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Tom Gear

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Beschreibung

Ein Mann adliger Herkunft ist spurlos verschwunden. Er war nahe daran, den Stammsitz der Familie rückübertragen zu bekommen. Da war er den neuen Besitzern doch sehr im Wege. Für Anwalt Richard-Anton Punzel verdichten sich schnell die Hinweise darauf, dass der Vermisste kaltblütig beiseite geschafft wurde. Sein Team hilft ihm mit erprobtem Spürsinn und Humor auf die Sprünge, und zusammen entdecken sie ganz nebenbei ein Netzwerk von Korruption und Niedertracht. In Punzels zweitem Fall ist die Spannung so greifbar wie die mit allen Sinnen betriebene Freude am Ermitteln. Eine Lesegenuss - auch für diejenigen, die witzige Wendungen und Dialoge zu schätzen wissen.

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Seitenzahl: 319

Veröffentlichungsjahr: 2021

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EinFall von Adel

© 2021 Tom Gear

Umschlaggestaltung: Siegfried Reinecke

Titelfoto: webmaster-glossar.de

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-347-35057-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-35058-8

ISBN e-Book: 978-3-347-35059-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Nur wenige Minuten nach der Landung war er schon wieder startklar. Urlaub schön und gut, aber Punzel wollte wieder aktiv werden. Er hatte in den letzten Monaten richtig Spaß an der Arbeit gefunden, am Ermitteln in Strafsachen. Der Doppelmord an den Frauen aus dem Swingerclub war nur der erste spektakuläre Fall gewesen. Damit war er in die Medien gekommen, und seitdem hatten sich weitere Klienten an ihn gewandt, um mit seiner Hilfe Verbrechen aufzuklären und zu ihrem Recht zu kommen.

Die Woche mit Gina auf Sardinien hatte seine Akkus wieder vollständig aufgeladen. Von den sonnigen Tagen musste Punzel im düsteren Berliner Herbst noch lange zehren. Aber lange konnte es ja nicht mehr dauern, dann würde die Klimakatastrophe schon für einen erneut viel zu warmen Winter und einen heißen Frühling sorgen.

Unmittelbar nachdem er ihr Gepäck vom Band gehievt hatte, trennten er und seine Reisebegleiterin sich. Sie waren sich während der wohlverdienten Auszeit an Strand und Bar sehr zugetan gewesen. Auch hatten sie es geschafft, die ganze Zeit keinen einzigen Blick auf Handy-Nachrichten zu werfen. Jedenfalls Punzel nicht, oder jedenfalls nur ganz selten, nicht öfter als vielleicht fünfmal am Tag. Was Ginas diesbezügliche Askese anging, war er ganz sicher, sich auf sie verlassen zu können. Um so eiliger hatten sie es, sich sobald wie möglich nach dem Touchdown wieder um ihre Geschäfte zu kümmern.

Vom Flughafen fuhr Punzel auf nur eine Stippvisite in seiner Wohnung vorbei, machte sich frisch und „headed for the office“. Er hatte keine Ahnung, warum er gedanklich in diese Sprache verfiel, vermutlich, weil er auf der Mittelmeerinsel mehr Englisch zu sprechen gezwungen war, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Sein Italienisch allerdings war auch nicht gut genug, um damit sehr weit zu kommen. Und des Sardischen war er nun absolut gar nicht kundig. Vom Anwaltsdeutsch, ja, davon verstand er was, und das würde in den nächste Monaten erst einmal wieder seine Lingua franca sein.

Punzel, der in letzter Zeit überwiegend gut gelaunte, 1,75 Meter große, dunkelblond gelockte, etwas untersetzte Vertreter des Rechts, hatte im Urlaub seinen 36. Geburtstag begangen. Kein Deut weniger gelenkig als vor diesem Jahrestag stürmte er förmlich an der Grabmalausstellung im Vorgarten des Hauses vorbei, in dem sich seine Kanzlei mit den Kollegen Dr. Schult und Kühne befand, und flog die Treppen der ersten beiden Etagen hinauf, ehe er der ungewohnten Anstrengung Tribut zollen musste. Doch erreichte er den vierten Stock schließlich glücklich, wenn auch außer Atem. Als er in die Kanzlei eintrat, staunte er nicht schlecht, als Romy zwar mit einem entspanntem Gesicht aufblickte, dieser Ausdruck sich aber augenblicklich verdüsterte. Keine Spur von dem so lieb gewonnenen entzückenden Lächeln seiner Assistentin.

„Romy, was ist los? Was soll dieser feindselige Blick? Ich bin's, Ihr so schmerzlich vermisster Chef, glücklich zurück von gar nicht mal so fernen Gestaden.“

„Herr Punzel“, sagte Romy nur und schien sich in Papierkram vertiefen zu wollen. „Willkommen zurück! Sie wundern sich, dass ich so reserviert bin? Was würden Sie denn sagen, wenn ich einfach mit einer anderen in Urlaub fahren würde?“

„Das würde mich gar nicht stören. Oder müsste es das, mit einer Frau?“

„Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sie betrügen mich, während ich hier für ein Butterbrot die Stellung halten muss. Und da verlangen Sie ein Lächeln?“

„Aber das mit Gina, das ist doch nur …“

„Genau davon rede ich ja, von Ihren Schweinigeleien. Pah, eine bessere Reisebegleiterin bin allemal ich.“

„Sagt wer? Ihre zahllosen Reisebegleiter? Sie werden sehen: Ich zaubere Ihnen schon wieder ein Lächeln ins Gesicht.“

„Da bin ich aber gespannt, wie Sie das anstellen wollen.“

„Heute Mittag, Sie sind eingeladen. Beim Italiener. Dem guten.“

„Um eins?“

„Wenn ich Ihre Turtelei kurz unterbrechen dürfte.“ Keiner von beiden hatte bemerkt, dass Dr. Schult aus seinem Zimmer gekommen war und nun in beider Rücken stand. Eine Antwort wartete er nicht ab.

„Willkommen daheim, Punzel! Und sicher stirbst du schon vor Hunger nach Arbeit. Siehst du: Dir, Mann, kann geholfen werden.“

Sein Kompagnon wollte etwas einwenden, doch Dr. Schult ließ keine Zwischenfragen zu.

