Primula Veris - Hans-Georg Lanzendorfer - E-Book

Primula Veris E-Book

Hans-Georg Lanzendorfer

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Beschreibung

Frühjahr 2014. Im Priorat der Kartause Ittingen, den heutigen Büroräumen, wird eine junge Frau mit einem Säugling in den Armen aufgefunden. Sie trägt mittelalterliche Kleidung. Polizei und Sanitäter werden gerufen. Der Notarzt kann nur noch den Tod des Kindes feststellen. Es verstarb an der meldepflichtigen Diphtherie. Der Fall wird von den beiden Polizisten Alexander Adler und seiner Kollegin Marina Keller übernommen. Alexander denkt bei der jungen, mittelalterlich gekleideten Frau an eine kürzliche Begegnung am Nussbaumersee. Bereits zweimal hatte er sie auf einer Jogging-Tour beim See getroffen. Sie trägt an ihrem Unterarm die auffällige Tätowierung einer Schlüsselblume. Auf Grund von Hinweisen einer Archäologin lässt Rolf Ramseier, Polizeikommandant in Frauenfeld, die Kleidung der Unbekannten mit der C14 Methode untersuchen. Es stellt sich heraus, dass diese über 500 Jahre alt ist. Im Laufe der Ermittlungen lernen sie in der Kantonsbibliothek in Frauenfeld die ältere Beatrice Breitschmied kennen. Seit Jahrzehnten ist sie damit beschäftigt, die alten Buchbestände aus der Kartause Ittingen zu verwalten und auszuwerten. Bei einem Besuch werden sie von ihr mit höchst ungewöhnlichen Fakten konfrontiert. Tatsächlich existieren in der Bibliothek alte Bilder der aufgefundenen, unbekannten Frau. Ebenso Berichte und Legenden über ein verschollenes Schriftwerk aus dem 9. Jahrhundert, welches von einem geheimnisvollen Portal in der Kartause berichtet ...

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Hans-Georg Lanzendorfer

Primula Veris

Die Kartause Ittingen, Ruine Hälfenberg und das Seebachtal stehen im Mittelpunkt einer mystischen Kriminalgeschichte.

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Impressum neobooks

Kapitel 1

Primula Veris

Die Kartause Ittingen, Ruine Hälfenberg

und das Seebachtal im Mittelpunkt

einer mystischen Kriminalgeschichte

Hans-Georg Lanzendorfer

2. Auflage 2018

Hüttwilen - Am Freitagvormittag (16.05.2014), in der Zeit zwischen 10.00 Uhr und 12.00 Uhr, sind von einem Areal an der „Hauptstraße“ mehrere Kleidungsstücke gestohlen worden. Die Bekleidung hing zum Trocknen über der Wäscheleine und wurde von einer unbekannten Täterschaft entwendet. Bereits am 27.04.2014 kam es auf dem Grundstück zu einem gleichgelagerten Fall. Sachdienliche Hinweise sind bitte an die Polizeistelle in Frauenfeld zu richten.

„Bitte bezahlen“, sagte der Gast, legte mit einem verschmitzten Lächeln über die witzige Meldung die Zeitung auf den Tisch, schob die Tasse etwas beiseite und griff nach dem Portemonnaie in seiner abgegriffenen Sakkotasche.

„Der Rest ist für Sie“, sagte Peter Lüscher und kramte seine Sachen zusammen.

„Auf Wiedersehen und bis zu nächsten Mal.“ Er lächelte verlegen.

„Merci vielmals“, bedankte sich die junge Kellnerin und räumte mit flinken Händen das Gedeck zusammen. Von der mittäglichen Sonne verwöhnt, warf Lüscher einen flüchtigen Blick durch die Büsche und Sträucher zur Spitze der Kloster-Kirche im Zentrum der alten Kartause. Ein kleines Rinnsal plätscherte in der alten Rossschwemme, dem unteren Mühleweiher neben dem Restaurant. Ein ehemaliger Waschplatz für Arbeitspferde solle es gewesen sein, hatte er in einer Informationsschrift gelesen. Interessiert bestaunte Lüscher bei den Handwerksbetrieben gegenüber die Beschriftungen der Tafeln. Buchbindearbeiten, Restaurierungen, Einrahmungen. Gemächlich schlenderte er entlang der niederen Teichmauer über den Kiesplatz. Vorbei an abgestellten Fahrrädern. Seine Blicke suchten intensiv nach etwaigen Fischen oder Enten im Teich. Ein leises Schnattern verriet ihre Anwesenheit. Der angenehme Duft von Frühlingskräutern und der ersten Wiesenblumen begleitete seine gemütlichen Schritte, während seine Hand hektisch nach dem Autoschlüssel in seiner kleinen Tasche kramte. Ein angenehm warmer Luftzug strömte ihm durch das lichte Haar. Er war fasziniert von der Anlage, die er seit seiner frühesten Jugend kannte. Damals, als sie noch eine baufällige Ruine war. Es wäre doch keine schlechte Idee, meiner Barbara etwas für den Garten nach Hause zu bringen, dachte er, als seine Aufmerksamkeit von dem ansehnlichen Klosterladen zu seiner Linken in den Bann gezogen wurde. Pflanzensetzlinge, Küchenkräuter, Insektenhotels und allerlei Handwerksarbeiten waren einladend beim Eingang des Ladens präsentiert. Vielleicht noch einen kleinen Klosterkäse oder ein feines Fläschchen Weinbeerblut. Daran hätte sie sicherlich ihre Freude, schoss es ihm spontan durch seinen Kopf. Während er sich begeistert von seiner Idee mit der Qual der Wahl befasste, wurde die klösterliche Ruhe ganz unerwartet von Hilferufen durchbrochen. Sichtlich aufgeregt verließ eine ältere Dame eilenden Schrittes die vorgebaute Loggia des Priorats.

„Polizei, Polizei. Sie ist tot - sie ist tot.“ Aufgeschreckt eilte ihr Lüscher entgegen. Bestürzt fiel sie ihm atemlos in die Arme.

„Rufen Sie bitte die Polizei. Eine junge Frau mit einem leblosen Säugling.“ „Ich werde mich darum kümmern.“ Lüscher winkte einige Passanten aus der Nähe um Hilfe heran.

„Kümmern Sie sich bitte um die Dame.“ Er zückte sein Handy und wählte rennend und mit zitternden Fingern die Notfallnummer 112. Umgehend lief er entlang des Zaunes über das Kopfsteinpflaster zur Loggia. Mit einem kraftvollen Sprung überwand er die vier Stufen der kleinen Treppe, durchschritt aufgeregt den runden Torbogen und eilte über den gelben Mosaik-Boden zum Eingang des Gebäudes. Sein Herz raste. Selten hatte er die eigenen Schritte so laut in seinen Ohren gehört. Die mächtige Holztür war nur einen Spalt breit geöffnet. Die Klingel des Priorats verwirrte ihn. Klingeln oder einfach eintreten? Beunruhigt von der Ungewissheit, schob er den knarrenden Türflügel auf und blickte hinein. Der Raum war düster und kaum beleuchtet. Der Geruch von Papier und Büro schlug ihm entgegen. Endlich summte das Telefon an seinem Ohr. Eine junge Frau kauerte leise jammernd vor ihm am Boden.

„Kantonale Notfallzentrale Frauenfeld, Meister“, meldete sich schließlich eine erlösende Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Hören Sie, ich bin gerade beim Priorat in der Kartause Ittingen. Ich brauche dringend einen Notarzt“, japste Lüscher aufgeregt in den Hörer.

„Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen?“

„Mein Name ist Peter Lüscher. Hören Sie bitte, hier liegt eine junge Frau mit ihrem Kind. Die beiden brauchen dringend Hilfe.“

„Können Sie mir etwas Genaueres sagen, bitte?“

„Nein, das kann ich nicht. Kommen Sie bitte so schnell wie möglich vorbei.“

„Wir sind umgehend in der Kartause. Es ist bereits ein Fahrzeug unterwegs. Bitte bleiben Sie vor Ort. Der Notfalldienst ist alarmiert.“ Erleichtert steckte Lüscher das warme Gerät in die Jackentasche. Seine Hände waren nass vor Aufregung. Vorsichtig bückte er sich zu der seufzenden Unbekannten. Die Strähnen ihrer wild zerzausten und langen Haare fielen ihr unter einer weißen, stiefmütterlichen Haube ins Gesicht. Krampfhaft klammerte sie sich an dem regungslosen Säugling fest. Er war in zerrissene graue Lumpen eingewickelt. Ihr altertümlicher Rock war kunstvoll gearbeitet, das dunkelbraune Oberteil mit eindrücklichen Verzierungen und Stickereien versehen. Sie hatte es auf der Vorderseite mit einem geflochtenen und dreifarbigen Lederriemen zusammengebunden. Das hellbraune Kleid bedeckte ihren gesamten Körper. Unweit von ihr entfernt lagen zwei abgewetzte lederne Sandalen. Ein Oberteil mit weit geschnittenen Ärmeln trug sie als Jacke oder Umhang. An einem ledernen Gürtel befand sich eine kunstvoll gearbeitete Messerscheide. Ein einfacher Dolch mit einem schlichten Holzgriff steckte darin, an dem die Backen und der Knauf aus Messing angefertigt waren.

„Kann ich Ihnen helfen?“, versuchte ihr Lüscher etwas ratlos unter die Arme zu greifen. Sie schien keine offensichtlichen Verletzungen zu haben. Schnell hatte Lüscher sie nach einer sichtbaren offenen Wunde überprüft.

„Nein“, stieß sie ihn sichtlich verwirrt beiseite und flüchtete ruhelos in eine Ecke des schummrigen Raumes. Mütterlich hielt sie das unbewegliche und ruhige Kind in ihren Armen. Zitternd blickte sie umher, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und drückte sich ängstlich gegen die kühle Wand. Warum ist sie im Gesicht so verschmutzt und warum riecht sie so stark nach Rauch, er blieb einige Schritte entfernt verwundert stehen.

„Hilfe ist unterwegs. Sie brauchen keine Angst zu haben“, versuchte er die Unbekannte zu beruhigen. Erleichtert über die näher kommenden Martinshörner, setzte sich Lüscher auf eine hölzerne Kommode. Mit stechenden Augen tastete sich die Fremde vorsichtig entlang des alten Gemäuers. Schnelle Schritte und laute Stimmen näherten sich der mächtigen Holztür.

