Primat des Überlebens - Les Edgerton - E-Book

Primat des Überlebens E-Book

Les Edgerton

4,0

Beschreibung

Jake Bishop ist voll resozialisiert und träumt gemeinsam mit seiner Frau Paris den amerikanischen Traum, der sich als eigener Friseursalon materialisieren soll. Doch seine kriminelle Vergangenheit holt Bishop ein, und zwar in Gestalt seines ehemaligen Zellenkumpels Walker, der ihm im Knast das Leben rettete und nun, frisch entlassen, im Gegenzug etwase Starthilfe einfordert. Sich des über seinem Kopfe schwebenden Damoklesschwertes bewusst – einer bei der nächsten Verurteilung anstehenden lebenslangen Haftstrafe –, lehnt Jake entschlossen ab. Doch der Auftraggeber im Hintergrund hat Jakes Schwachstelle längst ausgemacht und zwingt ihn, den Einbruch bei einem lokalen Juwelier durchzuziehen … Ein rabenschwarzer Noir des US-Autors Les Edgerton, der hier eindrucksvoll zeigt, wie schnell Stigmatisierung und gesellschaftliche Unfreiheit in ein Pandämonium menschlicher Abgründe führen können.

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Primat des Überlebens
Les Edgerton
Prolog
Ich war elf, als mein Vater sein Schlafzimmer betrat und mich dabei erwischte, wie ich einige Münzen einsteckte, die er gesammelt hatte und in einer Socke verwahrte. Meist handelte es sich um ausländische Münzen, an die er während des Zweiten Weltkrieges in Übersee gekommen war, und ich habe keine Ahnung, wie ich britische Halfpence oder Dänenkronen hätte ausgeben wollen oder ob ich sie überhaupt hätte ausgeben wollen. Ich wollte sie nur haben, weil ich dachte, sie mir nehmen zu können, ohne erwischt zu werden. Nachdem er seinen Gürtel wieder angelegt hatte, zwang mich mein Vater, vier der kleinsten Münzen hinunterzuschlucken.
»Du wolltest sie, nun hast du sie«, sagte er. »Eins musst du dir merken: Ein Bishop stiehlt nicht. Kein Bishop ist jemals ein Dieb gewesen.«
Meine Mutter kam dazu, als ich die Münzen hinunterwürgte, stand da, weinte stumme Tränen, die ihr träge die Wangen hinunterliefen. Sie sagte kein Wort. Mein Vater hatte das Sagen und sie war, verglichen mit meiner Schwester und mir, eine nur wenig höhergestellte Lakaiin.
Sie weinte, nicht aber dieser hartleibige, elf Jahre alte Kriminelle. Ich war kurz davor, schluckte jedoch meine Tränen zusammen mit den Münzen hinunter, sobald ich sah, dass meine Mutter zu weinen begonnen hatte. Dieser Moment gewährte mir einen flüchtigen Blick in meine Zukunft, sollte ich weinen, denn dann würde ich ge­nauso schwach werden wie sie. Dass ich nicht in die Knie ging, brachte meinen Vater mehr in Rage als mein Diebstahl selbst.
»Ich sollte dich alle schlucken lassen«, sagte er.
»Dann hätte ich gern etwas Salz dazu«, sagte ich. »Und ein Glas Wasser.« Ich wusste, was diese Worte bewirken würden, und statt Angst zu haben, spürte ich eine nie da gewesene Kraft in mir anschwellen. Er konnte meinem Körper Schmerzen zufügen, aber er konnte mich niemals so unterdrücken wie den Rest der Familie. Die Erkenntnis, die ich in diesem Augenblick gewann, war mein erster Lohn als Dieb.
Er seufzte und schnallte seinen Gürtel wieder ab.
Als die Münzen einen Tag später wieder zum Vorschein kamen, langte ich in den Scheißhaufen und zermanschte ihn mit den Fingern, holte sie eine nach der anderen heraus. Ich schnappte mir den Riegel Lava-Handreiniger meines Vaters, den er täglich nach der Arbeit benutzte, und hielt ihn unter den Wasserhahn, bis die angetrockneten Reste von Öl und Dreck weggespült waren und der Riegel vor Sauberkeit glänzte, und schrubb­te dann die Münzen damit ab. Eine geschlagene Stunde scheuerte ich, bis sie aufblinkten und ihr Silber und ihre Bronze sanft schimmerten. Mein Vater fragte mich nie, was aus ihnen geworden sei, und ich habe sie noch heute.
Der erste Mord ist der schwerste. Egal, wie viele man noch begeht, es ist immer der erste, der einem nachts in den Träumen erscheint.
Das heißt nicht, dass der nächste so einfach ist. Nur einfacher. Es ist alles relativ, wie man so schön sagt.
Das Komische an der Überlegung, ein Verbrechen zu begehen – hat sich der Gedanke erst einmal Zutritt zu deinem Verstand verschafft, ist es auch schon gelaufen. Ebenso gut könntest du dieses Baby im Logbuch deines Lebens verewigen, denn dass es passieren wird, ist so sicher wie Regen in Seattle. Und sprichst du mit einem anderen Menschen darüber, dann ist der Erdrutsch schon den halben Hang hinunter. Wie bei einem Zugunglück, ist die Lok erst mal entgleist, folgt auch der Rest des Zuges.
Ich habe keine Ausreden. Schließlich prophezeite mei­ne Mutter mir täglich das böse Ende, von dem sie überzeugt war, dass ich es ansteuere. Von dem Moment an, als ich den Reißverschluss meiner Hose eigenständig zumachen konnte, sagte meine Mutter immer ziemlich genau das Gleiche, wenn sie sich meinetwegen gegen die Sünde aussprach. Einen täglichen Kampf, den sie um meine Seele ausfocht. Einen Kampf, von dem wir beide wussten, dass sie ihn verlieren würde.
»Wenn du einen sündigen Gedanken hegst, ist das in Gottes Augen so, als würdest du die Sünde begehen, Jacob«, sagte sie immer. Sie zeigte mir in der Bibel die Stelle, wo das geschrieben stand. »Siehst du?«, sagte sie, die Wangen gerötet vor göttlichem Beweis. »Wenn du etwas Böses denkst, mein Junge, kommst du direkt in die Hölle. Du musst es nicht einmal tun. Du musst es nur denken.« Gibt nicht viel, was ich dagegen machen könnte, wollte ich ihr sagen, tat es aber nicht. Ich hatte mich bereits vor langem der anderen Seite angeschlossen, vielleicht schon bei meiner Geburt. Das Ding mit der Erbsünde.
Am Tag, als sie starb, sollten selbst ihre letzten Worte noch versuchen, meine arme schwarze Seele zu erreichen. »Jakey«, sagte meine Mutter, ihre Stimme kaum zu hören unter dem Zischen des Beatmungsgerätes und dem Tönen der anderen Maschinen, woran die Ghule in weißen, gestärkten Kitteln sie angeschlossen hatten, um ihren verbrannten Körper am Leben zu erhalten. »Versprich mir, dass du ein guter Junge sein wirst. Versprich mir, dass du es versuchen wirst, Gott zu finden.« Zweiunddreißig Jahre alt und ihr verwirrter, sterbender, abgefuckter Geist sah stattdessen das Kind mit Fäustlingen an Bändern. Ein Teil ihres Verstandes war bereits dorthin gegangen, wohin ihr Körper folgen würde.