„Angenehmes und Nützliches verbinden ist die Devise. Dazu möchte ich dich gleich heute Abend in die sogenannten Besseren Kreise einführen. Wenn nicht gleich in die besten. Hier!“ – er übergab Punzel ein Billett –, „die Einladung zu einem Empfang einer gemeinnützigen Stiftung in ihrer Residenz am Stölpchensee. Bin ja öfter in der Nähe, mein Golfplatz liegt dort. Egal. Wir, also unsere Kanzlei, zeigen dort heute Präsenz. Ein bisschen gut Essen und edle Getränke und Smalltalk, du weißt schon. Kann uns auch beruflich nur nutzen.“

Punzels Begeisterung hielt sich in Grenzen. Widerspruch ließ Dr. Schult aber nicht zu.

„Ich hole dich um sieben hier ab. Wir müssen ja mit einem angemessenen Wagen vorfahren. Zieh dir was Ordentliches an. Also, pünktlich!“

Und damit war er auch schon wieder in seinem Büro verschwunden.

„Um sieben, natürlich, ganz klar“, hauchte Punzel dem längst Entwichenen hinterher.

„Was ist denn jetzt? Um eins?“ Romy holte ihn zurück in die Vor-Dr.-Schult-Zeit.

„Nein, um sieben, das haben Sie doch gehört“, wandte sich Punzel zu seiner Assistentin.

„Ihre Einladung kam früher als dieser Gestellungsbefehl. Können Sie sich noch an die Vorgänge von vor zwei Minuten erinnern?“

„Aber Romy, ich habe ein Elefantengedächtnis. Wir beide treffen uns um eins, nicht wahr? Wir gehen in …, nach …“

„Zum Italiener. Dem guten“, half Romy aus und zweifelte noch stärker an Punzels Zauberkünsten hinsichtlich des Lächelns in ihrem Gesicht. „Alles andere ist heute zweitrangig.“

„Zweitrangig, genau, die Ersten Kreise der Gesellschaft seitzen heute auf den billigen Plätzen.“

Im Zweifel war ihm Romys Gesellschaft in jedem Fall lieber als sich aufzubrezeln, um einen steifen Empfang mit seiner Gegenwart zu beehren; oder wohl eher: ihn damit zu belästigen. Aber Punzel sah ein, aussichtslos war es zu versuchen, Dr. Schult von seinem Entschluss, ihn dort einzuführen, abzubringen. Entweder hatte der begonnen, Punzels Arbeit als Anwalt wirklich zu schätzen – möglich –, oder er sah die Chance, von seines Kompagnons jüngstem Ruhm zu profitieren – sehr viel wahrscheinlicher.

Immerhin war Punzel kürzlich schon mit einem ziemlich Prominenten, einem Landesgruppen-Chef im Deutschen Bundestag, bekannt geworden. Dem hatte er in einer Schadenersatzklage gegen ein Satireblatt zu einem Verhandlungserfolg verholfen. Punzel war bei der Angelegenheit nicht ganz wohl gewesen, denn der Politiker hatte sich die ironischen Attacken in Wort und Bild wegen seiner eitlen Art bei gleichzeitig saudummen Vorschlägen zur Verkehrspolitik mehr als verdient. Aber der Anwalt konnte es sich nicht leisten, ein so einträgliches Mandat abzulehnen. Und, tröstete er sich, der Schlimmste von allen war dieser Volksvertreter Dr. Breuer ja auch wieder nicht. Auf diese Geschichte hatte sich die Presse im übrigen auch wieder gestürzt. Punzel blieb im Gespräch.

„Also, dann hellen Sie mal meine Stimmung auf!“ Romy hatte gerade den ersten Bissen ihres Carpaccios mit geschlossenen Augen genossen, als sie von Punzel die Einlösung seines Versprechens einforderte.

„Na, alles deutet darauf hin, dass ich auf dem besten Wege bin“, antwortete der. „Die Vorspeise ist mir schon mal eine Hilfe. Und dann der Wein. Probieren Sie den Roten doch gleich mal. Dem Cannonau habe ich jeden Abend auf Sardinien zugesprochen, und er war gleichfalls ziemlich beredt. Urteilen Sie selbst! Salute!“

Tatsächlich erwies sich auch das so gelobte Getränk als Stimmungsaufheller.

„Sommer, Sonne, Mittelmeer“, fasste Romy das Ergebnis der Weinprobe zusammen und war versucht, dem ein Lächeln hinterherzuschicken. Aber so leicht darf man es untreuen Männern natürlich nicht machen.

„Um Ihrer Absolution ganz sicher zu sein, möchte ich gleich noch die nächste Einladung aussprechen. Nicht zum Essen, nicht in eine Bar – obwohl wir mal wieder einen guten Cocktail im Think, Drink. zu uns nehmen könnten – nein. Ich sehe ja, dass Sie sich ein wenig unterfordert fühlen von der Arbeit in der Kanzlei. Was halten Sie deshalb davon, wenn Sie mich bei meinem nächsten Fall wieder unterstützen, wie damals, als wir unseren Doppelmörder im sinnLich-Club gemeinsam das Geständnis entlockt haben? Sobald wieder ein Fall hereinkommt, bei dem ich auf Ihren Esprit angewiesen bin, sind Sie dabei. Was halten Sie davon?“

„Herr Punzel, Sie wissen, wie man eine Frau herumkriegt“, erwiderte Romy, mehr anerkennend als übermäßig erfreut. Sie hob aber ihr Glas, und so stießen sie mit dem sardischen Wein an, zum Zeichen, dass die Verabredung galt.

Jetzt endlich ließ sie ihr wohlvertrautes und anbetungswürdiges Lächeln wieder aus dem Kerker von Missgunst und Eifersucht frei.

„Also gut, Sie haben es mal wieder geschafft. Das, mein unvergleichliches Lächeln, ist die Münze, mit der ich zahlen kann. Und ich zahle immer bar.“

„Mir allemal lieber als seelenlose Kontobewegungen“, pflichtete ihr Chef Romy bei. „Dennoch: Auch finanziell wird Ihre Hilfe ganz sicher nicht Ihr Schaden sein.“

Es hatte den Anschein, auch wenn das Gespräch an dieser Stelle ins eher Geschäftliche abgedriftet war, dass sich Romys legendäres Lächeln fortan noch eine Spur zauberhafter entfaltete. Das war aber gar nicht entscheidend. Punzel jedenfalls war selig.