„Hallo, hierher bitte“, rief Lüscher erleichtert.

Mit einem knarrenden Pfeifen öffnete sich die Tür und mehrere uniformierte Personen betraten den Raum. Umsichtig übernahm eine junge Polizistin mit einem blonden Pferdeschwanz das Kommando.„Sind Sie Herr Lüscher?“

„Die junge Frau braucht Ihre Hilfe“, verwies er mit einem Nicken auf die Unbekannte.

„Marina Keller, Kapo Frauenfeld“, reichte sie ihm kurz die Hand.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Umgehend waren mehrere Rettungssanitäter zur Stelle. Geschwächt kauerte die junge Frau noch immer am Boden. Ein kurzes Raunen unterbrach plötzlich die hektische Geschäftigkeit.

„Bitte verlassen Sie alle rasch den Raum“, wandte sich der Notarzt an die anwesenden Beamten, während sich die Rettungssanitäter eiligst einen Mundschutz und Gummihandschuhe überzogen.

„Der Säugling ist verstorben“, informierte der Notarzt die junge Polizistin mit gesenkter Stimme, während sich seine Assistenten um die schluchzende Unbekannte und den Zeugen Lüscher kümmerten.

„Er zeigt offensichtlich die Symptome einer seltenen Form der Haut-Diphtherie. Die Geschwüre mit blutig wässrigen Absonderungen sind ein klares Zeichen und sehr ansteckend“, fuhr der Mediziner fort. „Wir müssen den kleinen Leichnam umgehend isolieren.“

„Haben Sie den Namen der Mutter, Herr Kappeler?“

„Nein, sie gibt diesbezüglich keine Auskunft.“

„Diphtherie“, reagierte die Polizistin überrascht.

„Ist diese Krankheit nicht längst ausgerottet?“

„Was denken Sie, warum mich der Fall erstaunt. Die Krankheit ist meldepflichtig“, sagte der Arzt und wickelte den leblosen Körper bedachtsam in das zerlumpte Tuch.

„Könnte es sein, dass sie aus einer psychiatrischen Klinik entwichen ist“,

fragte die Polizistin und zog ihn diskret beiseite.

„Das ist wohl eher Ihre Aufgabe, die Herkunft zu klären, Frau Keller“, sagte der Arzt lächelnd, zog sein Telefon aus der Tasche und trat vor die offene Tür hinaus.

'Das arme Geschöpf tut mir so leid'. Marina fühlte sich vom Anblick des verstorbenen Kindes betroffen. So jung und schon dermaßen von Krankheit und Leid gezeichnet, rang sie nach Haltung. 'Raff dich zusammen, Mädchen. Das ist dein Beruf. Du wolltest doch unbedingt zur Kripo'. Sie strich sich nachdenklich durch die blonden Haare. Obschon es ihr zum Heulen war, versuchte sie eine professionelle Distanz zu wahren. Krampfhaft vermied sie jeglichen Blick auf das verstorbene Kleinkind.

„Marina, kommst du voran?“ Einer ihrer Kollegen betrat den Raum.

„Kapo Frauenfeld, Adler“, reichte er dem Zeugen Peter Lüscher die Hand, den ein Sanitäter gerade hinausbegleiten wollte.

„Würden Sie sich bitte zu unserer Verfügung halten. Wir müssten noch Ihre Personalien aufnehmen – ist das okay?“

„Selbstverständlich.“

„Danke.“

„Hast du die Personalien der Zeugin, Alexander?“

„Ja, habe ich. Sie ist Sekretärin hier in den Büros. Wir müssen sie später auf den Posten kommen lassen. Sie steht noch unter Schock.“ Er steckte seinen kleinen Notizblock in die Hosentasche. „Die Kollegen von der Spurensicherung sind hier, bist du soweit?“ Er warf seiner Kollegin einen Blick zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und nahm sie etwas beiseite.

„Das mit dem Kind ist schlimm, Marina. Ich weiß. Da musst du durch. Ist bei dir trotzdem alles okay?“

„Wir sollten vorsichtig sein, meinte der Arzt. Komm lass uns gehen. Ist aber nett, dass du fragst. Es geht schon – danke.“ Sie gingen beiden über das gelbe Mosaik. Nichts machte Marina auch nach

Jahren mehr zu schaffen als Kinder, die vom Leid und Elend der Erwachsenen betroffen sind. Dann wurde ihr für einen kurzen Augenblick selbst der leuchtend weiße Schriftzug Polizei auf der blauen Uniform zur Last.

„Die Forensik ist informiert“, kam ihnen der Notarzt entgegen und verstaute sein Telefon. „Ich kann die genaue Todesursache des Kindes nicht eindeutig bestimmen. Die Krankheit ist nur eine Möglichkeit. Eine Fremdeinwirkung ist aber in dieser Situation nicht ausgeschlossen.“

„Gibt es Hinweise, woher sie kommt, Alexander, lebt sie vielleicht hier im Wohnheim der Kartause?“

„Die Geschäftsleitung ist dabei, das zu klären, Marina. Ich habe mich bereits darum gekümmert.“

„Vorsicht bitte!“ Die Fremde wurde von zwei Sanitäterinnen aus dem Gebäude geführt und zum Krankenwagen geleitet. Aufmerksam musterte Alexander Adler die junge Unbekannte. Nachdenklich sah er ihr im Vorbeigehen nach.

„Eigenartig“, wandte er sich sichtlich konsterniert an seine Kollegin. Nachdenklich ließ er seine Blicke über den belebten Hof der Kartause schweifen. Amseln erfreuten mit ihrem Gesang. Die frühsommerliche Sonne wärmte sein Gesicht. „Wenn ich jetzt wüsste, woher ich die Frau kenne“, er legte seine Hände auf die Umzäunung.

„Lass mich überlegen, Marina. Irgendwo habe ich das Gesicht schon mal gesehen“, konzentrierte er sich auf seine Erinnerungen.

„Genau, in ihrer mittelalterlichen Kleidung habe ich sie fast nicht erkannt. Sie sieht ziemlich verändert aus. Sie ist mir beim Joggen begegnet“, ließ Alexander seine Polizeikollegin wissen.

„Bist du dir ganz sicher, Alexander?“

„Ganz sicher, Marina. Das ist es. Ich wohne ja ganz in der Nähe, in Nussbaumen. Meine Jogging-Route geht meistens runter zur Ruine Hälfenberg und wieder zurück.“

„Wann war denn das?“

„Es ist noch nicht so lange her. An den genauen Tag erinnere ich mich ehrlich

gesagt nicht mehr.“

„Hast du dich mit ihr unterhalten oder gibt’s irgendwas Besonderes, woran du dich erinnern kannst und was uns weiterhelfen könnte?“

„Ich gehöre nicht zu denen, die gleich ins Gespräch kommen, Marina. Vorallem nicht bei Frauen. Schließlich stelle ich nicht gleich jeder nach“, verteidigte sich Alexander.

„Ja, natürlich nicht“, sie grinste. „Als Frau tut man das eben.“

„Was, nachstellen?“

„Nein, ins Gespräch kommen!“, sagte sie schmunzelnd.

„Also, die Begegnungen waren nur ganz flüchtig. Ein bisschen Smalltalk mehr nicht.“

„Hat sie dir bei diesem Smalltalk schon mal ihren Namen genannt?“, hakte Marina gespannt nach.

„Nein, das hat sie nicht. An ihrem Handgelenk ist mir aber eine außergewöhnliche Tätowierung aufgefallen. Eine Blume - eine Schlüsselblume glaube ich“, erinnerte sich Alexander.

„Das ist ja schon mal etwas!“ Marina wandte sich an die Rettungssanitäter.

„Können Sie das kurz überprüfen, bitte.“ Vorsichtig schoben diese der Unbekannten den Ärmel ihres Kleides etwas zurück.

„Tatsächlich, Alexander, du hast recht - sie trägt am rechten Handgelenk eine tätowierte Schlüsselblume.“

„Sie ist soweit stabil, Frau Keller. Wir würden sie jetzt gerne in die Klinik bringen.“

„Das ist in Ordnung, danke. – Alexander, würdest du bitte deine Aussage noch zu Protokoll geben. Vielleicht bringt uns das etwas weiter.“

„Klar, werde ich tun, wenn wir im Büro sind.“

„Okay – zurück zum Polizeiposten nach Frauenfeld. Für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Jetzt noch den Schreibkram erledigen.“

„Wartest du bitte noch einen Moment, Marina? Ich würde sie gerne nochmals kurz sehen. Bin gleich zurück“, bat Alexander und lief zum Krankenwagen.

„Ich würde gerne noch kurz ein paar Worte mit ihr sprechen“, bat er die Sanitäter um einen kurzen Augenblick.

„Ja - aber nur kurz bitte.“

„In welche Klinik wird sie gebracht, Herr Kappeler?“

„Nach Münsterlingen, in die forensische Abteilung.“

„Hallo“, Alexander setzte sich zu der Unbekannten. Der Geruch von Salbei und Lavendel lag in der Luft. „Was riecht hier drinnen so fein?“

„Das sind diese beiden Beutelchen. Wir haben sie in ihrer Rocktasche gefunden“, sagte eine der Sanitäterinnen und reichte ihm die Säckchen.

„Die riechen ja wirklich fein.“ Er gab der jungen Mutter freundlich seine Hand. „Erinnern Sie sich an mich?“ Schweigend musterte sie ihn und zog ihre Hand zurück.

„Wir sind uns schon einmal beim Hasensee begegnet. Sie haben Kräuter gesammelt“, versuchte er ihre Erinnerung zu erwecken. „Wie heißen Sie?“

„Sie hat ein Beruhigungsmittel erhalten, Herr Adler. Ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas versteht.“

„Nur noch ganz kurz, Herr Kappeler.“ Ratlos und schweigend blickte er sie an. Die Mediziner hatten ihr die weiße Haube abgenommen. Eindrücklich bedeckten die langen braunen Haare ihren Oberkörper. In ihren Ohren trug sie auffallende Perlenohrringe. Vier kleine weiße Perlen lagen über einer tropfenförmigen und ebenfalls in Gold gefassten größeren Perle. Das bescheiden wirkende Kleid war mit einigen wenigen, aber sehr kunstvollen Verzierungsbändern versehen und wirkte sehr sauber und gepflegt.