1. Kapitel
Alles begann mit einem Telefonanruf. Die anderen Stylisten hatten bereits Feierabend gemacht, aber ich hatte Probleme mit der Haarfarbe meiner letzten Kundin, probierte verschiedene Nuancen, während sie mich die ganze Zeit zur Schnecke machte. Irgendwie kam immer der falsche Rotton heraus, aber schließlich hatte ich es so hinbekommen, dass es ihr gefiel, und jetzt war ich allein im Salon, packte meine Utensilien weg, auch die Skelettbürste, die ich in dem Moment an die Wand geschmissen hatte, als die Kundin den Laden verließ. Ich rief meine Frau Paris an, fragte, ob ich auf dem Weg nach Hause irgendwas aus dem Supermarkt holen solle. Zu dieser Zeit wusste ich, dass, wenn sie etwas wollte, es sich voraussichtlich nicht um Milch und Brot handeln würde. Über siebeneinhalb Schwangerschaftsmonate angekurbelte Hormone forderten exotischeres Essen, obwohl es sie bis jetzt noch nie nach sauren Gurken verlangt hatte. Ansonsten jedoch nach so ziemlich allem ... Nicht so heute. Sie meinte, sie werde vermutlich alles wieder auskotzen, was ich mitbringen würde, und dann entschuldigte sie sich, um der Porzellangöttin ein weiteres Opfer zu bringen, vergaß dabei nicht zu erwähnen, dass sie mich liebe und mein Sperma hasse, und legte auf. Ich war auf dem Weg zur Tür, als das Telefon klingelte. Ich hätte es klingeln lassen sollen.
»Tangerine Z Hair Designs«, sagte ich im Abheben. »Jake am Apparat.«
Mein Gedächtnis ließ mich für mindestens volle zehn Sekunden komplett im Stich, bevor ich die Stimme er­kannte, die am anderen Ende der Leitung losplapperte. Dann ging mir ein Licht auf. Walker Joy. Ein Typ, mit dem ich jeden einzelnen Tag meiner letzten zwei Jahre in Pendleton verbracht hatte. Mein ehemaliger Zellen­kum­pel.
»Walker? Walker Joy?«
Die Stimme am anderen Ende machte eine Pause, legte wieder los, mit diesem Maschinengewehr-Sprech, den ich auf Anhieb hätte erkennen müssen. »Zum Teufel, wer, hast du gedacht, is hier wohl, Arschloch? Der Geldeintreiber?« Er schnaubte, angepisst, weil ich ihn nicht erkannt hatte. Er hing noch immer dieser Kriminellendenke an. Notorische Straftäter knüpfen auf eine Weise an Beziehungen an, die sich von der Gesetzestreuer unterscheidet. Da sie von den Mitgliedern ihrer Gemeinde jeweils über Jahre getrennt sind, ist es, als wären sie nur ein oder zwei Tage weg gewesen, wenn sie sich wieder einklinken.
In dem Moment, als ich Walkers Stimme erkannte, hatte ich überdeutlich das Bild der grauen Wände Pendletons im Kopf und ich spürte Schweiß auf meinen Handflächen.
»Gott verdammt, Walker«, sagte ich. »Zum Teufel, wie lange ist das her? Drei Jahre? Vier? Verdammt. Es sind vier Jahre, Walker.«
Vier Jahre. Das Ende meiner zweiten Haftstrafe und, wie ich beabsichtigte, mein letztmaliger Aufenthalt hinter Gittern.
Beim ersten der beiden Male, als sie mich aus dem Knast entließen, stolzierte ich hinaus – jung und großspurig, ganz der krasse Typ –, und ich brach mit der ältesten Gefängnisregel. Der Regel, die besagt, dass du zurückkehrst, blickst du zurück. Ich blickte zurück. Spazierte durch das Eingangstor, machte etwa zwanzig Schritte bis zum Flaggenmast davor, drehte mich direkt um, die Fresse zu einem breiten Grinsen verzogen. Blickte trotzig auf die drei Meter fünfzig dicken Mauern des Pendleton Reformatory, das sich gegen die hellere Schieferschattierung des Winterhimmels von Indiana abhob.
Beim zweiten Mal hatte ich dazugelernt. Beim zweiten Mal zog ich mir den Kragen über die Ohren, verkroch mich in meiner State-Issue-Jacke aus Seersucker und marschierte entschlossen zum Eingangstor hinaus, durch den Schneematsch auf dem Parkplatz, weiter zur Straße, die zum Highway führte, über die Bahngleise und dann zur Bushaltestelle auf dem Highway 38. Blickte kein einziges Mal zurück. Setzte nicht einmal auf mein peripheres Sehen, um zur Seite zu schielen.
Beim ersten Mal besaß ich die Unsterblichkeit der Ju­gend. Beim zweiten – und letzten – Mal war ich dahintergekommen, dass Pendleton kein Ort war, wo ich mich jemals wieder würde einfinden können. Und leben. Et­was geschah während meiner zweiten Haftstrafe, was den Sterblichkeitsmüll komplett versenkte.
Das letzte Mal, dass ich Walker Joy gesehen hatte. Oder überhaupt an ihn gedacht hatte. Er tauchte vor meinem inneren Auge auf, auf seiner Pritsche hockend, öffnete er die Packung Oreo, die ich ihm als Abschiedsgeschenk überreicht hatte.
Eine Menge Schnee von vor vier Jahren.
»Ich werde mich verspäten«, erklärte ich Paris eine Minute später am Telefon. »Ein alter Freund hat mich gerade angerufen. Ich werde ihm ein Bier ausgeben. Du und Bobby, fangt schon mal an und esst ohne mich.«
Bobby, mein kleiner Bruder, der bei uns wohnte.
Ich legte schnell auf, bevor sie mich fragen konnte, wer dieser »Freund« sei.
Ein eisiger Windstoß erfasste mich in dem Moment, als ich hinaustrat. Ich krümmte mich in meiner Jacke zusammen und zitterte. Überall lagen Haufen schmutzigen Schnees herum, die an vulkanische Asche erinnerten, und in der Luft hing ein grau-gelber Dunst, den die Dezembersonne in einem tapferen Kampf zu durchdringen suchte.
Der Notre-Dame-Campus befand sich direkt oben an der Straße und es musste eine Pep-Rally für die Notre Dame Fighting Irish gegeben haben, denn während der Verkehr vor dem Tangerine eine sich nach Norden, in Richtung Uni fortbewegende Masse aus Stoßstange an Stoßstange und im schwarzen Schneematsch zischenden Reifen zu sein schien, fuhren nur wenige Wagen auf der Gegenfahrbahn vorbei. Als ich die Tür meines weißen Lumina öffnete, zog im selben Moment eine düstere Wolkenbank vorüber und die Temperatur sank um weitere Grade, entsprach dem Gefühl, das mich begleitete, seit ich Walkers Stimme erkannt hatte.
Eine halbe Stunde nachdem Walker meine Welt via Ma Bell wieder betreten hatte, saßen wir in einer Nische der Boat-Club-Bar nahe dem Howard Park. Mein alter Zellenkumpel kippte sich einen Pfefferminzschnaps nach dem anderen hinter die Binde, während ich an einem Ginger Ale nippte. Ein paar Meter entfernt beschäftigten sich die örtlichen Stricher mit dem Pooltisch und auch miteinander.
»Tja, Walker. Wie lange bist du draußen?«, fragte ich. Soweit ich wusste, war ich der Einzige, der ihn mit seinem Vornamen ansprach. Die meisten Leute nannten ihn Spitball. Das hatte ihm sein Gesicht eingebracht. Es sah aus wie diese Papierkügelchen, mit denen wir uns auf der Highschool zu bewerfen pflegten. Seine Gesichtszüge waren in diesem Ball, der für sein Gesicht durchging, irgendwie zusammengeknautscht. Außerdem war er kahl wie ein pochiertes Ei und hatte überall diese Hautfalten, wo zuvor seine Haare gewesen waren, was aus der Distanz betrachtet wie eine Dudley-Do-Right-Haartolle aussah.
