem ereignisreichen Tag auch noch, dann fielen sie, kaum im Bett, in tiefen und erholsamen Schlaf.
Beim Frühstück am Morgen beantwortete Punzel Estefania noch einige Fragen, die um sein potentielles Erbe kreisten und sein Bericht am späten Abend noch offengelassen hatte. Auch bedauerte sie, auf ihren Partner aufgrund seines Venedig-Trips für ein paar Tage verzichten zu müssen.
„Mach mir keine Schande und lass dich nicht mit dieser Schlange ein“, mahnte sie Punzel nachdrücklich, wobei ihm nicht recht klar wurde, wie stark daraus die Eifersucht sprach und wie sehr sie dies eher scherzhaft meinte.
Tatsächlich bestand für Zweifel an ihres Freundes Treue durchaus Grund, zu speziell war das Verhältnis zwischen ihm und Gina. Mal machten die beiden den dringenden Eindruck, sich außerordentlich nahe zu sein und dass ihre gegenseitigen Attacken spielerische Flirtaktionen darstellten, mal schienen sie doch von ihren Lebenseinstellungen her so unterschiedlich orientiert zu sein, dass sie wie Feuer und Wasser zueinander standen.
Romy und Gustav, die bei Punzels Eintreffen in der Kanzlei gerade wieder die Köpfe zusammensteckten, hatten da ein viel eindeutigeres Verhältnis. Sie verstanden sich einfach nur gut, möglicherweise sogar so gut, argwöhnte Punzel, dass sein Kompagnon bei der Anwaltsmitarbeiterin sogar mit der Debatte seiner Eheprobleme vorstellig geworden war und um ihre Einschätzung gebeten hatte. Aus ihren unschuldigen Gesichtern konnte er keine Bestätigung seines Verdachts herauslesen, auch wenn die betonte Gelöstheit, mit der sie sich ihm zuwandten, auf den gewieften Detektiv auch nicht gerade unschuldig wirkte.
Gleichwohl wollte Punzel keine Zeit verlieren, Romy für die prompte Buchung seiner Reise zu danken. Doch sie kam ihm zuvor.
„Chef, die Kirche ruft unentwegt an und verlangt nach Ihnen. Ich bin heute extra früh ins Büro gekommen, um einiges aufzuarbeiten, solange es noch ruhig ist. Und seit kurz nach sieben strapazieren sie die Leitung. Ihre Mobilnummer wollten sie auch, haben sie aber nicht gekriegt.“
Punzel nickte ihr freundlich zu, dann konnte er endlich doch noch seinen Dank für die Reservierungen aussprechen, die sie getätigt hatte.
Romy wiederum hatte auch in einer anderen Angelegenheit Fortschritte erzielt.
„Ich habe zwei schnuckelige, stampfende und dampfende Kutter in die Auswahl für unser Firmenevent genommen.“
„Warum haben Sie nicht gleich selbst die Entscheidung getroffen? Ich werde schon keine Einwände haben.“
„Vielleicht doch. Und zwar, wenn ich Ihnen sage, dass der eine auf den Namen Roland von Berlin hört …“
Ronald wäre richtig passend gewesen, ging es ihrem Chef in Erinnerung an seinen möglichen Erblasser durch den Kopf. Vielleicht, wenn man es nicht so ganz genau nahm, wäre der Kahn für das Gedenken doch gewissermaßen passend.
„Und das andere ist ein Potsdamer Seelenverkäufer, ein richtiges schmuckes Dampfboot mit Kohleheizung, qualmendem Schornstein und auch sonst so allem Drum und Dran.“
„Na, dann ist es doch gar keine Frage, zu unserem konservativen Laden passt doch so eine olle Fregatte wie unser Topf Justav zum Deckel Abscheu vor der Juristerei.“
„Da“, sagte Romy und wackelte zweifelnd mit dem Kopf, „ist möglicherweise gerade das Problem. Jedenfalls, wenn Sie mal wieder sensibel für schlechte Omen bzw. Nomen sind.“
„Ich? Never ever!“
„Dann darf ich also die MS Gustav fest buchen?“
„Gustav? Niemals! Da ist der Nieder …, der Untergang ja vorprogrammiert!“
„Also Richard-Anton, nun reiß dich aber mal zusammen, du wirst mir langsam allzu überheblich. Und letztlich: Was kann denn das Boot für seinen guten Namen?“
„Ich fürchte“, warf Romy, bedeutend ruhiger als die beiden Streithähne ein, „Sie werden mit Ihrem Aberglauben noch mal Schiffbruch erleiden.“
„Und wenn schon, dann aber nicht mit einer Gustav!Romy, bitte merken Sie uns besser für die nächstbeste Titanic vor, ich habe mit meinem Leben noch nicht abgeschlossen!“
Der ansonsten eher ausgeglichene Anwalt wusste selbst nicht, warum er plötzlich so gereizt und unnachgiebig war. Kaum war er in seinem Zimmer allein, ging ihm auf, dass es mit der Aufsässigkeit des ihn verfolgenden Klerus' zu tun hatte. Er musste diesen Herren entweder endgültig eine Absage auf ihr Ansinnen, ihn zum Sonderermittler zu machen, erteilen, oder die Sache professioneller betreiben. Zuallererst aber, das ging ihm auch schnell auf, musste er zu Mitarbeiterin und Kollegen eilen, und sich bei ihnen entschuldigen.