„Wo ist das Kindelein, mein Herr?“, flüsterte sie mit fragenden Augen und griff nach seiner Hand.

„Sind Sie die Mutter des Säuglings?“, versuchte er Zeit zu gewinnen für eine adäquate Antwort.

„Es ist von uns gegangen, habe ich recht“, sie wandte ihr Gesicht beiseite. Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Ja, das tut mir wirklich sehr leid“, rang Alexander nach den richtigen Worten.

„Mein Name ist Alexander Adler. Ich bin von der Kantonspolizei Frauenfeld“, fuhr er nach kurzem Schweigen fort.

„Können Sie mir sagen, was geschehen ist?“ Mit einem leeren Blick in den Augen drehte sie ihren Kopf und starrte gegen die medizinischen Geräte.

„Was ist das für ein Ort, mein Herr?“, wisperte sie etwas unverständlich.

„Es ist genug, Herr Adler. Wir müssen losfahren. Sie braucht medizinische Versorgung in der Klinik“, unterbrach eine junge Sanitäterin das kurze Gespräch.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es kommt alles wieder in Ordnung.“ Alexander legte seine Hand auf ihre Schulter, erhob sich und verließ mit einem sportlichen Sprung den Krankenwagen. Schnell wurden die Türen geschlossen. Irgendwie hatte die junge Unbekannte sein tiefes Mitgefühl gewonnen. Gerade so, als wäre sie ihm eine längst vertraute Freundin.

„Können wir?“ Marina stand plötzlich neben ihm, während das blinkende Fahrzeug den Ort des Geschehens verließ. Langsam bewegte es sich über das Natursteinpflaster und vorbei an den Schaulustigen hinter den Absperrungsbändern. Kaum durch das obere Eingangstor verschwunden, wurden auch die sporadischen Martinshörner immer leiser.

„Wir sehen uns später“, wandte sich Marina an die Kollegen der Spurensicherung, während Alexander bereits nachdenklich beim Einsatzfahrzeug auf sie wartete.

„Fährst du bitte, Alexander?“, Marina warf ihm den Schlüssel zu.

Lächelnd setzte er das Fahrzeug langsam in Bewegung, während Marina eine kurze Meldung an die Einsatzzentrale schickte. Sekunden später kreuzte der Transporter der Gerichtsmedizin kurz hinter dem Tor ihren Weg, um das tote Kind zu holen.

„Das trifft mich immer sehr hart, wenn sie Kinder für die Pathologie abholen, das geht mir echt nahe.“

„Das geht mir auch so, Marina. Das sind die unschönen Dinge an unserem Beruf. Ich versuche mich dann in der Regel völlig sachlich auf die Arbeit zu konzentrieren.“

„Da hast du natürlich Recht. Ich meine, wir haben lange genug gelernt, in der Theorie damit umzugehen.“

„Du kannst nicht arbeiten, wenn du dich als Frau gefühlsmäßig auf die Fälle einlässt“, sagte er und blickte sie an.

„Habt ihr Männer keine Gefühle?“

„Natürlich! Mir wird dann bewusst, wie wichtig die Gesundheit meiner eigenen Kinder ist oder die meiner ganzen Familie.“

„Nichts ist selbstverständlich. Es kann sich verdammt schnell alles ändern.“

„Ist okay, wenn wir hier rechts abbiegen und über Uesslingen nach Frauenfeld fahren?“

„Mir egal, Alexander. Wie du willst. Hast du gesehen, sie sind schon wieder an der Arbeit auf den Hopfenfeldern für das Ittinger Bier“, lenkte Marina gezielt auf ein anderes Thema und aktivierte die Klimaanlage.

Kapitel 2

„Guten Morgen beisammen. Haben wir schon einen Bericht von der Pathologie im Fall Kartause Ittingen?“ Alexander warf die Tageszeitung auf den Schreibtisch.

„Guten Morgen, Alexander, guten Morgen, Marina. Ja, das haben wir. Vor allem aber konsternierte Forensiker“, feixte der Polizeikommandant Rolf Ramseier verschmitzt und blätterte in den Akten.

„Was meinst du damit, Rolf? Ich verstehe ehrlich gesagt kein Wort“, reagierte Alexander mit Unverständnis.

„Lies mal den ersten Bericht!“ Marina reichte ihm lächelnd die Akte und setzte sich an ihren Arbeitsplatz. Ein kleiner brauner Teddybär stand direkt unter ihrem Bildschirm. Er hatte eine riesige Pfauenfeder in seinem Arm und ein kleines Glöckchen um den Hals gebunden. Sein Name war Benny und ein Geschenk ihres kleinen Neffen Luca. Daneben stand eine Ansichtskarte mit einem gestreiften Frischling. Eine aufgeklebte Geburtstagstorte – alles Liebe zu Deinem Geburtstag - war in einer kindlichen Handschrift vermerkt. Liebe Grüße von ihrer Nichte. Drei hellblaue Glaskugeln, ein polierter Kristall und drei Muscheln aus der Nordsee vollendeten das Bild. Das Betrachten dieser Dinge war Marina zu einem allmorgendlichen Zeremoniell geworden. Genauso lange wie der Rechner benötigte, um hochzufahren. Gegenstände von sentimentalem Wert, die ihr wichtig waren. Noch immer las Alexander schweigend in den Unterlagen. Gefesselt blätterte er in den Seiten, dann ging er langsam zu seinem Schreibtisch.

„Na und ...?“, Marina setzte sich neben ihn auf sein Pult, reichte ihm eine Tasse Kaffee, schlürfte genüsslich an ihrem warmen Getränk und wartete ungeduldig auf seinen Kommentar.

„Das ist wirklich unglaublich“, staunte Alexander und griff nach der Tasse.

„500 Jahre! Kein Wunder, dass die Kollegen der Forensik ein bisschen konsterniert sind“, sagte er schmunzelnd.

„Vorausgesetzt, die Untersuchungen der Pathologie stimmen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ergebnisse nicht korrekt sind. Das können die sich einfach nicht erlauben – stellt euch das mal vor“, opponierte Marina.

„Abgesehen davon, wurde das Gewebe auch nach Zürich an das Institut für Rechtsmedizin weitergegeben. Steht zumindest hier“, warf Alexander ein.

„In diesem dubiosen Fall ist eine Zweitmeinung sicher nicht schlecht“, ergänzte der Kollege Hürzeler.

„Hat es das überhaupt schon mal gegeben, dass sich die Pathologie mit einer Analyse irrte?“

„Meines Wissens nicht, Alexander.

„Zumindest sind sie sich darüber einig, dass der Säugling nicht vorsätzlich getötet wurde.“

„Dann hatte Kappeler also recht mit seiner Diagnose. Diphtherie als Todesursache!“, ergänzte Marina. „Ehrlich gesagt, beruhigt mich der Gedanke, dass die Mutter ihr Kind nicht ermordet hat.“ Marina fühlte eine gewisse Entspannung und las den kurzen Abschnitt zur Todesursache vor:

„Die Hautdiphtherie entsteht durch Übertragung des Diphtheriebazillus auf intertriginöse, ekzematöse oder aus irgendwelchen Gründen der Epidermis beraubten Haut. Entweder erscheinen die wunden Stellen mit einem zarten, schleierartigen Häutchen überzogen, oder es bilden sich oberflächliche, unregelmäßig begrenzte Geschwüre, die konfluieren können. Der Geschwürgrund ist mit einem typischen membranösen, grauen oder grauweißen Belag bedeckt, der fest haftet. Die Umgebung ist häufig ödematös und entzündlich infiltriert, der Rand mitunter leicht unterminiert. Manche Fälle können gangrän- oder selbst nomaähnlich aussehen. In den Membranen ist der Diphtheriebazillus stets nachzuweisen. Im vorliegenden Fall sind Komplikationen nachzuweisen durch die Stärke der Gifteinwirkung. Es sind klare Zeichen eines Übergreifens der Erkrankung auf andere Organe vorhanden. Der Befall von Leber und Nieren liegt vor. Ebenso eine Herzmuskelentzündung. Teilweise ist auch der Befall von Nerven erkennbar, die dann entsprechende Lähmungen an den verschiedenen Muskeln hervorgerufen haben.“

„Der Gassmann von der Pathologie schreibt, dass in der Schweiz der letzte Fall von Rachen-Diphtherie im Jahr 1983 aufgetreten sei. Das ist rund 30 Jahre her“, wandte der Kollege Hürzeler ein.

„Okay, das habe ich ja bisher verstanden. Das ist aber nicht das Problem. Wir haben ein 500 Jahre altes Gewebe, in dem das Kind eingewickelt war. Zumindest schreiben das die Forensiker“, suchte Kommandant Ramseier nach einer Antwort.

„Was machen wir mit einem solchen Befund, Leute? Wir sind Kriminologen - keine Archäologen“, kritisierte Hürzeler.

„Die werden wohl ihren Hochfeldtomographen etwas kalibrieren müssen“, scherzte Sutter.

„Halten wir uns doch an die Fakten“, bat Alexander die Anwesenden um Aufmerksamkeit.

„Wer kam eigentlich auf die Idee der C14-Bestimmung – und warum?“, warf Hürzeler plötzlich in die Runde. Schweigend blickten sich die Kriminalbeamten an.

„Gute Frage. Wer hat das eigentlich veranlasst?“

„Das war ich“, meldete sich Kommandant Ramseier überraschend zu Wort.

"Ehrlich gesagt, hat mich ein Gespräch mit Sibylle Fahrner, unserer Sekretärin, auf diese Spur gebracht. Ihre Cousine und Archäologin Regula Breitschmied hat den eigentlichen Anlass dazu gegeben“, erklärte er weiter.

„Ist das nicht etwas unkonventionell, gleich eine C14-Untersuchung einzuleiten, Chef? Irgendwie haben wir es doch einfach nur mit einer verwirrten Psychopatin zu tun. Mittelalteranlässe sind in unserer Zeit modern. Daskannst du alles im Internet bestellen.“

„Ehrlich gesagt, habe ich mir das am Anfang auch gedacht. Die Archäologin hat mich aber extra in meinem Büro aufgesucht und auf ein paar höchst interessante Details in dem Gewebe hingewiesen.“

„Woher wusste die Breitschmied überhaupt von dem Gewebe?“

„Das habe ich mich auch gefragt. Davon ist ja nichts in der Öffentlichkeit publiziert worden. Offensichtlich hat sie aber mehrere Studienkollegen in unserer Pathologie. Das Ergebnis hat mich aber, ehrlich gesagt, überrascht.“ Ramseier erhob sich.