Eine Sache bei Walker, die ich vergessen hatte, war mir in der Sekunde präsent, als ich mich hinsetzte. Sein Geruch. Er roch immer wie ein Wald nach einer Woche Dauerregen. Ich hatte stets gedacht, das sei so, weil er nicht oft duschte – ich konnte mich kaum daran erinnern, ihn im Knast unter der Dusche gesehen zu haben. Manche Leute, die das so halten – wenig zu baden –, entwickeln keinen Körpergeruch, sondern eher den Geruch, der immer an ihm haftete. Nach dem ersten Erschnuppern fiel er mir dann kaum noch auf.
Ich hatte Walker etwas zu verdanken. Eines Nachts hatte er mir im Knast das Leben gerettet. Eine wirklich üble Nacht, die ich jahrelang zu vergessen suchte, die jedoch in Gestalt von Albträumen immer wieder zurückgekrochen kam, trotz des zeitlichen Abstandes.
»Ein paar Monate«, sagte er und nuckelte dabei an seinem Kurzen, den ich ihm gerade ausgegeben hatte. Das hatte ich mir gedacht. Er trug noch immer die schwarzen Schuhe Marke Knast und ein Hemd, das seit zehn Jahren aus der Mode war. Bevor wir Zellenkumpel wurden, war mir Walker bereits von den Straßen hier in Downtown ein Begriff gewesen, und er hatte nie die Art von Garderobe besessen, die man im GQ präsentieren würde. Den einzigen Unterschied zwischen dem, was er im Knast getragen hatte und nun hier draußen, beim Pflastertreten trug, stellten seine Hemden dar. Draußen bevorzugte er Flanellhemden im Winter, wie sie Holzfäller trugen und Möchtegerncowboys, und in den wärmeren Jahreszeiten hatte er gewöhnlich ein schwarzes T-Shirt an. Jeans, zu jeder Jahreszeit. Aktuell trug er seine Aufmachung für den Winter. Ein rotes Flanellhemd direkt aus dem Winterschlussverkauf von J.C. Penney.
»Schon flachgelegt worden?«
Er lachte. »Gleich am ersten Abend. Das wird wohl das hässlichste Mädchen bleiben, das ich bis zum Ende meines Lebens gefickt haben werde.« Ich lachte darüber. Ich wusste, was er meinte. Am ersten Tag nach der Haftentlassung würde ein Typ eine Schlange ficken, sofern er jemanden dazu brächte, sie für ihn festzuhalten. Für die nächste Nummer würde die Messlatte höher gelegt. Obwohl ... ein wählerischer Walker war kaum vorstellbar, nicht bei dem Gesicht, mit dem er sich in der Öffentlichkeit zeigen musste.
»Nun, erzählst du mir mal, worum es geht?«, sagte ich. »Du hast am Telefon recht verzweifelt geklungen. Brauchst du Geld?«
Ich dachte mir, ich könnte ihm fünfzig Dollar rüberreichen, eventuell sogar einen Hunderter. Viel mehr war nicht drin, nicht angesichts der Pläne, die Paris und ich hatten. Ich hatte vor, in weniger als einem Monat meinen eigenen Salon zu eröffnen. Gleich nach Neujahr. Paris hatte sich angeboten, die Rezeption zu schmeißen, bis wir Boden unter den Füßen hatten. Sie hatte sich bei der Versicherung, für die sie arbeitete, bereits einen Monat Urlaub genommen. Wir schätzten, ein Monat sei Zeit genug, so weit auf sicheren Beinen zu stehen, um sich jemanden für die Rezeption leisten zu können. Optimisten. Paris sagt, wir gehören der Das-Glas-ist-halb-voll-Fraktion an, und lacht dabei, aber ich nehme den Anflug eines Blinzelns in ihren Augen durchaus wahr und weiß, dass sie die Luft oben im Glas eher und mehr sieht als ich.
»Nee, Mann. Mir geht’s gut. Genau genommen werde ich ziemlich bald einen hübschen Haufen Kohle ma­chen.« Er hielt inne, wandte den Blick von mir weg, starrte hinüber zu den Typen am Pooltisch. »Ich könnte einen Gefallen gebrauchen.«
Einen Gefallen ... ich dachte an etwas Drolliges, was ich mal von jemandem gehört hatte. »Ein Gefallen«, hatte dieser Jemand gesagt, »ist im Französischen ein Ausdruck für ›lass mich dich ficken‹.«
Walker hatte weggesehen, als er es gesagt hatte; hinterließ bei mir ein komisches Gefühl.
Wir hatten eine gemeinsame Geschichte, Walker und ich. Schon vor meiner letzten Haftstrafe. Ganz konkret: seit meiner ersten Inhaftierung vor fast zwölf Jahren. Bei meinem ersten Mal waren wir keine Zellengenossen ge­wesen, aber bei meinem letzten Mal wurden wir Kumpel. Teilten uns zuerst eine Zelle im J-Zellenblock und zo­gen dann in Schlafsaal D. Man bezeichnete Pendleton als Besserungsanstalt, was nach einer Erziehungsanstalt für Jugendliche klang, was es aber nicht war. Es war  eines von zwei Hochsicherheitsgefängnissen in Indiana. Seinerzeit wanderten überführte Straftäter unter dreißig nach Pendleton, die über dreißig in das Gefängnis von Michigan City. Die gleichen Straftäter an beiden Orten. Vergewaltiger, bewaffnete Räuber, Einbrecher. Mörder.
Walker beging zu dieser Zeit bewaffnete Raubüberfälle und ich übte mich in der hohen Kunst des Einbruchs. Einbrüche zweiten Grades, Typen, die sich an die Arbeit machten, nachdem das Geschlossen-Schild ins Fenster gehängt und das Licht ausgeschaltet worden war. Meistens Bars. Einbrüche ersten Grades wurden von den Idioten begangen, die in Häuser einstiegen. Klettermaxes. Idioten, weil es erstens in diesen Häusern nichts zu holen gab, abgesehen von jemandes defekter Stereoanlage oder einem Fernseher, woran man sich einen Bruch hob, versuchte man ihn wegzuschleppen, und zweitens, weil Richtern in Indiana angesichts eines menschlichen Bodensatzes, der in anderer Leute Häuser einbrach, der Schaum vor den Mund trat.
Walker war geeicht auf Supermärkte, Warenhäuser. Eine Stufe über dem gewöhnlichen Straßenräuber. Er betrachtete die 7-11 und Schnapsläden von oben herab. »Was für Kleingeld-Künstler«, sagte er. »Onkel-Tom-Jobs.«
Was seinen Arsch vor einer längeren Haftstrafe rettete, wenn man ihn schnappte, war die Waffe, die stets ungeladen war, raubte er einen Laden aus. Richter betrachteten solcherlei mit Wohlwollen. Plus Walkers Haltung eines reuigen Sünders, was bei Richtern immer verfing. Er verfügte über eine Miene, die er aufsetzen konnte, stand er auf der Prozessliste, die Reue förmlich herausschrie. Richter schluckten diesen Mist.
Wir freundeten uns auf der Quarantänestation an, dem isolierten Zellenblock, in den sie einen stecken, bevor man auf die anderen Insassen losgelassen wird. Nehmen deine Fingerabdrücke, fotografieren dich für die Gefängnisakten, schicken dich zum Seelenklempner und weisen dir einen Sozialarbeiter zu. Unterziehen dich Tests, finden heraus, ob du in der Wäscherei arbeiten sollst oder in der Schlosserei oder ob du dir die beiden Gefängnisvarianten der Zubereitung von Bohnen draufschaffst, abhängig davon, was du in den Tintenklecksen gesehen und ihnen darüber erzählt hast.
