Private - Spiel mit, wenn du dich traust - Kate Brian - E-Book

Private - Spiel mit, wenn du dich traust E-Book

Kate Brian

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Beschreibung

Highschool, Glamour, Intrigen

Reed hat es geschafft: Sie wurde in den exklusiven Kreis der Billings-Girls aufgenommen. Damit steht ihr eine glorreiche Zukunft bevor – wäre da nicht ihre neue Mitbewohnerin Natasha. Sie erpresst Reed mit Fotos, die zeigen, wie sie betrunken auf einer Party rumknutscht. Bekäme die Schulleitung die Fotos in die Hände, wäre das Reeds Ende. Doch um Natasha davon abzuhalten, sie anzuschwärzen, muss Reed ihre neuen Freundinnen ausspionieren und deren eigenen Schulverweis riskieren. Reed muss sich entscheiden: Die Mädchen verraten oder ihren Zukunftstraum aufgeben …

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Seitenzahl: 280

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© Sona Viola

DIE AUTORIN

Kate Brian hat einen Bachelor-Abschluss in Englischer Literatur und Journalismus an der Rutgers Universität gemacht und arbeitete vier Jahre als Lektorin, bevor sie mit ihrer Private-Serie die New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerlisten stürmte.

Mehr über cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

Kate Brian

Spiel mit,

wenn du dich traust

Aus dem Amerikanischen

von Karla Hahndorf

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage 2018

Erstmals als cbt Taschenbuch November 2018

© 2006 by Alloy Entertainment and Kieran Viola

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Private – Invitation Only« bei Simon & Schuster BFYR.

Published by arrangement with Simon & Schuster Books for Young Readers, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division.

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval

system, without permission in writing from

the Publisher.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Karla Hahndorf

Lektorat: Katja Hildebrandt

Umschlaggestaltung: init |Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

Umschlagmotiv: | Julian Peploe

ml · Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21409-8V001

www.cbj-verlag.de

Whittaker

Die Nacht war kalt. Kalt und stockfinster, ohne Sterne, ohne Mond, dafür aber mit einem Wind, der bei jedem Stoß eine Flut von Blättern von den Bäumen fegte – Blätter, die vom morgendlichen Nieselregen noch ganz nass waren. Glitschig und verfault fühlten sie sich an, wenn sie zufällig auf unbedeckte Haut fielen, und als der nächste Windstoß über die Hügel peitschte, duckten wir uns alle und zogen die Kleidung fester um unsere Körper. Allmählich begann ich zu zittern.

»Bäh! Da ist eins in meinem Nacken!«, rief Taylor Bell und beugte sich mit hochgezogenen Schultern nach vorne. In einer Hand hielt sie eine Flasche Wodka, aus der sie den ganzen Abend getrunken hatte, und mit der anderen schlug sie vergeblich hinter sich. Das große gelbe Ahornblatt klebte an ihrem Nacken und presste die blonden Locken, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, platt an ihren Hinterkopf. »Macht es weg!«

Eigentlich war Taylor keine große Trinkerin, aber heute Abend hatte sie Alkohol in sich hineingeschüttet, als sei es Apfelsaft. Nach dem Eltern-Wochenende – das erst wenige Stunden zuvor mit einer Zeremonie in der Kapelle der Easton Academy zu Ende gegangen war – hatte sie wohl, wie viele andere auch, das Bedürfnis, sich ein bisschen zu entspannen. Allerdings hatten Taylors Eltern nett gewirkt, und sie hatte den Eindruck gemacht, sich in ihrer Gegenwart zumindest wohlzufühlen. Vielleicht bedrückte sie in Wirklichkeit ja etwas ganz anderes.

»Macht es weg!«, jammerte sie wieder. »Leute!«

»Schau nicht mich an«, sagte Kiran und nahm einen damenhaften Schluck aus ihrem silbernen Flachmann. Sie zog ihren langen Kaschmirmantel um die Knie und hielt ihn fest. »Ich hatte vorhin erst eine Maniküre.«

Kiran, das erste richtige Model, das ich persönlich kennengelernt hatte, und in meinen Augen eines der schönsten Mädchen überhaupt, hatte immer gerade irgendetwas machen lassen: Highlights, dunkle Strähnchen, Dermabrasion, Algenwickel für die Oberschenkel, mit einem Faden gezupfte Augenbrauen. Das meiste klang nach Folter, aber offensichtlich brachte es was.

Noelle Lang rollte mit den Augen und zupfte das große, nasse Blatt von Taylors Nacken. »Divas«, sagte sie verächtlich und nahm es weg. Das Blatt landete auf dem Boden, direkt vor dem flachen Felsen, auf dem Ariana Osgood saß. Ariana sah nach unten und studierte das Blatt, als enthielte es den Sinn des Lebens. Ein leichter Windstoß wehte ihr langes, fast schon weißblondes Haar von den Schultern, und sie betrachtete es, um dann zufrieden die Augen zu schließen.