„Ist eigentlich auch die Kleidung der Mutter dahingehend untersucht worden?“, interessierte sich Alexander.

„Meines Wissens nicht“, mischte sich Marina in die Ratlosigkeit.

„Das müsste doch eigentlich nachgeholt werden. Auf dieses Ergebnis wäre ich äußerst gespannt“, fügte Alexander an.

„Kannst du das in die Wege leiten, Marina?“, bat Ramseier.

„Klar Rolf. Ich werde gleich einen Kollegen von der Spurensicherung nach Münsterlingen schicken. Die sollen die Kleider ins Labor bringen.“

„Also dann, alle an die Arbeit – danke. Alexander und Marina, ihr bleibt dran, okay!“ Ramseier schickte seine Leute los.

Kapitel 3

„Du musst deine Aussage noch zu Protokoll geben, Alexander“, wies ihn Marina an, nahm einen letzten Schluck von ihrem kalten Kaffee und startete das Schreibprogramm.

„Stimmt, das haben wir noch gar nicht erledigt – Okay, dann lass mich überlegen ...

“ Alexander setzte sich neben einen mächtigen Ficus Benjaminus.

„Wann hast du sie das erste Mal gesehen?“, startete Marina die Befragung.

„Das war vor rund zwei Wochen in der Nähe vom Hasensee.“ Er begann in Gedanken die Fakten zu sortieren und zupfte an einem Blatt. „Sie ist mir durch ihr eigenartiges Verhalten aufgefallen. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht Hilfe benötigt. Ich weiß noch, dass sie mich mit ihrer weißen Kopfbedeckung an das Mittelalterfest vom Schloss Wellenberg erinnerte.“

„Du interessierst dich für Mittelaltermärkte, Alexander?

„Meine Partnerin mag die Welt der Burgen und Schlösser. Wir gehen ganz gerne zu den Open-Air-Konzerten auf der Ruine Hälfenberg.“

„Wie bringst du das in Zusammenhang mit der Unbekannten aus der Kartause?“

„Weil ich daher zufällig weiß, dass der Handwerkermarkt auf Wellenberg dieses Jahr am 24. und 25. Mai stattfindet. Das ist also erst in rund einer Woche. Das bedeutet, dass ihre Mittelalterkleidung nicht mit dem Fest im Zusammenhang stehen konnte.“

„Okay - erzähl weiter“, bat ihn Marina fortzufahren.

„Das erste Mal ist sie mir am 27.4. dieses Jahres aufgefallen.“

„Woher weißt du aber mit dieser Bestimmtheit, dass es der 27. April war“, unterbrach ihn Marina.

„Das weiß ich daher so genau, weil ich am selben Tag zum Geburtstag meines Bruders gefahren bin. Es war an einem Sonntagvormittag. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, vorher zum Hasensee zu joggen.“

„... also von Nussbaumen bis zum Hasensee“, fuhr Marina fort, seine Aussage in den Computer zu tippen, griff zur Kaffeetasse, warf einen enttäuschten Blick hinein und stellte sie zurück auf das Pult. „Ist das nicht eine ganz ansehnliche Strecke? Wow! Okay, du bist ja ziemlich gut trainiert“, sagte sie und feixte.

„Die wärmende Sonne im Gesicht und die Klänge von Lindisfarne in den Ohren, genoss ich den Moment der Freiheit und der Sorglosigkeit“, begann er etwas weitschweifig mit seiner Schilderung. „Mein Atem ging schnell und meine Muskeln vibrierten mit jedem Schlag auf meinen Fußsohlen. Steinchen spien unter meinen Schuhen davon und verschwanden im Gras. Zum Glück ist die Asphaltstrecke nur so kurz, ich hatte in schnellem Tempo in Nussbaumen die Soldatengasse hinter mich gebracht, bog kurz nach links und überquerte die Hüttwilerstraße. Bei der Postauto-Haltestelle Tobelbrunnen verließ ich die Hauptstraße, um auf dem Feldweg und an der Grüngut-Sammelstelle vorbei zum Hüttwilersee zu laufen. Die Kieselsteine knirschten unter meinem schnellen Lauf. Kurz darauf überquerte ich die kleine Brücke über den Seebach in Richtung Hälfenberg. Bei den beiden Bauernhöfen angekommen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den Feldweg parallel zum Hasensee in Richtung Nussbaumersee einzuschlagen. Einige Hundert Meter nach den Höfen führt rechts ein Feldweg direkt zum Hasensee. Auf der Höhe des oberen Stegs entschloss ich mich, eine erste Pause einzulegen.“ Aufmerksam schrieb Marina die wichtigsten Fakten in das Protokoll.

„Schnaufend stütze ich mich in gebeugter Haltung auf meine Knie, um etwas auszuruhen. Das Blut schoss durch meinen Körper und der Puls raste“, fuhr er mit seiner Aussage fort.

„Langsamen Schrittes ging ich weiter. Unerwartet huschte eine dunkle Gestalt hinter den Bäumen durch das Unterholz. Offensichtlich war sie bemüht, sich zu verbergen. Reglos blieb sie hinter einem größeren Baum stehen. Angetrieben von meiner polizeilichen Neugier, ging ich langsam in Richtung des Seeufers. Die Situation schien dennoch entspannt. Umsichtig lief ich zwischen die Bäume über den schmalen Trampelpfad und betrat den hölzernen Steg. Eindrücklich spiegelten sich der blaue Himmel und die dahinziehenden Wolken auf der glasklaren Wasseroberfläche. Die alten Holzbohlen des Stegs knarrten unter meinen Schritten. Das Rascheln des Laubes und das Knistern des morschen Gehölzes waren mir im Hintergrund nicht verborgen geblieben, ich bin es gewohnt, meine Aufmerksamkeit auch auf das Unscheinbare zu lenken. Beiläufig drehte ich mich wieder um und schlenderte zurück ans Ufer. Längst hatte ich die unbekannte Gestalt in meine Aufmerksamkeit genommen und aus dem Augenwinkel heraus beobachtet. Noch immer versuchte sie, sich vor mir verborgen zu halten.

‚Guten Morgen, entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen‘, rief ich freundlich ins Unterholz.

‚Seid bedankt, edler Recke. Das ist nicht von Nöten.‘ In einiger Entfernung trat die junge Frau hinter einem Baum hervor und lächelte verlegen.“

„Und sie hat dich wirklich mit ‚edler Recke‘ angesprochen, Alexander?“, fuhr ihm Marina dazwischen.

„Ja, aber jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein, dass es mir damals auch sehr fremdartig - aber nicht unangenehm vorgekommen ist - fremd eben.“

„Okay, entschuldige, erzähl weiter.“

„Wie ich es ja von meiner Arbeit gewohnt bin, musterte ich die Unbekannte aufmerksam und prägte mir einige markante Punkte ihres Aussehens genauestens ein. Die braunen offenen Haare hatte sie zu einem Mittelscheitel gekämmt. Sie waren sehr lang und reichten ihr weit über die Schultern. Umgehend zog sie eine helle Kopfbedeckung hervor und setzte sich diese auf. Ein helles Oberteil mit blauen und violetten Blumenmustern fiel ihr bis über die Hüften. Für einen Spaziergang im Untergehölz etwas ungeeignet, dachte ich, als ich ihre weißen Hosen und die ledernen Sandalen bemerkte. Um ihren schlanken Oberkörper hatte sie ein altmodisches Stoffbündel gebunden, welches sie wie eine Tasche bei sich trug.

‚Ich bin lediglich auf der Suche nach wertvollen Pflanzen und Blumen, die wir als Aufguss, Heilkroidter und Tinkturen verwenden‘, ließ sie mich wissen und stapfte langsam weiter.

‚Aha, dann bitte ich um Entschuldigung‘, antwortete ich. ‚Es hätte ja sein können, dass Sie irgendwelche Hilfe benötigen.‘ Sie war eine sehr zierliche und hübsche Erscheinung. Eigentlich hätte ich mich gerne noch etwas länger mit ihr unterhalten. Ihr Schweigen und das langsame Entfernen machten mir jedoch deutlich, dass sie sich nicht für ein intensiveres Gespräch interessierte. Zudem hatte ich den Eindruck, als sei ihr diese unerwartete Begegnung eher unangenehm. Fasziniert von diesem Aufeinandertreffen, vergaß ich fast den Zweck meiner Gegenwart am See.

"Welch Wunder", grinste seine Kollegin.

‚Gehabt Euch wohl‘, sagte sie noch, warf mir einen beiläufigen Blick zu und bückte sich zum Boden, um etwas aufzunehmen. Eiligst zog sie einen kleinen Beutel aus ihrer Kleidung und verstaute darin die Pflanze.

‚Ja, also dann auf Wiedersehen‘, stammelte ich verlegen. Na ja, dachte ich, Pflanzen sammeln ist nicht verboten – schade, und machte mich mit einem letzten Blick auf die dahinziehende Schönheit wieder auf den Weg. Im schnellen Lauf hastete ich über die Wiese zurück auf den Feldweg. Kurz vor dem schmalen Durchfluss zum kleineren Westbecken erblickte ich sie noch einmal für einen kurzen Augenblick. Unbeirrt ging sie über die Wiese und sammelte ihre Pflanzen.“

„Und du bist dir also ganz sicher, dass es sich zweifelsfrei um die junge Frau aus der Kartause handelte?“

„Ja, dessen bin ich mir absolut sicher.“

„Was macht dich so sicher?“

„Eigentlich die zweite Begegnung.“

„Moment. Kannst du hier das Protokoll der ersten Begegnung noch unterschreiben - danke dir.“

„Klar gib her. Ich lese es noch kurz durch, okay“, er nahm das Schriftstück in die Hand, anschließend zog er seinen Füllfederhalter hervor und unterschrieb.

„Ich bin bereit - leg los.“

„Es war am Freitag, also vor drei Tagen am 16. Mai, und zwar nachmittags. Das weiß ich so genau, weil ich Spätdienst hatte. Heute haben wir den 20. Mai - stimmt doch oder?