»Ich sitze in der Klemme. ’ne echte Scheiße. Die Sache ist die, ich kann da rauskommen. Aber ich brauch deine Hilfe. Ich habe einen Job in Aussicht.«
Selbst wenn ich das Flehen in seinen Augen nicht gesehen hätte, in seiner Stimme hätte ich es gehört. Ich hätte auflegen sollen, vorhin, als er im Laden angerufen hatte. In einen Zug mit diesem Ziel, das wusste ich, wollte ich nicht einsteigen.
»Ich bin raus, Walker. Für mich stehen ein paar wirklich gute Sachen an. Ich werde das nicht vergeigen. Seit vier Jahren bin ich sauber, mein Freund.«
»Du schuldest mir was, Jake.«
Da war es. Er hatte recht. Wäre Walker Joy nicht ge­wesen, ich würde hier nicht sitzen. Vielmehr irgendwo anders. Ich hätte Balsamierflüssigkeit in meinen Venen anstelle von 0 negativ.
»Es ist ein Haus, Jake. Und ich weiß ganz genau, dass der Besitzer nicht in der Stadt sein wird.«
»Bist du übergeschnappt?«, sagte ich. »Ein Haus? Ein Haus, Walker?«
Ich trank mein Ginger Ale aus, suchte den Blickkontakt mit der Bedienung und hatte Erfolg. Ich hielt zwei Finger hoch.
»Es ist ein Kinderspiel, Jake. Der Mann hat nicht mal ’ne anständige Alarmanlage. Und es handelt sich um eine Art Betrieb, um genau zu sein.«
2. Kapitel
Ein »Kinderspiel« hatte mich auffliegen lassen, beide Male, die ich hinter Gittern landete. Es sind immer sichere Dinger, bevor man den Job durchzieht.
Ich seufzte. »Walker, ich muss dir mal was erklären. Ich hatte zwei Verurteilungen, Bruder. Du weißt, was das heißt.«
Er wusste genau, was das hieß: das Aus. Drei Verurteilungen und du bist weg vom Fenster. Gewohnheitsverbrecher. Noch ein Ding und der Richter würde über den Rand seiner Nickelbrille hinweg auf mich hinuntersehen und sagen: »Jacob Bishop, hiermit verurteile ich Sie zu einer lebenslangen Haftstrafe. Einen schönen Tag noch, Versager.« Allein bei dem Gedanken schrumpften mir die Eier, fing mein Nacken an zu schmerzen.
»Scheiße, Mann«, sagte Walker. »Meinst du, ich weiß das nicht? Ich sitze im selben Boot wie du. Aber dieser Job, Jake, ist wirklich ’ne sichere Kiste. Und dazu einen Anteil, von dem wir beide nie gedacht hätten, den mal zu kriegen. Ich rede von verdammt viel Geld, Kumpel.« Er machte eine effektvolle Pause. »Wie hören sich hundert Riesen pro Nase für dich an, Jake? Vielleicht auch mehr.«
Für mich hörte sich das nach einem Märchen an und das sagte ich ihm.
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass du an mich gedacht hast, Walker«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Aber ich muss passen. Wenn dieses Geschäft so gut ist, solltest du kaum Probleme haben, einen Partner zu finden. Verdammt ...« Ich wies mit dem Kopf zum Pooltisch und zur Bar. »Ich wette, du findest hier aus dem Stand sechs Typen, die dabei wären. Auch für wesentlich weniger. Vielleicht sogar für das, was du tatsächlich bekommen wirst.«
Ich legte meine Hände auf den Tisch und stemmte mich hoch.
»Tut mir leid, Walker. Wie ich gesagt habe, ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich bin jetzt an einem anderen Ort. Hier bin ich schon eine ganze Weile, und mir gefällt, wo ich bin. Aber ich wünsche dir alles Gute.«
Es war mehr als »an einem anderen Ort«. Ich war auf einem komplett anderen Planeten als beim letzten Mal, als Walker und ich miteinander gesprochen hatten.
Vor vier Jahren war ich in diesen nach Norden qualmenden Greyhound gestiegen, und ich hatte diesmal nicht nur keinen Blick zurück auf Pendleton geworfen, ich hatte auch keinen Blick zurück auf die anderen Reste meiner Vergangenheit geworfen.
Seitdem hatte ich ein paar Jobs gehabt, jeder besser als der vorherige, und arbeitete jetzt im nobelsten Salon der Stadt. Haareschneiden war in der dritten Klasse nicht mein Traumberuf gewesen – es war ein Handwerk, das ich im Knast erlernt hatte.
Schon schräg, wie ich diesen Gig an Land gezogen hatte. Vor zweieinhalb Jahren hatte ich den zweiten Job nach meiner Entlassung verloren (beim ersten war es nur eine Woche zum Aushalten gewesen). Der Chef, Jim Nance, war verstorben und der Laden sollte der Steuer wegen verkauft werden. Als ich das Bestattungsinstitut verließ, nachdem ich der Familie kondoliert hatte und mich nun fragte, welchen Job ich künftig machen sollte, kam ein Mann auf mich zu und stellte sich vor. Obwohl er das nicht hätte tun müssen. Ich erkannte ihn. Big Daddy Koontz. Wer auch immer ihm den Spitznamen  »Big Daddy« verliehen hatte, hatte nicht sonderlich viel Fantasie unter Beweis gestellt – der Mann war riesig. Gewaltig. Nicht in der Körperhöhe. Im Körperumfang. Immer, wenn ich ihn sah, musste ich an diese alte Bill-Cosby-Figur denken, Fat Albert. Das war Big Daddy – ein weißer Fat Albert. Selbst seine Stimme klang wie die von Fat Albert: tief und heiser. Eine Zeichentrickfilmstimme. Und er war nicht auf mich »zugekommen«, er war auf mich zugewatschelt, Gabardine umhüllte Schenkel, die aneinanderklatschten mit dem gleichen Ge­räusch, das jemand erzeugt, der bei »Willie and the Hand Jive« richtig abgeht. Außerdem gehörte Big Daddy der angesagteste Laden der Stadt. Eben dieser Salon.
Das Tangerine Z. Er bot mir einen Job an.
Ich glaube, mein Ruf war noch besser, als ich gedacht hatte.
Am ersten Tag verdiente ich mehr als in der besten Woche bei Jim, und ich hielt das damals für richtig gutes Geld. Dabei bot das Tangerine Z eher Hausmannskost.
Dann machte ich etwas nur so aus Jux und Tollerei. Ich belegte einen Kurs am örtlichen Zweig der Indiana University, an der Indiana University South Bend in der Greenlawn Avenue am Ufer des St. Joe River. Einen Überblickskurs über moderne englischsprachige Literatur. Wir lasen Bücher von Vonnegut, Brautigan und Ray Bradbury, dem Science-Fiction-Autor. Bei der Zwischenbewertung heimste ich ein A ein, überrascht, dass das College mir so leichtfiel. Einen Riesenerfolg in der Tasche, schrieb ich mich im nächsten Semester für zwei Kurse ein. Einführung in die Soziologie und für einen weiteren Literaturkurs, eine Einführung in Shakespeare. Im Soziologiekurs trat Paris in mein Leben. Sie kam am ersten Tag herein und setzte sich zwei Plätze entfernt von mir in dieselbe Reihe. Mein Blick fiel auf die längsten, schlankesten Beine, die ich jemals gesehen hatte, und ich war gerade dabei, wieder zu Atem zu kommen, als mein Auge ihr Gesicht erfasste. Sie war eine Naturblondine mit braunen Augen. Eine verdammt aparte Kombination. Später in unserer Beziehung, als wir für den horizontalen Pas de deux auf den Laken gelandet waren, erklärte sie mir, es sei die seltenste Haar-Augen-Kombination schlechthin.