Nachdem auch Hauptgericht und Dessert zur vollen Zufriedenheit beider ausgefallen waren, gab Romy fürsorglich Punzel noch zu bedenken, dass er für die prunkvolle Abendgesellschaft noch in ein angemessenes Outfit steigen müsse.

„Und ich vermute, damit sieht es in Ihrem Kleiderschrank eher mau aus.“

Sie wusste gar nicht, in welchem Ausmaß sie recht in dieser Annahme ging. Punzels Gesicht begann augenblicklich vor Verlegenheit zu knautschen.

„Dachte ich mir's doch. Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Nachmittag bei einem Anzugkauf begleite? Es sei denn, Ihre famose Reisebegleiterin erhält das Privileg.“

Ihr Arbeitgeber schüttelte noch ein Stück verlegener den Kopf.

„Dann will ich mal nicht so sein“, fuhr sie fort. „Es ist aber ein einmaliger Service, und auch nur, weil es mir ein ganz klein wenig Spaß machen wird, sie zu verkleiden.“

Sie leerte ihren Caffè und blickte ihn herausfordernd an. Punzel fiel keine sonderlich originelle Formulierung seiner Ergebenheit ein.

„Das würden Sie tun? Sie glauben nicht – oh doch: Sie wissen ganz genau, welchen Gefallen Sie mir damit tun.“ Und dann, misstrauisch werdend, lauernd, fügte er an: „Sie werden mich doch nicht durch eine alberne Kostümierung in Misskredit bringen?“

Romy lachte, jetzt völlig entspannt.

„Ihren Kredit haben Sie bei mir ohnehin erst einmal aufgebraucht. Aber keine Angst: Wir werden Ihnen einen wunderbaren Anzug von der Stange verschaffen. Und dazu ein, zwei damit aufs feinste harmonierende Binder. Halt, nein, ich weiß was viel Besseres, fast Überwältigendes. Ich wollte schon immer mal einen Mann mit Plastron haben. Sie werden es sein.“

Bevor er sich, vorsichtshalber errötend, erkundigen konnte, um was es sich bei einem Plastron handelte, drängte ausgerechnet die Angestellte zum Aufbruch. Es galt für sie und ihren Chef wieder den Ort aufzusuchen, von dem aus sie nicht nur Ihre Einkünfte aus einerseits selbständiger, andererseits abhängiger Beschäftigung erzielten, sondern auch ihren Teil dazu beizutragen, der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wobei es allerdings Anwälten wie auch ihren staatsexamenlosen Mitarbeitern klar sein sollte, dass ein Satz, in dem Recht und Gerechtigkeit in einen Zusammenhang gebracht werden, zu keiner sinnvollen Aussage führen kann.

Punzel war ausreichend angeheitert, um wieder einmal einen Versuch zu unternehmen, seinen Hut mit einem Wurf aus kurzer Distanz am Garderobenhaken in seinem Zimmer zu platzieren. Das ging verlässlich schief. Bücken, Kopfbedeckung aufheben, über den Haken stülpen – alles inzwischen Routine.

Nie gehört aber waren Romys letzte Worte, bevor er geschäftig tuend in seinem Büro verschwand.

„Sie und diese … Sie hatten ein Doppelzimmer. Leugnen Sie nicht!“

2

„Der feine Herr geht also zum Bankett“, spottete Gustav am Telefon. Sein Kompagnon hatte Punzel angerufen, weil er ihn willkommen heißen wollte und sie sich im Büro nicht gesehen hatten. „Klar, er ist ja jetzt auch ein Prominentenanwalt. Geh ruhig, mir bleiben immer noch die Brosamen des Arbeitsrechts.Vielleicht darf ich ja mal diesen Bayernkanzler vertreten, wenn er mal wegen groben Unfugs endlich geschasst ist.“

Punzel wollte seinem ihm lieb gewordenen Kollegen nicht die Hoffnung auf lukrative und medienwirksame Auftritte nehmen und schwieg vornehm.

„Überhaupt hätte ich heute Abend gar keine Zeit. Ich muss mich auf eine Verhandlung morgen noch vorbereiten. Mal wieder ein Gütetermin.“

Dieses Wort alarmierte seinen Partner regelmäßig. Prüfend schaute er den um wenige Jahre älteren, kaum größeren, dafür aber deutlich korpulenteren Gustav an, der – um ebenso intensiv zurückstieren zu können – seine modische, breitrandige Brille von der Nase nahm.

„Gütetermin! Justav, mein Justav, versprich mir, dass du dabei nicht wieder die Pferde mit dir durchgehen lässt. Es handelt sich doch, wie dir der Name vielleicht sagt, um Vermittlung, Einigung, und zwar um eine einvernehmliche. Lass das doch nicht so an dich 'rankommen.“

Ob er mit diesem Appell Erfolg haben würde, daran zweifelte Punzel mit Fug; vor allen Dingen, berufsbedingt, aber mit Recht. Er wusste ja, wie sehr seinem Kollegen und Freund die ewigen Arbeitssachen auf die Nerven gingen. Wie glücklich war Gustav im letzten Sommer gewesen, als er seinen Anteil an der Ergreifung des Frauenmörders Richie hatte leisten können.

Rechtsanwalt Richard-Anton Punzel fühlte sich verantwortlich. Schon wieder. Denn wenn er schon Romy ein Angebot machte, dass sie, wie erwartet, nicht ablehnen konnte, so würde er auch Gustav eines in Aussicht stellen müssen.

Fragte sich nur, woher in diesem Fall der Fall kam, also das Verbrechen, das Großdelikt, das Megaprojekt, an dem sich wieder ein größeres Team hätte abarbeiten dürfen? Er konnte ja schlecht selbst in dieser Hinsicht aktiv werden, um Arbeitsplätze und das Glück der ihm Nahestehenden zu sichern.

Einstweilen vertröstete Punzel Gustav auf ein Feierabendbier im Absacker an einem der folgenden Abende. Dann könnten sie ihr Bündnis erneuern, auch ohne einen aktuellen, brisanten Fall.