Gedacht, getan. Wenigstens fast. Denn kaum hatte sich Punzel erhoben, klingelte das Telefon. Romy kündigte ihm den erwartbaren und wohl unvermeidlichen Anruf aus dem Büro der Vertreter des HERRN in Berlin an. Seufzend bat der geprüfte Anwalt (zwei Staatsexamen) um Vermittlung.
„Kanzlei Dr. Schult und Kühne und Punzel“, meldete er sich, in der stillen Hoffnung, dass sich der Anrufer im letzten Moment noch an einen seiner Kollegen wenden würde.
„Hier ist das Bischöfliche Ordinariat, Meinmann am Apparat. Guten Tag, Herr Punzel, schön, dass ich Sie endlich erreiche. Wir haben dringenden Gesprächsbedarf, sehr dringenden und bitten um Ihre Hilfe. Würden Sie bitte unseren Gesandten, Herrn Bruno, noch heute empfangen? Es ist wirklich sehr wichtig! Und auch sehr dringlich!“
„Oh, ich bin im Grunde schon auf dem Weg zu einer … zu einer Auslandsreise. Hat es nicht doch noch etwas Zeit?“
„Ich bedaure. Herr Bruno würde Sie auch gar nicht lange in Anspruch nehmen, sondern Ihnen nur die Sache in groben Zügen schildern und Ihnen einige Unterlagen übergeben.“
Punzel blieb Meinmann eine Antwort schuldig. Der nutzte die halbe Schweigeminute zu seinem Vorteil.
„Gut, vielen Dank! Dann wird Herr Bruno binnen einer Stunde bei Ihnen sein. Noch einmal: Seine Eminenz, der Bischof, ist Ihnen für Ihre Hilfe sehr zu Dank verpflichtet.“
Es knackte in der Leitung, und Punzel wunderte sich über so viel Chuzpe und so viele Vorschusslorbeeren. Bei dem Gedanken an Vorschuss nahm er sich vor, für diesen Überfall eine ordentliche Zahlung zu verlangen, noch bevor er irgendwie tätig geworden war.
Es sollte keine halbe Stunde dauern, dann stand der Gesandte Punzel gegenüber. Der hatte gerade noch Zeit gefunden, sich mit Romy und Gustav zu versöhnen. Seine Reizbarkeit entschuldigte er mit dem einer „Hexenverfolgung“ gleichen Hilfebegehren der Katholischen Kirche – „nun versteig dich nicht gleich wieder“, mahnte Gustav –, als seine Sühne wurde die Mindeststrafe einer ausgiebigen Essenseinladung an die beiden verkündet. Er sagte sie noch für denselben Mittag zu.
Dann also erschien ihm der Geistliche.
Eine stattliche Erscheinung, durchaus. Mit einem einnehmenden Grinsen im Gesicht streckte ihm Bruno beide Hände entgegen, die Punzel umständlich ergriff.
„Vielen Dank, dass Sie es möglich gemacht haben, mich so schnell zu empfangen“, begann der Gast, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten. Mein Name ist Bruno, Gerhard Bruno. Ich bin Sekretär am Bischöflichen Ordinariat. Ich hatte Ihnen in einem telefonischen Gespräch ja schon vor einigen Tagen angedeutet, dass wir womöglich um ihre Hilfe würden ersuchen müssen. Leider ist dieser Fall nun eingetreten.“
Er machte eine Pause und sah sich suchend in Pun-zels Büro um. Der brauchte einen Augenblick, bis er begriff.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten, Monsignore, Kaffee, Wasser?“
„Keine Umstände, bitte! Ein Glas Wasser aber wäre sehr hilfreich.“
Als er Romy über diesen Wunsch verständigt, sie ein Glas Selter serviert und der Geistliche einen Schluck von dem Getränk genommen hatte, fuhr dieser fort.