»Nö«, sagte ich. »Ich habe eine Menge Blondinen mit braunen Augen gesehen.«
»Nein, hast du nicht«, sagte sie. »Zumindest keine Naturblonden. Check das mal ab.« Sie hielt kurz inne und schenkte mir ein Lächeln, das nicht wirklich ein Lächeln war. »Wenn ich’s recht bedenke ... check’s nicht ab. Verlass dich auf mein Wort.«
Ich dachte darüber nach und räumte eine Minute später ein, dass sie recht hatte. Keine von denen, die ich kennengelernt hatte, war naturblond gewesen. Alle wa­ren sie brünett gewesen, Blondinen aus einer Flasche. Kombinationen also, die man nicht miteinander vergleichen kann, chemisch gesehen.
»Ich vermute, du bist so was wie die einzig Wahre, oder?«, sagte ich. »Ich vermute, es handelt sich nicht um Miss Clairol hier unter mir, nicht wahr?«
Lange bevor wir in dieses Stadium eingetreten waren, hätte ich allerdings nicht im Traum daran gedacht, dass sie mit mir ausgehen würde. Es zogen noch drei Semi­nartermine ins Land, bis ich den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Mister Smoothy hier agierte nicht wie Mister Smoothy – statt mit einer dieser schlauen, blendenden Bemerkungen, die ich gewöhnlich raushaute, wenn ich mit einer Süßen auf Tuchfühlung gehen wollte, reagierte mein Hirn mit dem Gang in den Superfrost-Modus, kaum dass ich »Hi« zu Paris gesagt hatte, und ich fand mich stammelnd wieder wie ein pickliger Nerd bei seinem ersten Zusammentreffen mit einer Person des anderen Geschlechts und mit längerem Haar. Ich hatte vorgehabt, das Kiss-Konzert am nächsten Freitag vorzuschlagen, aber dieser Plan löste sich in meinem Kopf in Luft auf und ich landete stattdessen bei der Frage, ob ich ihr eine Cola ausgeben dürfe, wie eine dieser Figuren aus einem Band Archie Comics. Mr. Smoothy mutierte zu einem absolut lahmen Mister Dilton Doiley. Sie muss­te eine öde Woche gehabt haben, was Typen anbetraf, denn erstaunlicherweise sagte sie: »Klar«, und fünf Minuten später waren wir auf dem Weg zum Haus der Studentenverbindung, tauschten uns über unsere Sternzeichen aus und über all den anderen Blödsinn, was man eben so macht, trifft man jemanden am College, selbst wenn man nicht an diesen Blödsinn glaubt.
Zwei Stunden später saßen wir uns noch immer in einer der Nischen gegenüber und hatten noch immer nicht mit dem Reden aufgehört. Wir redeten wie sich abwechselnde Maschinengewehre, als würden wir uns bereits zeit unseres Lebens kennen, und dann platzte ich mit etwas heraus, in dem Moment, als es noch als Blase in meinem Kopf hochstieg. Sie musste den Eindruck gehabt haben, sie sitze einem Vollidioten gegenüber.
»Willie Mays«, sagte ich.
»Bitte?«
»Willie Mays.« Ich versuchte, es zu erklären. Mehr recht als schlecht. »Als Kind war ich ein Baseball-Freak. Ein Giants-Fan. Und Willie Mays war mein Held.«
»Ach«, sagte sie und ihre Augenbrauen rasteten als Ronald-McDonald-Bögen ein. »Das ist echt spannend, aber was hat das mit New Orleans zu tun?« Darüber hatten wir gesprochen, bevor ich die Bemerkung über Mays in die Unterhaltung einflocht – Städte, in denen wir gern leben würden.
Ich bemühte mich, Sätze zu formulieren, die einen Sinn ergaben.
»Willie Mays war elektrisch. Pure Elektrizität.«
»Okay«, sagte sie, die goldenen Bögen verschwanden, ihr Mund verzog sich zu einem Klugscheißergrinsen. »Einerseits eine ziemlich gruselige Information, andererseits komme ich immer noch nicht mit, was genau der elektrische Willie Mays mit New Orleans zu tun haben soll.«
Ihre Haltung ging mir auf den Sack.
»Hör mal«, sagte ich und spürte, dass mein Gesicht zu brennen begann. »Ich versuche, hier etwas zu erklären.«
»Tut mir leid«, sagte sie und ihr Mund entspannte sich wieder. Ich wusste, sie meinte es so.
»Okay«, fuhr ich fort. »Irgendwie ist das schwer zu erklären, besonders einem Mädchen, aber wann immer ich die Giants im Fernsehen gesehen habe und Mays an die Homeplate getreten ist, überkam mich das Gefühl, dass etwas Dramatisches bevorstand. Etwas Großes. Ein Homerun. Vor allem bei einer verzweifelten Situation im neunten Inning, ausgeglichener Spielstand, zwei Out – dieser Mist eben. Letzte Chance. So eine Art Schießerei am O.K. Corral. Willie Mays war da ... Möglichkeiten. Heroische Möglichkeiten.«
Ich hielt die Klappe. Ich hatte nie versucht auszudrücken, was mich bewegt hatte, wenn ich den »Say Hey Kid« zur Homeplate gehen sah, den Schläger in seiner Hand, aber das war es: Möglichkeiten. Elektrizität.
Wieder versuchte ich in Worte zu fassen, was ich seinerzeit empfunden hatte. »Die Kamera konnte ihr Objektiv nicht von Willie Mays lassen«, fuhr ich fort. »Auf dem Spielfeld, wenn er den Schläger hielt, Teufel noch mal ... selbst wenn er im Dugout saß. Wo immer er auch war auf dem Feld, was er auch machte, wenn die Kamera zu ihm hinüberschwenkte, hörte mein Herz für eine Sekunde auf zu schlagen, um dann wieder anzufangen, aber schneller. Meine Hände schwitzten und ich ertappte mich dabei, dass ich den Atem anhielt.«
»Wow«, kam es Paris leise über die Lippen. »Dieser Mays war ein starker Typ, oder? Aber –«
»Was er mit New Orleans zu tun? Nichts. Überhaupt nichts. Aber er hat etwas mit dir zu tun. Mit mir. Lass mich das mal zu Ende bringen, sehen, ob ich es richtig hinbekomme.«
Ich hatte das Gefühl, dass alles von Bedeutung war, was ich jetzt sagen würde, und dass ich es hinbekommen müsse. »Ich habe Sport mein ganzes Leben lang verfolgt«, begann ich, langsam, in dem Versuch, meine Gedanken zu formulieren, bevor ich sie artikulierte. »Es hat eine Menge Größen gegeben. Hank Aaron, O.J. Simpson, Ken Griffey Jr. ... Man O’ War.«
Ich hatte keine Ahnung, ob ihr diese Namen etwas sagten, aber das war egal. Ich wusste, sie hatte verstanden, dass es sich um Sportgrößen handelte. »Es ist nur so, dass keiner dieser Jungs mir das Gefühl gegeben hat, das mir Mays gab. Mays war absolut herausragend, Adrenalin pur. Man wusste einfach, dass etwas Magisches passieren würde, etwas, wobei einem das Herz stehen blieb. Der Einzige, der das noch bei mir auslöste, war Gale Sayers von den Bears. Jedes Mal, wenn er das Ei berührte, wusste man, dass ein Touchdown möglich war, sogar wahrscheinlich. Doch selbst Sayers hat mir nicht das gegeben, was mir Mays gegeben hat, obwohl er dicht dran war.«
Ich machte eine Pause, studierte ihr Gesicht, um zu sehen, ob sie das verstehen würde, es begriff.