Derjenige, der ihm im Moment am meisten zu schaffen machte, war keiner solchen Kalibers. Es ging um einen Fall von Körperverletzung, immerhin. Sein Mandant war beschuldigt, seinen potentiellen Schwiegervater übel zugerichtet zu haben, so dass der gefallen war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Uwe Seiler, sein Klient, stellte die Vorkommnisse aber so dar, dass der Schwiegervater ins Stolpern gekommen sei, und als er ihn habe auffangen wollen, habe er ihn unglücklich erwischt und ihm den Arm ausgekugelt. Das Opfer, vor Schmerzen laut aufschreiend, habe er daraufhin losgelassen. Dabei sei es heftig hingeschlagen, und bei dem Versuch, den Fall mit der rechten Hand zu dämpfen, habe es dort eben böse geknackst.

Auch wenn der Schwiegervater ein ziemliches Ekel sei und meine, seine Tochter habe etwas Besseres verdient als ihn, den Abteilungsleiter bei der Arbeitsagentur, würde er ihm doch niemals einen solchen Schaden zufügen, erst recht nicht ausgerechnet bei seiner eigenen Verlobungsfeier. Außerdem habe den Vorfall, der passiert sei, als der Schwiegervater gerade eine weitere Flasche Wein aus dem Keller holen wollte („der Geizhals holte immer nur eine Flasche“), der Bekannte seiner Frau, ein Hubert K., beobachtet und eigentlich auch bezeugen können, dass er, Seiler, unschuldig an dem Unglück sei. Dieser Augenzeuge, Hubert K., begehrte, soweit er das beurteilen konnte, immer noch seine Verlobte Berta von Binnen. Der Betriebswirtschaftler, Faustballspieler und Geschäftsführer einer bekannten Berliner Spedition sei aber ein ausgesprochener Langweiler, und seine Verlobte habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er, Seiler, es sei, den sie heiraten wolle.

Punzel überlegte auf dem Weg – er hatte sich mit Romy am Bekleidungskaufhaus Beck&Quakenbrück verabredet –, dass er noch in der laufenden Woche versuchen würde, dem schwiegerväterlicherseits ungewollten Liebhaber der Braut auf den Zahn zu fühlen. Außerdem wollte er herausfinden, ob es nicht auch Videoaufnahmen von dem Geschehen gab. Das war schließlich nicht unwahrscheinlich, denn auf solchen Feierlichkeiten lief doch eigentlich ständig irgendeine Handykamera.

Rechtzeitig stand er vor den Toren des Modehauses und konnte nach nur kurzer Wartezeit seiner Assistentin zur Begrüßung einen Wangenkuss schenken.

Die Abendanzüge in der Herrenabteilung waren schnell gefunden. Beinahe noch schneller allerdings erlahmte Punzels Bereitschaft, all zu viel Zeit und Mühe in den Erwerb einer ihn vorteilhaft kleidenden Kombination zu investieren. Seiner Ansicht nach hatte er den Kulminationspunkt seiner stilistisch-modischen Möglichkeiten mit dem Erwerb zweier Hutmodelle erreicht, ja überschritten. Mit dem ersten dunklen Anzug, den ihm Romy reichte, war er sofort einverstanden und verzog sich in die Kabine.

Als er aus ihr wieder herauskam, zeigte sich auch seine modische Beraterin sehr angetan von dem Modell, wollte jedoch noch einige andere Optionen testen. Punzel ergab sich in sein Schicksal. Als nach gut einer Stunde Romys – und selbstverständlich auch seine – Wahl auf einen in jeder Hinsicht passenden Anzug gefallen war, nahm Punzel ihn ihr eilig ab und stand im Nu vor der Kasse, zahlte und war mit dem Paket unter dem Arm schon wieder auf dem Weg nach draußen. Romy erwischte ihn am Ärmel und unterband so seine Flucht aus der Konsumwelt.

„Halt, mein Freund, wer wird denn gleich an die frische Luft gehen“, bremste Romy seinen Freiheitsdrang. „Wir haben doch was ganz Wichtiges vergessen.“

„Was haben wir Wichtiges vergessen?“

„Ein Accessoire, eines, das ich an Ihnen heute nicht missen will, wie Sie wissen.“

„Ach dieses Plastikdingens.“ Punzel erinnerte sich nur ungenau.

„Plastron“, korrigierte sie mit Nachdruck.

„Was um alles in der Welt ist denn das jetzt Unanständiges?“, wollte Punzel endlich wissen.

„Für unanständig halten manche Verklemmte ja sogar Schlipse. Aber ein Plastron, ja, ein Plastron“, dozierte die Lohnabhängige vor ihrem in diesem Moment gar nicht sonderlich wissbegierigen Chef, „ist eine Art breite Krawatte, aber unvergleichlich viel schicker, von ganz besonderer Eleganz. Sie werden, wie so oft zuletzt, damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Mitkommen, mitstaunen!“

Sie riss ihn mit sich fort, eine Wahl hatte er gar nicht. Das ging ihm nicht als ersten so in den Fängen einer Frau, die ihren Liebsten nach ihrem inneren Bilde vorteilhaft auszustaffieren gewillt ist. Fündig wurden sie bei Beck&Quakenbrück allerdings nicht.

„So etwas Edles gibt es nur im Westkaufhaus“, proklamierte Romy, und schon kam Punzel endlich an die begehrte, sagenhafte Berliner Luft. Das aber auch nur für wenige Minuten, dann hatten sie das Berliner Traumhaus der exklusiven Konsumwünsche erreicht.

Das Objekt ihrer – also Romys –, Begierde fanden sie aber nicht gleich, so dass sie sich Auskunft heischend an einen Angestellten wandten. Der sprach den Begriff übertrieben nasalierend nach, konnte mit ihm aber nichts anfangen, so dass er einen älteren Kollegen hinzuzog. Des alten Fahrensmannes grüne Augen begannen umgehend zu leuchten.

„Welch seltener Wunsch“, freute er sich. „Selbstverständlich steht Ihnen das Westkaufhaus mit einer Auswahl von Plastrons gerne zur Verfügung, nicht wahr? Bitte setzen Sie sich doch und gedulden Sie sich einen Augenblick, n'est-ce pas!“

Romy und Punzel ließen sich auf den angebotenen Sesseln nieder. Es dauerte nicht lange, und der gute Geist des WEKAHA ließ sich schon wieder blicken, im Arm eine kleine Menge Stoff, bei dem es sich Punzels Vermutung nach um das kleidsame Etwas handelte.