„Ja“, bestätigte Marina.

„Also weiter, ich mag den Bürokram nicht besonders“, ermahnte sie ihn allmählich zur Eile.

„Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Tag um den Nussbaumersee zu joggen. Es gibt da eine alte Bank unter einem alten Nussbaum, auf der ich in der Regel immer eine kurze Pause einlege. Bereits von weitem glänzten in der Sonne die parkierten Fahrzeuge auf dem Waldparkplatz am Nussbaumersee. Schnell war die kurze Brücke über den Seebach überquert. Kurz darauf bog ich nach rechts in den Feldweg, um entlang des Nussbaumersees in Richtung Badestellen zu rennen. Ich hatte mir vorgenommen, auf halber Strecke bei der hölzernen Bank eine kurze Rast einzulegen. Kurz darauf war ich an meinem Ziel unter dem Baum angelangt. Zu meinem Erstaunen saß jedoch bereits jemand auf der Bank und blickte über den See.

‚Hallo‘, begrüßte ich atemlos die Unbekannte. ‚Entschuldigung, ist hier noch frei.‘

‚Gerne, wenn Ihr euch setzen möget‘, sagte die junge Frau und rutschte etwas beiseite. Ich setzte mich natürlich gerne daneben und musterte sie unauffällig. Mein Herz raste noch immer und in der Ferne lag das kleine Dorf. Schweigend blickte sie zu der recht weit entfernten Ruine Hälfenberg hinüber. Ich erkannte sie als die Kräutersammlerin vom Hasensee. Wie bereits bei der ersten kurzen Begegnung, stach mir ihre etwas altbackene Garderobe ins Auge. Sie trug eine hellblaue Jeanshose und einen eher unpassenden violett-rosa Pullover mit einem Rollkragen.

"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so anspreche. Haben wir uns nicht erst kürzlich beim Hasensee getroffen. Haben Sie nicht Kräuter und Pflanzen gesammelt?‘

‚Dem kann schon sein, edler Herr‘, antwortete sie und schenkte mir ein kurzes Lächeln. Sie war außergewöhnlich, eine natürliche Schönheit und hatte mein Interesse geweckt. Irgendetwas wollte ich über sie in Erfahrung bringen. Sei es nur der kleinste Hinweis. Vielleicht ließe sich etwas über sie bei

Facebook finden.“

„Und hast du sie nach dem Namen gefragt?“, unterbrach Marina interessiert.

„Hast du etwas über sie erfahren – ihren Namen, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Facebook-Profil?“

„Klar, sie hat mir gleich ihre Visitenkarte in die Hand gedrückt“, sagte er und feixte.

„Nein, natürlich nicht. Sonst würde es wohl schon lange in den Akten stehen.

"War Ihre Kräutersuche noch erfolgreich? Die Frage konnte ich mir natürlich nicht verkneifen. Unerwartet wandte sie sich um. Ein kurzer Windhauch blies ihr eine Strähne ins Gesicht. Mit einer schnellen Handbewegung streifte sie das Haar beiseite. Ihre stechenden Augen haben mich förmlich elektrisiert.“

„Ihre stechenden Augen? – Aha! Soll das auch ins Protokoll? Ramseier freut sich sicher sehr über diesen Satz“, scherzte Marina lachend. Aufmerksam notierte sie seine Aussagen.

„Bei dieser Gelegenheit habe ich die Tätowierung am Handgelenk gesehen. Es war diese außergewöhnliche Schlüsselblume."

"Ja durchaus, edler Herr. Es ließen sich gute und wertvolle Heilkroidter finden", schwärmte die unbekannte Schöne mit einer unüberhörbaren Freude in ihrer Stimme.

"Es waren sogar ein paar Wurzeln der zweijährigen großen Klette für die Entgiftung dabei. Ebenso eine ganze Hauff junger Wegerichblätter für die Wundheilung. Sogar noch ein paar Petersil ...‘, hier stoppte sie unerwartet ihre Aufzählung.

"Für die Wundheilung?", fragte ich.

"Ja. Sie werden meiner lieben Mutter gute Linderung ihrer Ungemach bringen. Sie hatte sich am Antonius-Feuer verdorben. Es geht ihr aber bereits wieder sehr viel besser", sagte sie.

"Sie scheinen sich aber sehr gut mit der Heilkunde auszukennen", bemühte ich mich, das Gespräch zu intensivieren.

"Von dieser Krankheit habe ich ehrlich gesagt noch niemals zuvor gehört. Gibt es dagegen nicht wirksamere Mittel heutzutage?" erheischte ich bei ihr das Interesse an einem Gespräch zu wecken. Entgegen meiner Bemühungen hatte sie sich jedoch wieder abgewandt und ihre Blicke zur Ruine Hälfenberg gerichtet. Ihre Haare wehten im Wind und ein wundervoller Duft nach Lavendel strich durch meine Nase.

"Mich deucht, es wäre wohl mählich an der Zeit heimzukehren, junger Herr", sie stand unerwartet auf und reichte mir mit gesenktem Blick die Hand. Von ihrer Geste überrascht, erhob ich mich von der Bank. Ihre Hand war weich wie Samt, der Händedruck angenehm sanft und ihre langen Finger geschmeidig.

"Leben Sie hier in der Nähe?" unternahm ich einen letzten und verzweifelten Versuch, irgendeinen verwertbaren und klaren Hinweis über sie zu erhalten.

"Das könnte man so sagen – ja, werter Herr. Unweit von diesem Ort befindet sich unser Hubengut", sagte sie freundlich, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Okay. Keine Antwort ist eine klare Antwort, aber ihr Dialekt ist schon sehr eigenartig, dachte ich. Befangen zwischen Schüchternheit und Anstand folgte ich ihr mit Blicken bis in die Ferne. Mehr kann ich dir nicht sagen. Bis gestern in der Kartause habe ich sie nie mehr gesehen. Ich war selber sehr überrascht, sie in dieser Situation anzutreffen.“

„Sorry, Alexander für die Unterbrechung. Wie hatte sie die Krankheit der Mutter genannt?“, warf der Kollege Hürzeler interessiert ein und kratzte sich grüblerisch an der Stirn.

„Antonius-Feuer, warum fragst du?“

„Hat sie tatsächlich gesagt Antonius-Feuer?“, doppelte Hürzeler augenfällig konsterniert nach.

„Ja genau, daran erinnere ich mich gut. Und weißt du warum? Weil mir bei dem Namen Antonius immer dieser dämliche Spruch über den Eingängen der alten Bauernhäuser einfällt. Heiliger Sankt Florian, schütze dieses Haus und zünd lieber ein anderes an.“

„Aha, Florian wie Antonius, klingt logisch“, sagte Marina und lachte.

„Ihr wisst ja selber, wie das ist mit den kuriosen Assoziationen. Irgendwie kommt das bei mir aber wirklich so zusammen.“ Alexander lachte über die eigene Situationskomik.

„Gibt‘s eigentlich auch was zu trinken in dem Laden?“ Er erhob sich und ging zum Getränkeautomat.

„Hey Leute, das ist echt interessant. Hört bitte mal kurz, was unser Lexikon darüber weiß“, promenierte Ramseier mit einem dicken Buch in der Hand durch den Raum.

„Also ich zitiere: Der weitläufig als Mutterkorn bekannte und parasitär auf Roggen und an deren Süßgräsern lebende Schlauchpilz Claviceps purpurea hat sich schon früh in der Geschichte der Menschheit einen Namen gemacht und wahre Epidemien ausgelöst, die als Antonius-Feuer oder Brandseuche bekannt wurden. Die von diesem Pilz infizierten Getreidegräser bilden an Stelle von gesunden Körnern schwarze, gebogene Dauerstadien, Sklerotien genannt. Bei der Ernte gelangten sie in das Mehl und führten bei den betroffenen Personen zu schweren Vergiftungen. Als Folge der toxischen Wirkung des Mutterkornpilzes krampften sich die Muskeln zusammen, und die Blutgefäße verengten sich zunehmend. Falls kurz danach die Haut anfing zu kribbeln und sich taub anfühlte, war das ein sicheres Zeichen für Durchblutungsstörungen und erst der Beginn eines schmerzhaften Verlustes: Finger, Zehen und nicht selten ganze Gliedmaße fingen an abzusterben und hinterließen nur noch verstümmelte Überreste. Erst im 17. Jahrhundert erkannte man, dass es sich nicht um eine ansteckende Erkrankung, sondern vielmehr um eine Vergiftung, nämlich eine Pilzvergiftung, hervorgerufen durch das später sogenannte Mutterkorn, handelte. Hatte sie dir tatsächlich erklärt, ihre Mutter hätte sich daran verdorben. Sagte sie wirklich ‚verdorben‘?“

„Ja ganz sicher, sie sagte wirklich verdorben.“ Alexander stellte das kühle Getränk auf den Schreibtisch.

„Irgendwie war sie wohl nicht nur mittelalterlich gekleidet, sondern hatte auch ganz mittelalterliche Ansichten“, stutzte Marina, als sie in ihr Protokoll sah.

„Hier heißt es“, sagte Hürzeler:

„Erst im 17. Jahrhundert erkannte man, dass es sich nicht um eine ansteckende Erkrankung, sondern vielmehr um eine Vergiftung, nämlich eine Pilzvergiftung, hervorgerufen durch das später sogenannte Mutterkorn, handelte.“

„Wenn sie also tatsächlich ‚verdorben‘ sagte, dann liegt sie mit ihren Ansichten vor dem 17. Jahrhundert“, wunderte sich Marina. „Wie ist denn das möglich im Zeitalter von Internet und Hochbildung?“ Sie widmete sich wieder dem Protokoll.

„Vielleicht gehört sie zu einer Sekte wie die Mormonen, Quäker oder die Amish People? Heutzutage ist doch gar nichts mehr ausgeschlossen“, warf Hürzeler in den Raum.

„Die meiden doch das Moderne wie der Teufel das Weihwasser - oder etwa nicht?“

„Stimmt“, sagte Alexander nachdenklich. „Das müsste man eigentlich überprüfen.“

„Haben wir derartige Vereinigungen in der Nähe? In Frauenfeld, oder im Zürcher Oberland? Das nennt der Volksmund nicht umsonst, Stündlerengadin“, sinnierte Marina laut.