Ich nahm mir ein drittes Bier aus der Kühlbox auf der anderen Seite der Lichtung und beobachtete die Szenerie wie eine Anthropologin eine bisher unbekannte Subspezies des Menschen. Von dem Moment an, als ich sie vor einem Monat zum ersten Mal durch ein Wohnheimfenster für Zehntklässlerinnen der Easton Academy gesehen hatte, war ich von den Billings-Girls fasziniert gewesen. Anfangs hatte ich sie nur heimlich angehimmelt, da es unmöglich schien, an sie heranzukommen. Aber das hatte sich schnell geändert. Jetzt war ich mit den Billings-Girls befreundet. Wir wohnten im gleichen Wohnheim und machten regelmäßig illegal Party im Campus-Wald.

Vorausgesetzt, man ließe »zweimal« als regelmäßig durchgehen.

Ich gehörte jetzt zu ihnen. Ich hatte es in Easton zu etwas gebracht. Allerdings hätte ich selbst nicht so genau erklären können, wie es dazu gekommen war. Eigentlich hatte ich gedacht, sie wären sauer auf mich, weil ich mich weiterhin mit meinem Freund Thomas Pearson getroffen hatte, den keine von ihnen mochte. Ich hatte schon befürchtet, sie als Freundinnen verloren zu haben, weil ich sie hintergangen und Thomas versprochen hatte, zu ihm zu halten und ihm bei seinen Problemen zu helfen. Doch offensichtlich hatte sie mein Verhalten beeindruckt.

Irgendwie. Und das war ein Glück, denn mit ihrer Hilfe hatte ich vielleicht tatsächlich die Chance, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Und musste nicht irgendwann, wie so viele aus Croton, Pennsylvania, nach zwei Jahren Community College in meine Heimatstadt zurückkehren, um in irgendeinem miesen Bürojob zu versauern. Mit den Billings-Girls im Rücken hatte ich tatsächlich eine Chance im Leben. Eine Zukunft. Die Möglichkeit, Teil einer Welt zu sein, von der ich immer geträumt hatte – einer Welt des Erfolgs. Der Privilegien. Der Freiheit.

»Alles klar da hinten, Reed?«, fragte Noelle und strich sich ihr langes, dunkles Haar hinter die Schulter. »Wenn du kein Bier mehr magst, mixt dir Kiran sicher gerne einen Hayes Special.«

Ihre Augen blitzten verschmitzt, und ich wusste, sie hatte meine nachdenkliche Stimmung bemerkt. Ich wollte nicht undankbar wirken, hierher eingeladen worden zu sein, undankbar für alles, was sie für mich getan hatten. Immerhin hatte ich mir einfach so ein Bier nehmen dürfen, ohne dafür irgendwas für sie erledigen zu müssen, wie es seit meiner ersten Woche an der Schule fast nonstop der Fall gewesen war. Also winkte ich ab.

»Schon okay. Alles gut«, sagte ich und hielt die Flasche hoch.

Dann öffnete ich sie mit einem verrosteten Flaschenöffner und nahm einen großen Schluck in dem Wissen, dass sie mich immer noch beobachtete. Vorhin hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Bier getrunken. Mittlerweile war ich schon bei meinem dritten, das deutlich leichter runterging. Der Trick war wohl, große Schlucke zu nehmen und sie nur kurz im Mund zu behalten, damit die Zunge erst gar nicht mit dem Bier in Berührung kam. Ja, das war erfrischend. Während ich tief durchatmete, wehte mir eine erneute kalte Brise entgegen, und ich raffte meinen Pulli enger um meinen frierenden Körper. Bevor ich mich wieder zu den Mädchen gesellen konnte, ließ mich ein plötzlicher Themenwechsel am Lagerfeuer aufhorchen.

»Ich sag dir eins«, begann Dash McCafferty. »Das wird noch zu einem der größten Mysterien dieses Jahrhunderts.«

»Vielleicht ist er bei seiner Oma in Boston«, warf Josh Hollis ein.

Dash zuckte die Schultern. »Hey, ich wette, sie haben bei der alten Schrulle schon ’ne Razzia gemacht.«

Thomas. Sie sprachen von Thomas. Kaum zu glauben, dass er bei der letzten Party hier im Wald – meiner ersten – noch dabei gewesen war. Es waren bereits achtundvierzig Stunden vergangen, seit Thomas Pearson das letzte Mal gesehen wurde. Er war aus Easton verschwunden, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben. Und laut seines Mitbewohners Josh Hollis – der in diesem Augenblick mit den anderen Jungs am Feuer stand und ausdruckslos in die Flammen sah – hatte er kein einziges Kleidungsstück mitgenommen, nicht mal sein schwarzes Lieblings-T-Shirt. Am Freitagmorgen hatte Thomas mir verkündet, dass er mich liebte, und mir das Versprechen abgerungen, immer für ihn da zu sein, und dann war er verschwunden.

Wie viel Josh wohl wusste – über mich und über das, was zwischen Thomas und mir passiert war? Hatte Thomas Josh erzählt, was wir in ihrem Wohnheimzimmer getan hatten? Da war ich mir nicht sicher. Dafür kannte ich ihn noch nicht lange genug. Jetzt fragte ich mich jedes Mal, wenn ich Josh begegnete, ob er davon wusste. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht. Auf keinen Fall durfte bekannt werden, dass ich meine Jungfräulichkeit an einen Typen verloren hatte, der mich zweifellos mochte, aber zu viele Probleme hatte, um eine normale Beziehung zu führen. An einen Jungen, von dem ich wusste (und das bereits vor seinem Verschwinden), dass ich nicht mit ihm zusammen sein sollte, und der mir trotzdem wahnsinnig viel bedeutete. Thomas Pearson, der beliebteste Junge in Easton und, wie ich erst kürzlich erfahren hatte, Haupt-Drogenlieferant der Schule. Ich konnte es immer noch nicht fassen.