„Ich bitte um Verständnis, nicht wahr, aber soweit ich mich erinnere, haben wir in diesem Jahr noch keinen Plastron veräußert. Ich habe deshalb im Lager nachgesehen. Ich kann Ihnen eine durchaus modische, ja exquisite Auswahl zeigen. Wenn Sie bitte mal schauen möchten, möchten Sie nicht?“

Des Verkäufers Arm, über den er die Stoffe gelegt hatte, richtete sich zwar an Punzel, doch war es Romy, die zugriff.

„Lassen Sie mal sehen: der nicht, der ist zu bunt, der geht, der ist zu grau, und der kam ja schon mit den Streifenhosen aus der Mode.“

Romy wusste wahrscheinlich gar nicht, dass sie soeben, in Gestus und Wortwahl, die Krawattenszene aus Billy Wilders Berlin-Komödie Eins, zwei, drei nachgespielt hatte. Nur der Verkäufer überhörte sein Stichwort, weshalb die Replik „Ach, Sie wollen Streifenhosen!“ unterblieb und die Szene insofern defizitär endete.

„Dieser ist es!“, jubilierte Romy endlich, und der Anwalt war drauf und dran, ihr erneut die Ware zu entreißen und deren Preis umgehend zu entrichten.

„Halt, hiergeblieben, anprobiert!“ Romy duldete keine überstürzten Handlungen in dieser elementaren Angelegenheit.

„Sehr wohl!“, gab Punzel eingeschüchtert zurück. Das vornehme Gebaren des weisen Alten hatte wohl auf ihn abgefärbt. Oder aber er bereitete sich schon mit der Wortwahl auf den Umgang in der Besseren Gesellschaft am Abend vor.

Auch der Verkäufer war bei Romys dominanter Kurzansprache zusammengezuckt, hatte sich aber schnell gesammelt und machte sich daran, den Plastron ihrer – also, wie gesagt, Romys –, Wahl kunstvoll zu falten. Seine Kundin ließ es dann gnädig zu, dass er das fertige Prachtstück dem Kunden um den Hals legte.

Romy blickte ihren Chef von allen Seiten skeptischprüfend an, bevor sie ein Urteil abgab. Der in Ehren gealterte und im WEKAHA ergraute Verkäufer fasste sich schneller.

„Das ist es, gnä' Frau. Perfekt, wenn Sie mich fragen.“

Das tat sie keineswegs, vielmehr neigte die Angesprochene noch einmal den Kopf. Dann war sich die Jury einig.

„Ja“, murmelte sie, „ja, durchaus.“ Und dann entschiedener: „Ja, das ist mein Mann, also mein Chef. Der kann, der muss das tragen.“

Man dankte allerseits für Beratung bzw. Kauf, und nachdem für den textilen Körperschmuck eine faire Summe beim zuständigen Kassierer hinterlegt worden war, durfte Punzel endlich den Ort des modischen Geschehens verlassen und Romy zum Dank für ihre Hingabe zum Kaffee einladen.

„Nicht dafür“, sagte sie, als sie sich in den etwas zu plüschig geratenen Fauteuils eines Cafés niedergelassen hatten. „Sie haben mir eine Freude gemacht, ich werde Sie sehr gerne in Anzug und mit Plastron sehen. Das bedeutet: Sie müssen mir ihr neues Outfit gleich noch vorführen.“

Darauf war Punzel nun gar nicht vorbereitet. Sein Heim war, obwohl er es eine Woche lang gar nicht bewohnt hatte, nicht sonderlich aufgeräumt. Allerdings, so überlegte er, verglichen damit, wie es sonst dort aussah, war es doch immerhin erträglich ordentlich. Also zeigte er sich einverstanden und nickte ihr nach einigen Momenten des Erwägens zu.

„Dann möchte ich Ihre Neugier nicht auf die Folter stammen. Per mia casa, per favore!“

Sie tranken aus und machten sich auf den Weg.

Schon seit Tagen ließen sich die vielen Schriftzüge nicht übersehen, die an Hauswänden, auf Stromkästen und Bushaltestellen aufgesprüht oder -gemalt worden waren.

„Wissen Sie, was das soll?“, erkundigte sich Punzel bei seiner Assistentin und wies sie sie auf einen davon hin.

Sie blieben vor einem Tag, wie man es vielleicht früher genannt hätte, stehen. Ein kryptisches „bmenSt“ war da zu lesen.

„Keinen Schimmer“, sagte die. „Wahrscheinlich Infos, die nur Mitglieder einer bestimmten Gang entziffern können. Wenn die Buchstaben denn überhaupt einen Sinn haben.“

„Sicher haben Sie recht. Und doch will man, wenn man damit schon dauernd konfrontiert wird, irgendwann wissen, was sie bedeuten.“

„Sie sind der Detektiv, kriegen Sie's 'raus Das wird Ihnen wieder einmal ein Mordsaufsehen verschaffen. Und ihr Mordsansehen noch einmal steigern.“

„Danke für die zweifelhaften Preiselbeeren. Ich werde es mir überlegen“, sagte Punzel nachdenklich.

Sie kamen gerade an der Nachricht „gtgtbb“ vorbei. Zwei Mal „g“, zwei Mal „t“, zwei Mal „b“.

„Verdammt“, murmelte der Anwalt, „das muss doch zu enträtseln sein.“

An diesem Tag war dafür keine Zeit mehr. Sie nahmen die U-Bahn, und keine zwanzig Minuten später standen sie in seiner Wohnung in Steglitz. Romy schaute sich, jedenfalls so lange er bei ihr war, nicht weiter um und kommentierte den Zustand von Zimmern und Nebengelassen nicht. Nachdem sich ihr Chef umständlich in die neue Schale geworfen hatte, traute er sich, ihr in seinem recht edel aussehenden dunkelblauen Anzug gegenüberzutreten.

„Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen“, lächelte sie. „So gewandet machen Sie uns keine Schande, im Gegenteil. Trumpfen Sie richtig auf in der Besseren Gesellschaft. Und vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben: Ziehen Sie uns einen neuen, herausfordernden Auftrag an Land!“

„Versprochen“, antwortete er, „ich stelle mein Team wieder zusammen. Wir sind im Auftrag des Rechts unterwegs!“

3

Dr. Schult war pünktlich. Wie so viele andere hatte auch er sich kürzlich einen SUV zugelegt. Es gab ja kaum noch anderes zu kaufen. Alle waren sie Hybridfahrzeuge, steuerlich massiv gefördert, weil sie über einen elektrischen Hilfsmotor verfügten. Neueste Untersuchungen hatten ergeben, dass dessen Einsatz im Schnitt bei nicht zu verachtenden knapp 9% der Fahrleistung lag. In fünf Jahren, also Anfang der 30er, sollten 15% gesetzlich verbindlich werden.