»Meine gesamte Körperchemie veränderte sich, wenn Wil­lie Mays zur Homeplate ging«, sagte ich. »Kein Mensch hat mich je so berührt wie Willie Mays.«
Wieder hielt ich inne, und Paris reagierte genau richtig. Sie sagte kein Wort. Hätte sie in diesem Augenblick etwas gesagt, ich wüsste nicht, ob ich das hätte äußern können, was ich als Nächstes von mir gab. Das hätte es kaputtgemacht, irgendwie.
»Niemals hätte ich gedacht, dass mir das noch mal passiert«, sagte ich, senkte meine Stimme dabei, senkte sie so, dass ich unsicher war, ob Paris mich verstehen konnte. »Bis ich dich getroffen habe, Paris Meecham. Wenn ich dich in den Seminarraum kommen sehe, erfasst mich das gleiche Gefühl wie damals, als ich Willie mit seinem Schläger in der Hand aus dem Dugout habe kommen sehen.« Ich machte eine Pause, sah Paris direkt an. »Ziemlich kitschig, oder?«
Wie sich zeigte, hatte sie ein eigenes Apartment.
Wie sich ebenfalls zeigte, machte ich ihr sechs Monate später im Landhaus ihrer Familie am Chapman Lake einen Heiratsantrag. Ihre Eltern, Gloria und Jerrol, waren hocherfreut. Paris’ Geburt war für sie ein Wunder gewesen, eine Geburt, bei der Gloria Mitte vierzig und Jerrol be­reits fünfundfünfzig gewesen war. Eine Woche später waren wir verheiratet und die Woche darauf ging Jerrol in den Ruhestand. Das war vor zwei Jahren gewesen.
Immer wenn wir eine ihrer Freundinnen sahen, sagten alle sofort das Gleiche: »Du bist immer noch in deinen Flitterwochen, Mädel.«
Ich wünschte, dem wäre so, und in gewisser Weise war es es noch so, wenn auch nicht ganz. In letzter Zeit hatten wir einige Probleme.
Ich hätte diese Probleme voraussehen können, wenn ich dem Aufmerksamkeit gewidmet hätte, was Paris an diesem Tag vor zweieinhalb Jahren gesagt hatte, nachdem wir das Haus der Studentenverbindung verlassen hatten und zu ihrem Apartment fuhren.
3. Kapitel
Das Haus meiner Eltern brannte nieder und beide starben an den Folgen des Feuers. Im Keller war der Wäschetrockner in Brand geraten. Wo mein Bruder Bobby für gewöhnlich schlief. In dieser Nacht jedoch war er in der Glasveranda auf dem Sofa abgeklappt. War während des Dramas nicht ein Mal wach geworden. Ein Feuerwehrmann fand ihn und trug ihn nach draußen. Fakt ist, dass meine Mutter Bobbys Kleidung hatte trocknen wollen. Bevor Dad und sie zu Bett gingen, hatte sie eine Ladung fertig gemacht. Verursacher war das mit Fusseln verstopfte Flusensieb gewesen. Passiert ständig, nehme ich an.
Bobby nahm es viel schwerer als ich. Zum Teufel, ich kannte Mom und Dad kaum. Womit ich nicht meine, dass ich sie nicht geliebt hätte; das hatte ich, aber ein Großteil der letzten zehn, fünfzehn Jahre war bei Aufenthalten im Knast und in anderen Bundesstaaten draufgegangen und es hatte neben den üblichen Anrufen anlässlich der Feiertage nicht viel Kontakt gegeben. Bobby hingegen war noch ein Jugendlicher, war nie weg gewesen von zu Hause. Wie sich herausstellen sollte, trug er noch dazu einen Haufen Schuldgefühle mit sich herum, weil unsere Eltern starben, wie sie starben, doch das bekam ich erst sehr viel später mit.
Ich hielt mit Paris Kriegsrat. Sie war großartig. Klar, sagte sie, wir können ihm oben das andere Schlafzimmer geben. Die meiste Zeit werden wir wahrscheinlich nicht mal merken, dass er hier ist, vermutete sie.
Zuvor hatte ich so gut wie nichts über meinen kleinen Bruder gewusst. Nicht, dass wir uns nicht gemocht hätten – wir kannten uns seinerzeit einfach nicht gut genug, um eine Zu- oder Abneigung zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass er Feuer und Flamme war für die Idee, bei seinem Bruder und seiner Schwägerin einzuziehen, aber er schien sich allgemein für nicht sonderlich viel zu interessieren. Er kapselte sich einfach ab. Ich hielt das für die Trauer um unsere Eltern und irgendwann würde er es überwinden, sein Leben weiterleben.
Er überwand es ganz gut. Vor dem Unglück war er mir immer wie ein ganz normaler Junge vorgekommen. Nie ernsthafte Probleme, sah man von dem Ladendiebstahl ab, wobei man ihn mit fünfzehn erwischt hatte, was aber nicht mal seine Schuld gewesen war. Er war einfach nur in Gesellschaft eines anderen Jungen gewesen, der nach etwas grabschte und es einsteckte, und er wusste, was der Junge machte, dachte aber, wenn er selbst nichts einstecke, es für ihn klargehe. Er bekam eine juristische Lektion erteilt. Dass er Komplize bei einer Straftat war. Damals keine große Sache. Ich setzte mich mit ihm zusammen und hielt ihm eine Standpauke. Er schien den Ernst der Lage zu erfassen, und als ich ihm meine Version von Scared Straight! lieferte, sah ich ihm an, dass ich durchgedrungen war. Es lief auf gemeinnützige Ar­beit hinaus und das Gericht löschte seine Akte.
Vor dem Unglück war Bobby im Baseballteam der John Adams High School gewesen. Ein ziemlich guter Pitcher, und er besetzte auch die Position als Shortstop und First Baseman. Nachdem unsere Eltern gestorben waren, stieg er einfach aus dem Team aus. Und seine Noten gingen in den Keller.
Ich führte ein paar Gespräche mit dem Konrektor und dem Vertrauenslehrer, und wir stimmten überein, dass Bobbys Verhalten so ziemlich dem entspreche, was man in Anbetracht der Umstände erwarten könnte.
»Er wird darüber hinwegkommen«, sagte Mr. Black, der Vertrauenslehrer. »Das ist normal. Seine Eltern sind gerade gestorben. Er scheint sich deswegen schuldig zu fühlen. Vermutlich weil es seine Kleidung war, die Ihre Mutter getrocknet hat.«
Das klang plausibel für mich. Ich wollte immer mal wieder mit ihm darüber sprechen, ihm erklären, dass es nicht seine Schuld war, kam aber irgendwie nicht dazu.
Dann – gerade mal vor einem Monat – wurde er wieder geschnappt. Diesmal eine heftigere Bauchlandung. Er saß auf dem Beifahrersitz eines nagelneuen Mustang, am Steuer sein Kumpel Johnny Nicks. Problem nur, dass es nicht Nicks’ Wagen war. Er gehörte einer Frau an der North Michigan Avenue, die ihn sich kurz zuvor angeschafft hatte. Der Wagen hatte noch immer das Händlerkennzeichen. Beim Ladendiebstahl hatte es sich um ein Vergehen gehandelt, aber das hier war eine veritable Straftat. Und Bobby war nicht einfach nur dabei gewesen. Er war es, der das Seitenfenster eingeschlagen und den Wagen kurzgeschlossen hatte.
