Private - Eine von euch - Kate Brian - E-Book

Private - Eine von euch E-Book

Kate Brian

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Beschreibung

Tradition, Ehre, Elite – und dunkle Geheimnisse hinter efeubewachsenen Mauern …

Als die 15-jährige Reed Brennan einen Platz an der elitären Easton-Academy ergattert, erhofft sie sich eine goldene Zukunft. Doch ihr Schicksal liegt in den Händen der Billings-Girls: reich, schön, intelligent, selbstbewusst – und die vier mächtigsten Mädchen der Highschool. Reed setzt alles daran, um in ihren exklusiven Zirkel aufgenommen zu werden. Doch hinter ihren Designer-Sonnenbrillen verbergen die Billings-Girls dunkle Geheimnisse und machen Reed das Leben schwer. Die neue Highschool würde zur Hölle, wäre da nicht der attraktive Thomas …

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© Sona Viola

DIE AUTORIN

Kate Brian hat einen Bachelor-Abschluss in Englischer Literatur und Journalismus an der Rutgers Universität gemacht und arbeitete vier Jahre als Lektorin, bevor sie mit ihrer Private-Serie die New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerlisten stürmte.

Mehr über cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

Kate Brian

Eine von euch

Aus dem Amerikanischen

von Karla Hahndorf

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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© 2006 by Alloy Entertainment and Kieran Viola Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Private« bei Simon & Schuster BFYR. Published by arrangement withSimon & Schuster Books for Young Readers, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division. All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the Publisher. © 2018 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Amerikanischen von Karla Hahndorf Lektorat: Carola Henke Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen Umschlagmotiv: © Julian Peploe ml · Herstellung: eR Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-21408-1 V002
www.cbj-verlag.de

Wo ich herkomme, ist alles grau. Die nichtssagenden kastenförmigen Einkaufszentren. Das Wasser im See des Stadtzentrums. Selbst das Sonnenlicht hat dort etwas Trübes. Frühling gibt es bei uns kaum und Herbst schon gar nicht. Bereits früh im September fällt das Laub von den kränklichen Bäumen, sodass es gar nicht mehr die Möglichkeit hat, seine Farbe zu verändern, und landet in den Dachschindeln der Standardhäuser, bei denen das eine vom anderen nicht zu unterscheiden ist.

Wer in Croton, Pennsylvania etwas Schönes sehen will, muss sich in sein neun Quadratmeter großes Schlafzimmer seines langweiligen Reihenhauses setzen und die Augen schließen. Und dann der Fantasie freien Lauf lassen! Manche Mädchen stellen sich vor, wie sie mit ihrem Freund, einem Filmstar, unter Blitzlichtgewitter über den roten Teppich gehen. Andere ziehen eher die Prinzessinnen-Nummer ab und beschwören Diamanten, Diademe und Prinzen auf weißen Rössern herauf. Ich aber dachte während meines gesamten neunten Schuljahrs immer nur an eines: die Easton Academy.

Wie ich letztendlich dorthin kam, an den Ort meiner kühnsten Tagträume, während meine ehemaligen Klassenkameraden an die dumpfe, trostlose Croton High wechselten, ist mir bis heute noch nicht ganz klar. Vermutlich habe ich das meinem Talent für Fußball und Lacrosse zu verdanken, meinen Noten, der euphorischen Empfehlung der temperamentvollen Easton-Absolventin Felicia Reynolds (die coole Ex meines Bruders Scott) und höchstwahrscheinlich auch ein wenig der Bettelei meines Vaters. Doch das war mir in diesem Moment egal. Ich war da, und es war genau so, wie ich es mir erträumt hatte.

Als mein Vater mit unserem zerbeulten Kleinwagen durch die sonnigen Straßen von Easton, Connecticut fuhr, musste ich mich zwingen, meine Nase nicht gegen die mit Hundesabber beschmierte Fensterscheibe zu pressen. An den Geschäften hingen bunte Stoffmarkisen und die Fenster glänzten sauber. Die Straßenlaternen waren zwar von der altmodischen Sorte, die früher einmal von einem Typen auf einem Pferd, der eine Fackel mit sich rumschleppte, entfacht wurden, funktionierten heute allerdings elektrisch. Von den Laternen hingen Topfpflanzen, deren knallrote Blüten leuchteten und die noch von der letzten Wässerung mit dem Gartenschlauch tropften.

Sogar die Gehwege waren schön: sauber, aus Pflastersteinen und von riesigen Eichen gesäumt. Im Schatten dieser Bäume traten zwei Mädchen in meinem Alter plaudernd aus einer Boutique namens »Ein Hauch von Nichts« und schwenkten ihre durchsichtigen Einkaufstüten voller ordentlich gefalteter Pullover und Röcke. Obwohl ich mich in meiner abgetragenen Lee-Jeans und meinem blauen T-Shirt deplatziert fühlte, gab es keinen anderen Ort, an dem ich lieber leben wollte als hier in Easton. Es war einfach unfassbar, dass mein Traum bald in Erfüllung gehen sollte. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Ein Gefühl, das ich in den Jahren seit dem Unfall meiner Mutter immer seltener gespürt hatte. Ein vages Gefühl von Hoffnung.

Die Easton Academy ist über eine schmale zweispurige Straße erreichbar, die sich von der Stadt die Hügel hinaufwindet. Ein kleines Holzschild auf einem Steinsockel markiert den Eingang zur Schule. EASTON ACADEMY GEGRÜNDET 1858 steht dort in verblasster Schrift. Das Schild wird vom untersten Ast einer Birke verdeckt, wie um auszudrücken, dass derjenige, der hierher gehört, den Weg ja kennt und allen anderen nicht unbedingt geholfen werden muss.