„Wer hat, dem wird gegeben“, seufzte Punzel beim Einsteigen und meinte gar nicht mal Dr. Schult persönlich. Dennoch zahlte er irgendwie mit seinen Steuern dessen zivilen Panzer mit.

„Ich habe Dich nicht verstanden“, sagte sein Chauffeur für diesen Abend, als er den Benzinantrieb kurz und diskret aufheulen ließ.

„Nichts, es war nichts. Ich habe mich nur gewundert, warum um diese Zeit noch so viel los ist auf den Straßen. Feierabendverkehr kann es wohl nicht sein, wer nimmt in seinem Homeoffice schon den Wagen, um in die Küche zu kommen.“

„Kroppzeug“, sagte Dr. Schult nur.

„Na, so würde ich über die Leute niemals reden. Nur denken.“

„Kroppzeug“, wiederholte Dr. Schult. „Das ist nichts Prekäres, das ist doch diese Band, von der alle sprechen. Außer dir wahrscheinlich. Die spielen heute Abend im Olympiastadion, und all die Menschen sind auf dem Weg dorthin, blöd wie immer nehmen sie dafür ihre Autos.“ Sein Kompagnon informierte den nichts anderes als den Rock der Siebziger schätzenden Punzel über den phänomenalen Erfolg der Kapelle aus Berchtesgaden; rätselhafter Weise beschränkte sich ihr Triumphzug nicht nur auf Deutschland, sondern erstreckte sich seit neuestem auch auch auf das UK und die Vereinigten Staaten. Progressiver Rhythm and Blues und Rap mit minimalem folkloristischem Einschlag und ebensolcher Besetzung. Und immens politisch.

„Kein Wunder, dass das an mir spurlos vorübergegangen ist. Und an der politischen Botschaft an siebzigtausend SUV-Ergebene bin ich auch nicht interessiert. Ich bedaure!“

„Schon gut. Ich fahr ja nicht hin. Nein, wir haben die Ehre, am Empfang der Stiftung sozkult teilzunehmen.“ „Zu dem wir mit einem Special Utility Vehicle anreisen. Das ist natürlich etwas anderes.“

„Sei nicht neidisch, sei lieber gut informiert. Ich werde dich mal über die Sachlage ins Bild setzen.“

Stratege Dr. Schulz setzte Punzel umständlich auseinander, dass die Stiftung über Kapital ausgestattet sei, das ihr aus politischen und Unternehmerkreisen zugedacht wurde. Prunkstück sei das Gutshaus im Süden der Stadt samt großem Gelände, das aus einer Erbmasse stamme, eine Grundlage für die Kapitalausstattung der Stiftung. Daraus finanziere sie zum einen Stipendien für hoffnungsvolle Talente auf den Gebieten nicht nur der Volks, sondern auch der Betriebswirtschaft; zum anderen unterstütze man generös kulturelle Projekte, insbesondere eines, das kaum gespielte und fast vergessene Opern ausgrub, aufarbeitete und einmal im Jahr aufführte für ein ausgesuchtes Publikum.

Punzel konnte die nicht aufkommende Euphorie, in die ihn dieser Bericht über die ehrenvollen Aktivitäten der Stiftung in keiner Weise versetzte, gut verbergen. Und er konnte es ebenso gut abwarten, mit den Damen und Herren, welche sich in ihrem Umfeld bewegten, noch am selben Abend bekannt gemacht zu werden. Er empfahl Dr. Schult sogar, einen anderen Weg als den von diesem bevorzugten zu wählen. Dadurch wären sie mindestens zehn Minuten später an Ort und Stelle gewesen; ein willkommener Aufschub. Sein Chauffeur schüttelte den Kopf und verschloss sich Punzels Ansinnen.

So erreichten sie den Hof ganz ohne Müh' und Not, genauer: das Gutshaus. Punzel konnte kaum fassen, was als Erstes geschah, aber er träumte nicht. Ein livrierter Bediensteter erbat den Autoschlüssel, um den Wagen zu parken. Dr. Schult übergab ihn lässig und schob Punzel Richtung Eingang des beeindruckenden Anwesens.

Die dort wachhabenden Aufpasser in schwarzen Anzügen, einige davon mit Knopf im Ohr, warfen nur einen kurzen prüfenden Blick auf ihre Tickets, dann waren sie schon berechtigt, wenn nicht das Allerheiligste, so doch doch das alles andere als profane Gebäude zu betreten.

Im Innern, Dr. Schult kannte sich offensichtlich aus, waren es nur wenige Schritte bis zum Festsaal. Unter einem monströsen Kristalllüster hatten sich teils an den weißbehussten Stehtischen, teils frei im Raum verteilt, zahlreiche Damen und Herren in Abendkleidern, Fracks und Anzügen in kleinen Gruppen zusammengefunden. Die beiden Neuankömmlinge nickten erst einmal grüßend allgemein in jede Richtung, was unerwidert blieb, ergriffen dann jeder ein Glas Champagner vom, von einem Livrierten dargebotenen, Tablett und orientierten sich.

Nicht lange hatten sie Gelegenheit, das prächtige Interieur, etwa die wertvollen Wandtapeten, zu bewundern oder sich einen genaueren Eindruck von den Gästen zu verschaffen, denn schon gesellte sich ein Mann zu ihnen. Punzel schätzte ihn auf Mitte sechzig.

„Erst sieht man sich nie, dann sieht man sich immer“, sprach der kleine Herr. „Wann, sehr verehrter Herr Dr. Schulz, hatten wir das letzte Mal das Vergnügen?“

„Es muss im Amtsgericht Charlottenburg gewesen sein, Herr Dr. Manger“, gab der Angesprochene zurück, „am 14. März.“

„Sie haben ein Gedächtnis wie ein Elefant“, lächelte Dr. Manger, wohl selbst beeindruckt von seiner Schlagfertigkeit. „Aber ohne Fleiß kein Preis. Sie sind wahrlich kein Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt.“

„Wir waren in einem Verfahren Gegner“, erläuterte Dr. Schult seinem Kompagnon.