„Nein. Es gibt keinerlei Einträge im Polizeicomputer“, erklärte Hürzeler vor seinem Bildschirm.

"Dem würde aber ihre moderne Kleidung widersprechen, in der ich sie zweimal angetroffen habe“, berichtigte Alexander.

"Zugegeben, sie war nicht gerade topmodern, etwas rückständig, aber immerhin alles andere als mittelalterlich“, fügte er an.

„Kannst du mir bitte nochmals kurz die Kleidung beschreiben? Mir ist da etwas aufgefallen, wenn ich mich nicht verhört habe.“

„Klar, Hürzeler! Also das erste Mal trug sie eine weiße Hose, ein helles Oberteil mit violetten und blauen Blumenmustern und beim zweiten Mal eine hellblaue Jeans ...“

„ ... und einen violett-rosa Pullover?“, quittierte Ramseier.

„Deine Beschreibung ist wirklich gut. Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben aus der Polizeischule gemacht“, Hürzeler grinste.

„Aber im Ernst. Jetzt wird es spannend, Leute.“

„Ich verstehe kein Wort - was meinst du damit, Hürzeler?“, wunderte sich Marina.

„Ihr erinnert euch bestimmt an die Kleiderdiebstähle vom 27.4. und 16.5. in Hüttwilen.“

„Ja klar - warum?“

„Gemäß den Angaben der Geschädigten, stimmt deine Beschreibung der Kleidung haargenau mit den gestohlenen Kleidungsstücken in Hüttwilen überein. Da staunt ihr, was!“

„Im Ernst“, Alexander griff nach dem schriftlichen Bericht seines Kollegen und vertiefte sich in den Zeilen.

„Also, zumindest haben wir jetzt schon mal den Verdacht auf Kleiderdiebstahl gegen sie. Vielleicht bringt uns das schon mal weiter.“

„Gegen sie, Hürzeler? Das klingt irgendwie ziemlich hart. Sie hat ihr Kind verloren. Denkt bitte daran.“

„Wir kennen nicht mal die genauen Zusammenhänge, geschweige denn ihren Namen.“

„Also Leute, es muss doch möglich sein, etwas über ihre Identität zu erfahren. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, irgendwo muss sie doch registriert sein. Was sagen die Vermisst-Meldungen?“, ließ Alexander die Sache keine Ruhe.

„In der Schweiz verschwindet doch keiner einfach so.“

„Eben nicht, Marina“, Hürzeler lachte hämisch.

„Zumindest das Steueramt weiß immer, wo sie dich finden.“

„Nochmals rekapitulieren.“ Marina drehte ihren Stuhl und las vom Bildschirm:

„Ich habe sie noch nie zuvor in der Gegend von Nussbaumen oder Hüttwilen gesehen. Trotzdem hat sie mir klar und deutlich auf meine Frage, ob sie in der Nähe wohne mit: ‚Das könnte man so sagen – ja‘, geantwortet. - Die Antwort ist aber nicht ganz klar, Alexander. Eigentlich ist unklar, was sie damit sagen wollte.“

„Vielleicht finden wir mehr heraus, wenn wir uns nochmal kurz in der Region umsehen und etwas herumfragen. Vielleicht gehört sie auf einen der Höfe. Ich meine es gibt immer wieder Fälle von psychisch Beeinträchtigten die versteckt bei ihren Familien hausen“, schlug Marina vor.

„Das ist eine gute Idee. Ich schlage vor, wir fahren zur Ruine Hälfenberg, wo ich sie das erste Mal gesehen habe, beim Hasensee. Versuchen wir es doch mal bei den beiden Aussiedlerhöfen neben der Ruine. Vielleicht wissen die Leute vor Ort mehr.“

„Ist das okay, Chef?“, Marina warf dem Kommandanten Ramseier einen fragenden Blick zu.

„Okay - macht das.“

Kapitel 4

„Hast du die Wagenschlüssel, Alexander? Wirf rüber. Ich fahre.“ Marina eilte zur Fahrertür.

„Hier an der Hauptstraße sind die Kleider weggekommen, Marina“, ließ Alexander seine Blicke durch die Häuserzeilen von Hüttwilen schweifen.

„Wo bist du eigentlich aufgewachsen Marina?“ Er drehte seinen Kopf zu seiner Kollegin.

„Ach, in einem kleinen Kaff in der Nähe vom Rorschacherberg.“

„Dort soll es ein Schlosshotel geben. Warst du da schon einmal?“ Alexander aktivierte die Klimaanlage und strich die Falten aus seinem blauen Hemd.

„Klar, Schloss Wartegg. Das kenne ich gut. Wir haben als Kinder dort in der Nähe immer gespielt. Es ist erst seit 1994 ein Hotel.“

„Wie lange lebst du denn schon im Thurgau?“

„Seit meiner Jugend. Ich habe hier nach der Berufslehre die Polizeischule in Amriswil gemacht.“

„... und dann hat es dich in unser schönes Seebachtal gezogen?“

„Sozusagen!“ Sie schmunzelte.

„Aha, verstehe. War wohl ein Mann im Spiel?“ Er blickte sie schelmisch an.

„So ist das Leben.“

„Das Seebachtal ist übrigens eine ganz interessante Region. Du findest hier archäologisch alles, von den Pfahlbauern im Nussbaumersee, über die Römersiedlung Stutheien gleich da vorne rechts bis zu mittelalterlichen Burgen und Ruinen“, begann Alexander zu schwärmen.

„Habe schon gehört, dass du dich hobbymäßig mit der Archäologie beschäftigst.“

„So, so, haben die Kollegen wieder getratscht. In Nussbaumen biegen wir übrigens gleich beim Revierweiher links ab“, navigierte Alexander.

„Dann einfach auf der Uerschhauserstraße weiter, okay?“

„Ja.!“

„Fahr doch bitte etwas langsamer und da vorne links zu den beiden Bauernhäusern“, wurde sie von Alexander über die Hälfenberg Straße gewiesen.

„Dann wünsch uns Glück, dass wir hier etwas erfahren.“

Alexander öffnete die Autotür.

„Ah! Ich mag diesen Geruch. Es riecht so schön nach frischem Gras und Kühe“ Marina stieg aus dem Wagen.

„Das Gebimmel der Glocken erinnert mich an die Alpwiesen meiner Kindheit“, schwärmte Marina.

„Grüezi wohl“, gingen die beiden Beamten dem sichtlich verblüfften Bauern entgegen, der sich ihnen aus dem Stall kommend genähert hatte. Kläffend umkreiste sie ein schwarzer Hofhund.

„Was bist denn du für ein undefinierbares Kerlchen?“, flattierte ihm Marina mit gedämpfter Stimme.

„Ruhe Prinz!“, ermahnte ihn der Bauer lauthals.

„Sind Sie hier der Bauer vom Hof?“, erkundigte sich Alexander und hielt dem Gestiefelten seinen Ausweis entgegen.

'Wie aus dem Bilderbuch mit Zipfelmütze, blauer Latzhose, grünen Gummistiefeln und kariertem Hemd – Bauer Hense', dachte Marina und schmunzelte in sich hinein.

„Habe ich etwas verbrochen oder was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?“, fragte der Bauer und stellte die mistbeladene Schubkarre neben sich.

„Das wollen wir doch nicht hoffen“, erwiderte ihm Marina freundlich.

„Kantonspolizei Thurgau. Adler ist mein Name. Das ist meine Kollegin Keller.“ Er reichte dem Bauern seine Hand.

„Das ist unschwer zu erkennen“, sagte der großhändige Landwirt, kratzte sich unter seiner Kappe am Kopf und blickte verschmitzt auf das Polizeifahrzeug.

„Wir arbeiten gerade an einer Ermittlung. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Haben Sie kurz Zeit?“

„Um was geht es denn?“, der Bauer richtete sich breitbeinig auf und stützte seine Arme in die Hüften.

„Ruhe Prinz, Platz“, schrie er dem bellenden Hund entgegen. Eingeschüchtert zog dieser mit eingezogenem Schwanz davon und legte sich vor seine Hütte.

„Vor einigen Tagen wurde hier ganz in der Nähe eine etwas verwirrte junge Frau aufgegriffen. Wir versuchen ihre Identität zu klären. Haben Sie diese Person vielleicht schon mal gesehen?“, Alexander hielt ihm das Polizeibild entgegen.

„Aha, die Frau aus der Kartause?“, sagte der Bauer und griff mit ernster Miene nach dem Bild.

„Wie kommen Sie darauf? Es stand noch nichts darüber in den Zeitungen.“ Alexander stutzte über die beiläufige Bemerkung.

„Ach der Ernst, also mein Nachbar, hat es erzählt. Ich glaube, er hat da was geliefert und das ganze Theater mitbekommen.“ Er strich sich nachdenklich über das Kinn, stieß seine verschmutzte Schildkappe zurecht und ging ein paar Schritte umher.

„Einen Moment ... Alice, kommst du bitte kurz raus!“, rief er durch die geöffnete Türe lauthals ins Haus.

„Was ist denn, Fredi“, die Bäuerin trat aufgeregt auf die steinerne Treppe heraus. Schnell klaubte sie einige heruntergefallene Blütenblätter zusammen und warf sie in den Blumentopf zurück.

„Wir haben Besuch. Die sind von der Kapo Frauenfeld. Kannst du mit dem Bild etwas anfangen?Kennst du die Person?“, er reichte seiner Frau das Foto.

„Aha, ja, ja“, schoss es umgehend aus ihr heraus. „Ja sicher Fredi. Ist das nicht die junge Frau, die erst kürzlich durch unseren Garten geschlichen ist. Erkennst du sie nicht wieder?“

„Komm zeig mir nochmal das Bild.“ Er nahm es erneut in Augenschein und schob die Brille etwas nach oben.

„Bist du sicher? Meinst du wirklich, das ist sie, Alice? Also ich weiß nicht“, sagte er und kratzte wieder an seiner Kappe.

„Ja, das könnte eigentlich schon sein. Es war aber schon etwas dunkel. Aber jetzt, wo du es sagst. Das könnte schon sein“, stimmte der Bauer seiner Frau bei.

„Sind Sie sich ganz sicher?“, fragte Marina die beiden Bauersleute nochmals.

„Ganz sicher“, erwiderte ihr die Bäuerin und klatsche Blumenerde von den Händen.