Damit mussten wir uns nun befassen. Paris war nicht sonderlich erbaut über das Ganze. Zufällig war der Wagen dieser Frau bei ihrer Versicherungsgesellschaft versichert und sie sprach es oft laut und deutlich aus, in welche Verlegenheit sie das bringe. Sie hatte sogar vorgeschlagen, Bobby sollte vielleicht über einen Auszug nachdenken, vielleicht mit einem Cousin um sieben Ecken Kontakt aufnehmen, den wir in Louisiana hatten, unserem einzigen lebenden Verwandten. Wir hatten so einige Debatten. Reibereien.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt fing sie mit so schrägem Kram an. Fing an, in die Bücherei zu gehen; fing an, all diese New-Age-Bücher anzuschleppen. Irres Zeug. Fing an, abends aus dem Fenster zu starren, hinauf zu den Sternen, auf der Suche nach Aliens. Fing an, diesen Mist über ihre »früheren Leben« zu erzählen und diesen Laden in der Mall aufzusuchen, der Kristalle verkaufte und aufklappbare Pyramiden, die man in seinem Wohnzimmer aufstellen und in die man hineinkriechen konnte, solch bizarren Scheiß eben. Ich bemühte mich, die Klappe zu halten, wenn sie wieder diesen Nonsens von sich gab, mir auf die Zunge zu beißen, wenn ich ihr doch am liebsten hart entgegengetreten wäre. »So hat es mit den Verpeilten angefangen, die Jim Jones gefolgt sind«, sagte ich, aber sie sah den Zusammenhang nicht. »Du warst auf dem College«, sagte ich. »Du hast in Seminaren gesessen und ge­lernt, dass es nicht einen Fetzen von einem wissenschaftlichen Beweis gibt, dass ir­gendwo im Universum Leben existiert, und glaubst nun an kleine Alfs aus einer anderen Galaxie, die hier unten unsere Spezies abchecken und Frauen aus Trailerparks und mit Farrah-Fawcett-Frisur ihr Sperma implantieren. Paris ...« Unterhaltungen im Wohnzimmer wurden manch­mal ganz schön gruselig, bei all dem Zeug, das sie sich ausdachte.
Ansonsten jedoch gehörte mein altes Leben der Vergangenheit an. Bis jetzt.
* * *
»Jake, setz dich ’ne Minute«, sagte Walker an der anderen Seite des Tisches. »Ich muss dir ein paar Sachen erklären. Das bist du mir schuldig. Ich muss jetzt darauf zurückkommen.« Er verknotete die Hände ineinander, während er redete. »Ich sitze ziemlich in der Klemme, Jakey.«
Ich setzte mich wieder. »Schieß los«, sagte ich. »Du hast zwanzig Minuten.«
Walker brauchte noch mal halb so viel Zeit, um seine Situation zu erklären, aber ich ging nicht, wie ich es hätte tun sollen.
Wie es schien, hatte er einen Job als Bote bei einem hiesigen Juwelier an Land gezogen, der sich nebenbei mit schwarz gehandelten Edelsteinen abgab, in der Hauptsache mit Diamanten. Ein Typ namens Sydney Spencer. Ich kannte Spencer. Ein kleiner geschniegelter Schleimscheißer. Der Kerl war Kunde im Salon. Alberte mit allen Mädchen rum in dem Versuch, sie dazu zu bringen, mit ihm auszugehen, worauf, soweit ich wusste, noch keine eingegangen war. Ich war sogar ein Mal in seinem Laden in der South Michigan Street gewesen, als wir uns nach dem Verlobungsring für Paris umgesehen hatten. Preise, happiger, als sie uns andernorts untergekommen waren. Worauf man sich keinen Reim machen konnte. Sein La­den lag in einer der übelsten Gegenden der Stadt, eingeklemmt zwischen zwei Stripschuppen. Ich hätte wetten können, er verkaufte eine Menge Zirkone und Diamanten mit Fehlern, die man mit dem bloßen Auge sah, an fette, betrunkene Romeos, die gerade in Mädchen verschossen waren, die sich Holly Hooter und Venus Vulva nannten.
»Ich habe für ihn Ware nach Chicago gebracht«, er­klärte Walker. »Hab drei Touren ohne Probleme gemacht. Letzte Woche aber ist es dumm gelaufen.«
»Dumm gelaufen« hieß, man hatte ihm in Gary, In­diana den Wagen abgenommen. Noch vor Erreichen der Windy City war er von der Mautstraße abgekommen, war irgendwie falsch abgebogen und in einer Seitenstraße gelandet. Walker räumte ein, vielleicht ein wenig Koks gezogen zu haben und mit seinen Reflexen nicht ganz auf der Höhe gewesen zu sein. »Mann! Ich hatte grade an einer roten Ampel gehalten und da waren sie! Sieben, acht Wichser. Ich hätte sie kommen sehen müssen, hätte bei Rot losfahren sollen. Schätze mal, ich war kurz weggetreten.«
Sie hatten Walker aus dem Wagen gezerrt – »Kann von Glück sagen, dass sie mir nicht die Kehle durchschnitten haben« –, und so stand er da, ohne Wagen und ohne Waffe. Zu Fuß durchs Getto und nix in petto.
»Ich hatte Glück«, meinte er, wobei sich beim Wort »Glück« ein bitteres Schnauben entlud. »Ein Streifenwagen kam vorbei, hat mich zur Busstation gefahren. Ich hatte ein paar Scheine im Schuh, die die Wichser nicht gefunden haben. Die Arschlöcher von Cops meinten, sie würden die Sache melden, aber meinen Wagen könnte ich in den Wind schreiben. Die Ware im Kofferraum habe ich nicht erwähnt.«
Sydney Spencers Ware. Eine Kollektion heißer Diamanten, grob geschätzt einhunderttausend Dollar wert.
Was Spencer einigermaßen in Harnisch brachte, so Walker.
»Ich bin ein toter Mann, Jake«, sagte Walker, und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. »Komme ich bis nächsten Freitag nicht mit hunderttausend Dollar rüber, kannst du mir ’n Kranz mit Schleife aufs Grab legen. Sofern eine Leiche zu beerdigen ist. Ich glaube, Spencers Jungs bevorzugen Ätzkalk.«
»Verdammt, Walker.« Was hätte ich sonst sagen sollen? Ich fühlte mit ihm, aber ich sah es als sein Problem an. Mit diesem Leben hatte ich abgeschlossen. Walker würde sich selbst Gedanken machen müssen, wie er aus diesem Schlamassel wieder rauskam. Mir leuchtete nicht ein, woher er sich das Recht nahm, bei dieser Geschichte meine Hilfe einzufordern. Man musste ihm zugutehalten, dass er das auch genau so aussprach.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und hob die Hände. Dann spreizte er die Finger auf dem Tisch, krümmte sie. »Wür­de es nur um dich und mich gehen, glaub mir, Jake, ich würde es verstehen. Aber ...« Er zögerte. »Da hängt noch mehr dran. Spencer ist im Bilde, was dich betrifft. Ich schätze, er will dich unbedingt bei diesem Job dabeihaben. Er hält dich für den besten Einbrecher auf dem Planeten. Ich ...«, er sah zur Seite. »Ich hab dich quasi aufgebaut.«
»Wie das, Walker?«, sagte ich. Ein komisches Gefühl packte mich tief in der Magengrube.
»Ich meine ... ich meine, ich hab vielleicht mal von dir erzählt. Einmal, in seinem Büro, hab ich losgequatscht. Du weißt ja, wie so was läuft. Opa erzählt vom Krieg und so.«
Scheiße. Ich konnte die Stelle in meinem Bauch spüren, die sich immer mit Schmerzen meldete, wenn ich angespannt war. »Was hast du erzählt, Walker?«
Er grinste mich schwach an, wedelte mit der Hand, als verscheuche er eine Fliege oder etwas ähnlich Belangloses. »Du weißt schon. Dinger, die du gedreht hast. Solche Sachen. Wie die in Argos. Erinnerst du dich? Ein wahrer Klassiker, Alter!«
Klar. Ich erinnerte mich. Vor Jahren war ich eines Nachts in jeden einzelnen Laden dieser winzigen Kleinstadt eingestiegen. Neun an der Zahl. Zwei hatte ich mir sogar doppelt vorgenommen. Den Drugstore und die Bar. War durch die Stadt gestreunt wie eine Nutte an Silvester. Der Barney Fife aus Argos hatte sich an diesem Abend wohl freigenommen, um bei seinen Bowling-Kumpels zu sein. Ich war die ganze Nacht umhergestreift, war in Läden eingestiegen, als hätte mir das Kaff gehört.