„Und er hat kurzen Prozess gemacht“, kam Dr. Manger seiner Erinnerung zu Hilfe.

„Auch mein Kollege, den ich Ihnen vorstellen möchte, muss sich als Anwalt nicht verstecken. Ein großes Talent: Richard-Anton Punzel.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Dr. Manger“, sagte Punzel artig.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich sage immer: Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei. Ist es nicht so?“

„Wie wahr, Herr Dr. Manger, wie wahr“, kam Dr. Schult seinem Kollegen zuvor, der wohl mit Recht eine unangemessen lakonische Entgegnung nach dem Muster „Wo Sie recht haben, haben Sie recht“ fürchtete. Rasch ergänzte er noch: „Herr Dr. Manger ist Vorstandschef der Brill AG. Du wirst sie kennen.“

Punzel hatte keine Ahnung, nickte aber, vorgeblich bestens orientiert.

„Eine schöne Frau, in diesem Fall meine, soll man nicht warten lassen“, sagte ihr Gesprächspartner dann. „Verweilen Sie noch viele Augenblicke, sie sind so schön.“

Sobald Dr. Manger außer Hörweite war, hob Punzel zu einer Frage an. Dr. Schult kam ihm erneut zuvor.

„Ich habe von ihm auch noch nie einen Satz gehört, der nicht eine Sentenz, eine Redensart, ein Zitat war. Das hält man nicht lange aus und es macht die Zusammenarbeit nicht einfach. Kein Schimmer, wie er damit so erfolgreich werden konnte. Reich, auch einflussreich, ist er jedenfalls.“

„Was macht man eigentlich, wenn man etwas Wichtiges sagen will, aber es fällt einem partout keine passende Redensart ein?“, dachte Punzel. „Wie viel muss da ungesagt bleiben. Eine interessante Welt, in der sich der alte Herr da bewegt.“

Sie sollten ihm an diesem Abend noch einmal begegnen. Einstweilen genossen die beiden Anwälte das ausgesprochen vielfältige und exquisite Buffet, wobei Punzel auf Drängen seines Partners erstmals die Bekanntschaft mit Austern machte. Eine künftige, innigere Beziehung mit ihnen konnte er aber danach mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen.

Ulrich von der Borgen, den Dr. Schult in dem Gewusel entdeckte, wie er, neben einer etwa gleichaltrigen Frau stehend, mit einem Champagnerglas in der Hand auf den Kronleuchter starrte, würde ihm allerdings auf gewisse Weise länger erhalten bleiben. Nur: Woher hätte Punzel das ahnen sollen, als er dem Mann mit dem Adligen im Namen vorgestellt wurde?

Sein Kompagnon übernahm das.

„Mein Mitarbeiter, Richard-Anton Punzel.“

Mitarbeiter! Punzel guckte säuerlich, fasste sich aber schnell und streckte die Hand aus.

„Ulrich von der Borgen. Meine Schwester.“ Man verneigte sich zur Begrüßung voreinander. Frau von der Borgen blieb im Folgenden schweigsam.

„Sehr angenehm. Herr von der Borgen und ich kennen uns vom Golfsport und nicht – oder soll ich sagen: noch nicht? – vom Geschäftlichen her“, erläuterte Dr. Schult.

„Das ist richtig. Mag sein, dass sich das ändert. Wissen Sie, ich habe das ungute Gefühl, dass mein alter, ich muss sagen: sehr alter Rechtsvertreter von der Komplexität meiner aktuellen juristischen Auseinandersetzung doch überfordert ist.“

„Das hört man gern …“, vergriff sich Punzel und musste sich von seinem Kollegen diplomatisch interpretieren lassen.

„Wir meinen natürlich, wir wären jederzeit bereit, Ihnen unsere Unterstützung anzubieten.“

„Das allerdings“, sagte von der Borgen bedächtig, „erwäge ich schon seit einiger Zeit. Deshalb freue ich mich, Sie hier zu sehen. Können wir uns, für einen ersten Gedankenaustausch, an einem der nächsten Tage treffen? Übermorgen würde es mir zum Beispiel sehr gut passen.“

„Perfekt!“ Punzel übernahm jetzt Verantwortung. „Wir freuen uns. Ich darf Ihnen unsere Karte überreichen?“

„Nicht nötig“, wehrte ihr potentieller neuer Mandant ab, „ich kenne nicht nur Ihre Kontaktdaten, ich weiß alles über Ihre Kanzlei.“

Dr. Schult wurde ein bisschen bleich.

„Wissen Sie, das hier“, er blickte nach oben und in die Runde, „das hier hat alles mal meiner Familie gehört, das ganze Gutshaus. Man hat es uns abgeluchst, damals. Sie wissen, wovon ich rede. Wir sehen jetzt gute Chancen auf Restitution. Und Sie sind klug und gewitzt, so viel weiß ich. Schauen wir doch, ob wir zusammenpassen und etwas erreichen können.“

Er empfahl sich, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Ah jaaaa“, machte Dr. Schult. „Alter Adel, will wieder in seine vermeintlichen Rechte eingesetzt werden. Ein bisschen unappetitlich, was meinst du?“

Punzel überlegte nicht lange.

„Unappetitlich, das trifft es. Aber höchst lukrativ, wenn ich mich nicht irre, hihihi. Da ist ein ordentlicher Streitwert zu erwarten. Ich bin kein Freund des Blaublütigen, aber hören wir ihn doch mal an. Wenn er im Recht ist, wird er sein Recht schon bekommen, warum sollen wir da nicht mitwirken und mitkassieren?“

„So gefällst du mir!“ Sein Kompagnon schlug Punzel auf die Schulter. „Hast dir doch was bei mir abgeschaut, was?“

Jetzt wurde Punzel bleich.

„Ich hoffe doch nicht. Wenn du meinst, ich orientiere mich an deinem starren Blick aufs Geld – vergiss es! Aber wenn die fidelen Feudalen meinen, wieder ihre Privilegien einklagen zu müssen, dann habe ich nichts dagegen, wenn etwas dabei für mich abfällt. Sie werden schon nicht wieder ans Ruder kommen.“

„Ans Ruder? Werden sie nicht?“ Dr. Schult war sich da nicht so sicher. „Dein Wort in des Kaisers Ohr.“

In diesem Augenblick hob ein Quartett zu streichen an. Die beiden Anwälte lauschten, wie die anderen Gäste auch, eine halbe Stunde lang den klassischen Klängen.