Josh nahm einen Schluck von seinem Bier, das er bisher nicht angerührt hatte. Mit seinem Milchgesicht und der grünen Flasche in der Hand wirkte er fast ein wenig deplatziert unter den anderen. Seine blonden Locken tanzten im Wind und er trug einen langen, gestreiften Schal über einem zerknitterten, rostfarbenen T-Shirt und einer braunen Cordjacke. Er hatte etwas Künstlerisches, Ernsthaftes und Kreatives an sich. Das gefiel mir an ihm. Noch besser gefiel mir, dass er so eine laute Stimme hatte – laut genug, dass ich ihn unbemerkt belauschen konnte.

»Was ist mit ihrem Haus in Vail?«, warf er ein.

»Alter, Pearson versteckt sich doch an keinem so naheliegenden Ort«, sagte Dash und zog die Nase hoch. Dafür, dass er so gut aussah – kantige Gesichtszüge, blond, Typ Abercrombie-Model –, benahm er sich ganz schön ekelig. Er spuckte ins Feuer und nahm noch einen Schluck Bier.

»Sehr sexy, Dash«, rief Noelle über die Lichtung hinweg.

»Danke, Baby«, antwortete er und widmete sich dann wieder der Unterhaltung. »Ich kapier echt nicht, warum sie die Polizei informiert haben. Pearson ist doch bestimmt in New York unterwegs.«

»Meinst du?« Die Hoffnung in Joshs Stimme gab auch mir etwas Optimismus zurück.

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Gage Coolidge. Er war von der dünnen, hochgewachsenen, metrosexuellen Sorte, hatte dunkle, hochgegelte Haare und sah aus wie von einer britischen Boyband. »Thomas Pearson verarscht uns gerade auf legendäre Weise. Die ganze Ostküste sucht nach ihm und er macht irgendwo allein Party bis zum Umkippen.«

»Ja, vielleicht«, sagte Josh. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange und blickte nachdenklich ins Feuer.

»Ganz bestimmt«, entgegnete Dash. »Glaub mir. In weniger als einem Monat ist Halloween. Und du weißt, was das bedeutet.«

»Das Vermächtnis«, sagte Josh.

»Genau.« Dash zeigte mit der Bierflasche in der Hand auf Josh. »Pearson wird das nicht verpassen. Ich wette meinen Sportwagen darauf, dass er aufkreuzt.«

»Mit so was scherzt man nicht, Mann«, sagte Gage.

»Ach was!«

»Stimmt«, pflichtete Josh nickend bei. »Pearson ist das Vermächtnis.«

»Alter, wenn er kommt, schleifen wir seinen jämmerlichen Hintern hierher und kassieren unsere Medaillen«, sagte Gage.

»Genau«, stimmte Dash zu und schlug mit Gage über Joshs Kopf hinweg ein.

Das Vermächtnis? Was zur Hölle war das Vermächtnis? Ich wollte gerade zu Noelle und den anderen hinübergehen, in der Hoffnung, dass sie mich aufklären würden, als mich Natasha Crenshaw abfing.

»Reed! Wo willst du hin?«, fragte sie und legte den Arm um meine Schultern.

Ich hielt inne und fragte mich, was das sollte. Natasha Crenshaw war meine neue Mitbewohnerin im Billings-Haus. Und sie war nur aus dem Grund meine neue Mitbewohnerin, weil ihre beste Freundin Leanne Shore wegen Betrugs von der Schule geflogen war, was in Easton für den größten öffentlichen Skandal des Jahres gesorgt hatte. Als ich gestern Morgen damit begonnen hatte, mich in meinem neuen Zimmer einzurichten, hatte mir Natasha ihre Abneigung nur zu deutlich gezeigt.

Daher verwirrte mich ihre Frage.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte ich mich.

»Mir geht’s gut!«, antwortete sie und blendete mich mit ihren strahlend weißen Zähnen. Natasha hatte dunkle Haut, dunkles Haar und war auf eine Tyra-Banks-mäßige Art sexy. Ich spürte ihre weichen Kurven, als sich ihr Körper näher an meinen drückte, und errötete. Mit meiner Jungenfigur war es mir ein Rätsel, wie sie bei der Oberweite überhaupt gerade laufen konnte. »Hör zu, ich wollte mich nur entschuldigen, weil ich nicht gerade nett zu dir gewesen bin«, sagte sie und zog mich von den anderen weg. »Ich bin immer noch total fertig wegen Leanne und das habe ich wohl an dir ausgelassen. Und das ist nicht okay. Verzeihst du mir?«

Für solche aufrichtigen, klaren Aussagen war sie bekannt. Anders als die meisten anderen Mädchen schien sie nichts zu verbergen zu haben. Das war ihr völlig fremd.

»Äh … klar«, antwortete ich unsicher.