Mein Vater lenkte das Auto durch den Torbogen aus Backstein und Eisenbeschlägen und ich war verzaubert. Hin und weg. Rote Backsteingebäude mit Schindeldächern und Türmen, die mit sämtlichen ihrer angestaubten Winkel und Ecken Tradition und Stolz verströmten. Uralte, verwitterte, gewölbte Eingänge, dicke, an Eisenscharnieren befestigte Holztüren, Kopfsteinpflasterwege, die von hübschen Blumenbeeten gesäumt waren. Makellose Sportplätze mit hellgrünem Rasen und leuchtend weißen Markierungen. Alles um mich herum war perfekt. Nichts erinnerte mich an zu Hause.

»Reed, du musst mir den Weg sagen. Wo muss ich lang?«, fragte mein Vater.

Der Lageplan von Easton in meiner Hand war mittlerweile zu einem schweißnassen, bröckeligen Ball geworden. Ich breitete ihn flach auf meinem Oberschenkel aus, als hätte ich ihn nicht schon etliche Male auswendig gelernt. »Bieg bei dem Springbrunnen rechts ab«, wies ich meinen Vater an und versuchte, ruhiger zu klingen, als ich mich fühlte. »Die Zimmer der Zehntklässler-Mädchen befinden sich ganz am Ende des Platzes.«

Wir fuhren an zwei farblich aufeinander abgestimmten Mercedes Cabrios vorbei. Ein blondes Mädchen stand untätig daneben, während ein Mann – ihr Vater? Ihr Butler? – einen Riesenstapel Louis-Vuitton-Gepäck auf den Gehweg ablud. Mein Vater pfiff durch die Zähne.

»Die wissen, wie man es sich gut gehen lässt«, sagte er, und ich war von seiner Ehrfurcht sofort genervt, obwohl ich genauso beeindruckt war. Er duckte sich, damit er die Spitze des Turms sehen konnte, über den ich durch mein stundenlanges Blättern in der Easton-Broschüre bereits wusste, dass sich darin die alte Bibliothek befand.

Eigentlich wollte ich »Da-a-ad!« sagen, doch dann antwortete ich nur: »Ich weiß.«

Bald würde er wieder weg sein, und wenn ich ihn jetzt anmotzte, würde ich es später – allein an diesem fremden, bilderbuchartigen Ort – bereuen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen, die wir gerade gesehen hatten, so etwas wie »Da-a-ad!« nicht sagen würden.

Vor den drei imposanten Wohnheimgebäuden, die den Platz auf der Mitte des Hügels säumten, verabschiedeten sich Eltern mit Küssen und Umarmungen von ihren Kindern und vergewisserten sich, dass sie auch alles Nötige hatten. Jungs in Khakihosen und weißen Hemden spielten mit fleckigen roten Wangen Fußball und hatten ihre Blazer beiseitegeworfen. Zwei streng dreinblickende Lehrer standen neben dem ausgetrockneten steinernen Springbrunnen und nickten, während sie leise miteinander redeten. Mädchen mit glänzenden Haaren verglichen ihre Stundenpläne miteinander und lachten dabei, zeigten auf etwas und tuschelten hinter vorgehaltener Hand.

Ich beobachtete die Mädchen und fragte mich, ob ich sie morgen schon kennen würde. Fragte mich, ob eine von ihnen vielleicht meine Freundin werden würde. Ich hatte noch nie viele Freundinnen gehabt. Oder auch nur eine, um ehrlich zu sein. Ich war Einzelgängerin aus der Notwendigkeit heraus, Menschen von meinem Haus und meiner Mutter fernzuhalten und damit auch von mir selbst. Außerdem interessierte ich mich für andere Dinge als die meisten Mädchen, die sich nur für Kleidung, Tratsch und Promi-Zeitschriften begeistern konnten.

Zu Hause hatte ich mich immer mit Jungs am wohlsten gefühlt. Jungs hatten nicht so ein Bedürfnis danach, Fragen zu stellen, dein Zimmer und dein Haus genau unter die Lupe zu nehmen und all die intimen Details deines Lebens zu erfahren. Deshalb hing ich am häufigsten mit Scott und seinen Freunden ab, vor allem mit Adam Robinson, mit dem ich den ganzen Sommer lang zusammen war und der dieses Jahr an der Croton High seinen Abschluss machen würde. Ich schätze, die Tatsache, dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte und hierhergekommen war und dadurch auf den Ruhm verzichtete, als erste Zehntklässlerin einen Freund im Abschlussjahrgang zu haben und mit ihm am ersten Schultag vorzufahren, wäre eine weitere Sache gewesen, die die Mädchen in meiner Stufe bestimmt nicht hätten nachvollziehen können.

Aber die kapierten so einiges nicht.

Ich hoffte, dass es hier anders sein würde. Ich wusste, es würde anders sein. Man brauchte sich doch nur umzusehen. Wie könnte es nicht so sein?

Mein Vater hielt am Straßenrand zwischen einem goldenen Landrover und einer schwarzen Limousine. Ich schaute die efeubedeckten Außenmauern von Bradwell hinauf, dem Wohnheim der Zehntklässler, der dieses Schuljahr mein Zuhause sein würde. Einige Fenster waren bereits geöffnet und Musik drang zu den Schülern und Eltern hinaus. In einem der Zimmer waren rosa Vorhänge angebracht worden und ein Mädchen mit pechschwarzen Locken bewegte sich darin geschäftig umher, räumte Dinge um und richtete sich ein.