»Du hast ihm von Argos erzählt?« Das war unglaublich. »Danke, du Schwachmat. Nur für den Fall, dass du’s nicht weißt, Walker, ich bin raus aus diesem illegalen Spiel. Tja, diese Art von Publicity kann ich richtig gut gebrauchen. Dieser Spencer ist Kunde bei uns im Laden. Er reißt gern die Klappe auf. Kommen die dahinter, dass ich gesessen habe ...« Ich sah ihn vielsagend an. »Mit Leuten, die die Klappe aufreißen, kennst du dich ja bestens aus, nicht wahr, Walker?« Angepisst drückte nicht annähernd aus, was ich dabei fühlte.
»Tut mir leid, Jake.« Aufrichtigkeit tropfte aus seiner Stimme. »Ich ... äh ... gut möglich, dass ich auch die Clark-Tanke erwähnt habe.«
Angesichts seiner Worte blieb mir nur ein ungläubiges Starren.
»Warum hast du jemandem davon erzählen müssen?«, sagte ich schließlich.
Dieser Hurensohn! Er konnte jetzt nicht loslegen und mit einer guten Ausrede angeschissen kommen, weshalb er es jemandem erzählt hatte, selbst wenn er der debilste Scheißer wäre, der je gelebt hatte. Nicht einmal Paris wusste von dem Vorfall in der Clark-Tanke.
Eine Sache, die sich vor langer Zeit ereignet hatte. Wäre ich nicht um so viel jünger, um so viel dümmer gewesen, ich hätte Walker nie davon erzählt. In dem Moment, als ich es getan hatte, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war.
Vor Jahren, nach meiner ersten Verhaftung und dank Kaution auf freiem Fuß, ließ ich mich treiben, schlug mich durch, kam kaum über die Runden. Die Brüche, die ich seinerzeit beging, schienen alle nur Kleingeld einzubringen und ein paar Flaschen Wild Turkey. Ich zog mir den Stoff rein, so regelmäßig wie einen Gottesdienst, also machte es mir nichts aus, bei einem Job keine große Kasse zu machen, solange ich nur genügend Whiskey ergattern konnte. Übrigens, ich wusste, dass mein Glück sich wendete.
Eines Abends, bis auf meine letzten zwei Dollar abgebrannt und auf dem Weg zu dem Apartment, das ich mir mit meiner damaligen Freundin teilte, ging mir das Benzin aus. Ich versuchte, es mit den letzten Tropfen bis nach Hause zu schaffen, überlegte, mir ein paar Dollar von Wendy zu leihen und am nächsten Morgen zu tanken. Ich war zu optimistisch gewesen und der Wagen verreckte mir zwei Blocks vom Apartment entfernt. Glücklicherweise hatte er mir den Dienst direkt vor einer  Clark-Tankstelle versagt. Ich warf die Tür zu, trat gegen die Seite des Wagens – eines zerbeulten, traurig aussehenden Ford Fairlane – und ging auf die Tankstelle zu.
Wir befanden uns mitten in einem dieser berühmten Schneestürme South Bends – wir unterliegen dem Einfluss des Michigansees und haben nicht einfach nur Schneeschauer, sondern stets Schneestürme epischen Ausmaßes, wie die, worin sich Jack Londons Figuren verirren. Der gute alte Buck hätte sich in besagtem in seinem Element gefühlt. Der Schnee reichte mir bereits halb bis zu den Knien und man sah kaum die Hand vor Augen bei all dem weißen Zeug, das vom Himmel fiel. In der Tankstelle zählte ein Typ im Overall und mit speckiger Baseballkappe der Chicago Cubs das Geld in seiner Kasse.
»Ich brauch für ’n paar Dollar Benzin«, sagte ich.
Das Arschloch sah nicht einmal hoch. »Bedaure, Kumpel«, sagte er. »Ich hab schon zu. Hab bereits die Zapfsäulen außer Betrieb genommen.«
Nun, drauf geschissen, dachte ich. »Dann nimm sie wieder in Betrieb. Dauert wie lange? Zwanzig Sekunden?«
Er sah hoch – ätzender kleiner Pisser – und sagte: »Das bringt mir die Bücher durcheinander. Vor morgen früh kann ich sie nicht wieder öffnen.« Mein Blick fiel auf eine halb leere Flasche Southern Comfort auf dem Regal hinter ihm, die zwischen Kanistern mit Motoröl hervorlugte. Man konnte es auch riechen, sobald der Typ den Mund aufmachte. Ich wollte ihm ordentlich Bescheid stoßen, besann mich aber. Drehte mich um und ging.
Ich schob den Wagen den ganzen Weg nach Hause, fluchte bei jedem Schritt. Zum Glück war genug Eis unter dem Schnee, sodass ich es schaffte, aber als ich den Wagen vom Lincoln Way West in meine Straße manövrierte, war ich völlig von der Rolle. Ich schob ihn in die erstbeste freie Parklücke, drei Häuser entfernt von unserer Maisonette. Statt nach Hause zu gehen, stieg ich raus aus dem Wind, hinein in den Ford und zündete mir eine Camel an. Ich rauchte sie auf und als ich sie ausdrückte, war das Glühen meines Zorns intensiver als das der Zigarettenglut zuvor.
Ich öffnete den Kofferraum, griff mir die Stange des Wagenhebers und ging zurück zur Clark-Tankstelle. Ich sah den Kerl sofort. Saß direkt am Straßenrand in einer wahren Rostlaube von einem roten Pick-up. Arschkalt und der Depp hatte das Seitenfenster runtergelassen, ließ die Beine raushängen. Als ich mich näherte, konnte ich erkennen, dass er sich aufrichtete, einen gehörigen Zug aus der Flasche nahm und nach unten wegrutschte. Sturzbesoffen.
Ich schlich mich an – keine Herausforderung angesichts der dicken, nassen Schneeflocken –, packte den Türgriff und riss die Tür auf. Der Typ fiel mir halb entgegen; den Rücken eingeknickt, wand er sich mit weit aufgerissenen Augen, wollte die Balance wiederfinden. Ich langte einfach hin, schnappte mir sein Ohr und verpasste ihm nahe der Schulter einen Hieb in den Nacken. »Uff!«, sagte er, als er im Schnee auf den Knien landete. Er hob eine Hand, wollte sich wohl den Nacken kneten, dort, wo ich ihn erwischt hatte, und in diesem Moment zog ich ihm eins über den Hinterkopf. Er kippte nach vorn, fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Ich griff in seine Gesäßtasche und dort steckte seine Brieftasche, gefüllt bis zum Anschlag. Die Einnahmen aus seiner Schicht, vermutete ich. Es schienen mindestens sechs- bis achthundert Dollar zu sein. Später sagte ich mir, dass er das Geld für den Inhaber vermutlich beim Nachttresor hätte abliefern sollen, aber womöglich hatte er sich auch eine kleine Zulage für den Abend genehmigen wollen. Vielleicht hatte er bereits die Bücher frisiert, um die zehn oder zwanzig verschwinden zu lassen, die er sich hatte einstecken wollen. Was für ein Pech. Ich nahm die Brieftasche und dann, aus reiner Gemeinheit, die Flasche Southern Comfort, die ich in der Fußwanne des Trucks fand.