»Gut! Denn ich möchte wirklich, dass wir Freundinnen werden«, sagte Natasha und griff nach meiner Hand. »Beste Freundinnen.«

Ihr Gesichtsausdruck war dabei so ernst, dass ich lächeln musste, halb amüsiert, halb aus ehrlicher Freude.

»Okay, das fände ich auch schön«, sagte ich.

»Super!«, rief Natasha. Sie holte eine winzige Digitalkamera aus der Tasche ihrer schwarzen Lederjacke und hielt sie mit einer Hand in die Höhe, während sie mich mit der anderen umarmte. »Bitte lächeln!«

Ich tat, wie befohlen, dann blitzte es. Lila Punkte tanzten vor meinen Augen und ich blinzelte.

»Ein Meisterwerk«, stellte Natasha mit Blick auf den winzigen Bildschirm fest.

»Cool.« Ich sah an ihr vorbei zu Josh und den anderen, die ihre Unterhaltung nun in gedämpfterem Tonfall führten, und fragte mich, ob sie immer noch über Thomas sprachen, und falls ja, ob sie mir vielleicht etwas verraten würden. »Ich … bin gleich wieder da.«

Als ich auf halbem Weg zum Lagerfeuer war, sahen plötzlich alle Jungs gleichzeitig auf und riefen zu mir gewandt: »Whittaker!«

Fast wäre ich gestolpert. »Was?«

»Meine Herren! Meine Damen! Ach, mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich wie in alten Zeiten alle hier versammelt sehe.«

Häh?

Hinter mir erschien der größte Junge, den ich – abgesehen beim College-Football – je gesehen hatte. Er war mindestens eins fünfundneunzig groß und wog gut hundertzehn Kilo, trug dieses Gewicht allerdings voller Würde mit aufrechtem, selbstbewusstem Gang. Seine Wangen waren gerötet, er trug eine runde Brille und hatte einen Opa-Haarschnitt, wo das Haar vorne zweieinhalb Zentimeter hochstand und mit Gel flach nach hinten gekämmt war. Er überquerte die Lichtung, nickte den Billings-Girls wie ein Aristokrat zu und klatschte mit Dash, Gage, Josh und den anderen ab.

»Wie geht es euch allen an diesem schönen Abend?«, fragte er mit durchdringender Stimme und wärmte sich die Hände über dem Feuer.

Wer war dieser Typ? Und wieso redete er, als sei er einem Jane-Austen-Roman entsprungen?

»Wie war es in Ostasien? Ist das chinesische Essen in China wirklich besser?«, scherzte Gage und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier.

Wegen eines erneuten Windstoßes verpasste ich Whittakers Antwort, die Jungs allerdings lachten über das, was er zu sagen hatte, sie scharten sich um ihn und blickten mit amüsiertem Lächeln und aufgeregt strahlenden Augen zu ihm auf, wie Kindergartenkinder zum Weihnachtsmann hochsahen. Langsam ging ich zu Noelle und den anderen Mädchen.

»Reed, ich dachte schon, du hättest uns vergessen«, sagte Noelle mit ausdrucksloser Miene und nahm einen Schluck von ihrem Bier. Sie war das einzige Billings-Girl, das Bier trank, was der Grund war, warum ich mich auch dafür entschieden hatte. Die anderen tranken Mixgetränke, die alles enthielten, was Kiran und die Jungs auftreiben konnten. »Bist du etwa wieder bis über beide Ohren verliebt?«

»Häh?«

»Du starrst die ganze Zeit Whittaker an«, bemerkte Kiran und ihre braunen Augen glänzten. »Interessante Wahl.«

»Also bitte, ich starre ihn doch nicht an. Ich … Wer ist er überhaupt?«

»Whittaker?«, sagte Noelle. »Er ist eben … Whittaker. Eine Klasse für sich.« Sie sah die anderen Billings-Girls an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Ich finde … du solltest ihn kennenlernen.«

Sie stand auf, packte mein Handgelenk und zog mich schwungvoll über die Lichtung, bevor ich auch nur ein Wort des Protestes von mir geben konnte.

»Whit! Hey, Whit!«, rief Noelle und gestikulierte mit ihrer Flasche. »Das ist das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe.«

Mit ihren starken Armen schleuderte sie mich Whittaker praktisch entgegen. Von der Wucht völlig überrumpelt, stolperte ich und musste mich, um nicht hinzufallen, gegen seine breite Brust stützen. Natürlich lachten sich alle schlapp. Sanft legte Whittaker seine Hände auf meine Ellbogen und half mir, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

»Alles okay?«, fragte er.

Er hatte sehr warme braune Augen.

»Alles in Ordnung«, antwortete ich peinlich berührt.

Moment. Hatte Noelle eben gesagt, ich sei das Mädchen, von dem sie ihm erzählt hatte? Was zur Hölle hatte sie ihm über mich verraten?

»Ich bin Walt Whittaker«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen. »Aber meine Freunde nennen mich Whittaker oder Whit. Ganz wie du willst.«

»Reed Brennan«, entgegnete ich und schüttelte seine Hand. Sie war unglaublich weich und warm.