„Es sind Dinge vorgefallen, die sofortiges Handeln erfordern. Wir möchten Sie bitten, einen Bruder, einen Mitarbeiter unserer Ordinariats ausfindig zu machen, um den wir uns große Sorgen machen.“
Punzel sah ihn fragend an.
„Sie können mir sagen, wo man da ansetzen könnte?“
„Nun, das noch nicht. Wir sind aber zuversichtlich, über unsere guten Beziehungen in Deutschland, wenn nötig auch im europäischen Ausland, sehr bald in Erfahrung bringen zu können, wo er sich zuletzt befunden und welchen Weg er inzwischen genommen hat.“
Der Anwalt sah seinen Gast nunmehr forschend an.
„Hat dieser Bruder, den Namen werden Sie mir sicher gleich nennen, etwas Unrechtes getan? Suchen Sie ihn deswegen?“
„Um Gottes Willen, nein, das ist nicht der Fall. Wie gesagt, wir machen uns Sorgen um Bruder Memo. Seit diesem Vorfall am S-Bahnhof Priesterweg, Sie haben sicher davon gehört, können wir nicht ausschließen, dass es sich bei dem Geistlichen, den eine alte Frau dort tot aufgefunden haben will, um eben diesen Bruder gehandelt hat.“
„Sie gehen davon aus, dass sich die Frau nicht geirrt hat? Und dass er tatsächlich erschossen wurde? Angaben der Zeugin zufolge soll er ja eine Einschusswunde im Kopf gehabt haben.“
„Das halten wir allerdings für ausgeschlossen. Wer sollte so etwas tun? Und warum? Nein, das wird sich die Zeugin in ihrer Panik eingebildet haben. Es ist nur so, dass Bruder Memo tatsächlich seit diesem Tag abgängig ist. Koinzidenz der Ereignisse – so oft liegt ein Geistlicher einem ja nicht über den Weg. Und dann noch über den Priesterweg.“
„Da könnten Sie Recht haben“, stimmte ihm Punzel zu, bereute aber gleich seine so leichthin getane Äußerung. Er wechselte deshalb eilig die Tonlage. „Ich hatte Ihnen ja schon mitgeteilt, dass ich einige Tage lang nicht in Berlin bin. Wenn ich also den Auftrag übernehme, so könnte ich erst nächste Woche tätig werden.“
„Wir werden die Zeit nutzen, um so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, was Ihnen nützen wird. Eines darf ich Ihnen aber verbindlich versichern: Der Auftrag des Bischofs wird Ihr Schaden nicht sein. Er wird finanziell so ausgestattet werden, dass alle zur Klärung des Falles nötigen Ausgaben gedeckt sind – und mehr als das!“
Damit stand der Gläubigere von den beiden auf und griff in die Innentasche seines Sakkos. Als er sie wieder hervorzog, hielt er in seiner Hand einen Briefumschlag, recht prall gefüllt. In einer wie oft geübt wirkenden koordinierten Bewegung trat er näher an Punzel heran, fasste ihm mit der linken Hand wie freundschaftlich an die Schulter und überreichte ihm mit der rechten das Kuvert.
In einer ihm selbst wie automatisiert erscheinenden Gegenbewegung fasste Punzel zu. Der Spender nickte zufrieden.
„Ich kann Ihnen mehr zu der Angelegenheit nicht sagen“, brummte Bruno dann. „Es sind schließlich innere Angelegenheiten der Kirche, Sie verstehen. Es ist auch gar nicht nötig. In diesem kleinen Dossier hier“ – er griff in die andere Innentasche seines Jacketts und zog einen weiteren Umschlag hervor – „steht alles, was Sie über Detlef Memo wissen müssen. Wie gesagt: Wenn Sie ihn auffinden und wir ihn zurück in den Schoß der Kirche bringen können, ist Ihr Auftrag schon erledigt. Der HERR sei mit Ihnen!“
Damit drehte er sich zur Tür, und noch bevor Punzel ihm vorausstürzen und sie öffnen konnte, hatte sich der Mann Gottes selbst bedient, machte draußen Romy gegenüber eine Geste der Verabschiedung und war schon dem Ort der Erstreitung weltlichen Rechts entschwunden.
„Ich hatte eine Erscheinung“, murmelte Punzel mehr zu sich als zu Romy gewandt, noch in der Zimmertür stehend. „Sie kam, sprach und siegte.“
Er hatte immer noch den Umschlag in der Hand und hob ihn langsam in die Höhe. Romy blickte der verschwundenen Gestalt hinterher.