»So, da wären wir«, verkündete mein Vater. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Und du bist dir bei der Sache auch ganz sicher, Kleines?«

Plötzlich konnte ich nicht mehr atmen. In all den Monaten, in denen sich meine Eltern wegen Easton gestritten hatten, war mein Vater der Einzige in der gesamten Familie gewesen, der nie auch nur den Funken eines Zweifels zum Ausdruck gebracht hatte. Selbst Scott, dessen Idee es ursprünglich gewesen war, dass ich Felicia an die Easton folgte – sie war für ihre letzten beiden Schuljahre hierhergekommen und hatte im Frühling ihren Abschluss gemacht, bevor sie sich nach Dartmouth und in eine ruhmreichere Zukunft aufmachte –, hatte gezögert, als er die wahnsinnig hohen Schulgebühren sah. Doch mein Vater war von Anfang an dafür gewesen. Er hatte die Videoaufnahmen von meinen Lacrosse- und Fußballspielen nach Easton geschickt. Und Stunden am Telefon verbracht, um finanzielle Unterstützung für mich zu organisieren. Und währenddessen hatte er mir immer wieder versichert, ich würde »es ihnen schon zeigen«.

Ich blickte in die Augen meines Vaters, die dasselbe Blau wie meine hatten, und ich wusste, er hatte keinen Zweifel daran, dass ich hier klarkommen würde. Er hatte nur Zweifel, ob er zu Hause klarkommen würde. Bilder von Tablettenfläschchen schossen mir in den Kopf. Kleine weiße und blaue Tabletten, die über einen mit Wasserrändern versehenen Nachttisch verteilt waren. Ein Abfalleimer voller leerer Schnapsflaschen und zerknüllter Taschentücher. Meine Mutter, blass und abgemagert, wie sie über ihre Schmerzen jammert und über all das Schlechte, das ihr zugestoßen ist, und behauptet, es sei uns allen egal. Wie sie mich runterzieht und wie sie Scott runterzieht und wie sie uns sagt, wie wertlos wir doch seien, damit wir uns genauso mies fühlten wie sie selbst. Scott war bereits geflohen – er hatte letzte Woche seine Sachen gepackt und war an die Pennsylvania State University gegangen. Nun wohnten nur noch mein Vater und meine Mutter in dem winzig kleinen Haus. Der Gedanke deprimierte mich.

»Ich muss nicht unbedingt hierher«, sagte ich, obwohl mir bei der Vorstellung, er könne mir recht geben, ganz schlecht wurde. Diesen Ort zu sehen, sich von ihm verzaubern zu lassen und ihn dann gleich wieder verlassen zu müssen, hätte mir den Todesstoß versetzt, da war ich mir sicher. »Wir können sofort umkehren. Du musst es nur sagen.«

Das Gesicht meines Vaters entspannte sich und er lächelte. »Ja, klar«, sagte er. »Als ob ich das machen würde. Aber ich weiß das Angebot zu schätzen.«

Ich lächelte traurig. »Kein Problem.«

»Ich hab dich lieb, mein Kleines«, sagte er. Das wusste ich bereits. Für mich einen Platz an dieser Schule zu ergattern und mich aus dem Höllenloch meines Zuhauses herauszuholen, war wohl das offensichtlichste Zeichen von Liebe, das ein Elternteil einem entgegenbringen kann. Er war mein Held.

»Ich hab dich auch lieb, Dad.«

Dann umarmte er mich, und ich weinte, und bevor ich mich’s versah, verabschiedeten wir uns voneinander.

»Die Easton Academy ist eine der besten Schulen des Landes. Ich nehme an, das ist der Grund, warum Sie sich für sie entschieden haben. Viele Schüler, die zuvor öffentliche Schulen besucht haben, tun sich … etwas schwer damit, sich einzugewöhnen. Doch Sie werden nicht zu diesen Schülern gehören, habe ich recht, Miss Brennan?«

Meine Betreuerin, Ms Naylor, hatte graue Haare und Hängebacken. Sie zitterten, wenn sie sprach, und bei jedem ihrer Worte ging es eigentlich nur darum, dass ich mich niemals für Easton hätte bewerben sollen, weil es eine Nummer zu groß für mich sei und ich noch vor meiner ersten Unterrichtsstunde zu versagen drohte.

Zumindest ließ sie das durchblicken.

»Genau«, antwortete ich und zwang mich zu einem optimistischen Lächeln. Ms Naylor unternahm denselben halbherzigen Versuch. Ich hatte den Eindruck, sie lächelte grundsätzlich wenig.

Ihr Büro im Souterrain war dunkel und die gemauerten Wände waren mit Regalen voll staubiger, in Leder gebundener Bücher verkleidet. Es wurde nur von zwei Fenstern, die sich sehr hoch in der Wand befanden, beleuchtet. Ihr runder Körper war so nahtlos zwischen den Armlehnen ihres Stuhls eingekeilt, dass es wirkte, als würde sie dort festsitzen. Der Moschus- und Zwiebelgeruch konnte durchaus ein Zeichen dafür sein, dass sie tatsächlich niemals den Raum verließ. Und dass alles, was sie in diesen vier Wänden aß, ganz schön ranzig sein musste.