»So, Reed. Du bist neu hier in Easton, wie ich gehört habe. Willkommen.«

Der Klang seiner Stimme ließ meine Haut auf eine angenehme, brummende Art kribbeln. Das war beruhigend. Irgendwie kam mir das bekannt vor.

»Du nicht?«, fragte ich.

Und wieder lachten alle. Sogar Whit. »Nein, nein. Meine Familie geht seit Generationen hier zur Schule«, antwortete er. »Ich war bloß mit meinen Eltern im Urlaub. Wir haben eine Ostasien-Rundreise gemacht. China, Singapur, Hongkong, Philippinen … Reist du gerne, Reed?«

Nur wenn man die Ausflüge zum Freizeitpark zählte, damals, als ich noch rosafarbene Sneakers trug.

»Eigentlich nicht«, sagte ich.

Einen langen Augenblick sah er mich an, als ergäbe das, was ich eben gesagt hatte, keinen Sinn. Unter seinem prüfenden Blick wurde mir ganz warm.

»Schade«, sagte er schließlich. »Man kennt sich selbst erst dann so richtig, wenn man die Welt gesehen hat, weißt du?«

Verzweifelt suchte ich nach einer Antwort, die mich nicht als naiv und weltfremd outete, als Gage von hinten auf Whittakers Schulter klopfte.

»Alter! Komm zu uns! Wir sprachen gerade über das Vermächtnis. Du musst uns alles erzählen, was du darüber weißt.«

Whittaker schmunzelte. »Ah, das Vermächtnis. Es geht also los.«

Was war dieses Vermächtnis? Alle wussten Bescheid, und wenn ich jetzt danach fragte, wüssten alle, wie ahnungslos ich war – und was für eine Außenseiterin. Also beschloss ich, den Mund zu halten, und hoffte, auch so irgendwann alles darüber zu erfahren.

»Vielleicht können wir unsere Unterhaltung später fortführen?«, schlug er vor.

»Äh … klar«, antwortete ich.

Gage zog Whittaker für einen privaten Plausch mit den Jungs von mir weg und Noelle trat neben mich.

»Und? Hast du ihn schon verzaubert?«, wollte Noelle wissen.

»Du hast ihm von mir erzählt?«

»Ja. Ich dachte, vielleicht könnt ihr euch kennenlernen«, antwortete Noelle achselzuckend. »Whit könnte gut für dich sein. Er ist sehr … kultiviert.«

Die Beleidigung, die in dieser Aussage steckte, ignorierte ich einfach.

»Noelle! Ich bin mit Thomas zusammen, hast du das vergessen?« Mir war es inzwischen egal, dass sie unsere Beziehung missbilligte. Sein unerklärliches Verschwinden drängte alle meine Bedenken in den Hintergrund.

Ihre Miene verhärtete sich. »Genau. Und Thomas ist … wo?«, fragte sie und sah sich um.

»Ich … ich weiß es nicht«, entgegnete ich und mein Magen krampfte sich zusammen. Hinter ihr sah ich, wie Ariana, Kiran und Taylor, die sichtlich an unserem Gespräch interessiert schienen, näher heranrückten.

»Genau. Toller Freund, der einfach abhaut und dir nicht einmal sagt, wohin. Oder dass er überhaupt geht.« Wieder rollte sie mit den Augen, nahm einen weiteren Schluck Bier und ließ ihre Worte wirken. »Sieh mal, Whit ist ein toller Typ. Er ist richtig lieb.«

»Anders als manch anderer«, ergänzte Kiran bissig.

Selbst Thomas’ mysteriöses Verschwinden konnte nichts an ihrer Abneigung gegen ihn ändern. Sie hatten ihn noch nie gemocht. Und das würde wohl immer so bleiben.

»Außerdem kann Whit dir Dinge ermöglichen«, ergänzte Ariana. »Dinge, zu denen du vielleicht sonst keinen Zugang hättest.«

Was für Dinge? Meine Neugier war geweckt.

Ariana musterte Whit mit ihren hellblauen Augen, und ich fragte mich, ob er das spürte. Ob er davon genauso eine Gänsehaut bekam wie ich.

»Was denn zum Beispiel?«, wollte ich wissen.

»Ein Leben zum Beispiel«, schnaubte Kiran verächtlich.

»Kiran!«, ermahnte Ariana sie.

»Geh und sprich einfach mit ihm«, fuhr Noelle fort. »Du musst ihn ja nicht gleich heiraten.«

Ich atmete tief ein und trank die letzten Tropfen von meinem Bier, den Blick unablässig auf Whit gerichtet. Er schien wirklich nett zu sein. Höflich und erwachsen. Alle anderen fanden ihn offensichtlich auch toll. Und ja, er mochte etwas übergewichtig sein, aber wer war ich schon, ihn deswegen zu verurteilen?

»Bring ihm das hier«, schlug Kiran vor und reichte mir einen Flachmann mit ihrem Hayes Special. »Whittaker liebt meine Mischungen.«

Die Flasche war eiskalt und glatt. Ich hielt sie in der einen und das Bier in der anderen Hand. Vielleicht war es an der Zeit, einem Typen eine Chance zu geben, den die Billings-Girls guthießen. Schließlich war ich jetzt auch ein Billings-Girl. Höchste Zeit, sich auch so zu verhalten.