„Sie war kürzlich unten am See. Plötzlich stand sie bei uns auf dem Hof. Ich habe sie gefragt, ob sie denn etwas suchen würde. Sie hat aber sehr zurückhaltend reagiert. Sie schien mir etwas eingeschüchtert. Das habe ich dir doch erzählt, Fredi.“

„Ja stimmt, so was hast du gesagt.“ Lächelnd blickten sich die beiden Beamten an.

„Wissen Sie, ob sie vielleicht aus der Gegend stammt?“

„Nein, wenn sie von hier wäre, dann würden wir sie kennen. Hier in der Gegend um Uesslingen bis nach Buch kennt sich eigentlich jeder?“

„Jeder?“

„Ja, also zumindest die Eingesessenen“, erklärte der Bauer.

„Es hat natürlich auch viele Zugezogene, Fredi. Von denen kennen wir natürlich fast niemanden.“

„Auf alle Fälle wäre sie uns sicher bekannt, wenn sie in der Gegend wohnen würde.“

„Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, als sie hier auf dem Hof war? Hat sie etwas gesucht?“, versuchte Marina etwas Genaueres zu erfahren.

„Ich möchte ihr ja nichts unterstellen, aber ich glaube, sie hat uns im Garten etwas Petersilie gestohlen“, ließ die Bäuerin durchblicken.

„Zumindest hatte es an dem Tag eine größere Lücke - oder hast du etwas geholt, Fredi?“

„Nein, Alice, also der Garten ist nicht mein Revier“, sagte der Bauer und lachte.

„Das ist Weibersache“, trat er etwas beiseite.

„Wir hatten aber den Eindruck, dass im Hofladen eine Schachtel Eier nicht bezahlt wurde. Das muss sie natürlich nicht gewesen sein. Aber das war doch auch am gleichen Tag - oder etwa nicht, Alice?“

„Ach, da fehlt immer wieder mal etwas, das gestohlen wird“, winkte die Bäuerin ab.

„Dann bedanken wir uns vielmals für Ihre Auskunft“, Marina reichte dem Bauernpaar die Hand.

„Ist schon recht. Leider können wir Ihnen auch nicht mehr sagen“, der Bauer gab das Bild wieder zurück.

„Ihre Auskunft hat uns doch etwas weiter gebracht. Falls wir noch weitere Fragen haben, werden wir uns melden“, verabschiedete sich Alexander bei der Bäuerin.

„Kommen Sie einfach vorbei“, der Bauer hob die Schubkarre und fuhr mit ihr quietschend zum Misthaufen.

„Ist eigentlich eine ganz schöne Gegend. Hier war ich ja noch nie“, staunte Marina, während sie die Wagentür öffnete und kurz darauf den Motor startete.

„Das finde ich auch. Ich jogge gern an der Ruine vorbei und wieder hoch nach Nussbaumen.“

„Hattest du nicht erwähnt, dass sie bei dem Baum am Nussbaumersee auch von Petersilie gesprochen hat?“

„Das ist mir auch eingefallen, als es die Bäuerin erwähnte. Ja - das sagte sie. Damals habe ich mich gewundert, warum sie diesen Satz so abrupt unterbrach.“

„Sie fühlte sich wohl ertappt. Offensichtlich hatte sie die Petersilie aus dem Garten mitlaufen lassen.“ Marina lachte und lenkte den Einsatzwagen Richtung Buch.

„Zumindest liegt aber keine Anzeige vor, wir wollen uns ja keinen unnötigen Bürokram aufladen – stimmt‘s?“, sagte Marina und grinste.

Kapitel 5

„Hier Einsatzzentrale an Keller und Adler“, war plötzlich eine rauschende Stimme aus dem Funkgerät zu hören.

„Hier Adler, was gibt’s?“

„Die forensische Psychiatrie Münsterlingen hat uns eben gemeldet, dass die Unbekannte von der Kartause vernehmbar wäre. Könnt ihr nach Münsterlingen fahren?“

„Verstanden. Wir sind in etwa 30 Minuten vor Ort.“

„Also los Marina, du hast es gehört. Auf nach Münsterlingen. Bin wirklich gespannt, was uns dort erwartet.“ Minuten später waren Frauenfeld und die Auffahrt zur A7 erreicht. Kurz darauf lenkte Marina den Wagen über die Autobahn in Richtung Kreuzlingen.

„Du kennst die Blitzer da vorne. Mach unserer Bussenabteilung keine unnötige Arbeit.“ Sie rauschten der Ausfahrt Ost entgegen.

„Nimm bei Kreuzlingen die Ausfahrt zur Brunnenstraße. Dann sind wir auf der Romanshornerstraße schnell durch die Stadt. Auf der Seestraße ist es dann nicht mehr weit.“

„Okay“, bestätigte Marina und verließ kurz darauf die A7.

„Weißt du, auf welcher Station wir sie finden?“

„Forensische Psychiatrie C2. Auf P5 können wir parkieren.“

„Das mittlere Gebäude müsste es sein.“ Alexander stieß die Wagentüre zu.

„Ehrlich gesagt, hab ich immer ein beklemmendes Gefühl auf einem Psychiatrieareal“, stöhnte Marina.

„Das geht mir ähnlich. Ich kann es aber recht gut wegstecken. Wahrscheinlich bin ich auch schon zu lange in dem Verein“, Alexander grinste.

„Aber die Aussicht auf den See ist toll“, schwärmte Marina.

Kurz darauf hatten sie die geschlossenen Sicherheitsbereiche des Gebäudes hinter sich gelassen.

„Guten Tag. Hell ist mein Name. Ich bin der Leiter der Abteilung. Sie sind von der Kapo Frauenfeld?“

„Korrekt, Adler und meine Kollegin Keller.“

„Wir haben Sie bereits erwartet! Kennen Sie sich aus in unserem Gebäude?“, kam der sympathische Leiter gleich zur Sache. Offensichtlich war er ein unkonventioneller Typ, unkompliziert und nicht so genormt. In der Knopfreihe seines weißen Hemdes steckte ein brauner Füllfederhalter. Die Ärmel waren hochgekrempelt und die mittellangen braunen Haare zu einem kurzen Pferdeschweif zusammengebunden.

„Nicht unbedingt. Ich bin eher selten auf dem Areal. Meiner Kollegin geht es wohl ebenso.“ Sie versuchten, mit dem Vorausgehenden Schritt zu halten. Rhythmisch erschallten ihre schnellen Schritte durch die langen Flure. Vereinzelte Blumengestecke und Grünpflanzen verliehen der Trostlosigkeit der Klinik eine angenehmere Atmosphäre. Ein Gefühl der Beklemmung durchfuhr Marina. Mit einem langen Atemzug verschaffte sie sich Erleichterung.

„Wir versuchen für unsere Patienten ein möglichst angenehmes Klima zu schaffen“, quittierte der Stationsleiter ihre kritischen Blicke.

„Sie sind sehr aufmerksam. Sieht man mir die Beklemmung an?“, Marina lachte verlegen.

„Es gehört zu meinem Beruf, die Zeichen und Signale der Menschen richtig einzuschätzen und zu deuten.“ Er schickte ihr ein verschmitztes und geheimnisvolles Lächeln.

„Ich würde Sie gerne über den Stand informieren“, blieb Hell kurz beim Stationsbüro stehen.

„Gerne – besten Dank.“

„Wir haben mit der Klientin eine erste Eingangsuntersuchung gemacht. Leider sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen. Wir kennen nicht einmal ihren Namen“, er blätterte in einem Dossier.

„Was heißt das genau?“, interessierte sich Marina.

„Kurz gesagt. Ich denke, sie hat schlicht und einfach Angst. Man merkt es ihr nicht an, aber sie fürchtet sich vor ihrer Umgebung.“

„Wie kommen Sie darauf, Herr Hell?“

„Es wurden bisher forensische Basisabklärungen mittels evaluierter klinischer Methoden und Prognoseinstrumenten durchgeführt. Wie bereits erklärt, sind wir jedoch offen gesagt keinen Schritt weiter gekommen. Sie ist wirklich ein außergewöhnlicher Fall“, äußerte sich der Stationsleiter etwas verlegen.

„Außergewöhnlich?“, forderte ihn Marina mit einem fragenden Blick zu einer genauen Erklärung auf.

„Ja außergewöhnlich. Sie zeigt eigentlich keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung. Ich kann mich in meiner Laufbahn an keinen vergleichbaren Fall erinnern“, wurde Hell nachdenklich und warf einen Blick auf seine Uhr.

„Ihre Sprache und die mittelalterliche Ausdrucksweise lassen jedoch noch eine andere Möglichkeit offen. Sie ist jedoch etwas ausgefallen.“

„... das bedeutet?“

„Haben Sie beide schon einmal etwas von dem Fremdsprachen-Akzent-Syndrom gehört?“

„Noch nie!“, die beiden Beamten blickten sich ratlos an.

„Man spricht auch vom sogenannten ‚foreign accent syndrom‘, oder kurz FAS.“

„Wir sind keine Mediziner. Was hat das mit der Patientin zu tun?“

„Das FAS ist eine sehr seltene neurologische Störung, die nach einem Schlaganfall oder nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten kann. Die Erkrankung äußert sich in einer Änderung der Sprachmelodie, der Aussprache oder der Wortwahl des Patienten. Von der Umwelt werden diese Veränderungen als plötzliche Fremdsprache interpretiert. Von einer Norwegerin ist beispielsweise bekannt, dass sie nach einer Schädelverletzung mit einem deutschen Akzent sprach. Angeblich spricht eine Patientin aus Thüringen nach ihrem dritten Schlaganfall seit Jahren nur noch mit einem Schweizer Akzent. In einem weiteren Fall sprach eine Engländerin nach einem starken Migräne-Anfall nur noch mit einem französischen Akzent. Ich möchte damit sagen, es ist durchaus möglich, dass wir im vorliegenden Fall eine Patientin mit FAS haben.“

„Das würde also bedeutet, dass ihre mittelalterliche Ausdrucksweise auf ein medizinisches Problem schließen könnte?“

„So ist es, Frau Keller. Mit Betonung auf ‚könnte‘. Ohne klaren Befund ist es aber schwierig festzustellen. Vielleicht existiert sogar irgendwo eine Krankenakte. Ohne ihre Identität können wir natürlich keine Nachforschungen anstellen.“

„Klingt verrückt, aber nach einer plausiblen Antwort“, fügte Alexander an.