»Die Kurse in Easton sind äußerst anspruchsvoll. Die meisten Schüler in Ihrem Jahrgang besuchen Kurse, die dem Oberstufen-Niveau Ihrer alten Highschool entsprechen«, fuhr Ms Naylor fort und blickte dabei auf etwas, von dem ich annahm, dass es sich um meine Zeugnisse von der Croton High handelte. »Um mithalten zu können, werden Sie sehr viel mehr lernen müssen als bisher. Sind Sie dem gewachsen?«

»Ja, das hoffe ich doch«, sagte ich.

Sie sah mich an, als wäre sie irritiert. Hatte sie etwa erwartet, ich würde mit »Nein« antworten?

»Ich sehe, Sie bekommen ein Teilstipendium. Das ist gut«, sagte Ms Naylor. »Die meisten unserer Schüler, die Stipendien bekommen, haben dadurch eine gewisse Motivation, die ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen.«

Ms Naylor klappte ihren Ordner zu und beugte sich über ihren Schreibtisch zu mir rüber. Ein Lichtstrahl aus einem der Fenster enthüllte die deutlich sichtbare Linie zwischen dem Make-up auf ihrem Gesicht und den fleischigen Rollen ihres Halses.

»Wir erwarten herausragende Leistungen von jedem einzelnen unserer Schüler hier in Easton«, sagte sie. »Ich habe besonders hohe Erwartungen an die Schüler, die ich betreue, also werde ich auch Sie besonders im Auge haben, Miss Brennan. Enttäuschen Sie mich nicht.«

Es mag paranoid klingen, doch für mich klang diese Forderung eher wie eine Drohung. Wir schwiegen beide. Schließlich hatte ich das Gefühl, dass ich etwas sagen sollte, also meinte ich: »Okay.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ihr Stundenplan.«

Blitzschnell zog sie ein dünnes Blatt Papier hervor und hielt es mir über dem kleinen bronzenen Namensschild am Rande ihres Schreibtisches, das sie als Vertrauenslehrerin bezeichnete, entgegen. Auf mich wirkte es so, dass sie mich vertrauensvoll begleiten wollte – und zwar unterwürfig weinend zum nächsten Flughafen.

Ich nahm das Blatt und überflog es kurz, wobei mir Wörter wie »Kunstgeschichte«, »Zusatzarbeit im Labor« und »Französisch 3« ins Auge sprangen. Wie um alles in der Welt war ich in Französisch 3 gelandet?

»Danke«, sagte ich. Ich war froh zu hören, dass meine Stimme von dem Zittern, das von meinem Körper Besitz ergriffen hatte, nichts verriet.

»Und der Ehrenkodex.«

Sie reichte mir noch ein Blatt Papier; dicker, umfangreicher als das erste. Oben auf der Seite prangten das Wappen von Easton und die Worte »Ehrenkodex für Schüler der Easton Academy«, darunter »Tradition, Ehre, Excellence.«

»Lesen Sie es sich durch und unterschreiben Sie es dann«, forderte mich Ms Naylor auf.

Das tat ich. Der Ehrenkodex besagte hauptsächlich, dass ich nicht schummeln durfte und Klassenkameraden, die ich im Verdacht hatte, Derartiges zu tun, melden sollte. Sollte ich diesen Anforderungen nicht gerecht werden, würde ich unverzüglich der Schule verwiesen werden. An der Easton Academy hielt man nichts von zweiten Chancen. Doch da ich in meinem Leben noch nie geschummelt hatte und mir nicht vorstellen konnte, dass jemand, der diese Schule besuchte, so etwas nötig hätte, unterschrieb ich schnell und gab das Blatt zurück an Ms Naylor, die meine Unterschrift inspizierte.

»Sie sollten sich auf den Weg machen«, sagte sie dann. »In einer Viertelstunde beginnt die Hausversammlung und Sie sollten nicht gleich am ersten Tag einen schlechten Eindruck bei Ihrer Hausmutter hinterlassen.«

»Danke«, sagte ich und erhob mich.

»Ach, noch etwas, Miss Brennan«, sagte sie. Als ich sie ansah, war ihr Gesicht zu einem Lächeln verzerrt. Oder etwas, das einem Lächeln zumindest sehr nah kam. »Viel Glück.«

Ein Sie werden es brauchen können steckte da auf jeden Fall mit drin.

Voller Sehnsucht nach dem hoffnungsvollen Gefühl, das ich im Auto meines Vaters gespürt hatte, drehte ich an dem kalten Türknauf aus Messing und verließ den Raum.

Meine Angewohnheit, mit gesenktem Kopf durch die Gegend zu laufen, hatte in der Vergangenheit Nachteile, aber auch Vorteile gehabt. Der größte Nachteil war, dass ich ständig mit jemandem zusammenstieß. Der Vorteil war, dass ich immer etwas fand: haufenweise Münzen, heruntergefallene Halsketten und Armbänder, heimliche Liebesbotschaften, die vermeintlich sicher in einer Heftmappe verstaut waren. Einmal hatte ich sogar ein Portemonnaie voller Bargeld gefunden und fünfzig Dollar Finderlohn bekommen, als ich es zurückgab. Allerdings hätte ich wissen müssen, dass es vielleicht nicht klug war, so auch in Easton herumzulaufen. Ich hatte den Hof hinter den Wohnheimen bereits zur Hälfte überquert, als ich jemanden »Achtung!« rufen hörte.

Anstatt mich zu ducken, schaute ich natürlich auf.