Eindruck machen

»Ich muss sagen, es war wirklich erhellend, unter den Eingeborenen zu leben«, erklärte Whittaker, als wir uns langsam von der Lichtung entfernten. »Sie besitzen nichts. Nur eine Holzschüssel und eine Tasse Reis, aber dafür haben sie viel positive Energie, weißt du? Unglaublich viel positive Energie.«

»Du hast also in dem Dorf übernachtet?«, fragte ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. Mittlerweile war ich bei meinem vierten Bier angelangt und allmählich verschwamm alles vor meinen Augen. »Das ist echt cool.«

Keine Ahnung, wessen Idee es gewesen war, von den anderen wegzugehen, um uns kennenzulernen. Seine? Meine? Noelles?

»Nein, nein. Wir sind natürlich zurück ins Hotel gegangen«, entgegnete er. »Hast du eine Ahnung, wie viele Krankheiten man sich an so einem Ort holen kann?«

Ich sah zu ihm hoch und wartete darauf, dass er selbst erkannte, wie er sich widersprach. »Aber hast du nicht gesagt, du hättest unter den Eingeborenen gelebt?« In dem Augenblick trat ich auf einen Stein und verdrehte mir den Fuß. Ich stolperte und fiel Whittaker direkt in die Arme. »Oh. Ups!«

»Bist du auch wohlauf?«, fragte er und stützte mich mit seinen fleischigen Armen.

Ich räusperte mich. Die Bäume um mich herum schwankten. »Ja, durchaus«, antwortete ich, seinen Tonfall nachahmend. Wer redete denn so?

»Vielleicht sollten wir uns setzten«, schlug er vor.

Jetzt schien auch der Boden zu schwanken. Wieso behaupteten eigentlich alle immer, Alkohol zu trinken würde Spaß machen? Ich fand eher, es wurde einem schlecht davon. »Ja, das wäre vielleicht keine schlechte Idee.«

Whittaker führte mich zu einem dicken Baumstamm, der irgendwann in den letzten hundert Jahren umgefallen und nun von Moos und Rankengewächsen überwuchert war. Vorsichtig half er mir, mich hinzusetzen, und ließ mich erst los, als er glaubte, dass ich nicht gleich umfallen würde. Um nicht nach vorne zu kippen, stützte ich eine Hand auf das kalte, raue Holz, dann warf ich meine Haare zurück. Lächelnd setzte sich Whittaker neben mich und studierte mein Gesicht.

»Noelle hat recht. Du bist wirklich in höchstem Maße gut aussehend«, sagte er. »Du hast etwas Klassisches an dir. Wie Grace Kelly.«

»Grace wer?«, fragte ich.

Whittaker grinste noch etwas breiter. »Sie war eine Schauspielerin. Und eine Prinzessin. Es ist wirklich eine ziemlich unglaubliche Story. Sie war ein armes Bauernmädchen und wurde erst in Hollywood wahnsinnig berühmt, dann heiratete sie einen europäischen Prinzen –«

»Hört sich gut an«, kommentierte ich müde und hob die Bierflasche an, um mit ihm anzustoßen.

»Und am Ende kam sie bei einem schlimmen Autounfall ums Leben.«

»Oh.« Toll. Vielen Dank auch.

Plötzlich errötete Whittaker, sah von mir weg und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. »Möchtest du auch?«, fragte er.

Irgendwo in meinem Kopf wusste ich, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, noch mehr zu trinken, aber ich wusste auch, dass Kiran irgendeinen Saft in ihr Spezialgebräu gemixt hatte. Und an einer anderen Stelle in meinem Gehirn wurde entschieden, dass es vielleicht gut wäre, Saft zu trinken. Wegen der Vitamine und so.

»Klar«, antwortete ich. »Wieso nicht?«

Ich stellte meine fast leere Bierflasche auf den Boden und kippte dabei beinahe um. Eine Handfläche landete im Dreck; um es zu überspielen, stemmte ich mich selbst wieder hoch, doch es war nicht länger zu leugnen, dass ich mittlerweile große Schwierigkeiten damit hatte, das Gleichgewicht zu halten. Als ich nach dem Flachmann griff, plumpste ich direkt in Whittakers Arme. Peinlich berührt schloss ich die Augen und der Boden schwankte. Na toll. Jetzt setzte mein Gehirn völlig aus.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Kein Problem«, entgegnete Whittaker. »Warte, ich helfe dir.«

Er legte seinen starken Arm um mich und sofort fühlte ich mich sicherer, weniger zittrig. Mit Mühe schraubte ich den Deckel der Schnapsflasche ab und nahm einen großen Schluck. Mmmmm. Kirans Hayes Special war lecker. Und Whittaker war so warm. Ich genoss den Moment, schloss die Augen und setzte die Flasche noch einmal an. Wieder drehte sich alles. Ich fuhr zusammen, verschluckte mich und rang nach Luft.

»Alles okay?«, fragte er.

»Alles gut! Alles gut!«, antwortete ich ganz außer Atem und krümmte mich. Whittaker zog ein Taschentuch hervor und reichte es mir. Ich hustete und wischte mir das Gesicht ab. Der Stoff war weich, roch nach Moschus und war mit seinen Initialen bestickt. Niemand, den ich kannte, besaß so ein Taschentuch. Richtig oldschool. Irgendwie überraschte mich das nicht.