„Ja, ein wahrlich charismatischer Herr“, seufzte sie, anscheinend unentschieden zwischen Respekt und Skepsis. Dann wandte sie sich ihrem Chef zu.
„Er hat etwas dagelassen“, sagte Punzel, mit einer Kopfbewegung auf das Kuvert weisend.
Romy stand auf; und, frech wie sie manchmal war, nahm sie Punzel den Umschlag ab, öffnete ihn – und war baff.
„Charismatisch ist gar kein Ausdruck“, stöhnte sie, nachdem sie den Inhalt herausgezogen hatte, geradezu wohlig. „Hierbei handelt es sich um einige Tausend, und das in unseren guten Euro. So viele kleine Scheine! Macht dann natürlich noch mehr her.“
„Romy, mir ist unwohl, seit ich das Geld in Händen habe. Das Mindeste, was wir jetzt tun müssen, ist, denen eine Quittung zu schicken. Fragen Sie nach, auf wen sie ausgestellt werden soll und veranlassen Sie das bitte. Danke!“
Das waren seine letzten Worte in der Sache. Zumindest an diesem Morgen. Punzel beschloss, über diese „innere“ Angelegenheit nicht weiter nachzudenken, um sich nicht die schon blasser werdende Vorfreude auf seinen schönen Trip zu verderben.
Es war auch an der Zeit, sein Versprechen wahr zu machen, und Romy und Gustav zum Lunch auszuführen. Also bat er sie a tavola im guten Ristorante.
Auf dem Weg dorthin musste sich Punzel seinen Mantel aufknöpfen, so warm war es an diesem frühen Frühlingstag.
„Hoch Luzifer“, wusste Gustav, „hält sich ungewohnt stabil über Mitteleuropa. Jemand ein Eis auf den Weg?“
Bevor die gewählten Speisen auf dem Tisch des Lokals standen, unterrichtete Punzel seinen Kollegen darüber, dass er möglicherweise wieder einen größeren Fisch an Land gezogen hatte und Gustav auf Spiel, Spaß, Spannung hoffen durfte.
„Bin dabei, immer wieder gerne“, sagte der und hob sein Weinglas. Anstoßen wollten seine Begleiterin und sein Begleiter aber nicht. „Was ist los?“, wollte der Arbeitsrechtler wissen, „hast du verdorbene Ware an der Angel, oder wie?“
„Nicht doch, alles absolut seriöse Herrschaften, denen wir dienlich sein werden. Und sehr solvent.“
„Na, dann ist doch alles koscher und gottgefällig.“ Romy prustete los.
„Das, das hätte jetzt nicht kommen dürfen.“
Gustav, immer noch das Glas in der Hand haltend, schaute sie perplex an.
„Es handelt sich um die Kirche, die katholische genauer gesagt“, erläuterte Romy, „die weltlicher Hilfe bedarf. Und wir sollen liefern.“
„In dem Fall“, stöhnte Gustav und stellte sein Glas wieder hin, „bitte ich um Absolution. Mit Ihro Scheinheiligkeit und Konsorten will ich nichts zu tun haben.“
Punzel wie auch Romy teilten seine Vorbehalte, doch glaubte der Jurist unter den beiden, das Engagement doch rechtfertigen zu können.
„Erstens habe ich mit Dr. Klimt besprochen, dass man, indem man in ihre inneren Zirkel eindringt, dort etwas findet, so dass man doch auch auf die Kirche Druck aufbauen kann, damit sie ihre lobbyistischen Aktivitäten 'runterfährt.“
„Wer's glaubt“, zweifelte Gustav. „Und zweitens?“
„Zweitens werfe ich hin, sobald ich eine Schweinerei wittere, und viertens …“
„Viertens, ja?“
„Viertens bis sechstens zahlen die sehr gut.“
An dieser Stelle schien es Romy dringend geboten, das Thema zu wechseln, bevor Vorwürfe wie Bestechung, Käuflichkeit oder dergleichen auf die ehrenwerte Kanzlei der Drei bzw. Vier Anwendung fanden.
„Das hat ohnehin alles noch Zeit, wenn ich das richtig verstanden habe. Also lassen wir die Sache doch erst einmal. Trinken wir lieber auf Ihre, Herr Punzels, wunderbare Reise mit dem Düsenvogel und schöne Tage in Venedig.“
Jetzt erhoben auch die beiden anderen das Glas und tranken sich zu.
„Ich habe da ja auch noch etwas, was ich euch sagen wollte. Für unser fabelhaftes Betriebsfest auf der legendären Gustav fehlte uns doch noch Musike. Ich habe da was.“
„Du denkst aber nicht an einen Leierkastenmann, oder?“, fragte Punzel unsicher.