„Konnte sie zumindest irgendwelche Auskünfte über ihre Herkunft oder über das Kind geben?“

„Das ist das Problem, Herr Adler. Sie spricht nicht darüber. Das heißt, eigentlich nur das Notwendigste. Aber abgesehen von einigen Mangelerscheinungen infolge einer Unterernährung ist die Patientin in einer sehr guten körperlichen Verfassung. Sie schweigt zu allen unseren Fragen, lacht jedoch gelegentlich.“

„... und dennoch diagnostizieren Sie ihr keine psychische Störung, obschon sie nicht mal ihren Namen nennt?“

„Als Polizistin ist das für Sie wohl ungewöhnlich.“

„Ehrlich gesagt, eigentlich schon.“

„Schweigen ist aber nicht verboten, Frau Keller“, Hell lachte. „Ich spreche natürlich von schwerwiegenden Verhaltensstörungen und Auffälligkeiten. Selbst ihre körperlichen Reaktionen sind eigentlich völlig normal“, fuhr Hell weiter fort. „Sie können gerne einen Blick in den Untersuchungsbericht der Klientin werfen. Bedenken Sie jedoch bitte das Recht der Klientin auf Persönlichkeitsschutz. Wie Sie vielleicht wissen, werden bei den Ausdrucksstörungen vor allem das äußere Erscheinungsbild und das soziale und situative Verhalten der Klientin untersucht. Der Untersucher kann hier die Psychomotorik und den Antrieb, die Mimik, den sprachlichen Ausdruck und das Sprechverhalten beschreiben. Im weiteren Sinne beobachtbare Veränderungen, betreffend der Bewusstseinslage der Patientin“, reichte er das Dossier an Alexander weiter.

„Warum sprechen Sie einerseits von der Patientin und dann wieder Klientin. Gibt es einen Grund dafür?“

„Sie sind aber sehr aufmerksam, Frau Keller. Polizeilicher Spürsinn?“ Er schmunzelte.

„Mir selber fällt das gar nicht so auf - aber Sie haben Recht. Es fällt mir nicht leicht, die Patientin als solche zu betrachten, daher wahrscheinlich mein Abschweifen zur Klientin“, argumentierte er augenfällig verunsichert und nahm die Unterlagen von Alexander wieder entgegen.

„Wie lange dauert eigentlich der Aufenthalt auf Ihrer Station, Herr Hell?“

„Das ist sehr unterschiedlich, Frau Keller.“ Er legte das Dossier wieder zurück ins Büro, wechselte ein paar Worte mit einer Pflegerin und fuhr mit der Erklärung fort.

„Die Behandlungsdauer kann sich in extremen Fällen bis zu mehrere Jahre hinziehen. Sie richtet sich natürlich nach den Fortschritten im therapeutischen Prozess, die sich auf die individuelle Legalbewährung auswirken. Die aktive und konstruktive Mitarbeit des Patienten ist hierbei entscheidend.“

„... und die ist bei ihr gegenwärtig nicht vorhanden. Ich verstehe, das macht es nicht einfacher.“

„Das ist so, Frau Keller. Ohne den klaren Nachweis einer Notwendigkeit können wir sie eigentlich nicht länger hier behalten. Es existiert kein richterlicher Freiheitsentzug.

„Ich verstehe.“

Unsere Klinik hatte in der Vergangenheit keinen guten Ruf.“

„Ich erinnere mich an einen Artikel im ‚Beobachter‘ vom Februar dieses Jahres. Sie meinen die Sache mit Professor Roland Kuhn und den Menschenversuchen?“

„Ja genau, Frau Keller, das war eine sehr üble Angelegenheit“, Hell runzelte die Stirn.

„Ach, übrigens ist die Labor-Untersuchung der Kleidung schon in die Wege geleitet worden?“, brachte Marina das Gespräch zurück auf den eigentlichen Zweck des Besuches.

„Gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Wir haben im Auftrag der Abteilung für forensische Pathologie in Frauenfeld eine kleine Probe an das Institut für Rechtsmedizin in Zürich weitergegeben. Meines Wissens auch an das Institut für Teilchenphysik an der ETH-Hönggerberg. Offensichtlich bestehen größere Unklarheiten über ihre Herkunft. Aber warum gleich eine C14-Untersuchung?“, staunte Hell.

„Darüber können wir Ihnen leider keine näheren Auskünfte geben, Herr Hell. Der Fall ist aber, wie Sie sagen, wirklich außergewöhnlich“, erklärte ihm Alexander.

„Aha verstehe. Kommen Sie bitte weiter“, bat er die beiden Beamten, ihm zu folgen.

„So, wir sind da“, der Stationsleiter griff nach einem Schlüsselbund in seiner Tasche, steckte ihn ins Schloss und öffnete vorsichtig die Tür. Besonnen traten sie in den Raum. Entgegen den Erwartungen öffnete sich den Beamten ein helles und modern eingerichtetes Zimmer. Auf einem runden Tisch stand eine gläserne Blumenvase, in der sich zwei rote Rosen befanden. Sie verbreiteten einen angenehmen Duft. Ein rotes Sofa durchbrach das klare Weiß des Raumes, und ein großes Bett war ordentlich gerichtet. Die Wände wurden von verschiedenen Bildern, überwiegend von zeitgenössischen Künstlern, geschmückt.

„Die Zeiten der engen und düsteren Psychiatriezimmer sind zum Glück vorbei“, quittierte der Leiter die verwunderten Blicke seiner beiden Besucher und stellte sich neben die Eingangstür, die er hinter sich ins Schloss fallen ließ. Regungslos stand die junge Frau vor einem Fenster und stützte ihre Hände auf eine hölzerne Kommode. Sie war ordentlich gekleidet, trug ihre weiße Haube und das mittelalterliche Kleid mit den verschiedenen Brauntönen.

„Sie trägt noch immer dieselben Sachen?“, wunderte sich Marina.

„Ja, Frau Keller. Sie weigert sich, etwas anderes anzuziehen und verlangte danach, die Sachen selber zu waschen.“

„Gibt es keine Wäscherei?“

„Natürlich. Sie hat ihre Kleidung aber nicht aus der Hand gegeben und sogar selber gewaschen - und das von Hand in einem Spültrog“, klärte Hell den erstaunlichen Sachverhalt. Den hellbraunen Umhang hatte sie sich über die Schultern gelegt und das Oberteil fein säuberlich geschnürt. Ein geflochtenes Lederband hatte sie sich um die Hüfte gebunden. Mit einem sanften Lächeln schweifte sie über den unweit entfernten Bodensee und nahm scheinbar kaum Notiz von ihrem Besuch.

„Eine gläserne Vase mit Rosen?“, reagierte Alexander erstaunt.

„Blumen wirken beruhigend - ja. Ich habe Ihnen ja erklärt, sie hat keinerlei psychotische Symptome. Eine Selbstgefährdung kann weitgehend ausgeschlossen werden.“

„Hallo, wie geht es Ihnen?“ Alexander ging zu der jungen Unbekannten. Freundlich reichte er ihr zur Begrüßung die Hand. Lächelnd blickte sie ihn an. Sanft nahm sie seine Hand und blickte ihm tief in die Augen.

„Seid Ihr hergekommen, um mir zu helfen, werter Herr, oder um mich weiterhin in diesem Karzer gefangen zu halten?“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. Diese Frage hatte Alexander nicht erwartet. Sie wirkte menschlich, vertrauenswürdig aber irgendwie etwas weltfremd und verloren.

„Es liegt durchaus nicht in meinem Interesse, Sie gefangen zu halten. Darf ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen?“

„Ihr habt wirklich ziere Augen, werter Herr. Wie nennet Ihr Euch?“, ließ sie ihn ihr Vertrauen spüren.

„Alexander. Mein Name ist Alexander. Ich hatte ihn Ihnen schon einmal genannt. Damals im Krankenwagen. Entsinnen Sie sich nicht mehr?“, entschied er sich, ihr seinen Vornamen zu nennen. „Darf ich Ihren Namen ebenfalls erfahren?“

„Man nennt mich Judith, Judith von Hälfenberg“, sie lächelte zum Erstaunen des Stationsleiters freundlich.

„Es gibt an diesem Ort sehr viel Siechtum, edler Herr. Die Augen sind finster und leer und die Seelen werden von einem starken Brand geplaget. Nehmet mich mit Euch hinfort von hier, ich bitt.“

„Ich freue mich sehr, Sie wieder gesund zu sehen, Judith“, Alexander spürte etwas befremdet, wie sehr sein Mitgefühl für die Frau entbrannte. Sie war eine wundersame Erscheinung, hübsch und von einer natürlichen Erhabenheit. Dennoch war sie keine Laufsteg-Schönheit im herkömmlichen Sinne. Fasziniert von ihrer starken Ausstrahlung und von ihrer natürlichen Bescheidenheit, drängte es ihn danach, ihr Geheimnis zu ergründen. Ein unangenehmes Gefühl des Zwiespaltes und der Zerrissenheit begann sich in ihm auszubreiten. Niemals zuvor war es ihm so schwer gefallen, das Berufliche von seinem Privatleben zu trennen und auseinanderzuhalten. In den wenigen Sekunden dieser Begegnung hatte sie ihm seine innersten Wünsche nach harmonischer Geborgenheit und Liebe vor Augen geführt. Sie schien ihm so fremd in dieser Welt, so endlos fern und doch so nah.

„Möchten Sie sich setzen, oder sollen wir uns am Fenster unterhalten, Frau Helfenberg?“

„Nennet mich Judith, werter Herr. Es ist schön, auf die Wasser des Sees zu blicken. Am großen Glas wäre schön“, sie hielt seinen Arm und führte ihn langsam an die Fensterfront.

„Dann nenne ich Sie gerne beim Vornamen. Judith von Hälfenberg ist kein alltäglicher Name. Er erinnert mich sehr an die Ruine zwischen Nussbaumersee und Hüttwilersee. Stammen Sie aus der

Region?“

„Ihr kennet den Burgstall am Steineggersee, edler Herr?“, sie lächelte verwundert.

„Steineggersee? Dieser Name wird seit langer Zeit nicht mehr für den Hüttwilersee verwendet“, staunte Alexander.