Ich ließ meinen Stundenplan fallen und erwischte den Football etwa eine Zehntelsekunde, bevor er mir die Nase gebrochen und mich in die Krankenstation befördert hätte. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

»Nicht übel.«

Mitten auf dem Weg saß ein Junge. Hätte der Ball nicht beinahe mein Gesicht verunstaltet, wäre ich beim nächsten Schritt direkt über ihn gestolpert. Er steckte sein schickes Handy, auf dem er zuvor noch herumgetippt hatte, in die Tasche, befreite seine langen Beine aus dem Schneidersitz und hob beim Aufstehen meinen Stundenplan auf. Seine dunklen Haare fielen ihm unordentlich, und gleichzeitig total gewollt, in die Stirn, wobei eine Locke direkt über eines seiner strahlend blauen Augen hing. Ein grau meliertes T-Shirt schmiegte sich an seinen schlanken Körper. Er hatte ein markantes Gesicht und seine leicht gebräunte Haut war makellos.

»Eine Neue«, sagte er und musterte mich von oben bis unten.

Ich wurde rot. »Ist das so offensichtlich?«

»Ich kenne jeden hier auf der Schule«, sagte er.

»Jeden?«, fragte ich. Das war wohl kaum möglich.

»Es ist eine kleine Schule«, erwiderte er und sah mich an.

Für mich fühlte sich das nicht so an. Mir schien sie sogar verdammt groß zu sein. Aber es war ja auch mein erster Tag.

»Pearson! Hör mal auf zu flirten und wirf den Ball zurück!« Bis dahin hatte ich die Jungs in unserer Nähe nur gespürt. Nun streckte »Pearson« seine Hand nach dem Ball aus und ich sah zu seinen Freunden hinüber, es waren sechs, die zwanzig Meter entfernt schwitzend nach Luft rangen. Anstatt ihm den Ball zu geben, drehte ich mich um, nahm etwas Anlauf und schoss den Ball dem Typen zu, der am weitesten entfernt stand. Er landete direkt in seinen Händen. Einer der Spieler – ein großer, blonder, kräftiger Junge, dem das Wort »Großmaul« ins Gesicht geschrieben stand – zwinkerte mir anzüglich zu und joggte zurück zum Spiel.

»So, so. Reed Brennan, zehnte Klasse.«

Mein Herz setzte einen Moment aus. »Pearson« studierte meinen Stundenplan.

»Ich nehme das mal wieder«, sagte ich und streckte auffordernd meine Hand aus. Er drehte sich weg und hielt den Stundenplan mit beiden Händen in die Höhe. Ich durchforstete mein Gehirn, ob sich irgendetwas Peinliches oder zu Persönliches darauf befand. Stand da, dass ich ein Stipendium bekam? Stand da, woher ich kam?

»Hm … ganz schön harter Stundenplan. Wir haben es hier wohl mit einem Schlaufuchs zu tun.«

Er sagte es auf eine Art, dass ich nicht wusste, ob das gut oder schlecht war. »Nicht wirklich«, antwortete ich.

»Und auch noch bescheiden«, sagte er mit einem Blick zu mir. »So eine bist du also.«

Mittlerweile war ich knallrot. »Wie meinst du das?«

»Eines von den Mädchen, die klug sind, aber so tun, als wären sie es nicht. Eines von den Mädchen, die schön sind wie ein Model, aber ständig sagen, sie wären hässlich«, antwortete er.

Schön? Schön? Ich hasste Komplimente. Ich wusste nie, was ich mit ihnen anfangen sollte. Besonders dann, wenn ich den Verdacht hatte, dass sie nicht ganz ernst gemeint waren.

»Eines von den Mädchen, deren Existenz für die Mädchen um sie herum, die unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden, die reine Qual ist.«

Ich riss ihm meinen Stundenplan aus der Hand und steckte ihn in meine Gesäßtasche.

»Ich schätze, dann gehörst du wohl zu diesen unausstehlichen Typen, die meinen, sie wüssten über alles Bescheid, und die so eingebildet sind, dass sie glauben, alle um sie herum wären an ihren wenig originellen Gedanken interessiert«, gab ich zurück.

Er grinste. »Du hast mich durchschaut.«

Er hatte nicht einmal den Anstand, vorzutäuschen, er wäre beleidigt. Er wirkte wie jemand, der wusste, wie cool er war, und der sich auch nicht darum scherte, was ich oder andere von ihm hielten. Darum beneidete ich ihn.

»Du bist also Reed Brennan, Studentin im zweiten Jahr, und ich bin Thomas Pearson, Student im letzten Jahr«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.

Niemand in meinem Alter hatte mir jemals die Hand schütteln wollen. Ich beäugte ihn skeptisch und erwiderte seinen Händedruck. Seine Handfläche war unglaublich warm und sein starker, selbstsicherer Griff schickte ein erwartungsvolles Kribbeln durch meinen Körper. Er sah mir in die Augen und sein Lächeln wurde langsam breiter. Fühlte er dasselbe, oder wusste er bloß, dass ich es fühlte?

Sein Handy klingelte. Er wandte sich ab und zog es aus seiner linken Tasche. Komisch, ich hatte gedacht, er hätte es in die andere gesteckt.

»Da muss ich rangehen«, sagte er und ließ das Telefon auf seiner rechten Handfläche kreisen wie ein Revolverheld in einem alten Western. »Arbeit kommt vor dem Vergnügen. Und glaub mir, es war wirklich ein Vergnügen, dich kennenzulernen, Reed Brennan.«

Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.

»Pearson«, meldete er sich am Handy.