»Tut mir furchtbar leid«, sagte ich, nachdem ich endlich wieder zu Atem gekommen war. Ich wollte ihm das Taschentuch zurückgeben, aber er legte seine Hand auf meine, die sich wiederum um das Taschentuch schloss.

»Behalte es. Es gehört dir«, sagte er.

Ich errötete. »Du musst mich für eine totale Loserin halten«, seufzte ich.

»Ganz im Gegenteil.« Er sah mir in die Augen. »Ich finde dich außergewöhnlich.«

Und dann küsste er mich. Okay. Nicht gut! Ich durfte Walt Whittaker nicht küssen. Ich durfte nur Thomas küssen. Thomas, meinen Freund. Thomas, der absolut hinreißende Typ, der mich entjungfert hatte. Wenn er doch nur hier wäre. Wenn ich nur wüsste, wo er steckte.

Der Gedanke an Thomas verdrängte alles andere aus meinem Gehirn. Thomas, Thomas, Thomas. Thomas’ Lippen, Thomas’ Hände, Thomas’ Finger, Thomas’ Zunge …

Und plötzlich küsste ich ihn tatsächlich. Sein wundervoller, warmer Mund; seine starken, schlanken Arme. Trotz all dem, was wir in den vergangenen Tagen durchgemacht hatten, fehlten mir seine Berührungen. Wenigstens das hatte bei Thomas immer gestimmt.

Halb im Delirium legte ich meine Hände um Whits breiten Nacken. Sofort wurde er mutiger. Sein Mund bewegte sich in einer groben, ungeübten, eigenartigen Vor-und-zurück-Bewegung über meinen Mund, und das auch noch so schnell, als würde er versuchen, Feuer zu machen.

Igitt. Das war gar nicht wie mit Thomas. Um diesem Irrsinn ein Ende zu setzen, hielt ich sein Gesicht mit beiden Händen fest, was er jedoch als Zeichen von Leidenschaft interpretierte. Plötzlich war seine Zunge überall. Sie glitt in meinen Mund und zuckte zwischen meinen Zähnen umher.

Der arme Junge. Er hatte offensichtlich überhaupt keine Ahnung, was er da tat. Am liebsten hätte ich ihn von mir weggeschoben, aber ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Stattdessen ließ ich ihn weitermachen und hoffte, dass er entweder auf wundersame Weise besser werden oder irgendwann erschöpft aufgeben würde.

Plötzlich packte seine große Hand meine Brust und drückte zu. Ganz fest. Als würde er eine Orange auspressen.

Und einfach so war Thomas wieder da. Direkt vor meinen Augen. Mit seinem sexy Lächeln, seinen sanften Berührungen und seiner weichen Haut auf meiner. Was machte ich da nur? Wer war dieser Typ überhaupt, der mich so ungeschickt begrapschte?

Auf einmal wurde mir ganz flau im Magen. Ich hielt den Atem an. O Gott. Ich würde mich übergeben. Ich würde Walt Whittaker voll ins Gesicht reihern.

Meine Hände schnellten nach oben und ich stieß ihn von mir weg. Während er verwirrt etwas vor sich hin murmelte, drehte ich mich zur Seite, kniete mich hin und erbrach mich hinter dem Baumstamm. Meine Augen taten weh, mein Hals brannte und mein Magen verkrampfte sich vor Schmerz. Whittaker stand auf und ging ein paar Schritte beiseite, um mir etwas Privatsphäre zu geben. Gott sei Dank. Das hätte gerade noch gefehlt, dass der Typ, den ich eben noch geküsst hatte, mir dabei zusah, wie ich alles vollkotzte.

Und dann war es endlich vorbei.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

Diese Frage entwickelte sich allmählich zum Motto des Abends.

Langsam nickte ich, zu beschämt, um zu sprechen.

»Soll ich dich zurück zum Billings-Haus begleiten?«

Wieder nickte ich. Whittaker streckte mir die Hand entgegen und zog mich hoch. Auf dem Weg zurück zur Lichtung legte er den Arm um mich und ich stützte mich völlig erschöpft auf ihn. Alle Augen richteten sich auf uns. Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was ich für einen Anblick bieten musste. Durch meine Augen wirkte alles ein wenig verschwommen, doch als sie kurz bei Josh hängen blieben, sah ich, dass er richtig sauer dreinblickte.

»Ah! Da seid ihr zwei Turteltäubchen ja«, sagte Noelle mit einem überheblich-wissenden Lächeln.

Ich beobachtete, wie Josh hastig den Blick abwandte und einen Schluck von seinem Bier trank.

»Ich bring sie zurück«, verkündete Whittaker und klang dabei ganz stolz.

»Super«, kommentierte Dash leise.

»Pass auf unser Mädchen auf«, sagte Noelle und klopfte Whit auf den Rücken.

Irgendwo ganz tief in meinem Inneren regte sich die Spur eines Lächelns in mir. Selbst in diesem Zustand voll Scham und Übelkeit konnte ich Noelles Anerkennung spüren. Und obwohl ich wusste, wie uncool es war, sich etwas darauf einzubilden, tat ich es. Bestätigung von Noelle war immer eine gute Sache.