„Eine Band, eine richtige Band. Einige Lehrer der Schule, an der sie meinen Sohn zu erziehen vorgeben, haben vor einer Weile eine gegründet. Skiffle vom Feinsten!“
„Grundgüter, Gustav, Skiffle! Sowas kommt nicht an meine Ohren!“
„Eine Strafe Gottes“, schüttelte sich auch Romy, korrigierte sich aber gleich. „Sowas darf noch aufgeführt werden?“
„Ich will Rock 'n' Roll, oder das Schiff bleibt im Trockendock.“ Anwalt Punzel lehnte Vergleiche in diesem Fall rundheraus ab.
„Nichts anderes kommt aus den Lautsprechern als sauberer Rock“, stand Romy ihm bei. „Ich suche uns eine brave Coverband. Ich sehe schon die Setlist vor mir: Stairway to heaven, Livin' on a prayer, Knockin' on heaven's door …“
Runnin' with the Devil“, stieg Punzel ein.
„Sympathy for the Devil“, machte sich Gustav die Sache einfach.
„Superstition“, fiel Romy nochmals ein.
„Don't stop believin'“, holte Gustav scheinbar aus seinen Erinnerungen hervor. „Ach quatsch, Bat out of hell.“
„Chapeau!“ Das hatte Punzel seinem Kollegen nicht zugetraut. Dann sah er, dass der sein Wissen aus dem diskret befragten Handy bezog.
„Justav, schäm dir, du Betrüger. Beichte das mal deinem Personal Jesus.“
„Heaven and Hell, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, nahm Romy sich das letzte Wort.
4
Ein guter Schlaf fühlt sich anders an. Als Punzel am nächsten Morgen, den Wecker hatte er überhört, gegen neun Uhr aufwachte, fühlte er sich zerschlagen. Seltsame Träume, die zum Glück vergessen waren, und ein schaler Geschmack im Mund führte er unmittelbar auf die unangenehme Begegnung mit der Kirche und ihrem diskursivem Umfeld zurück. Während er noch ein paar Minuten lang im Bett liegen blieb, machte er sich klar, warum ihm Glaube, Religion und der ganze damit verbundene Kram wie Beten, Beichten und Büßen so gründlich verhasst waren.
Natürlich, es hing auch mit den unsagbaren Sünden, weltlich treffender: Verbrechen zusammen, die durch und im Namen des Glaubens und der katholischen Instanzen begangen worden waren. Ganz persönlich verübelte der in der Blüte seines Lebens, wie er hoffte, stehende Anwalt ihnen aber eine Kindheit, über die stets eine dunkle Wolke gestanden hatte. Rheinländer, der er war, hatte sein Vater den Sohn auch im protestantischen Berlin strikt dazu angehalten, seine eigene Glaubenssozialisation fortzuführen. Punzel hielt ihm zugute, dass er sicher nur dachte, das könne nicht weiter schaden, wenn man es nicht allzu toll trieb.
Und ob es das konnte!
Ihm fielen Szenen aus seinem frühen Leben ein, die sich in der Kirche und um sie herum abgespielt hatten, welche er sich nicht mehr im Detail ins Gedächtnis zurückrufen wollte. Eines aber hatte er der Kirche und ihren Vertretern besonders übelgenommen: dass sie ihm von einem Erlöser kündeten, der strafend und rachsüchtig war, wann immer man etwas in seinen Augen Falsches tat. Dass man ständig auch noch, kleines unschuldiges Kind, das man war, in seinem Herzen forschen musste und fortwährend dazu angehalten war, irgendetwas Böses auszubuddeln, so dass man bei der Beichte auch etwas Ordentliches zu gestehen hatte, machte die Sache erst richtig schlimm. Ein Hohn, dass sein zuständiger Gottesmann immer das Hohelied vom liebenden und gütigen Gott wie eine Monstranz vor sich her trug. Bei dieser überzogenen Formulierung musste Punzel schon wieder lächeln.
Als Kind, und mit dem Gedanken wollte er die Erinnerungsarbeit an seinen religiösen Prägungen beschließen, war er dem dafür Hauptverantwortlichen einfach nicht entkommen. Schließlich ertrug er seinen Pfarrer damals nicht nur sonntags in der Messe und beim Kommunionsunterricht, er war auch sein Religionslehrer in der Schule. Seinem Dogma, dass man der Strafe Gottes niemals entkam, war offenbar wirklich nicht zu entrinnen.