Dann schlenderte er langsam davon, mit erhobenem Kopf und so selbstsicher, als würde ihm die ganze Schule gehören. Ich fragte mich, ob es nicht vielleicht wirklich so war.

Meine Mitbewohnerin gehörte definitiv zu der gesprächigeren Sorte. Sie hieß Constance Talbot und schien offensichtlich keinen Sauerstoff zu benötigen. In dem Augenblick, als ich nach der Begegnung mit Thomas Pearson das Zimmer betrat, begann sie zu reden und holte dann nicht ein einziges Mal mehr Luft. Während sie so vor sich hin plapperte, musterte ich die Poster von Rockbands und Rodin-Gemälden, die sie in meiner Abwesenheit aufgehängt hatte. Und betrachtete den Haufen Cardigans, T-Shirts und tiefsitzende Kordhosen auf dem Bett. Ich fragte mich, ob sie wegen anhaltender Ruhestörung von ihrer Schule in Manhattan geflogen war.

Ihr bevorzugtes Gesprächsthema? Sie selbst. Wie dumm von mir zu glauben, die Mädchen hier würden anders sein. In den ersten fünf Minuten erfuhr ich, dass sie Einzelkind war, dass sie, wie ich, neu in Easton war, dass sie eine Privatschule in Manhattan besucht hatte und auch dort hätte bleiben können, nur habe sie »ihren Horizont erweitern« wollen, dass ihr Hund bedauerlicherweise Pooky hieß und dass sie einen Freund auf der Upper East Side hatte, der Clint hieß, was noch mehr zu bedauern war.

»Clint und ich waren letzten Sommer auf einem U2-Konzert im Madison Square Garden. Niemand geht ja freiwillig in den Garden, aber sonst spielen U2 ja nirgends, oder? Mein Dad gibt uns also Backstage-Pässe, weil er das Konzert ja promotet, und – habe ich schon erwähnt, dass er Promoter ist?«

Hatte sie.

»Und er so: ›Die Band wird nicht da sein, aber ihr könnt sehen, wo sie sich umziehen und abhängen.‹ Aber dann gehen wir nach hinten, öffnen die Tür und rate mal, wer da steht? Rate!«

Nun war tatsächlich ich dran, was zu sagen.

»Bono?«, fragte ich.

»Bono!«, rief sie. »Direkt vor meiner Nase! Anderthalb Meter von mir entfernt. Und weißt du, was er gesagt hat? Er sagte, und ich zitiere: ›Es freut mich, dich kennenzulernen …‹«

Ihr irischer Akzent war grauenvoll.

»›Du hast die schönste irische Haut, die ich jemals gesehen habe.‹ Er wusste, dass ich Irin bin. Einfach aufgrund meines Aussehens!«

Tja, offensichtlich war Bono weder blind noch dumm. Schließlich hatte Constance die obligatorischen roten Haare. Dazu Sommersprossen. Und grüne Augen. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie sich »Irland für immer« über ihren Hintern hätte tätowieren lassen.

Andererseits war sie zu naiv und fröhlich, um der Typ für ein Tattoo zu sein.

»Natürlich habe ich ihn um ein Foto mit mir gebeten und natürlich war er einverstanden. Meine Freundin Marni hat Hunderte gemacht.«

»Echt? Hast du sie hier?«, fragte ich – immerhin gab ich mir Mühe.

Darauf herrschte mindestens fünf Sekunden Stille, während Constance mir den Rücken zuwandte und ihre rosa Schmuckschatulle aus Satin durchkramte – langsam begann ich, mir Sorgen zu machen. »Oh nein. Ich habe sie nicht dabei. Ich wollte damit nicht, du weißt schon, angeben.«

Klar.

»Egal.« Sie hatte sich wieder zu mir gedreht, mitsamt ihrem strahlenden Lächeln, und legte eine Perlenkette an. »Bist du bereit?«

»Wofür?«

»Für die Hausversammlung!«, sagte sie und riss ihre unfassbar großen Augen auf. »Da lernen wir unsere Hausmutter kennen!«

»Ach, stimmt«, sagte ich und rutschte nervös auf meiner Steppdecke herum.

»Hört sich das nicht total nach 18. Jahrhundert an? Wir haben eine Hausmutter«, sagte Constance und lachte sich schlapp. »Ich kann es kaum erwarten, die anderen Mädchen von unserem Flur kennenzulernen.«

Sie sah mich erwartungsvoll an. »Ja, ich auch nicht«, entgegnete ich und zwang mich zu einem Lächeln.

Ich folgte ihr zur Tür hinaus und wünschte, ich wäre nur halb so begeistert und selbstsicher wie sie. Leider hatte ich die Mädchen aus unserem Flur bereits gesehen. Ich hatte gesehen, wie sie mit ihren Handys telefonierten, ihre Zweihundert-Dollar-Jeans zusammenlegten und ihre Haarprodukte von Kerastase ins Bad schleppten. Da wusste ich schon, dass ich der Sache nicht gewachsen sein würde. Außerdem schien es so, als würden sie sich bereits alle untereinander kennen. Sie gingen ganz locker aufeinander zu und sprachen miteinander wie Freundinnen – als hätten sie alle schon gemeinsam ein Leben lang hier gewohnt und Insider-Witze kultiviert und einen bestimmten Stil entwickelt, an den ich nie herankommen würde, da ich erst so spät dazugestoßen war. In meinem Kleiderschrank gab es nicht ein Teil, mit dem ich mich nicht als Landei outen würde – als Stammkundin bei Wal-Mart.

Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte. Ich wusste nicht, wie man sich unterhält, sich Geheimnisse erzählt und befreundet ist. Seit ich acht war, war keiner meiner Mitschüler bei mir zu Hause gewesen. Ich hatte keine Geburtstagspartys oder Pyjamapartys oder etwas in der Art gefeiert, was dazu führte, dass niemand an meiner Schule irgendwas über mich wusste. Genau das hatte ich gewollt. Ich hatte diese Entscheidung getroffen, als meine Mutter ihre lange, kontinuierliche Abwärtsspirale begonnen hatte. Um mich selbst zu beschützen. Um andere vor ihr zu beschützen. Und es hatte immer geklappt. Nicht ein Mensch außerhalb meines engeren Familienkreises kannte meine Geheimnisse.

Allerdings war mir nicht bewusst gewesen, dass ich durch meine Zurückgezogenheit völlig inkompetent geworden war. Nicht zu normalem Teenagerverhalten fähig. Ich war nur noch der traurige Abklatsch eines Mädchens. Und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich zu bessern, fragte ich mich allmählich, wie ich das ändern könnte. Ob es etwas gab, was ich tun konnte, damit andere Menschen sich mir annähern wollten. Besonders die Menschen hier. Ich war noch keine fünf Stunden in Easton und war mir bereits ziemlich sicher, dass mein Freundinnen-Mangel anhalten würde.

Die Versammlung wurde im Gemeinschaftsraum auf unserer Etage – viertes Stockwerk, Bradwell – abgehalten. Der u-förmige Flur unseres Wohnheims endete jeweils mit einer Tür zum Gemeinschaftsraum. Dahinter lagen die Aufzüge, die zum Foyer führten. Um in sein Zimmer auf seiner Seite des Gebäudes zu gelangen, musste man also durch den Gemeinschaftsraum und durch eine der beiden Türen gehen. Als ich bei meinem Einzug durch den Raum gekommen war, waren die abgesessenen Sofas und Stühle überall im Raum verteilt gewesen und hatten kleine Nischen zum Lernen gebildet sowie einen Bereich, in dem man Fernsehen schauen konnte. Nun waren die Sitzgelegenheiten zu einem breiten V zum Fernseher hin angeordnet. Dutzende von Mädchen drängten sich auf den Sofas und Stühlen und um sie herum, unterhielten sich und lachten. Der Raum war brechend voll und der Lärmpegel überwältigend. Ein benebelndes Gemisch aus Parfums – und duftenden Haarprodukten und Bodylotions – sorgte für stickige Luft. Constance stürmte in den Raum und setzte sich auf eine Sofalehne. Das Mädchen hinter ihr, das nun eine perfekte Sicht auf Constances Hinterteil hatte, verdrehte die Augen und zog ihren Arm dicht zu sich ran. Ich blieb bei der Tür stehen. Dort schien die Luft besser zu sein.

Eine junge Frau stand in der Nähe des Fernsehers und notierte sich etwas auf ihrem Klemmbrett. Als Constance eingetreten war, hatte sie aufgeblickt und gelächelt. Ihre langen, glatten Haare wurden von einem karierten Haarreifen zurückgehalten. Wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich sie höchstens für siebzehn gehalten. Sie blickte auf ihre goldene Uhr und rümpfte flüchtig die Nase.

»Okay! Es ist Zeit! Fangen wir an«, sagte sie. »Kommen Sie rein. Los kommen Sie.« Sie winkte mir, einzutreten, worauf sich alle zu mir umdrehten. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich zum Ende des V, setzte mich in der Nähe von Constances Füßen auf den Boden und hoffte, dass die anderen bald aufhören würden, mich anzustarren.

»Hallo, alle zusammen. Willkommen in der Easton Academy. Ich bin Ms Ling, Ihre Hausmutter.« Sie machte eine Pause und lachte dabei. »Das hört sich so alt an. Sehe ich alt genug aus, um Ihre Mutter zu sein?«, fügte sie hinzu und versah das Ganze auch noch mit zwei imaginären Anführungszeichen, was mit Klemmbrett und Stift in den Händen ziemlich unbeholfen aussah.

Ein paar Mädchen lachten halbherzig. Aber die meisten verdrehten nur die Augen. Ms Ling schien das jedoch nicht zu bemerken. Sie schlug die Beine übereinander und presste das Klemmbrett an ihre Brust.

»Zunächst einmal kurz etwas über mich«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich habe vor sechs Jahren meinen Abschluss hier in Easton gemacht. Die ersten beiden Jahre habe ich genau in diesem Wohnheim gewohnt. Das war, bevor für die Neuntklässler ein eigenes Wohnheim gebaut wurde«, fügte sie mit einem anbiedernden Lächeln hinzu. Sie wollte, dass wir meinten, sie wäre eine von uns. Oder vielleicht wollte auch sie sich nur vormachen, immer noch eine von uns zu sein. »Nach meinem Abschluss ging ich für mein Bachelorstudium nach Yale und anschließend nach Harvard, wo ich letzten Frühling meinen Masterabschluss in Ostasienwissenschaften gemacht habe. Anschließend wurde ich von der Easton Highschool eingeladen, die erste Lehrerin für Chinesische Sprache und Kultur zu werden, worauf ich sehr stolz bin. Falls Sie also Interesse haben, es ist eine wunderschöne Sprache, und es ist noch nicht zu spät, um sich für den Einführungskurs anzumelden.«

Stille.