Aschenputtel lebt

Das Erste, was ich wahrnahm, war der Geschmack von schmutziger Regenrinne in meinem staubtrockenen Mund. Das Zweite waren die stechenden Kopfschmerzen. Das Dritte war die Tatsache, dass ich fror. Das Vierte dieser Lärm. Dieser nicht enden wollende Lärm.

»Aufwachen, Neue! Es ist schon nach sechs! So wird nie was aus dir!«

Jeder Knall hallte in meinem Schädel wider und verursachte einen erneuten stechenden Schmerz.

Benommen riss ich die Augen auf und blinzelte einige hundert Male gegen die schmerzhafte Trockenheit in ihnen an. Vor mir war die cremefarbene Wand meines Zimmers im Wohnheim. Unter mir meine Matratze. Doch ansonsten war nichts, wie es sein sollte.

»Du hast richtig verstanden, Schlafmütze. Die Ferien sind vorbei! Schwing deinen jämmerlichen Hintern aus den Federn!«

Das war Noelle. Noelle, die über den Lärm hinwegschrie. Ich drehte mich auf den Rücken. In meinem Kopf tobte ein stechender Schmerz. Ich konnte bereits die Galle schmecken und musste gegen die Übelkeit ankämpfen. Nicht nur Noelle, auch Kiran, Taylor, Ariana, Natasha und vier andere Billings-Mädchen, deren Namen mir bei diesen Höllenqualen nicht einfallen wollten, standen vor mir. Kiran hämmerte mit einer Schere auf eine rot-schwarze Steeldrum ein. Noelle hatte etwas Weißes mit Rüschen um ihren Arm gewickelt. Taylor hielt mit grimmigem Blick und rot geränderten, verkaterten Augen einen Handstaubsauger in den Händen. Natasha stand am Bettende und hatte ganz offensichtlich die Decke weggezogen – was meine Gänsehaut und das Zittern erklärte.

»Was zum Teufel macht ihr da?«, wimmerte ich und kniff die Augen schmerzerfüllt zusammen. Glücklicherweise hörte der Lärm nun auf. Ich presste beide Handflächen auf die Stirn, um zu verhindern, dass mir das Gehirn aus dem Schädel sprang.

»Zeit für den Hausputz, Neue«, sagte Noelle.

Verwirrt runzelte ich die Stirn, was eine weitere Schmerzlawine in meinen Schläfen auslöste. »Wie bitte?«

Sie packte meine Handgelenke und zerrte mich ruckartig in eine aufrechte Position. Mein Kopf explodierte vor Schmerz und mir wurde speiübel. Während ich nach Atem rang, schwitzend und betend, dass ich mich nicht vor allen übergeben müsste, stülpte Noelle mir ihr mit Rüschen besetztes Etwas über den Kopf und verknotete es hinter meinem Rücken. Als ich wieder imstande war, die Augen zu öffnen, prangte über meinem Schlafanzug eine Schürze in der Art eines französischen Hausmädchens. Am linken Träger war ein roter Button angebracht, auf dem »BRAUCHST DU HILFE? FRAG MICH! DIE SPANNERIN« stand.

Ich stöhnte. Zu mehr fehlte mir einfach die Kraft.

»Du hast doch nicht etwa gedacht, dass wir mit dir fertig sind, oder?«, fragte Kiran. Sie trug die gesträhnten Haare hochgesteckt und in dem weißen Morgenmantel aus Seide strahlte ihre dunkle Haut wie poliert. Sie hatte gestern Abend mehr als alle anderen getrunken und sah heute Morgen trotzdem so frisch und hübsch aus, als würde sie gleich zu einem Fotoshooting aufbrechen. »Nein, nein, nein, nein, nein. Wozu haben wir dich in Billings sonst aufgenommen? Nur damit du rund um die Uhr, sieben Tage die Woche erreichbar bist. Und das bedeutet, dass du rund um die Uhr, sieben Tage die Woche tust, was wir von dir verlangen. So funktioniert das hier, stimmt’s?«, fragte sie mit gespieltem Ernst und schaute ihre Freundinnen reihum an.

»Du hast absolut recht«, sagte Ariana und ihr leichter Südstaaten-Akzent milderte die Bosheit ihrer Worte.

Das konnte nicht ihr Ernst sein. Würden sie mich wirklich zum Arbeiten aus dem Bett zerren, ausgerechnet jetzt, wo ich meinen ersten Kater hatte? Nach allem, was ich für sie schon getan hatte, um im Billings-Haus aufgenommen zu werden, sollte jetzt noch mehr auf mich zukommen? Ich hatte gedacht, die Bewährungszeit sei vorbei und ich würde nun offiziell zu ihnen gehören. Doch offensichtlich sollte die Folter erst beginnen.

Plötzlich fühlte ich mich innerlich ganz leer, was zusätzlich zu den furchtbaren Kopfschmerzen und den Übelkeit erregenden Bauchkrämpfen nicht sehr schön war. Aber was sollte ich tun? Nein sagen? Ja, klar. Dann wäre ich schneller zurück in meinem alten Wohnheim – und damit wieder nur eine unbedeutende Zehntklässlerin –, als ich »ihr könnt mich mal« sagen könnte.