Als Punzel auch das überstanden hatte, machte sich Dr. Schult daran, den Gastgeber des Abends, den Vorstand der Stiftung, zu suchen. Er wollte ihn dazu befragen, wie die Chancen der vermeintlichen Erben standen, das Familiensilber bzw. Betongold zurückzuerhalten. Doch war er erfolglos dabei, einen der beiden Herren oder die Dame ausfindig zu machen. Sie waren auch schon eine Weile nicht gesehen worden.

So gesellte er sich wieder zu Punzel, sagte ihm, dass er noch eine Weile bleiben wolle, um vielleicht doch noch seinen Wunsch zu erfüllen. Lange standen sie nicht allein, da promenierte der Manager Dr. Manger samt Gattin wieder an ihnen vorbei und legte einen Halt ein.

„Unverhofft kommt oft“, sprach es ihn, woraufhin er seine Angetraute bat, das Wort zu ergreifen.

Was sie auch tat.

„Wir, mein Mann und ich, haben uns überlegt, ob wir Sie, Herr Punzel, einladen dürften. Würden Sie uns die Freude machen, uns zu einem Opernabend zu begleiten? Sie, junger Mann, haben uns durchaus beeindruckt, weshalb wir gerne mit Ihnen ein paar Stunden in heiterer Atmosphäre verbringen würden. Übermorgen? La Traviata? In der Deutschen Oper? Wunderbar! Sagen Sie dort einfach, dass Sie einer Einladung von Dr. Manger folgen. Bis dahin!“

So schwebten sie davon, nicht ohne dass Dr. Manger noch ein Wort, über die Schulter gesprochen, an sie wandte.

„Spät, aber nicht zu spät.“

Einigermaßen erschlagen von dieser zweiten Begegnung versuchte sich Punzel an den Gedanken zu gewöhnen, gleich einen ganzen Abend mit dem Manger-Paar zu verbringen. Und dann noch in der Oper! Es wäre völlig unzutreffend gewesen, in dem Anwalt einen Connaisseur der klassischen Musik zu wähnen. Gerade war er einem streichenden Vierer glücklich entkommen, schon stand ihm ein Fünfakter ins Haus! (Was so nicht stimmte, aber das wusste er da noch nicht).

„Siehst du, alles entwickelt sich bestens“, strahlte Dr. Schult. „Gutes Essen, erlesene Getränke, Musik vom Feinsten, und dann auch noch einige Geschäfte eingefädelt. Von mir aus können wir gehen.“

Dagegen hatte Punzel nicht das Geringste einzuwenden. Nach einem letzten Glas Champagner orientierten sie sich dann heimwärts. Da tauchte das Triumvirat des Vorstands doch noch auf. Dr. Schult fing sie ab, um seine Fragen loszuwerden.

„Glauben Sie mir“, sprach der eine, Dr. Klein, für alle, „daran ist nichts. Die Stiftung ist rechtmäßige Besitzerin des Gutshauses, und auf welcher Grundlage eine Restitution realisiert werden könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Haben Sie noch einen angenehmen Abend!“

Immerhin hatten sie nun auch schon einmal die Gegenseite gehört. Punzel allerdings hatte während der kurzen Unterhaltung weniger seine Ohren gespitzt als seine Augen weit geöffnet. Denn, eigentlich unübersehbar, trugen sowohl der Sprecher als auch die Frau zu seiner Linken Spuren eines weißen Pulvers in jeweils einem Nasenloch zur Schau. Und dabei handelte es sich weder um Reste eines Waschmittels noch um Mehlstaub. Punzel hatte keinen Zweifel.

„Die drei haben gekokst!“

Was er aber nur äußerst leise vor sich hinsprach. Vielleicht konnte man dieses Wissen ja noch mal gebrauchen.

Das war aber noch nicht alles. Als Punzels Blick sich, von irgendetwas angezogen, der Dame des Dreigestirns noch einmal intensiver widmete, nahm er einen nicht gerade kleinen, weißlichen Fleck auf dem Aufschlag ihrer Jacke wahr – und auf dem anderen ebenfalls eine solche verräterische Hinterlassenschaft.

„Worum es sich dabei handelt“, dachte er, „kann man sich auch leicht ausmalen, da bedarf es keines Laborbefunds.

Was für eine durch und durch verkommene sie war, diese Bessere Gesellschaft.

Im Auto versuchte er dann die aufkommenden Gedanken an den schon so bald drohenden Opernabend zu verdrängen. Einen hilfreichen ließ er aber noch zu: Er brauchte eine Begleitung. Wer anderes als seine Assistentin konnte ihm beistehen?

4

Romys neugierige Frage am nächsten Morgen konnte er kurz und bündig beantworten.

„Halten Sie sich bloß fern von dieser so genannten Besseren Gesellschaft“, brummte Punzel. „Dekadenz hatte immer schon einen Namen, und es ist heute noch derselbe: Adel. Aber nicht allein der mit dem Blut, schon lange hat sich der mit dem Geld dazugesellt, ja ihn unrühmlich ersetzt.“

„Oh, so schlimm ist es gestern gewesen?“, fragte seine Angestellte mitfühlend nach.

„Unausstehlich. Jetzt will die feudale Klasse sogar wieder in ihre alten Rechte eingesetzt werden. Also, erst einmal will sie ihre Immobilien zurück. Dann dauert's nicht lang, und sie wollen wieder ihre Leibeigenen auf Burg Haveldingskirchen drangsalieren. Aber ein Gutes hatte es gestern doch: Ich darf sie einladen!“

Romy schaute ihn erst erstaunt und – je länger er zögerte weiterzureden – schließlich erwartungsvoll an.

„Erweisen Sie mir, sehr verehrte Frau Schnittker, die Ehre, mich in die Oper zu begleiten?“

„In die Oper? Welche Überraschung!“

Punzel erläuterte ihr kurz die Hintergründe.

„Von Herzen gern!“, strahlte Romy nach dem Ende seiner Ausführungen. „Gerne bin ich an Ihrer Seite. Was wird eigentlich gegeben?“

„La Traviata.“

„Also richtig schön emotional. Oder kitschig, wie Sie wollen.“

„Ich will gar nicht, ich muss. Dr. Manger und Frau, vor allem er, sind eine rechte Zumutung. Aber dank Ihnen