Ms Ling blinzelte. Es schien, als habe sie mit ein paar enthusiastischen Freiwilligen gerechnet. Das Fehlen jeglicher Reaktion unsererseits verwirrte sie. Sie richtete sich auf, räusperte sich und konsultierte ihr Klemmbrett.

»Okay, nun zu den Regeln. Ich weiß, manche von euch haben sie schon einmal gehört, aber habt bitte Nachsicht«, sagte Ms Ling. »Ich muss das alles mit euch noch mal durchgehen. Yo! Das sind die Regeln.«

Sie errötete, als wieder niemand lachte. War ihr denn nicht klar, dass es so ziemlich das Schlimmste war, sich derart bei uns anzubiedern, wenn wir sie für cool halten sollten? Schließlich war sie doch angeblich vor sechs Jahren noch eine von uns gewesen. Vergisst man so schnell?

»Lassen Sie uns als Erstes über die Sperrstunde sprechen«, sagte sie und erntete ein Stöhnen, was sie tatsächlich aufzumuntern schien. Wir lebten noch!

Darauf folgte eine lange Litanei der Regeln und Vorschriften, die alle im Easton Handbuch aufgelistet waren, das in sämtlichen Zimmern auslag. Natürlich hatte ich zunächst angenommen, dass manche davon nur Show waren, damit die Eltern das Gefühl hatten, uns auf eine gute, strenge, seriöse Schule geschickt zu haben, doch nun stellte sich heraus, dass sie alle Wort für Wort so gemeint waren und die Schule sie auch sehr ernst nahm. Wir mussten uns tatsächlich jeden Abend vor zehn Uhr bei Ms Ling melden. Danach war es uns nicht mehr gestattet, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis unsere Flure zu verlassen. Jeden Abend von sechs bis neun war Ruhezeit und zwischen den Unterrichtsstunden durften wir uns nicht in Bradwell aufhalten. Jungs durften ausschließlich abends zwischen sechs und neun das Wohnheim betreten, und dann auch nur den Gemeinschaftsraum (diese Ansage wurde mit vereinzeltem Gelächter quittiert, am deutlichsten von einer Blondine mit Schweinegesicht und großer Oberweite, die in der Mitte des V saß). Als sie die drei Seiten lange Liste vorgelesen hatte, blickte Ms Ling auf und grinste.

»So, das war’s! Falls Sie noch Fragen haben, können Sie gerne in meine Sprechstunde kommen. Ich habe ein gutes Gefühl, was diese Gruppe betrifft. Das wird ein tolles Schuljahr! Ich freue mich darauf, jede Einzelne von Ihnen kennenzulernen!«

Den letzten Teil musste sie brüllen, weil alle bereits aufgestanden waren und sich auf den Weg in Richtung Ausgang machten.

Da es an jenem Abend noch nichts für die Schule zu tun gab, wurden die Ruhezeiten aufgehoben, sodass jeder Flur eine kleine Kennenlern-Party veranstalten konnte. Ich war keine besonders gute Partygängerin, deshalb graute mir davor, obwohl mir auch klar war, dass ich einfach hingehen sollte. Wenn ich einen Neuanfang wollte, musste ich gegen meine Instinkte handeln und mich unter die Leute mischen. Allein der Gedanke verursachte mir schon Bauchschmerzen, also versuchte ich, mich abzulenken, und blätterte auf dem Bett liegend in meinem Easton Handbuch, während Constance sich fertig machte. Und redete.

»Und als wir dann endlich den Fuß des Berges erreicht hatten, war ich fast am Verdursten und voller Schlamm, und dieser Führer wartete dort auf uns, und er so: ›Habt ihr denn nicht den Pfad gefunden?‹ Und wir so: ›Welchen Pfad?‹«

Ich grinste, weil ich ihren Blick spürte und es sich anhörte, als würde sie eine Reaktion erwarten.

»Egal, bist du fertig?«

Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Ich legte das Buch weg. »Vielleicht komme ich später nach.« Mir war bis zu diesem Augenblick wirklich nicht klar gewesen, dass ich nicht hingehen würde. Aber nun hatte ich es gesagt.

»Du hast wohl einen schillernden Auftritt geplant, hm?«, scherzte sie.

Nicht im Traum.

»So ungefähr«, antwortete ich.

»Okay«, sagte sie achselzuckend. »Aber mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn später die ganze gute Pizza weg ist!«

Ich werd’s überleben.

»Nein, keine Sorge«, versicherte ich ihr.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, begann das schlechte Gewissen an mir zu nagen, weil ich gekniffen hatte. Was stimmte nicht mit mir? Ich würde nie Freunde finden, wenn ich immer nur allein in meinem Zimmer saß. Das war mir klar. Trotzdem konnte ich mich nicht überwinden.

Ich stieß einen Seufzer aus, lehnte mich zurück gegen das Kissen, das mein Bruder mir gekauft hatte, und machte es mir in meinem selbst auferlegten Exil gemütlich. Das war also mein neues Zuhause. Diese quadratische cremefarbene Schachtel mit den knatschenden Holzdielen, Betten in Standardgröße, passenden Schreibtischen und Kleiderschränken mit fünf Schubladen, von denen meine Kleidung nicht mal eine einzige füllte. Fünf Sekunden nachdem sie bemerkt hatte, dass meine Hälfte des Kleiderschranks halb leer war, fragte Constance: »Darf ich?« und stopfte drei Wollmäntel und einen schwarzen, übergroßen Parka hinein. Das alles trug zu meinem Gefühl bei, dass ich nicht hierher gehörte, oder besser gesagt, dass mir das Format für einen Ort wie diesen fehlte.